Ergänzende Materialien zur Vorlesung Theoretische Mechanik, WS 2005/06 Dörte Hansen Seminar 3 1 Dissipative Kräfte I – Reibung Wenn wir in der theoretischen Mechanik die Bewegung eines Körpers beschreiben wollen, müssen wir in der Regel verschiedene Modellannahmen treffen. So z.B. vernachlässigt das Modell Massenpunkt“ die inneren Freiheitsgrade eines ausgedehnten Körpers. Eine ” weitere, weit verbreitete Annahme betrifft die Frage nach der Energieerhaltung innerhalb des betrachteten Systems. Genau genommen, gibt es keine abgeschlossenen Systeme und damit auch keine Energieerhaltung 1 . Durch Wechselwirkungen mit der Welt außerhalb des von uns betrachteten Systems, mit den Teilchen der Luft oder - in der Himmelsmechanik - mit dem interstellaren Medium wird unserem System Energie zugeführt oder aber Energie von unserem mechanischen System abgezogen. Im folgenden wollen wir uns insbesondere einem dieser dissipativen Prozesse zuwenden: der Reibung. 1.1 Reibung eines Körpers in Gasen und Flüssigkeiten Bei seiner Bewegung durch Gase oder Flüssigkeiten stößt“ ein Körper ständig mit den ” Teilchen des Gases bzw. der Flüssigkeiten zusammen. Dabei wird ein Teil der Bewegungsenergie des Körpers auf die Gasteilchen übertragen, anders ausgedrückt, es findet eine Umwandlung der mechanischen Energie des Körpers in thermische Energie der Gasteilchen statt. Dieser Vorgang kann durch eine dissipative Kraft, die sogenannte Reibungskraft FR , beschrieben werden. Es ist leicht einsehbar, dass die Reibungskraft von der Geschwindigkeit v des Körpers abhängig sein sollte. Eine exakte mathematische Modellierung dieser Kraft ist äußerst schwierig. Empirisch zeigt sich jedoch, dass die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Reibungskraft häufig durch ein Potenzgesetz beschrieben werden kann. So wird in der Regel der Ansatz FR = −βv n 1 v v Außer unserem Universum als Ganzes betrachtet, und auch da ist man sich nicht ganz sicher. 1 verwendet. Zu diesem allgemeinen Ansatz wollen wir später zurückkehren, doch zunächst wollen wir zwei Spezialfälle gesondert betrachten. Für die praktische Anwendung sind insbesondere die Fälle n = 1 und n = 2 von großer Bedeutung. Die durch n = 1 charakterisierte Stokessche Reibung FR = −βv ist linear von der Geschwindigkeit abhängig. Sie findet ihre Anwendung vor allem in der schnellen Ballistik (d.h. bei der Beschreibung der Bewegung schneller Geschosse) oder bei der langsamen Bewegung eines Körpers in zähen Flüssigkeiten. Die Newtonsche Reibung wiederum wird durch ein quadratisches Reibungsgesetz FR = −βv v charakterisiert und findet vor allem in der langsamen Ballistik ihre Anwendung. Nat ürlich gibt es nicht eine universelle Grenzgeschwindigkeit für die Bewegung in Gasen, unterhalb derer das Newtonsche Reibungsgesetz zur Geltung kommt. Man kann zwar in der Tat eine solche Grenzgeschwindigkeit v g angeben, aber diese hängt von der Viskosität des Substrats ab. Das Stokessche Reibungsgesetz wird man immer dann anwenden, wenn die Geschwindigkeit des betrachteten Körpers im Medium oberhalb dieser Grenzgeschwindigkeit liegt. 1.1.1 Der schräge Wurf mit Stokesscher Reibung Als Beispiel für die Bewegung eines Massenpunktes unter dem Einfluss Stokesscher Reibung betrachten wir den wohlbekannten schrägen Wurf (siehe Skizze). Mit der Reibungskraft FR = −β ṙ lautet die Bewegungsgleichung des Massenpunktes mr̈ = −β ṙ − mge3 . (1) Der schräge Wurf ist eine ebene Bewegung, daher können wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit annehmen, dass sich der Massenpunkt nur in der xz-Ebene bewegt. Schreiben wir Gl. (1) als eine Differentialgleichung 1. Ordnung in v, β dv = −g v + e3 , (2) v̇ = dt mg so könnten wir nun natürlich versuchen, diese Gleichung durch Separation der Variablen zu integrieren. Es bietet sich hier jedoch an, einen einfachen Trick zu verwenden. Multiβ pliziert man beide Seiten der Gl. (2) mit e m t , und bringt alle geschwindigkeitsabhängigen Terme auf die linke Seite, so ergibt sich β β dv β + v e m t = −ge3 e m t . (3) dt m | {z } „ « d dt β v emt 2 Wir können also sofort integrieren und finden β v emt = − β mg e3 e m t + c 0 . β (4) Die Konstante c0 bestimmen wir mit Hilfe der Anfangsbedingung v(0) = v 0 . Setzen wir in Gl. (4) t = 0, so ist v0 = − mg e3 + c 0 , β woraus wir c0 sofort ablesen können. Damit erhalten wir für die Geschwindigkeit β β mg e3 1 − e − m t + v 0 e− m t . v(t) = − β Die Integration dieser Gleichung ist nun trivial und führt uns auf β mg m m −βt m r(t) = c1 − e3 t + e − v0 e− m t . β β β (5) (6) Die Konstante c1 ist durch die Anfangsbedingungen festgelegt. Setzen wir in Gl. (6) t = 0, so ergibt sich r0 = c 1 − m2 g m e3 − v0 2 β β =⇒ c 1 = r0 + m2 g m e3 + v0 . 2 β β Die Weltlinie unseres Massenpunktes ist also durch m2 g mg β β m −m −m t t + − 1−e t e3 r(t) = r0 + v0 1 − e β β2 β gegeben. Komponentenweise erhalten wir β mv0 x(t) = cos α 1 − e− m t , β β mv0 mg m2 g 1 − e− m t . z(t) = z0 − t+ sin α + 2 β β β (7) (8) (9) (10) Auf den ersten Blick sind kaum Gemeinsamkeiten mit der uns vertrauten Darstellung der β in der Regel sehr ohne Reibung berechneten Wurfparabel zu erkennen. Nun ist aber m β klein. Wir wollen uns deshalb überlegen, wie die Lösungen (9) für m t 1 näherungsweise aussehen. Dazu entwickeln wir die Exponentialfunktion in eine Taylorreihe 3 β β 3 β 1 β2 2 t −m =1− t+ t +O t e (11) m 2 m2 m3 und setzen diese Entwicklung in Gl. (9) ein. Zu beachten ist hierbei, dass wir auch die quadratischen Terme in der Entwicklung der Exponentialfunktion mitnehmen müssen 3 20 15 10 5 0 0 10 20 30 40 Abbildung 1: Schräger Wurf mit Stokesscher Reibung für verschiedene Reibungskoeffizienten β. Je größer β, desto kürzer ist die Wurfweite. Die gestrichelte Kurve kennzeichnet die klassische“ Wurfparabel ohne Reibung. ” um die erste, durch Reibung verursachte Korrektur zur herkömmlichen Wurfparabel zu erfassen. Wir finden somit 3 mv0 β β2 2 β 3 x(t) = 1−1+ t− cos α (12) t +O t 2 β m 2m m3 1β v0 t2 cos α + O β 2 , (13) = v0 t cos α − 2 m 3 mv0 mg β m2 g β2 2 β 3 z(t) = − 1−1+ t− t + O t sin α + 2 t + z0 (14) β β m 2m2 m3 β 1 βv0 2 g t sin α + O β 2 . (15) = − t2 + v0 t sin α + z0 − 2 2 m Wir sehen also, dass die erste nichtverschwindende Korrektur zur klassischen“ Wurf” parabel linear in β und proportional zu t 2 ist. In der Tat liefert (12) eine sehr gute β ist klein gegen Eins. Näherungslösung für nicht zu große Zeiten t - vorausgesetzt, m 1.1.2 Freier Fall mit Newtonscher Reibung Das Newtonsche Reibungsgesetz FR = −βv v, β>0 wird angewendet, so lange die Geschwindigkeit des sich bewegenden Körpers nicht eine von der Viskosität des Mediums abhängige Grenzgeschwindigkeit überschreitet (langsame Ballistik). Wir wollen uns im Folgenden auf die eindimensionale Bewegung eines 4 Massenpunktes im homogenen Schwerefeld der Erde beschränken2 . Die Bewegungsgleichung des Massenpunktes lautet β ẋ|ẋ| . (16) ẍ = −g − β ẋ|ẋ| = −g 1 + mg Schauen wir uns Gl. (16) etwas geneuer an: Offenbar ist ẋ nur dann positiv, wenn der Massenpunkt sich entgegen der Erdanziehungskraft bewegt, also mit anderen Worten, beim senkrechten Wurf nach oben. Selbst in diesem Fall wird die Bewegung des Massenpunktes aber endlicher Zeit umkehren, so dass nach dem Umkehrpunkt auch hier ẋ < 0 gilt. Unabhängig von den Anfangsbedingungen ẋ(0) = v 0 wird daher für große Zeiten immer β 2 ẋ ẍ = −g 1 − (17) mg gelten. In dem (in der Praxis natürlich unrealistischen) Limes t → ∞ sollten sich Erdanziehungskraft und Reibungskraft gerade kompensieren, d.h. der Massenpunkt sollte sich q bewegen. In Abhängigkeit von den mit konstanter Endgeschwindigkeit −v ∞ = − mg β Anfangsbedingungen unterscheiden wir: • v0 > 0 Das entspricht dem senkrechten Wurf nach oben. Die Aufwärtsbewegung des Massenpunktes wird aber nach endlicher Zeit t u zum Stillstand kommen; anschließend setzt der freie Fall des Massenpunktes ein. Den ersten Teil der Bewegung beschreibt die Bewegungsgleichung v2 β 2 v = −g 1 + 2 . v̇ = −g 1 + mg v∞ Separation der Variablen und anschliessende Integration führt auf Z v v0 dv v v v − arctan −gt = = v∞ arctan , = v∞ arctan v2 v ∞ v0 v∞ v∞ v0 1 + v 2 v>0 ∞ Im Umkehrpunkt der Bewegung ist v = 0 und wir erhalten −gtu = − arctan v0 , v∞ so dass −g(t − tu ) = v∞ arctan 2 v v∞ =⇒ v(t) = −v∞ tan g (t − tu ), v∞ t ≤ tu . Man kann sich leicht überlegen, dass selbst die in 50 Kilometern Höhe über der Erdoberfläche wirksame Schwerebeschleunigung nur wenig von dem auf der Erdoberfläche gültigen Wert abweicht. Zumindest in den unteren 50 Kilometern der Erdatmosphäre kann also g näherungsweise als konstant engesehen werden. 5 Bei t = tu beginnt der freie Fall des Körpers, wobei die Geschwindigkeit v = −v ∞ erst nach unendlich langer Zeit erreicht werden würde. Die Bewegungsgleichung v2 v̇ = −g 1 − 2 v∞ (beachte: v < 0) hat nun die Lösung 3 Z Z t dt = −g(tu − t) = −g tu v 0 dv 1− v2 2 v∞ = v∞ artanh v v∞ bzw. v = −v∞ tanh g (t − tu ), v∞ t ≥ tu . Insgesamt erhalten wir somit v = −v∞ tan vg∞ (t − tu ) t ≤ tu tanh vg∞ (t − tu ) t > tu • −v∞ < v0 < 0: Dieser Fall ist im Prinzip schon behandelt worden. Die Bewegungsgleichung v2 (18) v̇ = −g 1 − 2 v∞ führt auf v v0 −gt = v∞ artanh − artanh v∞ v∞ • v < −v∞ < 0 Betrachten wir zum Schluss Situationen, in denen die Anfangsgeschwindigkeit betragsmäßig größer als v∞ . Wie oben bereits gesagt, nähert sich die Geschwindigkeit des Massenpunktes asymptotisch jenem Wert −v ∞ an, ohne ihn in endlicher Zeit zu erreichen. Wenn |v| also zur Zeit t = 0 grp̈ßer ist als v ∞ , so wird die Geschwindigkeit des Massenpunktes für alle Zeiten größer sein als v∞ . Wir müssen nun den anderen Lösungsast der Bewegungsgleichung (18) wählen, also v0 v − arcoth −gt = v∞ arcoth . v∞ v∞ 3 Es gilt: Z dv 2 = 1 − vv2 v∞ artanh vv∞ v∞ arcoth vv∞ ∞ 6 −v∞ < v < 0 v < −v∞ < 0 Derartige Anfangsbedingungen gelten z.B. für den Fall eines Meteoriten im Schwerefeld der Erde. Er trifft mit sehr hoher Geschwindigkeit auf die Erdatmosphäre und wird während seiner Reise durch verschiedenen Schichten der Atmosphäre stark abgebremst. Verdampft er nicht vorher aufgrund der dabei entstehenden Reibungshitze vollständig so wird seine Geschwindigkeit selbst beim Aufprall auf die Erdoberfläche noch wesentlich höher sein als v∞ . 7