K APITEL VI Relativistische Mechanik Der Formalismus des vorigen Kapitels wird nun angewandt, um die charakteristischen Größen und Funktionen zur Beschreibung der Bewegung eines freien relativistischen Massenpunktes auszudrücken (Abschn. VI.1). Dann wird die relativistische Verallgemeinerung des zweiten Newton’schen Gesetzes vorgestellt (Abschn. VI.2). VI.1 Bewegung eines freien relativistischen Teilchens VI.1.1 Lagrange-Funktion und Wirkung eines freien Teilchens Die Wirkung S eines physikalischen Systems, insbesondere eines freien Teilchens, ist eine reelle Zahl. Sie hängt von Größen — Positionen, Geschwindigkeiten — ab, die vom Bezugssystem abhängen. Die einfachste Möglichkeit um sicherzustellen, dass die Extrema der Wirkung immer für die gleichen physikalischen Trajektorien erreicht werden, entsprechend den physikalisch realisierten Bewegungen, ist, dass die Wirkung ein Lorentz-Skalar ist, d.h. den gleichen Zahlenwert in allen Inertialsystemen annimmt. Betrachte nun einen einzelnen, wechselwirkungsfreien Massenpunkt mit Masse m. Wegen der Homogenität der Raumzeit — d.h. die Invarianz der Physik unter zeitlichen und räumlichen Translationen — kann seine Lagrange-Funktion L(t, ~x, ~x˙ ) weder von der Zeit noch vom seiner Position abhängen; d.h. sie ist nur Funktion von seiner Geschwindigkeit ~v = ~x˙ . Die letztere ist zwar nicht Lorentz-invariant, jedoch die Lagrange-Funktion L selbst ist auch nicht Lorentz-invariant: nur das Produkt L dt, das zwischen zwei Zeitpunkten integriert wird, soll Lorentz-invariant sein, damit S ein Lorentz-Skalar ist. Aus dem vorigen Kapitel kennen wir eine „einfache“ Größe, proportional zum Zeitintervallelement dt und dazu Funktion der p Geschwindigkeit, die Lorentz-invariant ist, und zwar das infinitesimal Eigenzeitintervall dτ = 1 − ~v 2/c2 dt, vgl. Gl. (V.14). Somit ist ein möglicher Ansatz Z B S=α dτ (VI.1) A mit α einer reellen Zahl und A, B zwei Ereignissen der Raumzeit. Diese Wirkung lässt sich noch als Z tB r ~v 2 S=α 1 − 2 dt c tA umschreiben; daher entspricht der Ansatz einer Lagrange-Funktion r ~v 2 L=α 1− 2. c (VI.2) Wird eine Taylor-Entwicklung dieser Abhängigkeit für den nicht-relativistischen Limes |~v |/c 1 durchgeführt, so ergibt sich 4 ~v 2 ~v L=α 1− 2 +O 4 . 2c c 117 VI.1 Bewegung eines freien relativistischen Teilchens Nach Ausmultiplizieren der Klammer kommt zuerst eine Konstante (α), die keine Rolle bei den Bewegungsgleichungen spielt. Der nächste Term ist −α~v 2 /2c2 : damit er mit der Lagrange-Funktion eines nicht-relativistischen freien Teilchens 21 m~v 2 übereinstimmt, soll α gleich −mc2 sein. Somit lautet die Lagrange-Funktion bzw. die Wirkung eines freien relativistischen Massenpunktes r 2 L = −mc ~v 2 c2 (VI.3a) dτ. (VI.3b) 1− bzw. S = −mc 2 Z B A Erfahrung zeigt, dass der Ansatz (VI.3a) die richtige Physik wiedergibt, insbesondere den richtigen Impuls und die richtige Energie, wie sie im nächsten Paragraphen eingeführt werden. VI.1.2 Impuls und Energie eines freien Teilchens VI.1.2 a Impuls ::::::::::::::: Gemäß der Definition(II.12) ist die i-te Komponente des konjugierten Impulses des Massenpunktes mit Lagrange-Funktion (VI.3a) durch ∂L ∂ ẋi gegeben, wobei hier die Komponente mit einem kovarianten Index geschrieben wurde, im Einklang mit der Division durch eine kontravariante Komponente im rechten Glied. Eine einfache Berechnung gibt dann pi ≡ m~v = γm~v ~p = q 2 1 − ~vc2 (VI.4) mit γ dem Lorentz-Faktor entsprechend der Geschwindigkeit ~v . VI.1.2 b Energie :::::::::::::::: Benutzt man nun die Definition (II.25a), so lässt sich die Energie des freien relativistischen Massenpunktes als 3 X E= pi ẋi − L i=1 bestimmen, d.h. E=q mc2 1− ~v 2 c2 = γmc2 . (VI.5) In Fall eines ruhenden Massenpunktes ergibt sich E0 = mc2 , entsprechend der Massenenergie. Wiederum ist die Differenz (γ − 1)mc2 die kinetische Energie eines bewegten Massenpunktes. VI.1.2 c Viererimpuls ::::::::::::::::::::: Definiert man p0 ≡ E/c, so bilden p0 , p1 , p2 , p3 ein 4-Tupel von Zahlen, die laut den Gl. (VI.4) und (VI.5) gleich m mal den Komponenten u0 , u1 , u2 , u3 der Vierergeschwindigkeit (V.27) sind. Da die Masse m ein Lorentz-Skalar ist, sind die pµ die Komponenten eines Vierervektors p: pµ = muµ (VI.6a) 118 Relativistische Mechanik bzw. p = mu mit p= ! E/c ~p (VI.6b) . (VI.7) Dieser Vierervektor heißt Viererimpuls. Vergleicht man die Gl. (VI.4) und (VI.5), so findet man, dass sich die Geschwindigkeit als ~v = ~p c2 E (VI.8) schreiben lässt. Somit ist der nicht-relativistische Limes |~v | c äquivalent zu |~p|c E. Unter Verwendung der Definition (V.40) und der Gl. (VI.4) und (VI.5) beträgt der LorentzQuadrat p2 des Viererimpulses (VI.7) p2 ≡ − E2 + ~p 2 = −m2 c2 . c2 (VI.9) Dies folgt auch sofort aus der Beziehung (VI.6b), die zu p2 = m2 u2 führt, oder aus einer Berechnung im Ruhesystem des Massenpunktes. Dieses Ergebnis wird auch oft in der Form E 2 = ~p 2 c2 + m2 c4 (VI.10) geschrieben. Ist der erste Term auf der rechten Seite viel kleiner als der zweite, d.h. |~p| mc — was wiederum äquivalent zu |~p| E/c ist, entsprechend dem nicht-relativistischen Limes —, folgt aus einer Taylor-Entwicklung r p ~p 2 1 ~p 2 1 ~p 2 2 2 2 2 4 2 2 E = m c + ~p c = mc 1 + 2 2 = mc 1 + − + ··· m c 2 m2 c2 8 m2 c2 d.h. ~p 2 (~p 2 )2 − + ··· (VI.11) 2m 8m3 c2 Dabei erkennt man als ersten, führenden Term die Massenenergie, dann als nächsten Term die nichtrelativistische kinetische Energie, während der dritte Term (und die nächsten) eine relativistische Korrektur darstellt. Insbesondere ist im nicht-relativistischen Fall die kinetische Energie viel kleiner als die Massenenergie — die im nicht-relativistischen Rahmen aber nie ins Betracht gezogen wird, weil sie nur eine additive Konstante darstellt! E = mc2 + Schließlich folgt aus der Invarianz der Wirkung (VI.3b) unter zeitlichen und räumlichen Translationen, dass die Energie und der Impuls Konstanten der Bewegung sind, vgl. § II.3.1 a–II.3.1 b. Folglich ist der Viererimpuls erhalten, wie man auch direkt aus der Invarianz der Wirkung (VI.3b) unter den Raumzeittranslationen xµ → xµ + aµ herleiten kann. Mathematisch lässt sich diese Viererimpulserhaltung als dp =0 dτ bzw. dpµ =0 dτ (VI.12) ausdrücken: dabei wird die Ableitung nach der Eigenzeit betrachtet, um auf der linken Seite einen Lorentz-Vektor zu erhalten. Somit ergibt sich eine Gleichung, die in jedem Inertialsystem die gleiche Form annimmt, wie gemäß dem ersten Einstein’schen Postulat (V.1) der Fall sein soll. 119 VI.2 Kovariante Formulierung des Grundgesetzes der Mechanik VI.2 Kovariante Formulierung des Grundgesetzes der Mechanik Wir haben gerade gesehen, dass der Viererimpuls eines freien Massenpunktes erhalten ist, was sich „relativistisch kovariant“ als Gl. (VI.12) schreiben lässt. Unterliegt der Massenpunkt Kräften, so sollte sich dieses Ergebnis ändern, denn es ändert sich im nicht-relativistischen Fall, der als Grenzwert in den relativistischen Gleichungen erhalten ist. Um die Newton’sche Mechanik zu verallgemeinern, wird ein Vierervektor F eingeführt, die Viererkraft, mit Komponenten F µ . Im Einklang mit dem nicht-relativistischen Fall sollte eine solche Viererkraft nur von der Raumzeit-Position x und der Vierergeschwindigkeit u des Massenpunktes abhängen: F(x, u) bzw. F µ (xν , uν ). (VI.13) Insbesondere wird in Kap. ?? die Form der relativistisch kovarianten Formulierung der Lorentz-Kraft angegeben. Gegeben eine solche Viererkraft — oder die Resultierende solcher Viererkräfte —, die natürliche relativistisch kovariante Verallgemeinerung des zweiten Newton’schen Gesetzes, die auch in Abwesenheit von Kraft zur Viererimpulserhaltung (VI.12) führen wird, ist dp =F dτ (VI.14a) dpµ = F µ. dτ (VI.14b) oder äquivalent, komponentenweise Unter Einführung der Viererbeschleunigung des Massenpunktes a≡ du dτ bzw. aµ ≡ duµ dτ (VI.15) lässt sich Gl. (VI.14a) bzw. (VI.14b) als ma = m du = F bzw. dτ maµ = m duµ = F µ. dτ (VI.16) Bemerkung: Damit die Beziehungen (VI.14), (VI.16) erfüllt werden können, dürfen die Komponen- ten einer Viererkraft nicht beliebig sein. In der Tat folgt aus der Konstanz des Lorentz-Quadrats u2 der Vierergeschwindigkeit, dass diese senkrecht auf die Viererbeschleunigung ist: u · a = uµ aµ = 0. Somit soll u · F = uµ F µ = 0 gelten, d.h. nur drei Komponenten der Viererkraft sind unabhängig voneinander — z.B. die drei räumlichen Komponenten, die im nicht-relativistischen Limes die Dreierkraft wiedergeben müssen. Literatur zum Kapitel VI • Fließbach, Mechanik [2], Kap. IX. • Greiner, Klassische Mechanik I [6] Kap. III. • Landau & Lifschitz, Band II: Klassische Feldtheorie [13] = The classical theory of fields [25], Kap. II. • Nolting, Spezielle Relativitätstheorie, Thermodynamik [26], 1. Teil. • Scheck, Mechanik [17] Kap. 4.