Zur Kritik der Befreiung Einige Bemerkungen zur Aktualität emanzipatorischer Politik Roger Behrens Peter Bulthaup (1934–2004) »Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.« Karl Marx Auch wenn wir das Wort Emanzipation gemeinhin mit Befreiung übersetzen, so meint der Begriff doch wesentlich mehr, nämlich Freisetzung, Freilassung, Freisprechung und Verselbstständigung. Wenn schon Emanzipation als Befreiung definiert wird, dann also explizit im Sinne der Selbstbefreiung. Die Herkunft des Wortes ist nicht unwichtig; die Aktualität des kritischen Emanzipationsbegriffs kann nur aus der kritischen Begriffsgeschichte gewonnen werden: sie entfaltet sich schließlich aus dem kritischen Begriff der Geschichte. Ein kleiner Gewaltmarsch durch die Eiswüste der Abstraktion scheint nötig, um zum Konkreten zu gelangen, gerade wo neulinke Modetheorien auch den Emanzipationsbegriff mittlerweile bis zur postmodernen Unkenntlichkeit entstellt haben, so dass er schließlich nur noch als Minimalkonsensphrase wieder erkennbar ist. Für die kritische Theorie bleibt die Frage zentral, wovon und wofür emanzipiert wird. Emanzipation ist die praktische Selbstbefreiung des Menschen, oder sie tendiert zum Gegenteil, zur Vernichtung des Selbst. In der ›Jungle World‹ Nr. 48 war von der Gruppe sinistra zu lesen: »Wenn Macht nicht mehr in erster Linie als repressiv, ausbeutend, sondern als produktiv, konstituierend aufgefasst wird und damit bereits auf der Ebene von Subjektkonstruktion wirksam ist, die auch vor kritischen Subjekten nicht Halt macht, dann wäre der Begriff Befreiung heute sinnvoll nur als eine Befreiung von uns selbst zu füllen. Damit verliert er aber seinen eigentlichen Pepp.« Auch wenn ich mit der Stoßrichtung des Artikels ›Befreit die Emanzipation!‹ weitgehend übereinstimme, scheint mir die merkwürdig auf »Pepp« bedachte Umdeutung der Emanzipation als Selbstaufgabe äußerst problematisch zu sein. Dagegen soll hier die radikale Emanzipation des Menschen verteidigt werden. Selbstbefreiung Das zunächst im römischen Recht gebräuchliche ›emancipatio‹ – die Entlassung des Sohnes oder des Sklaven aus der väterlichen, hausherrlichen Gewalt – korrespondiert in der Bedeutung der Selbstbefreiung mit dem ebenfalls im linken Sprachgebrauch gängigen Begriff der Autonomie, der Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, nach eigenem Gesetz – von griechisch: ›autós‹ = ›selbst‹ und ›nómos‹ = ›Gesetz‹. Wie so viele Konzepte, die in eine kritische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft Eingang gefunden haben, entstammt auch Emanzipation dem Begriffsschatz des Bürgertums selbst. Die Idee der Emanzipation gehört zum Zeitalter der Aufklärung, das den Menschen mündig = frei spricht, und bildet gewissermaßen das Verbindungsstück zwischen Revolution, namentlich die französische 1789 bis 1799, und dem zeitgleich etablierten Bildungsbegriff, der etwa in der Humboldtschen Prägung die Selbstentfaltung wie Selbstentfaltungsfähigkeit des Individuums meint (im Unterschied zur Pädagogik, die den Menschen zum Selbst erzieht). Die ursprüngliche Rechtsfigur von der Freilassung aus patriarchaler Gewalt kann durchaus als Bild für die Paradoxie des bürgerlichen Emanzipationsbegriffs dienen: Die Selbstbefreiung des Subjekts ist einerseits ein Moment der fortschreitenden Verwirklichung der bürgerlichen Gesellschaft als freie Gesellschaft. Andererseits verlangt diese Emanzipation aber eben eine Freisetzung von, das heißt einen Bruch mit der Logik der bürgerlichen Gesellschaft. Die Emanzipation des bürgerlichen Subjekts scheint dort nötig zu werden, wo die bürgerliche Gesellschaft den Entwurf des emanzipierten, das heißt bürgerlichen Subjekts nicht einzulösen vermag. Die Emanzipation des Bürgers war zunächst ideologisch als religiöse Selbstbefreiung im Sinne der Glaubensfreiheit verstanden, weshalb es nicht von ungefähr kommt, dass der Emanzipationsgedanke erstmals Anfang des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Emanzipation der europäischen Juden politisch hervortritt. Weshalb es aber auch nicht von ungefähr kommt, dass der Emanzipationsgedanke zum Ende des 19. Jahrhunderts sich fast ausschließlich auf die Frau bezieht. Die politische Emanzipation bleibt auf die politische Idee bürgerlicher Gleichberechtigung beschränkt. Dass Emanzipation, ja Freiheit überhaupt möglich ist, muss bereits als ein Moment historischer Selbstbefreiung des Menschen verstanden werden; die bürgerliche Emanzipation beginnt als revolutionäre Erkenntnis, nämlich als praktische Erkenntniskritik, dass der Mensch weder von der Naturnotwendigkeit determiniert, noch vom Schicksal bestimmt sei. Die von Kant vermittelt und vermittelnd herausgestellte Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, die Hegel dann als Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit entschlüsselt, tangiert auch den bürgerlichen Emanzipationsgedanken: Freiheit beziehungsweise der freie Mensch ist ja das erkannte Ziel dieser Selbstbefreiung. Es bleibt aber die Selbstbefreiung in der Selbsterkenntnis des Menschen; und es verwundert eben nicht, dass Hegels System, das von dem Bildungsstufengang des Selbstbewusstseins handelt, ohne radikale Emanzipation auskommt: Weil in letzter Instanz die Freiheit des Subjekts in der objektiven Notwendigkeit sich aufhebt. Emanzipation meint indes ursprünglich eben nicht den Vatermord, sondern die Entlassung, um auf eigenen Wegen zum Vater zurückzukehren; im Fall der Emanzipation des bürgerlichen Subjekts ist das Vater Staat. Solche Dialektik der Selbstbefreiung muss notwendig scheitern. Die bürgerliche Emanzipation kann nur die Emanzipation des Bürgers sein. Und diese Selbstbefreiung des Bürgers als Bürger mündet in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie stellt einen Fortschritt der Selbstbefreiung dar, sofern sich die gewonnenen Freiheiten des bürgerlichen Selbst immer auf Errungenschaften beziehen, die eigentlich nur in der bürgerlichen Gesellschaft ein Problem darstellen: Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit der Forschung und Lehre etc. Es sind Freiheiten, die keine Bedeutung haben für diejenigen, die Hunger haben, die obdachlos sind, die Asyl suchen, die vom Terror bedroht sind etc. Dass aber keiner mehr hungert, also das mindeste Naturrecht und der Grundsatz menschlicher Würde, ist im bürgerlichen Zeitalter noch keinen einzigen Tag lang in Kraft gesetzt worden. Emanzipation des Menschen Idealistische Erkenntniskritik muss in materialistische Gesellschaftskritik aufgehoben werden. Die theoretische Emanzipation des Bürgers kann nur in der praktischen Emanzipation vom Bürger fortgesetzt und eingelöst werden. Und die abstrakte Kritik des Bürgers ist durch die konkrete Kritik des Menschen zu ersetzen: Marx begreift Emanzipation als radikale Selbstbefreiung des Menschen. »Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.« (MEW 1, 385) Bürgerliche Emanzipation formuliert den kategorischen Imperativ als Sittengesetz. Radikale Emanzipation fordert hingegen als »realen Humanismus« den »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« (MEW 1, 385) Diese berühmte Wendung findet sich bemerkenswerter Weise in einem Text, den Marx als Einleitung ›Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‹ schreibt; es ist eine Auseinandersetzung mit der Religionskritik in Deutschland, vor allem mit Blick auf das von revolutionärer Unruhe gekennzeichnete Frankreich. Der Schluss dieser kleinen Programmschrift, die Marx zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 schreibt, konzentriert sich auf den Begriff der Emanzipation. Das »Bedürfnis und die Fähigkeit der allgemeinen Emanzipation« werde durch die »unmittelbare Lage, durch die materielle Notwendigkeit« erzwungen. Die Möglichkeiten der Emanzipation sieht Marx allerdings nicht bei den Bürgern, sondern »einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist … welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann.« (MEW 1, 390) Gemeint ist das Proletariat. Hier gibt es keine Verelendungstheorie, keinen Klassenkampf als Selbstzweck, sondern die Bestimmung des revolutionären Subjekts als Menschen dort, wo er von den zu revolutionierenden Verhältnissen strukturell entmenschlicht wird. Diese Emanzipation ist nicht die Selbstbefreiung des Proleten zum Proleten, sondern die »Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.« (MEW 1, 391) Es ist ein materialistischer Begriff der Emanzipation des Menschen, der zugleich die Selbstbefreiung des Menschen von materieller Not wie Notwendigkeit mit einschließt. In der viel späteren Formulierung vom Reich der Freiheit und Reich der Notwendigkeit hat Marx den radikalen Gedanken wieder aufgegriffen (vgl. ›Das Kapital‹, MEW 25, 828). Radikale Emanzipation als Selbstbefreiung heißt nämlich nicht nur, das Selbst freizusetzen, sondern das Selbst überhaupt zu setzen. Insofern meint »realer Humanismus« (Marx, Engels, auch Adorno) eben nicht einfach die Befreiung des Menschen aus den unmenschlichen Verhältnissen, sondern die Erkenntnis, dass die Unmenschlichkeit bisher den Menschen nur in seinen verzerrten und verdinglichten Formen hervorbrachte: Als Bürger, als Frau, als Mann, als Kind, als Arbeiter, als Volk. Es sind Identitäten, die für das Subjekt im Kapitalismus objektiv notwendig werden. Marx, anders als die poststrukturalistische Linke es postuliert, fordert allerdings weder die Aufgabe der Identität noch die Überwindung des Subjekts. Ganz im Gegenteil formuliert er in seinen Pariser Manuskripten von 1844 die Identitätsformel des kommunistischen Subjekts: »Naturalismus = Humanismus« (MEW 40, 436). Das zielt nicht auf eine Erweiterung des bürgerlichen Emanzipationsbegriffs, sondern auf die Kritik, wonach die bürgerliche Emanzipation über die Entfremdung, nämlich die Selbstbefreiung über die Selbstentfremdung nicht hinauskommt. In der kapitalistischen Gesellschaft gelingt schließlich die Identität von Ich = Ich nur über die Wertlogik, über die Rechtsform des Subjekts, das Eigentum vermittelt: der Mensch als Besitzer, als Geldmonade, oder wie Marx schreibt: »Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen … Ich – meiner Individualität nach – bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füße; ich bin also nicht lahm; ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer. Das Geld ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut …; ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? Zudem kann er sich die geistreichen Leute kaufen, und wer die Macht über die Geistreichen hat, ist der nicht geistreicher als der Geistreiche? Ich, der durch das Geld alles, wonach ein menschliches Herz sich sehnt, vermag, besitze ich nicht alle menschlichen Vermögen? Verwandelt also mein Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr Gegenteil?« (MEW 40, 564 f.) Für die Emanzipation heißt das: so wie die bürgerliche Selbstbefreiung in der bürgerlichen Gesellschaft endet, beginnt der Kommunismus als Bewegung mit der Selbstbefreiung des Menschen als die wirkliche Vergesellschaftung des Menschen, als die menschliche Gesellschaft. Kurzum: Emanzipation fällt hier mit Kommunismus zusammen. Diese emanzipatorische Bestimmung des Menschen vollzieht Marx in zwei Schritten der materialistischen Kritik. Am 11. August 1844 schreibt Marx einen Brief an den Ludwig Feuerbach: Dieser habe in seinen Schriften – »ich weiß nicht, ob absichtlich« – dem »Sozialismus eine philosophische Grundlage gegeben … Die Einheit des Menschen mit den Menschen, die auf dem realen Unterschied der Menschen begründet ist, der Begriff der Menschengattung aus dem Himmel der Abstraktion auf die Erde herabgezogen, was ist er anders als der Begriff der Gesellschaft!« (MEW 27, 425) Das ist der erste Schritt. Marx ist zu dieser Zeit noch immer in Paris, beeindruckt von den Unruhen und Revolten in den Straßen, von den sozialen Kämpfen, aber auch vom »Kulturcharakter der Franzosen«, der Lebensfreude als politische Haltung. Marx spricht in dem Brief davon, dass sich so »das praktische Element zur Emanzipation des Menschen« vorbereite (MEW 27, 426). Ein halbes Jahr später, im Frühjahr, formuliert Marx dann den zweiten Schritt, diesmal in der Kritik Feuerbachs: Dessen Materialismus bleibe abstrakt-theoretisch, fasse die Sinnlichkeit nicht als »sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv« und »begreift daher nicht die Bedeutung der ›revolutionären‹, der ›praktisch-kritischen‹ Tätigkeit.« (MEW 3, 5) Die Emanzipation hat zum Ziel, die Forderung »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen« einzulösen. Doch dies geschieht nicht nur durch die Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft, sondern durch die Veränderung der menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse selbst. Die Selbstbefreiung von der Wirklichkeit heißt also die Verwirklichung der menschlichen Möglichkeiten. Selbstfreigabe »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« Ernst Bloch In den sozialistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts ist dieser Begriff der Emanzipation mit dem Konzept des neuen Menschen verteidigt worden. Zunächst war es für einen kurzen, aber nachhaltigen Augenblick die russische Revolution, die im Zusammenspiel mit den künstlerischen Avantgarden die Selbstbefreiung um sinnliche, ja ästhetische Dimensionen verteidigte. Spätestens Stalin hat das im Terror erstickt. Zeitgleich etabliert sich der Fordismus, mit dem die bürgerliche Gesellschaft endgültig von der Illusion Abschied nimmt, dass es ihr um den Menschen geht. Vielmehr geht es jetzt um ökonomische Effizienz und der Mensch wird vollends entfremdet zur Funktion in einer an der Verwertungslogik ausgerichteten Gesellschaft. In diesem Sinne sprechen Horkheimer und Adorno vom »universellen Verblendungszusammenhang«; im falschen Leben gibt es kein richtiges mehr, nämlich keinen Punkt mehr, von dem aus Emanzipation ansetzen könnte. (Peter Brückner hat deshalb den Ort möglicher Emanzipation neu bestimmt: als Abseits: »Es gibt immer Orte zu finden, die leer von Macht sind.« 102) Im Nationalsozialismus kulminiert die Logik in der systematischen Massenvernichtung. Der Mensch, der vorher nur als Bürger entfremdet war, ist nun als bloßes Exemplar annulliert, ausgelöscht. Es geht ums Ganze, um die Geschichte des Menschen, um die konkrete Totalität gesellschaftlichen Seins. Es geht um »permanente Revolution«, wie Trotzki gegen Stalins Sozialismus in einem Land und gegen Festsetzung der Diktatur des Proletariats verlangte. Die Einlösung der Emanzipationsformel »Naturalismus = Humanismus« bedeutet in der Tat das Himmelreich auf Erden – das ist kein Rückzug in die Religion, sondern Emanzipation der emanzipatorischen Inhalte der Religion. Diese emanzipatorische, weil weltverändernde Praxis, von der Marx ja in der berühmten 11. Feuerbachthese spricht, ist deshalb geschichtsphilosophisch im dialektischen Prozesssprung zu verstehen: Die bisherige Geschichte wird bloß Vorgeschichte sein gegenüber der dann zukommenden wirklichen Geschichte des Menschen, wirklich vom Menschen gemachten Geschichte. Im faschistischen Europa, vom nazideutschen Terror überschattet, wird solche Emanzipationshoffnung allerdings nachgerade zur zynischen Illusion – wenn man selbst diese Dialektik der Aufklärung noch im Fahrplan begreift. Dagegen hat Walter Benjamin einen neuen materialistischen Geschichtsbegriff gesetzt, der maßgeblich auch die Möglichkeiten der Selbstbefreiung neu bestimmt: Emanzipation heißt, das »Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«, die »Stillstellung« der »leeren, homogenen Zeit«; es ist die »Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten«. Revolution, das wäre der »Tigersprung ins Vergangene … unter dem freien Himmel der Geschichte« – Benjamin spricht hier von der »schwachen messianischen Kraft«. Hatte Marx die Revolution noch als Lokomotiven der Weltgeschichte beschrieben, so ist jetzt, wo die Züge in die Lager rollen, die Revolution der »Griff nach der Notbremse«. Benjamin schrieb seine Thesen über den Begriff der Geschichte kurz bevor er auf der Flucht vor den Nazis Selbstmord beging. Was bleibt also vom Entwurf radikaler Emanzipation? In der postfordistischen, spätkapitalistischen Gesellschaft werden die emanzipatorischen Tendenzen in die bestehende Ordnung eingebunden, wird der Konformismus der Masse unter dem Anschein befestigt, dass jedes Individuum sein eigener Nonkonformist ist. Freizeit wird zum Schauplatz bürgerlicher Freiheiten; und vor allem wird die Jugend im Verbund mit der Kulturindustrie zur regulierten Phase, in der emanzipatorische Unruhe gehemmt und institutionalisiert ist: In der Popkultur ist Subversion, abweichendes Verhalten kontrollierter Ausbruch, der das System in letzter Instanz bestätigt. Die PseudoEmanzipation ist nunmehr die scheinbare Freisetzung eines Pseudoselbst. Die Pseudo-Emanzipation wird am Körper vorgeführt, nicht von ungefähr als vermeintliche sexuelle Freizügigkeit. Auch ein nicht unbedeutender Teil der mit dem Poststrukturalismus sympathisierenden Linken beschränkt sich auf die Körperpolitik, glaubt, dass das Begehren sich vom Denken endlich frei machen muss, behauptet die Lust am Widerstand, der sich lediglich positivistisch auf die Oberflächenphänomene der gegenwärtigen Verhältnisse richtet. Mit Forderungen wie der nach der Befreiung vom Selbst fällt allerdings Emanzipation hinter den bürgerlichen Emanzipationsbegriff zurück; dass dabei auf Dekonstruktion von »Rasse« und Gender geachtet wird, ist nicht die Lösung des Emanzipationsproblems, sondern der Ausgangspunkt. Die Verhinderung der Selbstbefreiung wird gewissermaßen zum sozialpsychologischen Problem; die Integration der widerständigen Elemente gegen die Gesellschaft wird in der psychischen Apparatur verankert. Wo der Mensch nicht der physischen Gewalt ausgesetzt ist, verinnerlicht er das Wertgesetz, identifiziert sich mit Leistung, mit der Anpassung, den Waren. Die Widersprüche gehen durch die Subjekte hindurch. Es bleiben aber Widersprüche, die für die bestehende Gesellschaft eine strukturelle Krise bedeuten. Schon 1955 hat Herbert Marcuse in ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ festgestellt, dass es gewissermaßen einen Überschuss an Unterdrückung gibt, die das nötige Maß an Realitätsprinzip bei weitem übersteigt. Für Marcuse, der als einer der ersten 1932 die gerade veröffentlichten, oben zitierten Marxschen Frühschriften rezipiert, bedeutet dies, den Begriff der Emanzipation zu aktualisieren: er spricht von der Notwendigkeit der sozialen Phantasie. Nur eine große Weigerung vermag diesen Gewaltzusammenhang zu durchbrechen. Und ein Jahrzehnt später entdeckt er in den weltweiten Protestbewegungen Ansätze einer derartigen Selbstbefreiung. In seinem ›Versuch über die Befreiung‹ von 1969 ist von einer Neuen Sensibilität die Rede, als Vertrauen in die »Rationalität der ästhetischen Phantasie«. Sie bedeutet »eine neue Vorstellung von Sozialismus in seiner qualitativen Differenz von den etablierten Gesellschaften« (46). Ein Jahr später, natürlich auch mit Blick auf die politischen Bewegungen, hat Peter Brückner diese ästhetische Dimension der Selbstbefreiung näher bestimmt. »Selbstbefreiung wäre: Denken an Lust, die Lust am Denken sollen sich hinfort nicht mehr ausschließen.« (31) Das heißt: »Emanzipation als Selbstfreigabe und Enthemmung, Provokation als Aufstand gegen innere wie äußere Fesseln des Individuums und die Emanzipation unterdrückter Klassen … oder unterprivilegierter Gruppen.« (29) Brückner nannte das ›Provokation als organisierte Selbstfreigabe‹. Die Praxis einer radikalen Emanzipation ist ohne Theorie nicht zu haben. Die Befreiung des Körpers muss von der Befreiung des Denkens ausgehen, indem sie Befreiung eben denkt, ansonsten verkürzt sich emanzipatorischer Widerstand zum lustvollen Verzicht auf den Körper. Auch wenn die Bedingungen für eine radikale Emanzipation des Menschen nicht gegeben sind: Selbstbefreiung richtet sich nach der Möglichkeit, und nach der soll sich die Wirklichkeit richten. Sinistra behaupten: »Mit ›Nie wieder Ich‹-Transparenten lässt sich leider schlecht für eine autonome Demo mobilisieren.« Warum soll man aber auch auf seine Fahne schreiben, was die bürgerliche Gesellschaft ohnehin erledigt: Im herrschenden Sexismus, Rassismus, Antisemitismus etc. steckt nicht ein Zuviel an Subjekt, sondern das Misslingen von Subjektivität. Solange es das kommunistische Ich nicht gibt, bleibt die Aktualität emanzipatorischer Politik die Befreiung zu uns Selbst. Allein für die kritische Prüfung der Linken, für die Organisation der Politik braucht es wenigstens die Spur eines Ichs, den subjektiven Faktor. Nicht »Nie wieder Ich«, sondern den Menschen fähig machen, sein Ich selbst zu setzen, autonom und emanzipatorisch. Das wäre radikale Emanzipation des Menschen als Kritik der Befreiung.