Zur Kritik der Befreiung

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Zur Kritik der Befreiung
Einige Bemerkungen zur Aktualität emanzipatorischer
Politik
Roger Behrens
Peter Bulthaup (1934–2004)
»Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder
Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«
Karl Marx
Auch wenn wir das Wort Emanzipation gemeinhin mit Befreiung
übersetzen, so meint der Begriff doch wesentlich mehr, nämlich
Freisetzung, Freilassung, Freisprechung und Verselbstständigung.
Wenn schon Emanzipation als Befreiung definiert wird, dann also
explizit im Sinne der Selbstbefreiung. Die Herkunft des Wortes ist nicht
unwichtig; die Aktualität des kritischen Emanzipationsbegriffs kann nur
aus der kritischen Begriffsgeschichte gewonnen werden: sie entfaltet
sich schließlich aus dem kritischen Begriff der Geschichte. Ein kleiner
Gewaltmarsch durch die Eiswüste der Abstraktion scheint nötig, um
zum Konkreten zu gelangen, gerade wo neulinke Modetheorien auch den
Emanzipationsbegriff mittlerweile bis zur postmodernen
Unkenntlichkeit entstellt haben, so dass er schließlich nur noch als
Minimalkonsensphrase wieder erkennbar ist. Für die kritische Theorie
bleibt die Frage zentral, wovon und wofür emanzipiert wird.
Emanzipation ist die praktische Selbstbefreiung des Menschen, oder sie
tendiert zum Gegenteil, zur Vernichtung des Selbst.
In der ›Jungle World‹ Nr. 48 war von der Gruppe sinistra zu lesen:
»Wenn Macht nicht mehr in erster Linie als repressiv, ausbeutend,
sondern als produktiv, konstituierend aufgefasst wird und damit
bereits auf der Ebene von Subjektkonstruktion wirksam ist, die auch
vor kritischen Subjekten nicht Halt macht, dann wäre der Begriff
Befreiung heute sinnvoll nur als eine Befreiung von uns selbst zu füllen.
Damit verliert er aber seinen eigentlichen Pepp.« Auch wenn ich mit der
Stoßrichtung des Artikels ›Befreit die Emanzipation!‹ weitgehend
übereinstimme, scheint mir die merkwürdig auf »Pepp« bedachte
Umdeutung der Emanzipation als Selbstaufgabe äußerst problematisch
zu sein. Dagegen soll hier die radikale Emanzipation des Menschen
verteidigt werden.
Selbstbefreiung
Das zunächst im römischen Recht gebräuchliche ›emancipatio‹ – die
Entlassung des Sohnes oder des Sklaven aus der väterlichen,
hausherrlichen Gewalt – korrespondiert in der Bedeutung der
Selbstbefreiung mit dem ebenfalls im linken Sprachgebrauch gängigen
Begriff der Autonomie, der Unabhängigkeit, Selbstständigkeit,
Selbstbestimmung, nach eigenem Gesetz – von griechisch: ›autós‹ =
›selbst‹ und ›nómos‹ = ›Gesetz‹. Wie so viele Konzepte, die in eine
kritische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft Eingang gefunden
haben, entstammt auch Emanzipation dem Begriffsschatz des
Bürgertums selbst. Die Idee der Emanzipation gehört zum Zeitalter der
Aufklärung, das den Menschen mündig = frei spricht, und bildet
gewissermaßen das Verbindungsstück zwischen Revolution, namentlich
die französische 1789 bis 1799, und dem zeitgleich etablierten
Bildungsbegriff, der etwa in der Humboldtschen Prägung die
Selbstentfaltung wie Selbstentfaltungsfähigkeit des Individuums meint
(im Unterschied zur Pädagogik, die den Menschen zum Selbst erzieht).
Die ursprüngliche Rechtsfigur von der Freilassung aus patriarchaler
Gewalt kann durchaus als Bild für die Paradoxie des bürgerlichen
Emanzipationsbegriffs dienen: Die Selbstbefreiung des Subjekts ist
einerseits ein Moment der fortschreitenden Verwirklichung der
bürgerlichen Gesellschaft als freie Gesellschaft. Andererseits verlangt
diese Emanzipation aber eben eine Freisetzung von, das heißt einen
Bruch mit der Logik der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Emanzipation des bürgerlichen Subjekts scheint dort nötig zu
werden, wo die bürgerliche Gesellschaft den Entwurf des emanzipierten,
das heißt bürgerlichen Subjekts nicht einzulösen vermag. Die
Emanzipation des Bürgers war zunächst ideologisch als religiöse
Selbstbefreiung im Sinne der Glaubensfreiheit verstanden, weshalb es
nicht von ungefähr kommt, dass der Emanzipationsgedanke erstmals
Anfang des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Emanzipation
der europäischen Juden politisch hervortritt. Weshalb es aber auch
nicht von ungefähr kommt, dass der Emanzipationsgedanke zum Ende
des 19. Jahrhunderts sich fast ausschließlich auf die Frau bezieht. Die
politische Emanzipation bleibt auf die politische Idee bürgerlicher
Gleichberechtigung beschränkt.
Dass Emanzipation, ja Freiheit überhaupt möglich ist, muss bereits als ein
Moment historischer Selbstbefreiung des Menschen verstanden werden;
die bürgerliche Emanzipation beginnt als revolutionäre Erkenntnis,
nämlich als praktische Erkenntniskritik, dass der Mensch weder von
der Naturnotwendigkeit determiniert, noch vom Schicksal bestimmt sei.
Die von Kant vermittelt und vermittelnd herausgestellte Freiheit als
Einsicht in die Notwendigkeit, die Hegel dann als Dialektik von Freiheit
und Notwendigkeit entschlüsselt, tangiert auch den bürgerlichen
Emanzipationsgedanken: Freiheit beziehungsweise der freie Mensch ist
ja das erkannte Ziel dieser Selbstbefreiung. Es bleibt aber die
Selbstbefreiung in der Selbsterkenntnis des Menschen; und es
verwundert eben nicht, dass Hegels System, das von dem
Bildungsstufengang des Selbstbewusstseins handelt, ohne radikale
Emanzipation auskommt: Weil in letzter Instanz die Freiheit des Subjekts
in der objektiven Notwendigkeit sich aufhebt. Emanzipation meint indes
ursprünglich eben nicht den Vatermord, sondern die Entlassung, um
auf eigenen Wegen zum Vater zurückzukehren; im Fall der Emanzipation
des bürgerlichen Subjekts ist das Vater Staat.
Solche Dialektik der Selbstbefreiung muss notwendig scheitern. Die
bürgerliche Emanzipation kann nur die Emanzipation des Bürgers sein.
Und diese Selbstbefreiung des Bürgers als Bürger mündet in der
bürgerlichen Gesellschaft. Sie stellt einen Fortschritt der Selbstbefreiung
dar, sofern sich die gewonnenen Freiheiten des bürgerlichen Selbst
immer auf Errungenschaften beziehen, die eigentlich nur in der
bürgerlichen Gesellschaft ein Problem darstellen: Pressefreiheit,
Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit der Forschung
und Lehre etc. Es sind Freiheiten, die keine Bedeutung haben für
diejenigen, die Hunger haben, die obdachlos sind, die Asyl suchen, die
vom Terror bedroht sind etc. Dass aber keiner mehr hungert, also das
mindeste Naturrecht und der Grundsatz menschlicher Würde, ist im
bürgerlichen Zeitalter noch keinen einzigen Tag lang in Kraft gesetzt
worden.
Emanzipation des Menschen
Idealistische Erkenntniskritik muss in materialistische
Gesellschaftskritik aufgehoben werden. Die theoretische Emanzipation
des Bürgers kann nur in der praktischen Emanzipation vom Bürger
fortgesetzt und eingelöst werden. Und die abstrakte Kritik des Bürgers
ist durch die konkrete Kritik des Menschen zu ersetzen: Marx begreift
Emanzipation als radikale Selbstbefreiung des Menschen. »Radikal sein
ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist
aber der Mensch selbst.« (MEW 1, 385) Bürgerliche Emanzipation
formuliert den kategorischen Imperativ als Sittengesetz. Radikale
Emanzipation fordert hingegen als »realen Humanismus« den
»kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der
Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein
verächtliches Wesen ist.« (MEW 1, 385) Diese berühmte Wendung
findet sich bemerkenswerter Weise in einem Text, den Marx als
Einleitung ›Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‹ schreibt; es ist
eine Auseinandersetzung mit der Religionskritik in Deutschland, vor
allem mit Blick auf das von revolutionärer Unruhe gekennzeichnete
Frankreich. Der Schluss dieser kleinen Programmschrift, die Marx
zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 schreibt, konzentriert sich auf
den Begriff der Emanzipation. Das »Bedürfnis und die Fähigkeit der
allgemeinen Emanzipation« werde durch die »unmittelbare Lage, durch
die materielle Notwendigkeit« erzwungen. Die Möglichkeiten der
Emanzipation sieht Marx allerdings nicht bei den Bürgern, sondern
»einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der
bürgerlichen Gesellschaft ist … welche mit einem Wort der völlige
Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung
des Menschen sich selbst gewinnen kann.« (MEW 1, 390) Gemeint ist
das Proletariat. Hier gibt es keine Verelendungstheorie, keinen
Klassenkampf als Selbstzweck, sondern die Bestimmung des
revolutionären Subjekts als Menschen dort, wo er von den zu
revolutionierenden Verhältnissen strukturell entmenschlicht wird. Diese
Emanzipation ist nicht die Selbstbefreiung des Proleten zum Proleten,
sondern die »Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser
Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die
Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des
Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die
Verwirklichung der Philosophie.« (MEW 1, 391)
Es ist ein materialistischer Begriff der Emanzipation des Menschen, der
zugleich die Selbstbefreiung des Menschen von materieller Not wie
Notwendigkeit mit einschließt. In der viel späteren Formulierung vom
Reich der Freiheit und Reich der Notwendigkeit hat Marx den radikalen
Gedanken wieder aufgegriffen (vgl. ›Das Kapital‹, MEW 25, 828).
Radikale Emanzipation als Selbstbefreiung heißt nämlich nicht nur, das
Selbst freizusetzen, sondern das Selbst überhaupt zu setzen. Insofern
meint »realer Humanismus« (Marx, Engels, auch Adorno) eben nicht
einfach die Befreiung des Menschen aus den unmenschlichen
Verhältnissen, sondern die Erkenntnis, dass die Unmenschlichkeit
bisher den Menschen nur in seinen verzerrten und verdinglichten
Formen hervorbrachte: Als Bürger, als Frau, als Mann, als Kind, als
Arbeiter, als Volk. Es sind Identitäten, die für das Subjekt im
Kapitalismus objektiv notwendig werden. Marx, anders als die
poststrukturalistische Linke es postuliert, fordert allerdings weder die
Aufgabe der Identität noch die Überwindung des Subjekts. Ganz im
Gegenteil formuliert er in seinen Pariser Manuskripten von 1844 die
Identitätsformel des kommunistischen Subjekts: »Naturalismus =
Humanismus« (MEW 40, 436). Das zielt nicht auf eine Erweiterung des
bürgerlichen Emanzipationsbegriffs, sondern auf die Kritik, wonach die
bürgerliche Emanzipation über die Entfremdung, nämlich die
Selbstbefreiung über die Selbstentfremdung nicht hinauskommt. In der
kapitalistischen Gesellschaft gelingt schließlich die Identität von Ich =
Ich nur über die Wertlogik, über die Rechtsform des Subjekts, das
Eigentum vermittelt: der Mensch als Besitzer, als Geldmonade, oder wie
Marx schreibt: »Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines
Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und
vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin
häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen … Ich – meiner
Individualität nach – bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füße; ich
bin also nicht lahm; ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser,
geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer. Das
Geld ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut …; ich bin geistlos,
aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer
geistlos sein? Zudem kann er sich die geistreichen Leute kaufen, und wer
die Macht über die Geistreichen hat, ist der nicht geistreicher als der
Geistreiche? Ich, der durch das Geld alles, wonach ein menschliches Herz
sich sehnt, vermag, besitze ich nicht alle menschlichen Vermögen?
Verwandelt also mein Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr
Gegenteil?« (MEW 40, 564 f.)
Für die Emanzipation heißt das: so wie die bürgerliche Selbstbefreiung
in der bürgerlichen Gesellschaft endet, beginnt der Kommunismus als
Bewegung mit der Selbstbefreiung des Menschen als die wirkliche
Vergesellschaftung des Menschen, als die menschliche Gesellschaft.
Kurzum: Emanzipation fällt hier mit Kommunismus zusammen. Diese
emanzipatorische Bestimmung des Menschen vollzieht Marx in zwei
Schritten der materialistischen Kritik. Am 11. August 1844 schreibt
Marx einen Brief an den Ludwig Feuerbach: Dieser habe in seinen
Schriften – »ich weiß nicht, ob absichtlich« – dem »Sozialismus eine
philosophische Grundlage gegeben … Die Einheit des Menschen mit den
Menschen, die auf dem realen Unterschied der Menschen begründet ist,
der Begriff der Menschengattung aus dem Himmel der Abstraktion auf
die Erde herabgezogen, was ist er anders als der Begriff der
Gesellschaft!« (MEW 27, 425) Das ist der erste Schritt. Marx ist zu dieser
Zeit noch immer in Paris, beeindruckt von den Unruhen und Revolten
in den Straßen, von den sozialen Kämpfen, aber auch vom
»Kulturcharakter der Franzosen«, der Lebensfreude als politische
Haltung. Marx spricht in dem Brief davon, dass sich so »das praktische
Element zur Emanzipation des Menschen« vorbereite (MEW 27, 426).
Ein halbes Jahr später, im Frühjahr, formuliert Marx dann den zweiten
Schritt, diesmal in der Kritik Feuerbachs: Dessen Materialismus bleibe
abstrakt-theoretisch, fasse die Sinnlichkeit nicht als »sinnlich
menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv« und »begreift daher
nicht die Bedeutung der ›revolutionären‹, der ›praktisch-kritischen‹
Tätigkeit.« (MEW 3, 5)
Die Emanzipation hat zum Ziel, die Forderung »Jeder nach seinen
Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen« einzulösen. Doch dies
geschieht nicht nur durch die Umwälzung der kapitalistischen
Gesellschaft, sondern durch die Veränderung der menschlichen
Fähigkeiten und Bedürfnisse selbst. Die Selbstbefreiung von der
Wirklichkeit heißt also die Verwirklichung der menschlichen
Möglichkeiten.
Selbstfreigabe
»Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« Ernst Bloch
In den sozialistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts ist dieser
Begriff der Emanzipation mit dem Konzept des neuen Menschen
verteidigt worden. Zunächst war es für einen kurzen, aber nachhaltigen
Augenblick die russische Revolution, die im Zusammenspiel mit den
künstlerischen Avantgarden die Selbstbefreiung um sinnliche, ja
ästhetische Dimensionen verteidigte. Spätestens Stalin hat das im Terror
erstickt. Zeitgleich etabliert sich der Fordismus, mit dem die bürgerliche
Gesellschaft endgültig von der Illusion Abschied nimmt, dass es ihr um
den Menschen geht. Vielmehr geht es jetzt um ökonomische Effizienz
und der Mensch wird vollends entfremdet zur Funktion in einer an der
Verwertungslogik ausgerichteten Gesellschaft. In diesem Sinne sprechen
Horkheimer
und
Adorno
vom
»universellen
Verblendungszusammenhang«; im falschen Leben gibt es kein richtiges
mehr, nämlich keinen Punkt mehr, von dem aus Emanzipation ansetzen
könnte. (Peter Brückner hat deshalb den Ort möglicher Emanzipation
neu bestimmt: als Abseits: »Es gibt immer Orte zu finden, die leer von
Macht sind.« 102) Im Nationalsozialismus kulminiert die Logik in der
systematischen Massenvernichtung. Der Mensch, der vorher nur als
Bürger entfremdet war, ist nun als bloßes Exemplar annulliert,
ausgelöscht.
Es geht ums Ganze, um die Geschichte des Menschen, um die konkrete
Totalität gesellschaftlichen Seins. Es geht um »permanente Revolution«,
wie Trotzki gegen Stalins Sozialismus in einem Land und gegen
Festsetzung der Diktatur des Proletariats verlangte. Die Einlösung der
Emanzipationsformel »Naturalismus = Humanismus« bedeutet in der Tat
das Himmelreich auf Erden – das ist kein Rückzug in die Religion,
sondern Emanzipation der emanzipatorischen Inhalte der Religion. Diese
emanzipatorische, weil weltverändernde Praxis, von der Marx ja in der
berühmten 11. Feuerbachthese spricht,
ist
deshalb
geschichtsphilosophisch im dialektischen Prozesssprung zu verstehen:
Die bisherige Geschichte wird bloß Vorgeschichte sein gegenüber der
dann zukommenden wirklichen Geschichte des Menschen, wirklich vom
Menschen gemachten Geschichte. Im faschistischen Europa, vom
nazideutschen Terror überschattet, wird solche Emanzipationshoffnung
allerdings nachgerade zur zynischen Illusion – wenn man selbst diese
Dialektik der Aufklärung noch im Fahrplan begreift. Dagegen hat Walter
Benjamin einen neuen materialistischen Geschichtsbegriff gesetzt, der
maßgeblich auch die Möglichkeiten der Selbstbefreiung neu bestimmt:
Emanzipation heißt, das »Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«,
die »Stillstellung« der »leeren, homogenen Zeit«; es ist die »Aufgabe, die
Geschichte gegen den Strich zu bürsten«. Revolution, das wäre der
»Tigersprung ins Vergangene … unter dem freien Himmel der
Geschichte« – Benjamin spricht hier von der »schwachen messianischen
Kraft«. Hatte Marx die Revolution noch als Lokomotiven der
Weltgeschichte beschrieben, so ist jetzt, wo die Züge in die Lager rollen,
die Revolution der »Griff nach der Notbremse«. Benjamin schrieb seine
Thesen über den Begriff der Geschichte kurz bevor er auf der Flucht
vor den Nazis Selbstmord beging.
Was bleibt also vom Entwurf radikaler Emanzipation? In der
postfordistischen, spätkapitalistischen Gesellschaft werden die
emanzipatorischen Tendenzen in die bestehende Ordnung eingebunden,
wird der Konformismus der Masse unter dem Anschein befestigt, dass
jedes Individuum sein eigener Nonkonformist ist. Freizeit wird zum
Schauplatz bürgerlicher Freiheiten; und vor allem wird die Jugend im
Verbund mit der Kulturindustrie zur regulierten Phase, in der
emanzipatorische Unruhe gehemmt und institutionalisiert ist: In der
Popkultur ist Subversion, abweichendes Verhalten kontrollierter
Ausbruch, der das System in letzter Instanz bestätigt. Die PseudoEmanzipation ist nunmehr die scheinbare Freisetzung eines
Pseudoselbst. Die Pseudo-Emanzipation wird am Körper vorgeführt,
nicht von ungefähr als vermeintliche sexuelle Freizügigkeit. Auch ein
nicht unbedeutender Teil der mit dem Poststrukturalismus
sympathisierenden Linken beschränkt sich auf die Körperpolitik,
glaubt, dass das Begehren sich vom Denken endlich frei machen muss,
behauptet die Lust am Widerstand, der sich lediglich positivistisch auf
die Oberflächenphänomene der gegenwärtigen Verhältnisse richtet. Mit
Forderungen wie der nach der Befreiung vom Selbst fällt allerdings
Emanzipation hinter den bürgerlichen Emanzipationsbegriff zurück;
dass dabei auf Dekonstruktion von »Rasse« und Gender geachtet wird,
ist nicht die Lösung des Emanzipationsproblems, sondern der
Ausgangspunkt.
Die Verhinderung der Selbstbefreiung wird gewissermaßen zum
sozialpsychologischen Problem; die Integration der widerständigen
Elemente gegen die Gesellschaft wird in der psychischen Apparatur
verankert. Wo der Mensch nicht der physischen Gewalt ausgesetzt ist,
verinnerlicht er das Wertgesetz, identifiziert sich mit Leistung, mit der
Anpassung, den Waren. Die Widersprüche gehen durch die Subjekte
hindurch. Es bleiben aber Widersprüche, die für die bestehende
Gesellschaft eine strukturelle Krise bedeuten. Schon 1955 hat Herbert
Marcuse in ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ festgestellt, dass es
gewissermaßen einen Überschuss an Unterdrückung gibt, die das nötige
Maß an Realitätsprinzip bei weitem übersteigt. Für Marcuse, der als einer
der ersten 1932 die gerade veröffentlichten, oben zitierten Marxschen
Frühschriften rezipiert, bedeutet dies, den Begriff der Emanzipation zu
aktualisieren: er spricht von der Notwendigkeit der sozialen Phantasie.
Nur eine große Weigerung vermag diesen Gewaltzusammenhang zu
durchbrechen. Und ein Jahrzehnt später entdeckt er in den weltweiten
Protestbewegungen Ansätze einer derartigen Selbstbefreiung. In seinem
›Versuch über die Befreiung‹ von 1969 ist von einer Neuen Sensibilität
die Rede, als Vertrauen in die »Rationalität der ästhetischen Phantasie«.
Sie bedeutet »eine neue Vorstellung von Sozialismus in seiner
qualitativen Differenz von den etablierten Gesellschaften« (46). Ein Jahr
später, natürlich auch mit Blick auf die politischen Bewegungen, hat
Peter Brückner diese ästhetische Dimension der Selbstbefreiung näher
bestimmt. »Selbstbefreiung wäre: Denken an Lust, die Lust am Denken
sollen sich hinfort nicht mehr ausschließen.« (31) Das heißt:
»Emanzipation als Selbstfreigabe und Enthemmung, Provokation als
Aufstand gegen innere wie äußere Fesseln des Individuums und die
Emanzipation unterdrückter Klassen … oder unterprivilegierter
Gruppen.« (29) Brückner nannte das ›Provokation als organisierte
Selbstfreigabe‹.
Die Praxis einer radikalen Emanzipation ist ohne Theorie nicht zu haben.
Die Befreiung des Körpers muss von der Befreiung des Denkens
ausgehen, indem sie Befreiung eben denkt, ansonsten verkürzt sich
emanzipatorischer Widerstand zum lustvollen Verzicht auf den Körper.
Auch wenn die Bedingungen für eine radikale Emanzipation des
Menschen nicht gegeben sind: Selbstbefreiung richtet sich nach der
Möglichkeit, und nach der soll sich die Wirklichkeit richten. Sinistra
behaupten: »Mit ›Nie wieder Ich‹-Transparenten lässt sich leider
schlecht für eine autonome Demo mobilisieren.« Warum soll man aber
auch auf seine Fahne schreiben, was die bürgerliche Gesellschaft
ohnehin erledigt: Im herrschenden Sexismus, Rassismus, Antisemitismus
etc. steckt nicht ein Zuviel an Subjekt, sondern das Misslingen von
Subjektivität. Solange es das kommunistische Ich nicht gibt, bleibt die
Aktualität emanzipatorischer Politik die Befreiung zu uns Selbst. Allein
für die kritische Prüfung der Linken, für die Organisation der Politik
braucht es wenigstens die Spur eines Ichs, den subjektiven Faktor.
Nicht »Nie wieder Ich«, sondern den Menschen fähig machen, sein Ich
selbst zu setzen, autonom und emanzipatorisch. Das wäre radikale
Emanzipation des Menschen als Kritik der Befreiung.
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