Erscheint in: Bredel, Ursula / Müller, Astrid / Hinney, Gabriele (Hgg.) Schriftsystem und Schrifterwerb: linguistisch – didaktisch – empirisch. Tübingen: Niemeyer. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems Beatrice Primus 1. Vorbemerkungen In der Sprachdidaktik1 setzt sich in zunehmendem Maße die Auffassung durch, dass der Schriftspracherwerb als eigenaktives Lernen in einem teilweise selbstorganisierten Entwicklungsprozess stattfindet. Der Erwerb des Schriftsystems beruht zu einem Großteil auf der impliziten, unbewussten Anwendung von Prinzipien und Problemlösungsstragien. Er läuft in diesem Sinne eher als unbewusste Entdeckung schriftsprachlicher Prinzipien und Beschränkungen ab und weniger als bewusstes Erlernen orthographischer Regeln. Das bedeutet unter anderem, dass der Erwerbsprozess maßgeblich von den strukturellen Gegebenheiten des Lerngegenstandes geprägt ist. Mehrere Untersuchungen belegen die Plausibilität dieser Auffassung. Hier sei lediglich auf Afflerbachs Untersuchung (1997) über den Erwerb der Kommasetzung vom 7. bis zum 17. Lebensjahr hingewiesen. Ihre Untersuchung ergab, dass die Kommasetzung der untersuchten 7-jährigen Kinder bereits weitgehend systemkonform ist, wenngleich nicht alle kommarelevanten Stellen berücksichtigt wurden. Außerdem stellte sie fest, dass die Ontogenese der Kommakompetenz weitgehend unabhängig von Lehrprozessen ist.2 Sie schlägt ein Erwerbsmodell vor, nach dem sich die Lerner zunächst eigenaktiv mit dem System auseinandersetzen. In einer zweiten Phase wenden sie das gelernte System bewusst an, bevor in einer dritten Phase die bewusste Interpungierung wieder zurückgeht und Routineprozessen weicht, die nur noch bedingt der Reflexion zugänglich sind. Für den Sprach- und Rechtschreibunterricht ergeben sich aus diesen Beobachtungen mehrere Konsequenzen. Didaktische Methoden sind gefragt, die den selbstorganisierten Erwerbsprozess stützen und sich an den strukturellen Gegebenheiten des Lerngegenstandes, des Sprachsystems und des entsprechenden Schriftsystems, orientieren. Dies bedeutet zugleich eine sinnvolle Differenzierung zwischen Sprachnorm und Sprachsystem und entsprechend dazu zwischen Orthographie und Schriftsystem vorzunehmen. Von vielen Didaktikern wird daher als Lerninhalt in erster Linie das Schriftsystem und nur in einem zweiten Schritt das amtliche Regelwerk propagiert.3 Aber auch dies genügt nicht. Eine falsche Konzeptualisierung der Schriftsystemregularitäten kann ebenfalls negative Folgen zeitigen (vgl. u.a. Röber-Siekmeyer 1993, Röber-Siekmeyer / Pfisterer 1998, Günther / Nünke 2005, Bredel, a) in diesem Band). Deshalb sind Lehrende, die bereit sind, diesem Erwerbskonzept zu folgen, auf mehrfache Weise auf sicheres Sprach- und Schriftsystemwissen angewiesen. Zum einen spielt dieses Wissen bei der Entwicklung erfolgreicher Unterrichtsmethoden und bei der Vermittlung eine wichtige Rolle4 und zum anderen bei der Fehleranalyse, die an den Vermittlungsprozess gekoppelt ist. 1 Für hilfreiche Hinweise und Kommentare danke ich den Bandherausgeberinnen und Nanna Fuhrhop. Ähnliche Beobachtungen gibt es auch im Bereich der Groß-/Kleinschreibung. So konnte Bredel (2006) schon in der ersten Klasse über 69% korrekte Groß-/Kleinschreibungen registrieren, obwohl eine explizite Unterweisung noch nicht stattgefunden hatte. 3 Vgl. Röber-Siekmeyer 1993, Hinney 1997, Günther / Nünke 2005, Eisenberg / Fuhrhop 2007 und Bredel et al., in diesem Band. 4 Damit ist nicht gemeint, dass die didaktische Vermittlung den hier vorgestellten Schriftsystemregeln möglichst getreu zu folgen hat, sondern dass sie so konzipiert werden sollte, dass der Zugang zu ihnen erleichert wird. 2 2 Der folgende Beitrag setzt sich das Ziel, den Zugang zu den strukturellen und funktionalen Grundlagen des deutschen Schriftsystems zu erleichtern, indem er eine exemplarische Auswahl an Erscheinungen und einen Überblick über neue, didaktisch einschlägige Forschungsergebnisse bietet. Dabei sollen die strukturellen Grundlagen des deutschen Schriftsystems auf allen Ebenen, von der Lautstruktur über die Wortstruktur zur Satzstruktur, berücksichtigt werden, d.h. bezogen auf die Graphematik im weitesten, von den Bandherausgeberinnen verwendeten Sinn. Die hier angebotene zusammenfassende Darstellung berücksichtigt die nach Einschätzung der Autorin tragfähigsten neuen Forschungsergebnisse auf diesem inzwischen sehr intensiv erforschten Gebiet. Sie ist eine sinnvolle Ergänzung zu Gesamtdarstellungen, die in recht unterschiedlichem Maße neueste Erkenntnisse berücksichtigen (vgl. Maas 1992, Dürscheid 2006, Augst / Dehn 2007, Nerius 2007, Fuhrhop 2008a). Schriftsystemregularitäten, die sich auf das lautsprachlich realisierte Sprachsystem beziehen, werden traditionellerweise als Prinzipien der Orthographie zusammengefasst. Diese wurden bereits in der älteren Forschung den sprachlichen Ebenen bzw. Wissenskomponenten folgend in phonologische, morphologische, syntaktische oder semantische systematisiert (Nerius / Scharnhorst 1980). Der Ebenensystematik folgt weitgehend auch der vorliegende Beitrag. Die folgenden drei Abschnitte sind den drei wichtigsten Strukturebenen gewidmet: den phonographischen, morphologischen und syntaktischen Strukturen. Bevor wir in die Diskussion der Schriftsystemregularitäten einsteigen, sollen grundlegende Methoden und Begriffe, die für die Didaktik bedeutsam sind, aber meistens stillschweigend vorausgesetzt werden, erläutert werden. Es gibt allgemeine Regeln bzw. Beschränkungen des Schriftsystems – wir nennen sie Grundregeln –, die von spezifischeren Regeln (Spezialregeln) dominiert und somit in ihrer Wirkung blockiert werden können. Unter der Bedingung, dass eine Regel eine andere dominiert, sind dominierte Regeln verletzbar.5 Übliche Formulierungen sind etwa folgende: Der Langvokal /i:/ wird durch <ie> wiedergegeben, es sei denn es liegt ein Fremdwort vor (vgl. Röber 2006). Der erste Halbsatz formuliert die Grundregel, der zweite die Spezialregel für Fremdwörter, die Vorrang erhält, sofern ihre zusätzliche Eingabebedingung „Fremdwort“ erfüllt ist. So schreibt man viel und sieben, aber Riten und Limes. Diese Regelinteraktion ist nicht mit Regel und Ausnahme zu verwechseln. Grundregel und Spezialregel sind systematisch: einmal gelernt, können beide Regeltypen auf beliebige gleichgeartete Fälle übertragen werden, womit solche Fälle vorhersagbar sind. Ausnahmen sind nicht-vorhersagbare Einzelfälle, die nicht systematisiert werden können und lexikalisches Lernen erfordern, wie etwa die Dehnungsschreibung mit <aa> oder <oo> wie in Haar und Moor. Hier handelt es sich um echte Irregularitäten. Zu den grundlegenden Konzepten gehören auch die einander nahe stehenden Begriffe der Markiertheit, des Kanonischen und des Prototypischen (vgl. Taylor 1995, Fuhrhop 2007, Bredel, a) in diesem Band, Fuhrhop in diesem Band). Die einzelnen Elemente einer sprachlichen Kategorie sind nicht gleichrangig, sondern nach ihrer kognitiven Einfachheit geordnet. So ist etwa ein Nomen, das plural-, artikel- und attributfähig ist, wie etwa (ein) Haus oder (dicke) Bäume, prototypischer als ein Nomen, das keines dieser Eigenschaften aufweist (vgl. Abschnitt 4.1 weiter unten). Prototypische Elemente bilden den Kern einer Kategorie oder eines Systems, nicht-prototypische Elemente die Peripherie. Für prototypische (unmarkierte, kanonische) Erscheinungen gilt u. a., dass sie im Normalfall früher erworben, kognitiv schneller verarbeitet, häufiger verwendet und sprachlich einfacher kodiert werden als weniger prototypische Elemente derselben Klasse. Für die Unterrichtsmethodik ergeben sich aus diesen Überlegungen erste grobe Orientierungshilfen: Grundregel vor Spezialregel vor 5 Ein neueres Grammatikmodell, das die Interaktion verletzbarer Beschränkungen zentral in den Blick nimmt, ist die Optimalitätstheorie. Schriftsystemuntersuchungen im Rahmen der Optimalitätstheorie sind z. B. Jacobs (2005), Hemmerich (2007), Geilfuß-Wolfgang (2007). 3 Irregularität sowie prototypische (kanonische) Erscheinungen vor weniger prototypischen (vgl. Bredel, a) in diesem Band; Fuhrhop, in diesem Band). 2. Phonographische Strukturen In diesem Abschnitt werden wir einige exemplarische Erscheinungen betrachten, die unter das phonologische (oder phonographische) Prinzip des Schriftsystems fallen. Üblicherweise behandelt man auf dieser Ebene Phoneme bzw. Laute einerseits und Grapheme bzw. Buchstaben andererseits. Der Zusammenhang zwischen den beiden Bezugsgrößen wird in Phonem-Graphem-Korrespondenzen ausgedrückt. Die entsprechende allgemeinere Generalisierung liefert das phonographische Prinzip, das von Nerius (2007: 100) in Einklang mit der traditionelleren Forschung wie folgt formuliert wird: „die Buchstaben- oder Graphemschrift, bei der Buchstaben oder Buchstabengruppen (Grapheme) einzelne Laute oder Lautgruppen (Phoneme oder Phonemverbindungen) repräsentieren“. „Unregelmäßigkeiten“ werden wie folgt charakterisiert: „Mehrfach sind einem Phonem mehrere Buchstaben bzw. einem Buchstaben mehrere Phoneme zuzuordnen“ (2007: 103). So zum Beispiel, „dass sich der Buchstabe <a> auf die zwei Phoneme /a/ und /a:/ zu beziehen vermag“ (2007: 109). Soweit die herkömmliche, auf lineare Buchstaben- und Phonemfolgen basierte Auffassung. Wie sich gleich zeigen wird, sieht sie sich mit mehr Unregelmäßigkeiten als nötig konfrontiert. Die neuere Schriftsystemforschung trägt der in der neueren Phonologie entwickelten Annahme Rechnung, dass lautliche und somit auch graphematische Einheiten auf mehreren Ebenen hierarchisch strukturiert sind. Inzwischen werden in mehreren Arbeiten Silbe, Fuß und Wort als weitere Bezugsgrößen berücksichtigt. Der folgende Abschnitt zeigt an exemplarischen Erscheinungen, dass phonographische Erscheinungen nur mit Bezug auf diese Struktureinheiten systematischer erfasst werden können als in herkömmlichen Ansätzen. (1) illustriert die hierarchische graphematische Analyse des Wortes schrieben: (1) <ω> | F graphematisches Wort graphematischer Fuß σ A N σ A | G | b G G G G | | | sch r i e | <gerundet> <kanonisch> graphematische Silben N | G | e E | G | n Konstituenten der Silbe: A = Anfangsrand, N = Nukleus, E = Endrand Grapheme Buchstaben Buchstabenmerkmale für <e> Wir gehen in (1) davon aus, dass Laut- und Schrifteinheiten analog strukturiert sind: beide Systeme verfügen über die in (1) angegebenen, teilweise anders benannten Struktureinheiten und strukturieren diese auch weitgehend analog. Die kleinste funktionale Spracheinheit ist das Merkmal, d. h. die kleinste bedeutungsunterscheidende Komponente eines Lautes oder 4 Buchstabens. Die in (1) angegebenen Merkmale für <e> werden weiter unten erläutert. Merkmale werden zu Buchstaben zusammengefügt. Bestimmte Buchstaben können alleine oder in bestimmten Verbindungen wie bspw. <sch> Grapheme bilden. Grapheme wiederum bilden Silbenkonstituenten, die zu ganzen Silben, sodann zu Füßen und schließlich zu Wörtern zusammengefügt werden. Die in (1) angegebenen Strukturebenen werden im Folgenden beginnend mit den Buchstabenmerkmalen der Reihe nach besprochen. 2.1 Buchstabenmerkmale, Buchstaben, Grapheme Wie bereits erwähnt, stellt laut Mehrheitsmeinung der Buchstabe die kleinste relevante Beschreibungseinheit des Schriftsystems dar. Das Kernstück der traditionellen Graphematik bilden Laut-Buchstaben- bzw. Phonem-Graphem-Zuordnungen, die im strengen Sinne keine Regeln sind, da sie sich auf einzelne Einheiten und nicht auf Klassen von Einheiten beziehen. Regeln, einmal erworben, sind auf mehrere gleichgeartete Einheiten anwendbar. Die Entwicklung einer regelbezogenen Graphematik kann nur gelingen, wenn Buchstaben in ihre Bestandteile zerlegt und mit Hilfe von Merkmalen zu Klassen zusammengefasst werden. Erste Schritte in dieser Richtung wurden in Primus (2004, 2006) und Fuhrhop/Buchmann (2008) unternommen. Ergebnisse dieser Untersuchungen werden im Folgenden exemplarisch präsentiert. Im Gegensatz zu Lauten, deren Merkmale gebündelt auftreten, bestehen Buchstaben aus vertikal oder horizontal nebeneinander auftretenden Komponenten, d. h. Linien. In komplexen Einheiten dieser Art ist ein Element der Kopf (auch Grundelement) der Konstruktion, von dem – falls vorhanden – weitere Elemente, die wir für Buchstaben Codas nennen, abhängen. Die folgenden heuristischen Identifikationskriterien für Buchstabenköpfe ergeben sich aus allgemeinen Beschränkungen, denen Buchstaben unterliegen. Die Kopflinie ist obligatorisch, Codas fakultativ. Vgl. den Buchstabenkörper von <i>, der nur aus der Kopflinie und einem nicht dem Buchstabenkörper angehörenden Punkt, einem Diakritikum, besteht. Des Weiteren muss eine Kopflinie vertikal sein, während eine Codalinie auch horizontal sein darf. Somit ist z. B. beim <e> der nach rechts offene Bogen der Kopf und die horizontale Linie die Coda. Ferner können Köpfe, wie bspw. bei <f, t, j, p, b, d> lang sein, während Codas, falls sie vertikal sind, immer kurz sein müssen. Die Unterscheidung zwischen Kopf und Coda ist für die Graphematik von zentraler Bedeutung. Die folgenden Beschränkungen beziehen sich entweder auf den Kopf oder die Coda der Buchstaben oder auf die Beziehung zwischen den beiden. Die Kleinbuchstaben verhalten sich systemkonformer als die Großbuchstaben und bestätigen somit Arbeiten, die Kleinbuchstaben aus unabhängigen Gründen als grundlegend einstufen (Gallmann 1985, Günther 1988). In diesem Beitrag wird zur Illustration lediglich das System der nativen Kleinbuchstaben für Vokale unter Ausschluss von <y> präsentiert (für Konsonanten vgl. Primus 2004, 2006). Die Buchstaben werden mit der serifenlosen Arial-Schriftart illustriert, weil Serifen phonologisch nicht-funktional sind. Die angegebenen Lauteigenschaften der Buchstaben beruhen auf ihrer sprachenübergreifend gültigen, aus dem Lateinischen übernommenen Standardaussprache. Korrespondenzregeln, die in beiden Richtungen gelten, werden mit Doppelpfeil notiert, unidirektionale mit einem einfachen Pfeil. Das graphematische Merkmal erscheint in spitzen Klammern, das phonologische Merkmal zwischen Schrägstrichen. Wenn man die Vokalquantität und das Schwa (den Murmelvokal wie in Atem) als silbenstrukturelle Erscheinung zunächst außen vor lässt, so bleiben im System der Vokallaute drei bedeutungsunterscheidende artikulationsbezogene Parameter übrig: Zungenhöhe bzw. Mundöffnung, Artikulationsort und Lippenrundung. Diesen drei lautlichen Parametern entsprechen merkmalsbezogene graphematische Kontraste, die im Folgenden nacheinander eingeführt werden. 5 Der erste merkmalsbezogene graphematische Kontrast bezieht sich auf die runde vs. gerade Form der Kopflinie. Ihm entspricht der lautliche Kontrast der Zungenhöhe bzw. Mundöffnung. Vgl. (2). Zur Illustration werden rechts auch die entsprechenden BuchstabenLaut-Korrespondenzen angegeben: (2) a. <nicht gerundet > ↔ /geschlossen/ b. <gerundet> ↔ /nicht geschlossen/ <i>-/ɪ/, <u>-/υ/ <e>-/ε/, <o>-/ɔ/, <a>-/a/ Ein Buchstabe mit einem geraden Kopf, wie <i, u>, korrespondiert mit einem geschlossenen Laut, d. h. /ɪ/ oder /υ/. Ein Buchstabe mit einem gerundetem Kopf, wie <a, e, o>, entspricht einem nicht geschlossenen, d. h. einem mit größerer Mundöffnung produzierten Laut, wie /a, ε, ɔ/. Der zweite lautliche Parameter trennt vordere von nicht-vorderen Artikulationsorten, vgl. /ɪ, ε/ im Gegensatz zu /a, ɔ, υ/. Dieser lautliche Kontrast wird im System der Kleinbuchstaben durch die Unterscheidung zwischen einer kanonischen und einer nicht-kanonischen Orientierung der Kopflinie und der Coda symbolisiert. Die kanonischen Formen fügen sich der rechtsläufigen Zeilenrichtung und bilden möglichst geschlossene geometrische Figuren wie bei <i> und <e>. Kanonische Buchstabenformen signalisieren einen vorderen Artikulationsort wie bei den Lauten /ɪ/ und /ε/. Bei Buchstaben, denen weiter hinten artikulierte Laute entsprechen, sind Kopf und Coda nicht kanonisch ausgerichtet: der Kopf zeigt nach links, hat eine linksseitige Coda, oder eine Coda, die sich vom Kopf abwendet, vgl. <j, k, g, a, u>. Diese Korrespondenzen werden in (3) zusammengefasst und durch Buchstaben-Laut-Paare illustriert:6 (3) a. <kanonisch> ↔ /vorne/ <i>-/ɪ/, <e>-/ε/ b. < nicht kanonisch> ↔ /nicht vorne/ <u>-/υ/, <o>-/ɔ/, <a>-/a/ Beim Buchstaben <a> gibt es eine Unklarheit. Die Variante <a> indiziert einen hinteren, nicht-hohen Vokal; die Variante <a> signalisiert einen vorderen, nicht-hohen Vokal, unter der plausiblen Annahme, dass das erste runde Element die Kopflinie ist. Diese graphematische Ambivalenz spiegelt die phonologische Ambivalenz des Vokals /a/ wieder, der sowohl vorne als auch hinten, also zentral, ausgesprochen wird.7 Bisher wurde das Buchstaben-Laut-Paar <a>-/a/ noch nicht von <e>-/ε/ und <o>-/ɔ/ abgesetzt. Den Kontrast zwischen <a>-/a/ und <e>-/ε/ erfasst (4): (4) <offen oben> → sonorer Laut als für den graphematischen Spiegelbuchstaben Vertikal gespiegelte Formen signalisieren einen Unterschied in der Sonorität bzw. Schallfülle (vgl. Primus 2004, Fuhrhop/Buchmann 2008). Oben offene Formen sind sonorer, d. h. haben 6 Die hier vorgestellte Systematik der Kleinbuchstaben liefert wichtige heuristische Entscheidungskriterien, wenn ein Buchstabe, was oft vorkommt, mehrere Zerlegungsmöglichkeiten erlaubt. So analysieren wir <o> systemkonform als Buchstaben, der aus zwei vertikalen Halbkreisen besteht, wobei der rechte Halbkreis die Kopflinie bildet. Alle anderen Analyseoptionen ergäben einen systemwidrigen Buchstaben. Eine Bestätigung erfahren unsere Buchstabenzerlegungen und ihre Merkmalsbeschreibung durch die unabhängig begründeten Ergebnisse von Berkemeier (1997). 7 Im phonologischen System des Deutschen verhält sich /a/ allerdings eher wie ein hinterer Vokal: er kann umgelautet werden (vgl. Wagen – Wägen wie dumm – dümmer und Bogen – Bögen) und lizensiert den velaren Frikativ (Kachel wie Kuchen und kochen) anstelle des palatalen Frikativs (vgl. kichern). 6 mehr Schallfülle, als ihre oben geschlossenen Spiegelbildpartner. Man vergleiche etwa die Lautwerte der folgenden Buchstabenpaare; der erste Lautwert hat jeweils weniger Schallfülle als der zweite: Konsonant vs. Vokal für <n u>, stimmlos vs. stimmhaft für <p b>, <f j> und <t j> sowie halboffener vs. offener Vokal für <e a>. Der dritte Lautparameter, die Lippenrundung, wird graphematisch nicht direkt wiedergegeben, weil er sich aus Normalverteilungen für Merkmale ableiten lässt. Hintere nicht-tiefe Vokale sind im prototypischen Fall rund, wie /υ/ und /ɔ/, alle anderen Vokale sind im prototypischen Fall nicht rund, wie /a/, /ε/ und //ɪ/ (vgl. Hall 2000). Das Deutsche verfügt auch über Vokalbuchstaben mit Trema, also <ü, ö, ä>, die komplexe Grapheme darstellen (vgl. Gallmann 1985). Die lautbezogene Funktion des Tremas ist, den Lautwert /nicht vorne/, den die nicht-kanonischen Buchstaben <u, o, a> anzeigen, durch /vorne/ zu ersetzen, vgl. Ödem, Büro, Pädagoge. Alle anderen Merkmale des betreffenden Lautes bleiben erhalten. Die Tremaregel hat als Spezialregel Vorrang über die Grundregel (3b) für nicht-kanonische Buchstabenformen und setzt sich somit durch. Der Zusammenhang zur phonologischen Umlautregel ergibt sich automatisch. Die phonologische Umlautregel ersetzt bei Wortverwandten den Lautwert /nicht vorne/ durch /vorne/, ist also eine Frontierung. Man vergleiche etwa die Aussprache von Wagen – Wägen, Bogen – Bögen und dumm - dümmer. Als Fazit der merkmalsbezogenen Analyse halten wir fest: die drei qualitativen Vokalmerkmale Artikulationsort, Mundöffnung und Lippenrundung korrespondieren mit graphematischen Merkmalen. Die kanonische oder nicht-kanonische Ausrichtung von Kopf und Coda dient der Wiedergabe eines vorderen oder hinteren Artikulationsortes. Der Kontrast zwischen runder und gerader Kopflinie entspricht der Unterscheidung zwischen nichtgeschlossener und geschlossener Mundöffnung. Die Lippenrundung wird nicht direkt wiedergegeben, sondern ergibt sich durch die phonologische Normalverteilung: Hintere nichttiefe Vokale sind rund, alle anderen Vokale sind im unmarkierten (prototypischen) Fall nichtrund. Vordere runde Vokale sind markiert und müssen durch ein Trema über dem Buchstabenkörper für einen hinteren Vokal angezeigt werden, wie bei <ö> und <ü>. Vokalbuchstaben mit Trema indizieren generell einen vorderen Artikulationsort. In (5) werden diese Korrespondenzen in einem Vokaldreieck visualisiert und mit Buchstabenformen illustriert: (5) /vorderer Laut/ <kanonische Ausrichtung> /geschlossener Laut/ <gerade Kopflinie> i /nicht-geschlossener Laut/ <gerundete Kopflinie> /nicht-vorderer Laut/ <nicht-kanonische Ausrichtung> ü u e, ö ä o a /offenerer Laut als /ε// <oben offen gegenüber <e>> Das Trema ersetzt den Lautwert /nicht vorne/ durch /vorne/ für nicht-kanonisch ausgerichtete Vokalbuchstaben. Aus der merkmalsbasierten Vorgehensweise ergeben sich für die Didaktik einschlägige Erkenntnisse (vgl. Berkemeier 1997, 2003, Primus 2006). In herkömmlichen Darstellungen finden wir für jedes Phonem mindestens eine eigene Grundregel. Wenn man Vokalquantität und Schwa als silbenbasierte Erscheinungen zunächst außen vor lässt, so werden für 7 Kurzvokale 7 einzelne Grundkorrespondenzregeln aufgestellt (vgl. Eisenberg (2006: 308), Augst / Dehn (2007: 86)). Die Zahl der Grundregeln steigt mit der Zahl der Phoneme. Wir 7 hingegen benötigen viel weniger Regeln als Phoneme. Wir kommen mit nur 6 Regeln aus, wie in (2a,b), (3a,b), (4) und der Tremaregel angegeben. Alle außer der Tremaregel gelten auch für Konsonantenbuchstaben, was hier aus Platzgründen nicht demonstriert werden konnte. Wenn man Vokale und Konsonanten zusammenfasst, ist unser Modell deutlich sparsamer als herkömmliche Analysen. Dieser Vorteil ergibt sich aus der klassifizierenden Funktion von Merkmalen. Nützlicher als die rein quantitative Ersparnis ist, dass unser Ansatz die Fakten nicht nur beschreibt, sondern auch erklärt, d. h. größere Zusammenhänge aufdeckt. Aus Platzgründen werden nur einige exemplarische Zusammenhänge zur Sprache gebracht. Bei der merkmalsbasierten Herangehensweise ergibt sich der phonologische Wert eines Buchstabens unmittelbar aus der Form der Buchstabenteile. So ist bspw. bei der Artikulation offener Vokale die Lippenstellung und Mundöffnung sichtbar größer, bögiger als bei der Artikulation der geschlossenen Laute. Diesen Unterschied geben gerundete vs. gerade Kopflinien unmittelbar, d. h. ikonisch-bildhaft, wieder (vgl. Russ (2000) für ein didaktisches Modell, das auf Mundbildern basiert). Ein weiterer Zusammenhang betrifft die artikulatorische Einfachheit der phonologischen Merkmale. Vordere Laute sind einfacher zu artikulieren und wahrzunehmen als hintere und dementsprechend sind Buchstabenformen für vordere Laute einfacher („kanonischer“) als für hintere Laute, vgl. <i, e> mit <u, o, a>. Ein weiterer merkmalsbasierter Zusammenhang besteht bei den Dehnungsbuchstaben, die sich durch eine runde Kopflinie auszeichnen. Darauf gehen wir später eingehender ein. Ein weiterer didaktisch nutzbarer Vorteil des merkmalsbasierten graphematischen Modells ist, dass es auf systematische phonologische Lautkontraste und mithin auf Lautklassen zugreift und damit zur Stärkung des phonologischen Bewusstseins, einer wichtigen Voraussetzung für die Schrifteignung, unmittelbar beiträgt. Wichtig für die Didaktik ist, dass graphematische Merkmale kognitiv reale Bezugsgrößen darstellen. Es gibt inzwischen mehrere Untersuchungen, die ihre kognitive Validität bei der Buchstabenerkennung und –produktion8 sowie beim Schriftspracherwerb bestätigen9. So zeigt eine aus unserer Perspektive vorgenommene Analyse von Erwerbsdaten, dass in vorschulischen, voralphabetischen Erwerbsphasen die Prinzipien der Buchstabenstruktur eigenaktiv erworben werden. Solche Prinzipien sind, dass Buchstaben auf einer horizontalen Linie aufeinander folgen und dass sie aus mindestens einer vertikalen (runden oder geraden) Linie bestehen. Wie (6) zeigt, produzieren bereits Drei- bis Vierjährige im vorschulischen Selbstlernprozess Buchstabenvorgänger, die diesen Prinzipien folgen (vgl. weitere Daten in Gombert / Fayol 1992). (6) Schriftprodukt im Alter von 3:8 Jahren (Gombert / Fayol 1992: 31) Als Fazit halten wir fest, dass Buchstabenmerkmale die kleinsten relevanten Größen unseres Schriftsystems darstellen. Den Strukturgrößen der nächsten Ebene, den Buchstaben und Graphemen, kommt in einer merkmalsbasierten Graphematik eine bescheidenere Rolle zu als in herkömmlichen Modellen. Grapheme braucht man etwa, um bestimmte bei der Silbentrennung unzerlegbare und nur mit einem Laut korrespondierende Buchstabenverbindungen wie z. B. <sch> in mi-schen oder <ch> in la-chen als eine Einheit zu erfassen. Die Nicht-Trennbarkeit des Graphems <sch> wird in der Strukturdarstellung (1) dadurch erfasst, dass seine Buchstabenteile unter einen mit 8 Vgl. Gibson et al. 1963, Johnson 1981, McClelland / Rumelhart 1981, Kolers 1983, Van Galen 1991, Schomaker / Segers 1999, Thomassen 2003. 9 Vgl. Gibson / Levin 1975, McCarthy 1979, Berkemeyer 1997, 2003. 8 G notierten Graphem-Knoten fallen.10 Buchstaben sind nötig, um die initiale Großschreibung korrekt zu erfassen, vgl. Schaufel vs. *SCHaufel. 2.2 Silbenstrukturen Buchstaben und Grapheme fügen sich zu Silbenstrukturen zusammen. Silbenstrukturen wurden für die Phonologie der Lautsprachen entwickelt und eingehend erforscht, sie spielen aber auch in neueren Ansätzen zur Graphematik eine immer wichtigere Rolle.11 Im Deutschen sind drei Silbentypen relevant: betonte Vollsilben, unbetonte Vollsilben und Reduktionssilben.12 Die wortakzenttragende Vollsilbe bezeichnen wir als Tonsilbe. Die betonbaren Vollsilben heben sich strukturell durch einen verzweigenden Nukleus von den unbetonbaren Reduktionssilben ab, die einen einfachen Nukleus haben, wie (1) für schrieben und (9) für irre zeigt.13. Wir gehen davon aus, dass Laut- und Schriftsilben analog strukturiert sind: beide Systeme verfügen über die in (1) angegebenen Struktureinheiten und strukturieren diese auch weitgehend, aber nicht immer analog. Da Silbenstrukturen und alle weiteren suprasegmentalen Ebenen zur Phonologie gehören, ordnen wir ihre Verschriftung der phonographischen Ebene zu. In Einklang mit der neueren Phonologie ist es sinnvoller, das phonographische Prinzip gemäß der phonologischen Strukturhierarchie in mehrere Subprinzipien aufzuteilen, als silbische Schreibungen, wie in den meisten anderen Arbeiten zum Schriftsystem, einem separaten Prinzip zuzuordnen. In vielen Arbeiten beschränkt sich die Funktion der Silbeneinheit auf die Worttrennung am Zeilenende, womit nur eine ihrer trivialsten Funktion erfasst wird. Ausgehend von Günther (1992) und Geilfuß-Wolfgang (2007) gehen wir davon aus, dass die Worttrennung am Zeilenende durch drei hierarchisch geordnete Grundregeln determiniert wird. Erste Priorität hat die Trennung nach morphologischen Bestandteilen, falls ein Kompositum oder eine Präfixbildung vorliegt, die als solche erkennbar ist: ver-armt, Erz-engel, Ur-enkel. Bei undurchsichtigen morphologischen Bildungen operiert die morphembasierte Trennregel nach der Reform fakultativ: hin-auf neben hi-nauf, Syn-onym neben Sy-nonym. Liegt keine morphologische Bildung im Sinne der morphembasierten Trennregel vor, dann trennt man graphembasiert (Günther 1992): das letzte (und ggf. einzige) Graphem zwischen zwei Vokalbuchstaben kommt auf die nächste Zeile: war-te, fin-den, ra-sche, wid-rig, dunk-le. Die Trennung nach Sprechsilben, die in den meisten Standardwerken irreführenderweise zuerst genannt wird, operiert eigenständig nur bei Fremdwörtern wie in Fe-bruar (neben Feb-ruar), Ma-gnet (neben Mag-net) sowie beim Aufeinandertreffen zweier Vokalbuchstaben wie in na-ive (versus Mai) und Zo-ologe (versus Zoo).14 Die mit >> notierte Regelhierarchie für die Worttrennung am Zeilenende und Trennvarianten, die nach der neuen Rechtschreibung zugelassen sind, zeigt (7): 10 Die Auffassung, dass Grapheme suprasegmentale Einheiten sind, findet man bei Weingarten (2004). Vgl. Butt / Eisenberg 1990, Prinz / Wiese 1990, Günther 1992, Maas 2000, Primus 2000, 2003. Psycholinguistische Evidenz liefern z. B. Caramazza / Micelli 1990, Badecker 1996, Domahs et al. 2001, Weingarten 2004, Nottbusch 2008. 12 Eine abgewandelte Auffassung findet man in den Arbeiten von Maas (1992, 2000) und Röber-Siekmeyer (1993 u.a.). 13 Die Annahme eines verzweigenden Nukleus für Vollsilben geht auf Wiese (2000) zurück (ähnlich auch Becker 1996) und wurde auf die Schreibsilbe von der Autorin übertragen (Primus 2000, 2003). Wenn man auf diese Annahme verzichtet, was prinzipiell möglich ist, kann man die weiter unten besprochene Besonderheit der zweiten Nukleusposition nicht so elegant erfassen. 14 Es gibt auch Spezialregeln, wie das Verbot der Abtrennung einzelner Vokale (vor der Reform 1996 und nach der Reform 2006) oder das Verbot der Trennung von <st> (vor der Reform von 1996) oder von <ck> (nach der Reform von 1996 und 2006). 11 9 (7) Regelhierarchie für die Worttrennung am Zeilenende und orthographisch zugelassene Dubletten: morphologische >> graphematische >> phonologische Trennregel ver-armt hin-auf dunk-le hi-nauf Feb-ruar Zo-ologe Fe-bruar Die Regelhierarchie in (7) ist experimentell teilweise gut motiviert. So belegen neuere Studien, dass Morphemfugen beim Schreiben (vgl. Nottbusch 2008) und Lesen (vgl. GeilfußWolfgang 2007) deutlicher hervortreten als Silbengrenzen. Im Rechtschreibduden und in manchen Standardwerken wird das System der Worttrennung am Zeilenende falsch konzeptualisiert. Der Vorrang der graphembasierten Trennregel gegenüber der phonologischen wird nicht erfasst. In vielen Fällen ergibt sich eine Trennung, die beiden Regeln entspricht, wie etwa bei war-te und fin-den. Die Regelhierarchie erkennt man nur im Konfliktfall, wenn die graphematische Trennstelle nicht mit der phonologischen Silbengrenze zusammenfällt. Bei wid-rig und dunk-le ist bspw. der Trennstrich nicht an der phonologischen Silbengrenze, sondern gemäß der dominierenden graphembasierten Trennregel vor dem letzten intervokalischen Graphem platziert. Die Relevanz der graphematischen Silbenstruktur zeigt sich besonders deutlich bei Schreibungen, die suprasegmentale lautliche Kontraste, allen voran die Vokalquantität, wiedergeben. Statt wie in der herkömmlichen Phonologie zwei Vokalreihen anzunehmen, die sich durch Länge und Gespanntheit voneinander unterscheiden, vgl. /i:/ wie in Lied vs. /ı/ wie in litt und litten, gehen neuere phonologische Ansätze von einer Vokalreihe aus (vgl. Becker 1996, Wiese 2000). Der Längen- und Gespanntheitskontrast ist als Folgeerscheinung aus der silbenstrukturellen Einbettung des Vokals ableitbar: Ein Vokal, der beide Nukleuspositionen belegt, ist immer gespannt und unter Betonung auch lang. Die Korrelation Lang – Gespannt ist nur bei /ε:/ wie in Ähre aufgebrochen (vgl. Wiese 2000 für eine Erklärung). Ein Vokal, der nur eine Nukleusposition besetzt, ist immer ungespannt und kurz. Diese Auffassung erlaubt es auch, die Phonem-Graphem-Korrespondenzen auf eine Vokalreihe zu reduzieren, wie im vorigen Abschnitt gezeigt. Die Wiedergabe suprasegmentaler lautlicher Kontraste geschieht im Deutschen wie in anderen Sprachen nicht durch unterschiedliche Buchstaben, sondern buchstabenübergreifend und mithin auch graphematisch suprasegmental. Sie ist weniger systematisch, ist an die zweite Nukleusposition gekoppelt und hebt dort die Grundkorrespondenzregeln zwischen qualitativen Lautmerkmalen und Buchstaben bzw. Buchstabenmerkmalen auf. Wir besprechen zunächst die Dehnungszeichen und beschränken uns auf Vokalbuchstaben in dieser Funktion, wie in Seen, sie, Haar und Moor (zum Dehnungs-<h> vgl. Primus 2000). Vokalbuchstaben mit Dehnungsfunktion sind nur <a, e, o>, wenn man von regional bedingten Namenschreibungen absieht (vgl. Troisdorf, Broich). Sie sind in der zweiten Nukleusposition der Schreibsilbe platziert. In dieser Silbenposition sind sie mit den phonologisch korrespondierenden Buchstaben <i, u>, wie etwa in sein, Saite, Heu und Bäume, komplementär verteilt. In (8) wird diese Systematik durch ein partielles Strukturschema und durch Beispiele verdeutlicht: 10 (8) a. Nukleus S s H M b. Nukleus V X │ │ e e n i e a a r o o r │ <gerundet> /stumm/ V │ e a e ä X │ s i n S i t e H u B u m e │ <nicht gerundet> /korrespondierend/ Die in der zweiten Nukleusposition komplementär verteilten Buchstaben lassen sich durch Buchstabenmerkmale auseinanderhalten. Die stummen Buchstaben <e, a, o> haben einen gerundeten Kopf, während der Kopf der lautlich korrespondierenden Buchstaben <i, u> gerade ist. Was die Doppelkonsonanzschreibung (auch Schärfungsschreibung) wie in Betten und Lämmer betrifft, so wird sie im Rechtschreibduden (2004: 863, § 2) und in manchen Standardwerken wie folgt beschrieben: „Folgt im Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens“. Daraus ergibt sich Bett, Betten, Lamm und Lämmer. Eisenberg (2005, 2006) hingegen erklärt die Doppelkonsonanzschreibung phonologisch durch einen Gelenkkonsonanten wie in Betten und Lämmer: Ist ein Konsonant ein Silbengelenk, so wird er durch Verdopplung des Buchstabens für den Konsonanten dargestellt. Gelenkkonsonanten sind eine Folge der silbenstrukturellen Besonderheit des Deutschen, dass ein betonter Kurzvokal nie in offener Silbe stehen kann. Lamm und Bett befolgen dieses Gesetz durch einen silbenschließenden Konsonanten, Betten und Lämmer durch einen Gelenkkonsonanten. Ein Gelenkkonsonant ist dadurch charakterisiert, dass er eine Silbe schließt und zugleich die nächste Silbe eröffnet, wie in (9a) weiter unten gezeigt. Da Gelenkkonsonanten nur nach Kurzvokal vorkommen, zeigt die graphematische Konsonantenverdopplung auch Vokalkürze an, aber eben nur indirekt. Außerdem sind beide Erscheinungen, Gelenkbildung und Vokalkürze, in neueren phonologischen Ansätzen silbenstrukturelle Erscheinungen. Ein eindeutiger konzeptueller Vorteil der Analyse von Eisenberg liegt in der Tatsache, dass die Verdopplung des Konsonantengraphems unmittelbar aus den Eigenschaften des entsprechenden phonologischen Konsonanten abgeleitet wird. Vgl. (9): (9) Phonologisches Silbengelenk (a) und graphematische Doppelkonsonanz (b): (a) σ σ | N O | V C C | /i r σ | N (b) N | V | ə/ V | <i σ O | C C | | r r N | V | e > Der Rechtschreibduden und Eisenberg divergieren in Fällen wie man, Bett und Lamm. Gemäß der Duden-Regel sind Bett und Lamm phonologisch motiviert, da ein betonter Kurzvokal vorliegt, dem im Wortstamm ein einzelner Konsonant folgt. Die Absenz der graphematischen Verdopplung in man ist hingegen eine Ausnahme. Nach Eisenbergs Auffassung ist man 11 regulär, da kein Gelenkkonsonant vorliegt. Aus demselben Grund sind für Eisenberg Bett und Lamm nicht phonologisch motiviert, sondern dem Morphemkonstanzprinzip geschuldet: Man schreibt Lamm wegen Lämmer und Bett wegen Betten. Wir kommen auf diese Fälle im nächsten Abschnitt zurück. Unabhängig von dieser Debatte über die Doppelkonsonanzschreibung ist ein silbenstruktureller Zugriff auf sie systemangemessen. Didaktische Ansätze, die für die Doppelkonsonanzschreibung silbenstrukturell basierte Unterrichtsmethoden entwickelt haben, sind besonders erfolgreich (Röber-Siekmeyer 1993, Röber-Siekmeyer / Pfisterer 1998, Tophinke / Röber-Siekmeyer 2002). Wenn wir die Silbenstrukturpositionen Revue passieren lassen, so ergibt sich folgende Systematik. In der ersten Nukleusposition wird die Vokalqualität viel eindeutiger als bisher angenommen verschriftet, wie im vorigen Abschnitt gezeigt (vgl. auch Primus 2000, 2003). Die zweite Nukleusposition der Schreibsilbe ist für die Wiedergabe der Vokalquantität und der mit ihr korrelierenden Gelenkschreibung freigegeben. Dort ist ein stummer Dehnungsbuchstabe und der erste, stumme Bestandteil eines graphematischen Doppelkonsonanten platziert. Auch sonst operieren die graphematisch-phonologischen Korrespondenzen in Abhängigkeit von der Silbenstruktur unterschiedlich gut: im Anfangsrand der Silbe besser als im Endrand (vgl. tu, du vs. Rad, Rat); in der betonten Silbe besser als in der unbetonten Silbe oder Reduktionssilbe (vgl. Zug vs. König). Diese strukturabhängigen Eigenschaften des Schriftsystems korrelieren mit der lautlichen Wahrnehmungsfähigkeit von Kindern: Sie können silbeninitiale Konsonanten besser identifizieren als silbenfinale und irren sich dabei weniger in betonten als in unbetonten Silben (Treiman u. a. 1993). Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass qualitative Lautkontraste systematischer und eindeutiger verschriftet werden als suprasegmentale Lautkontraste, zu denen nach neuerer Auffassung Vokalquantität, Gelenkkonsonanten und Schwa gehören. Diese Überlegungen erklären, warum die Aneignung suprasegmentaler Kontraste fehlerträchtiger und mit Verzögerung gegenüber der Aneignung qualitativer Kontraste erfolgt (u. a. Weingarten 2003, Röber 2006). Als Fazit halten wir fest, dass der graphematischen silbischen Strukturierung im Schriftsystem eine bedeutende Rolle zukommt und dass die Aneignung suprasegmentaler phonographischer Erscheinungen, allen voran der Erwerb der Dehnungs- und Gelenkschreibung, silbenbasierte Unterrichtsmodelle erfordert. 2.3 Fußstruktur und Akzent Auch die Fußstruktur und die damit korrelierende Akzentstruktur der Wörter ist graphematisch relevant. Der Fuß ist eine Einheit, die genau eine Tonsilbe und gegebenenfalls eine oder zwei unbetonte Silben enthält. Die Fußstruktur von schrieben in (1) und von irre in (9a) ist ein Trochäus mit einer Tonsilbe und einer Reduktionssilbe. Dieser Fußtyp ist das kanonische Muster für das Deutsche, dem sehr viele flexionsmorphologische Formen folgen (vgl. Wiese 2000, Eisenberg 2006). Mit Bezug auf die kanonische Fußstruktur können wir die Systematik der Verschriftung der Vokalquantität gut in den Griff bekommen.15 In (10) werden die Verhältnisse im kanonischen Trochäus bestehend aus Tonsilbe und nachfolgender Reduktionssilbe als Synopse dargestellt (unter Ausschluss von Eigennamen): 15 Die Abhängigkeit der Gelenkschreibung von der Akzentstruktur ist zwar experimentell belegt (Weingarten 2000), die hier präsentierten fußbezogenen Generalisierungen blieben in der bisherigen Forschung unbeachtet. Zur Rolle des Trochäus als basales Muster im Schriftspracherwerb vgl. Krauß, in diesem Band. 12 (10) Die Verschriftung der Vokalquantität in der Tonsilbe eines kanonischen Trochäus vorangehender Kurzvokal ↔ graphematische Doppelkonsonanz (regulär, produktiv) Betten Lacke lottern Happen offen lassen Widder irren wirren keine graphematische Doppelkonsonanz ↔ vorangehender Langvokal (regulär, produktiv) beten Lake Lote hapern Ofen lasen wider Iren Viren Langvokal → Dehnungszeichen (irregulär, unproduktiv) Beeten doofen wieder ihren vieren In der ersten Zeile erscheinen die entscheidenden beiden Silbenstrukturpositionen umrahmt: in allen drei Fällen steht <e> in der ersten Nukleusposition. Hier wird die Vokalqualität eindeutig fixiert. In der zweiten Nukleusposition erscheint in Betten ein stummer Gelenkanzeiger und in Beeten ein stummer Dehnungsbuchstabe. In beten wird <e> mit beiden Nukleuspositionen assoziiert und zeigt damit Vokallänge an, was oberflächlich betrachtet nicht zu erkennen ist. Die Verschriftung der Vokallänge wie in beten (zweite Spalte) ist systematisch und erklärt sich, wenn man Gelenkschreibungen im kanonischen Trochäus als Referenz heranzieht (erste Spalte). Um kanonische Trochäen zu erhalten, ist meistens eine Flexionsform vonnöten (vgl. Eisenbergs Begriff der Explizitform (2006)). Beachten muss man lediglich, dass Gelenkschreibungen bei komplexen Graphemen nicht möglich sind, weil in der zweiten Nukleusposition keine komplexen Grapheme stehen können (vgl. Neef / Primus 2001): *raschscheln, *lachchen, *laßßen. Dies bedeutet, dass bei komplexen intervokalischen Graphemen die Vokalquantität nicht eindeutig erkennbar ist, vgl. duschen mit Lang- oder Kurzvokal und huschen mit Kurzvokal. Ansonsten ist die Verschriftung von Gelenkbildung und mithin Vokalkürze durch eine graphematische Doppelkonsonanz im kanonischen Trochäus regulär und produktiv (vgl. jobben, joggen). Erst die Regelhaftigkeit der Gelenkschreibung bedingt die Regelhaftigkeit ihrer Absenz (zweite Spalte): Wenn sie nicht vorliegt, wie in beten, kann man im kanonischen Trochäus auf Vokallänge schließen. Dies gilt per logischem Gesetz: „Wenn ein Silbengelenk und als Folge davon ein Kurzvokal vorliegt, dann wird das Graphem, das dem Gelenkkonsonanten entspricht, verdoppelt“ (erste Spalte). Dies ist logisch äquivalent mit „Wenn kein doppelter Konsonantbuchstabe vorliegt, dann ist dieser Konsonant kein Gelenk und der vorangehende Vokal nicht kurz“ (zweite Spalte). Eine explizite Dehnungsgraphie (dritte Spalte) ist folglich beim kanonischen Trochäus nicht nötig. Sie ist in der Tat unproduktiv, auch wenn für den Langvokal /i:/ im nativen Wortschatz <ie> wesentlich häufiger vorkommt als <i> (Naumann 1989, Röber 2006). Die nächste Synopse in (11) zeigt, dass sich die Verhältnisse in einer nicht-kanonischen Fußstrukturposition ändern. D.h.: die Tonsilbe ist nicht wortinital wie in Kommode, blamiert und Allee oder der Fuß endet nicht mit einer Reduktionssilbe wie in Limit und Koma. In solchen Fällen ist lediglich die Dehnungsgraphie mit <ee> und <ie> bei einigen betonten Suffixen regulär und produktiv (dritte Spalte). Der einfache Pfeil in den ersten beiden Spalten gibt an, in welcher Richtung Irregularität herrscht. 13 (11) Die Verschriftung der Vokalquantität in einer nicht-kanonischen Fußstrukturposition vorangehender Kurzkeine graphematische Langvokal → Dehnungsvokal → graphematische Doppelkonsonanz → zeichen; regulär und produktiv Doppelkonsonanz vorangehender Langvokal in einigen betonten Suffixen: Allee, Armee, Buklee regulär: Kommode regulär: Lima, Koma Magie, Chemie irregulär: Limit, blamiert irregulär: Limit, blamiert radieren, dosieren Wir fassen zusammen. Eine hierarchische Strukturierung oberhalb und unterhalb der Phonemund Buchstabenebene scheint prima facie unnötig komplex. Nichtsdestotrotz wird diese Komplexität durch mehrere große Vorteile wettgemacht. Zum einen erlauben die verschiedenen Struktureinheiten einen systematischeren Zugriff auf phonographische Regularitäten als herkömmliche Ansätze, die mehr Unregelmäßigkeiten in Kauf nehmen müssen. Zum anderen können wir größere Zusammenhänge besser verstehen. 3. Morphologische Strukturen In diesem Abschnitt werden wir einige exemplarische Schriftsystemerscheinungen betrachten, die auf die morphologische Wortstruktur Bezug nehmen. Morphologisch motivierte Schreibungen findet man in der syntagmatischen und in der paradigmatischen Dimension. Die syntagmatische Dimension bezieht sich auf miteinander verknüpfte Morpheme und deren Morphemgrenzen, wie in ver-armen. Die paradigmatische Dimension erfasst Morpheme, die in einer morphologischen Verwandtschaft zueinander stehen wie Bett – Βetten, alt – älter und offen – öffnen. 3.1 Paradigmatik Wir fangen mit paradigmatisch bedingten Schreibungen an. Diese werden dem graphematischen Prinzip der Morphemkonstanz (auch Stamm- oder Schemakonstanz) zugeordnet, wonach paradigmatisch aufeinander bezogene Morpheme ähnlich oder gleich geschrieben werden. Von den Erscheinungen, die auf Morphemkonstanz zurückgeführt werden, sind die in i)-iii) aufgelisteten besonders prominent (vgl. Dürscheid 20063, Kap. 4.4; Fuhrhop 2008a, Kap. 4): i) Die Schreibung mit <ä> für /ε/, wenn dasselbe Morphem in anderen Umgebungen an dieser Stelle mit <a> verschriftet wird: Hände wegen Hand, älter wegen alt. ii) Die Auslautverhärtung, wonach alle Obstruenten wie /b, d, g, v, z, ž/ in der Silbenkoda stimmlos sind, wird nicht verschriftet, wenn dasselbe Morphem in anderen Umgebungen an dieser Stelle einen stimmhaften Obstruenten schriftlich wiedergibt: Tag wegen Tage, Hund wegen Hundes. iii) Morphemfinale graphematische Doppelkonsonanz in Eisenbergs Auffassung, wie im vorigen Abschnitt bereits erwähnt: Bett wegen Betten, Kuss wegen Küsse. In den in i)-iii) beschriebenen Fällen ist die Schreibung durch eine paradigmatisch verwandte Wortform motivierbar, wie angegeben. Ob sie auch phonologisch motiviert werden kann, hängt davon ab, wie man die phonographischen Korrespondenzen auffasst. Wir erinnern uns an die verschiedenen Auffassungen über die graphematische Doppelkonsonanz. Nach der Duden-Regel wird sie durch einen betonten Kurzvokal, dem ein Einzelkonsonant folgt, ausgelöst: Bett, Betten, Lamm, Lämmer. In der Analyse Eisenbergs ist die Doppelkonsonanzschreibung phonologisch durch einen Gelenkkonsonanten wie in Betten und Lämmer motiviert. Die beiden Auffassungen konkurrieren in Fällen wie Bett und Lamm. Nach 14 der Duden-Regel sind auch diese Fälle phonologisch motiviert, weil ein betonter Kurzvokal vorliegt. Nach Eisenbergs Auffassung sind solche Fälle dem Morphemkonstanzprinzip geschuldet, wie in iii) weiter oben angegeben, weil kein Silbengelenk vorliegt. Beide Auffassungen benötigen das Morphemkonstanzprinzip, allerdings in unterschiedlichen Bereichen. Für Eisenbergs Auffassung spricht eine grundsätzliche Beobachtung. Kennzeichnend für graphematische Formen, die durch paradigmatische Morphemkonstanz motiviert sind, ist, dass sie nicht vollständig vorhersagbar sind. So hat die paradigmatisch motivierte <ä>Schreibung Ausnahmen: Hände wegen Hand, aber behende (nach der Reform von 2006 behände); älter wegen alt, aber Eltern. In diesem Bereich liegt eher ein musterbasiertes, denn regelbasiertes System vor. Solche Muster bzw. Schemata entstehen durch Analogien mit bereits vorhandenen, musterstiftenden Formen (vgl. Weingarten 2000). Eisenbergs Regel kann im Gegensatz zur Duden-Regel erklären, dass die phonographische Gelenkschreibung (Betten, Küsse, Busse) im kanonischen Trochäus, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, vollständig regulär ist, während die paradigmatisch motivierte Doppelkonsonantschreibung Ausnahmen hat: Bus trotz Busse, fit trotz fitter. Zur besseren Identifizierbarkeit von Morphemen tragen auch morphemdifferenzierende Schreibungen bei, die herkömmlich dem Prinzip der Homonymievermeidung zugeordnet werden. Gleichlautende, aber bedeutungsverschiedene Morpheme (Homonyme bzw. Homophone) können im Schriftsystem differenziert werden. Beispiele sind: dehnen – denen, Lid – Lied, Leib – Laib, das – dass, malen – mahlen. Zusammenfassend halten wir fest, dass morphologisches paradigmatisches Wissen von zentraler Bedeutung ist, sei es, weil wir von der Phonographie abweichen müssen, um die Identität eines Morphems graphematisch zu wahren, sei es, weil wir Flexionsformen für einen kanonischen Trochäus erzeugen müssen, um die Verschriftung der Vokalquantität besser zu verstehen. 3.2 Syntagmatik Wenden wir uns nun der syntagmatischen Morphemstrukturebene zu. Syntagmatisch komplexe Wörter spielen, wie bereits erwähnt, eine wichtige Rolle bei der Worttrennung am Zeilenende, wie die Trennungen von ver-armen und hin-auf belegen. Neuere Forschungen erklären auch die wortinternen Interpunktionszeichen Bindestrich und Apostroph mit dem Vorliegen besonderer Morphemstrukturen (Bunčić 2004, Bredel 2008, Fuhrhop 2008b). Besonders innovativ ist der Ansatz von Bredel, der sich durch zwei (voneinander unabhängige) Hauptannahmen von bisherigen Auffassungen abhebt: i) Die Formmerkmale der Interpunktionszeichen sind nicht arbiträr, sondern funktional motiviert. Die Funktion der Einzelzeichen lässt sich aus den Einzelmerkmalen oder -elementen, aus denen sie zusammengesetzt sind, und der Art ihrer Kombination ermitteln. ii) Die Interpunktionszeichen steuern den Leseprozess. Da im Leseprozess auch grammatische Strukturen nach allgemeinen Sprachverarbeitungsstrategien verarbeitet werden, ergeben sich indirekte Bezüge zu grammatischen, u. a. auch morphologischen Strukturen. In Bredels Ansatz gehören Bindestrich (Divis) und Apostroph zur Klasse der Füllerzeichen, die auch den Gedankenstrich und die Auslassungspunkte umfasst. Sie zeichnen sich formal u.a. dadurch aus, dass sie sich nur horizontal ausdehnen können und nicht klitisch sind, das heißt rechts und links von ihnen können graphische Zeichen gleicher Klassen stehen. Die Füller instruieren den Leser, dass ein Defekt bei der Verkettung sprachlichen Materials vorliegt. Die verlängerten Füllerzeichen, Gedankenstrich und Auslassungspunkte, zeigen Defekte auf der Satz- und Textebene an; die einfacheren Füller, nämlich Bindestrich und Apostroph, zeigen Defekte innerhalb eines Wortes. Die strichförmigen Füllerzeichen, Gedankenstrich und Bindestrich, signalisieren Defekte, die im unmittelbar benachbarten Text 15 behoben werden. Die beiden anderen Füllerzeichen, Auslassungspunkte und Apostroph, zeigen im Text nicht behebbare Defekte, zu denen insbesondere Auslassungen gehören. Diese Systematik wird in (12) zusammengefasst: (12) Bindestrich und Apostroph im System der Füllerzeichen nach Bredel (2008): Defekt im benach- Defekt innerhalb eines Wortes barten Text BINDESTRICH behoben auf- und abschreitende See-Elefanten im heiligen Bezirk Defekt auf der Satz- oder Textebene GEDANKENSTRICH Er hatte das Geld – gestohlen nicht behoben AUSLASSUNGSPUNKTE Er hatte das Geld … APOSTROPH heil’gen Der Divis kommt in drei Umgebungen vor, die in Standardwerken isoliert voneinander behandelt werden: i) als Trennstrich am Zeilenende (heili-[Zeilenwechsel]gen), ii) als Bindestrich (See-Elefant) und iii) als Ergänzungsbindestrich (auf- und abschreitende). Die diesen Umgebungen gemeinsame Eigenschaft lässt sich in der leseprozessorientierten Auffassung Bredels wie folgt angeben: Der Divis instruiert den Leser, eine gegebene Buchstabenkette als nicht vollständige Wortstruktur zu erfassen. Der zur Komplettierung erforderliche Wortrest ist jedoch in der unmittelbaren Textumgebung auffindbar. Es handelt sich demnach um einen behebbaren Defekt, eine temporäre Unterbrechung in der Verarbeitung der Wortstruktur. Die Unterbrechung kann wegen des Zeilenendes erfolgen, wie in i) oder aufgrund einer Koordinationsreduktion wie in iii). Bei Komposita wie See-Elefant, Eisenberg-Grammatik, Garmisch-Partenkirchen wird die Unterbrechung auch grammatisch gedeutet. Der Divis wird bevorzugt bei unklaren Morphemfugen (vgl. Seeelefant) oder besonderen Komposita, zu denen Komposita mit Eigennamen wie Eisenberg-Grammatik und Kopulativkomposita wie Garmisch-Partenkirchen zählen. Fälle wie das Auf-ihn-Einreden sind nicht durch Wortbildung entstanden und somit morphologisch defekte Wörter. Wie wir sehen, nimmt der Divis bevorzugt auf Morpheme Bezug. Dies gilt auch für die Worttrennung am Zeilenende, deren höchstrangige Regel morphembasiert ist (vgl. (7) weiter oben). Der Apostroph ist wie der Divis auf Wortstrukturen bezogen; im Gegensatz dazu indiziert er jedoch Defekte, die nicht in der Textumgebung behoben werden, sondern vom Leser repariert werden müssen. Die Defekte beziehen sich beim Apostroph – wie Bunčić (2004) an mehreren Sprachen zeigt – bevorzugt auf Morpheme, wie etwa i) bei unklaren Genitivsuffixen: Alice’, Andreas’, Andrea’s, ii) bei verkürzten Morphemen: auf’m, ich hab’s, heil’gen, und iii) bei Morphemen, die semiotisch abweichend als Ziffern verschriftet werden: 68’er. Wie diese Übersicht zeigt, liegt eine phonologische bzw. graphematische Auslassung lediglich in ii) vor. Irreführenderweise wird die Auslassung in Standardwerken als Hauptfunktion des Apostrophs angegeben. Zusammenfassend halten wir fest, dass das deutsche Schriftsystem verschiedene Mittel bereitstellt, um morphologische Strukturen auf paradigmatischer wie syntagmatischer Ebene zu kennzeichnen. 16 4. Syntaktische Strukturen In diesem Abschnitt werde ich einige exemplarische, in der Fachliteratur sehr kontrovers und intensiv diskutierte Erscheinungen betrachten, die unter das grammatische (auch syntaktische, semantische oder pragmatische) Prinzip des Schriftsystems fallen: die satzinterne Großschreibung, die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Kommasetzung. Da es zur Großschreibung und Getrennt- und Zusammenschreibung zwei Beiträge in diesem Band gibt (Bredel, Fuhrhop), werden diese Bereiche hier kürzer behandelt. 4.1 Satzinterne Großschreibung Die satzinterne Großschreibung bei Substantiven gilt als schwer zu lernen und unsystematisch. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass dies weniger in der Natur unseres Schriftsystems liegt als in der Fehleinschätzung vieler Schriftsystemforscher, Didaktiker und Sprachreformer. Hinsichtlich der satzinternen Großschreibung gibt es zwei konkurrierende Auffassungen, denen verschiedene Nominalitätskonzepte entsprechen (vgl. Gallmann 1997). Vgl. (13a,b): (13) (a) Substantive werden mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben (Rechtschreibduden, Nerius 2007). (b) Der Kopf jeder Nominalgruppe wird mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben (Maas 1992, Röber-Siekmeyer 1993, Günther / Nünke 2005, Bredel 2006, Bredel, a) in diesem Band). Die Auffassung (13a) ist wortartbezogen im Sinne der traditionellen Grammatik. Hier herrscht das lexikonbasierte Wortartkonzept, demzufolge Wortarten Lexemklassen sind (Duden-Grammatik 2005: 132f.). Ein Ausdruck, der nach (13a) mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben werden muss, wird über die Lexemklasse Substantiv erfasst. Seine tatsächliche syntaktische Verwendung wird nicht berücksichtigt. Kennzeichnend für diese Wortartkonzeption ist bspw., dass nicht die tatsächliche nominale Flexion als Kriterium auftaucht, sondern die grundsätzliche Flektierbarbeit nach Kasus, Numerus und Genus. Auch spielen typische nominale Begleiter wie Artikel und Adjektiv keine Rolle bei der Wortartbestimmung. Dies ist mit der lexikonbasierten Konzeption konsistent. Das notorische Problem der wortartbezogenen Schreibregel sind Substantivierungen und Desubstantivierungen. Dabei sind nicht Wortartwechsel problematisch, die aus einer expliziten Derivation hervorgehen, wie etwa die Substantivierung Leser aus lesen und die Desubstantivierung schriftlich aus Schrift. Problematisch für diese Auffassung sind Konversionen. Ein Wort wird bei Konversion nicht durch Wortbildungsmittel in eine andere Wortart überführt, sondern lediglich in einer anderen syntaktischen Umgebung und ggf. mit anderer Flexion verwendet, z. B. dunkel werden – dem Dunkelwerden, ich – des Ichs, eine etwas unangenehme Erfahrung – etwas Unangenehmes; die Ängste – angst. Diese Möglichkeit wird im Deutschen intensiv und oft ad hoc genutzt: das Ich, dein Ja, dieses Wenn-und-aber. Die Tatsache, dass grundsätzlich jede Wortart syntaktisch wie ein Substantiv verwendet werden kann, stellt allerdings die gesamte Konzeption der wortartbezogenen Großschreibregel in Frage. Die neuere Schreibregel (13b) verwendet das syntaktische relationale Konzept des Kopfes einer Wortgruppe bzw. Phrase. Alternative Bezeichnungen für Kopf sind Kern oder Regens. Jede Phrase hat einen Kopf. Kopf und Phrase haben dieselben kategorialen Eigenschaften. Dies wird bis zu einem gewissen Grad auch in der traditionellen Terminologie berücksichtigt: Verbalphrase – Verb, Nominalphrase – Nomen, Adjektivphrase – Adjektiv usf. Des Weiteren bestimmt das Verknüpfungspotenzial des Kopfes, durch welche weiteren Kategorien eine 17 Phrase erweiterbar ist. Für den Kopf einer Nominalgruppe sind vorangestellte flektierte adjektivische Attribute (große Angst) und artikelähnliche Wörter an ihrem linken Rand kennzeichnend (diese große Angst). Die neuere Schreibregel (13b) setzt ein distributionelles Kategorienkonzept voraus. Das wichtigste Kriterium sind die syntagmatischen Relationen, die eine Einheit eingeht. Damit wird ihr gesamtes syntaktisches Verknüpfungspotenzial erfasst. In der Praxis begnügt man sich mit einigen symptomatischen Verknüpfungen. Man kann eine Kopfkategorie auch ‚von oben’, d. h. aufgrund der Kategorie der Phrase bestimmen. In diesem Zusammenhang steht das Kriterium der nominalen syntaktischen Funktion (vgl. Gallmann 1997), das u. a. bei Subjekten und Objekten, die nur durch eine Nominalphrase realisiert werden können, sehr nützlich ist. So haben wir nominale Köpfe in hat Angst und kriegt Angst, weil die betreffenden Verben an dieser Stelle nominale Objekte selegieren. Im Unterschied dazu liegen in mir ist angst und das ist mir schnuppe adjektivische Prädikative wie in mir ist kalt vor. Die syntaktische Schreibregel ist der wortartbezogenen in mindestens drei Punkten überlegen. Erstens vereinnahmt sie die Standardfälle der wortartbezogenen Regel: Substantive sind nämlich die besten Kandidaten für den Kopf einer Nominalphrase (vgl. Bredel, a) in diesem Band). Zweitens hat die syntaktische Auffassung mit Ad-hoc-Konversionen wie dem Dunkelwerden, etwas Unangenehmes, ein robustes Ich keine Probleme. Drittens erklärt sie, warum die zuverlässigsten Kriterien und Proben für die satzinterne Großschreibung die Erweiterung durch Elemente darstellen, die zu nominalen Köpfen hinzutreten können: Die Notwendigkeit der Großschreibung erkennt man an Artikeln und artikelähnlichen Wörtern, wie in vor dem Dunkelwerden, etwas Unangenehmes und das Ich, sowie an vorangestellten flektierten Adjektiven wie in große Angst und robustes Ich. Die Situation ist jedoch nicht so einfach, wie bisher dargestellt. Die Neuregelung der Orthographie hat die wortartbezogene Konzeption gestärkt (vgl. Bredel 2006, Bredel, a) in diesem Band). Neu eingeführt sind Schreibungen wie im Allgemeinen und Rad fahren. Fälle wie im Allgemeinen, im Wesentlichen, im Folgenden und des Weiteren könnte man syntaktisch aufgrund des ggf. mit der Präposition verschmolzenen Artikels erklären. Bei ohne Weiteres (seit 2006 neben ohne weiteres zugelassen) ist diese Erklärung nicht möglich. Auch bei den nach 1996 zugelassenen Schreibungen Rad fahren, Eis laufen und Kopf stehen versagt das Kriterium der Artikel- oder Attributfähigkeit. Rad fahren kann man syntaktisch nur noch durch eine analoge Übertragung erklären: das Verb fahren duldet in anderen Fällen eine erweiterte Nominalphrase als Objekt, vgl. einen neuen BMW fahren. Bei Eis laufen und Kopf stehen versagt auch dieses Kriterium (vgl. auf dem Eis laufen, auf dem Kopf stehen). Seit 2006 sollen daher eislaufen und kopfstehen wieder wie vor 1996 als Norm gelten. Die Großschreibungen nach Präposition (im Allgemeinen, ohne Weiteres) sind dadurch erklärbar, dass die beteiligten Präpositionen (in, ohne) sonst nur Nominalgruppen als Ergänzungen regieren. Die zusammenfassende Synopse (14) zeigt, dass die syntaktische Schreibregel und die oben genannten syntaktischen Kriterien zur Bestimmung eines nominalen Kopfes sowohl den Kernbereich als auch die oben besprochenen Zweifelsfälle der Großschreibung erklären kann: 18 (14) Kern und Peripherie bei der nominalen Großschreibung (Orthographie nach 2006) einen Mann sehen artikelfähig ja attributfähig ja nominale ja syntaktische (Objekt) Funktion nicht Rad fahren im ohne Allgemeinen Weiteres / weiteres nein ja? (-m) nein nein nein nein nur in anderen ja ja Verwendungen (Ergänzung (Ergänzung (einen BMW einer einer fahren) Präposition) Präposition) eislaufen, kopfstehen ist angst / schnuppe nein nein nein nein nein nein Die Synopse belegt außerdem, dass die Zweifelsfälle nicht dem Schriftsystem geschuldet sind, sondern bereits im Sprachsystem angelegt sind. Syntaktische Kategorien sowie andere sprachliche Erscheinungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch mehrere Eigenschaften determiniert sind. Nicht alle Repräsentanten einer Erscheinung haben alle einschlägigen Eigenschaften, wie in (14) am Beispiel der nominalen Kategorie gezeigt (vgl. auch Bredel, a) in diesem Band). Dieser universellen Besonderheit sprachlicher, kognitiver Klassenbildung widmet sich die Prototypentheorie (vgl. Taylor 1995). Ein prototypischer Vertreter der Klasse vereint viele einschlägige Eigenschaften. Solche Vertreter bilden den Kernbereich. Es gibt in jeder Klasse allerdings auch Vertreter, die weniger klassendefinierende Eigenschaften aufweisen. Diese sind die Zweifelsfälle in der Peripherie der Klasse. Solche Zweifelsfälle kann keine Reform beseitigen, erst recht nicht eine lediglich auf die Orthographie bezogene. Die Leistung der syntaxbezogenen Schreibregel ist auch experimentell anhand von syntaktisch wohlgeformten Texten mit Pseudowörtern, wie etwa der Vistembar brehlte dem Luhr Knotten auf den bänken Leuster, nachgewiesen (Weingarten 2000, Günter 2007). Kinder können in diesen Experimenten recht zielsicher die großzuschreibenden Einheiten ausschließlich anhand der syntaktischen Umgebung identifizieren. Ein lexikalischer Zugriff ist bei Pseudowörtern nicht möglich. Es gibt auch verschiedene erfolgreiche Ansätze, die syntaktische Herangehensweise für den Schulunterricht lernergerecht aufzubereiten (vgl. Röber-Siekmeyer 1999, Günther / Nünke 2005, Bredel, a) in diesem Band). Hier geht es darum, die Lerner an die interne Struktur der Nominalgruppe heranzuführen und diese für die syntaxbasierte Schreibregel zugänglich zu machen. 4.2 Getrennt- und Zusammenschreibung Die Getrennt-/Zusammenschreibung (oder Spatiumsetzung) wird als der schwierigste Bereich der deutschen Rechtschreibung betrachtet. Hier wie bei der nominalen Großschreibung werden wir nachweisen, dass die Zweifelsfälle bereits im Sprachsystem angelegt sind. Demgegenüber ist das schriftbasierte Prinzip nach neueren Erkenntnissen sehr einfach (Maas 1992, Jacobs 2005, Fuhrhop 2007, Fuhrhop 2008b, Kap. 7; Fuhrhop, in diesem Band). Die beiden miteinander korrelierenden Grundprinzipien sind in (15) formuliert: (15) Grundprinzipien der Spatiumsetzung: (a) Innerhalb eines Wortes erscheint kein Spatium. (b) Die Einheiten einer syntaktischen Verknüpfung werden durch Spatien getrennt. Aufgrund der Erkenntnisse in (15) geht es bei der Spatiumsetzung darum, komplexe Wörter von syntaktischen Verknüpfungen im Sprachsystem zu trennen. Schwierigkeiten, diese Unterscheidung zu treffen, liegen in der Natur der Sprache und nicht in der Natur des Schriftsystems. 19 Um komplexe Wörter zu identifizieren, braucht man solide Wortbildungskenntnisse. Verbindungen aus zwei oder mehr Stämmen werden zusammengeschrieben, wenn sie aufgrund einer Wortbildung miteinander verbunden sind, nach dem Wortprinzip (15a). Einige Komposita sind aufgrund einer Morphemfuge, die kein Flexionselement sein kann, leicht zu identifizieren: Sonnenstrahl, Zeitungsleser, entzündungshemmend. Univerbierungen wie mithilfe / mit Hilfe, um so / umso, und sodass /so dass sowie Inkorporationen wie radfahren / Rad fahren und eislaufen / Eis laufen sind keine prototypischen Wortbildungen. Es handelt sich um wortbildungsmorphologische Zweifelsfälle, die syntaktischen Verknüpfungen, aus denen sie durch häufige Verwendung entstanden sind, sehr nahe stehen. Das hat zur Folge, dass sie auch im Schriftsystem Zweifelsfälle sind, wie angegeben. Um syntaktische Verknüpfungen zu identifizieren, ist man auf Syntaxwissen angewiesen. Einheiten, die in einer syntaktischen Relation zueinander stehen, werden durch Spatien getrennt. Das besagt das Syntagmaprinzip (15b). Während infolge zwischen Wort und syntaktischer Fügung steht und somit einen Zweifelsfall darstellt, ist [in [der [Folge des Alphabets]]] eine syntaktische Verknüpfung. Wie die Klammerung zeigt, sind die fraglichen Einheiten in, der, und Folge nicht einmal unmittelbare Ko-Konstituenten (keine syntaktische Schwestern), womit eine morphologische Bildung vom Typ Univerbierung wie bei infolge auszuschließen ist. Daher ist in der Folge eine syntaktisch reguläre Präpositionalphrase mit einer nominalen Ergänzung der Folge, die ihrerseits syntaktisch regulär gebildet und syntaktisch beliebig erweiterbar ist. Die Missverständnisse, die in der Praxis wie in vielen wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema herrschen, rühren teilweise daher, dass – wie bei der Großschreibung auch – die Einheiten isoliert betrachtet werden. Man meint mit Wortlisten der Sache Herr zu werden. Doch bereits die scheinbar triviale Frage, ob man Gottes?anbeter getrennt oder zusammenschreibt, kann ohne syntaktischen Kontext nicht beantwortet werden. In der Gottesanbeter liegt ein Kompositum vor, während des Gottes Anbeter ein Syntagma ist. Dieser Unterschied ist nur am Artikel eindeutig erkennbar. Eine Syntaxanalyse verdeutlicht die Verhältnisse: [der [Gottesanbeter]] im Gegensatz zu [[des Gottes] Anbeter]. Im Kompositum sind die fraglichen Einheiten verschwestert und der Artikel bezieht sich auf – anbeter, den morphologischen Kopf des Kompositums (das Grundwort). Im Syntagma sind die fraglichen Einheiten nicht verschwestert, womit eine morphologische Bildung ausgeschlossen ist. Der Artikel bezieht sich ausschließlich auf Gottes. Der Kernbereich umfasst die Fälle, in denen die Anwendung der beiden Prinzipien sprachlich eindeutige Ergebnisse ergibt. Diese Fälle sind auch im Schriftsystem unproblematisch. In den Randbereich fallen die Problemfälle, bei welchen die Anwendung der beiden Prinzipien zu Schwierigkeiten oder zu uneinheitlichen Ergebnissen führt. Diese Probleme spiegelt das Schriftsystem lediglich wider (vgl. eingehender Fuhrhop, in diesem Band). Die Synopse in (16) wiederholt weiter oben besprochene Fälle und ordnet sie auf einer Skala zwischen eindeutiger Wortbildung (erste Zeile) und eindeutiger syntaktischer Fügung (letzte Zeile) ein. Die Zweifelsfälle erscheinen in der Mitte. Die angegeben Schreibvarianten waren jahrzehntelang im Fokus der Reformdiskussion. 20 (16) Die Skala zwischen Wortbildung und syntaktischer Fügung Sonnenstrahl, Zeitungsleser, entzündungshemmend Kompositum Erkennungsmerkmale: Morphemfuge, die kein Flexionssuffix sein kann; Glieder keine Wortgruppen der Gottesanbeter Kompositum Erkennungsmerkmale: Artikel selegiert vom Grundwort; Glieder keine Wortgruppen mithilfe / mit Hilfe, sodass / so dass; infolge Univerbierung Erkennungsmerkmal: Glieder keine Wortgruppen nicht Rad fahren / radfahren Inkorporation, s. auch (14) nicht Eis laufen / eislaufen Erkennungsmerkmale: Erstglied keine Nominalgruppe, nicht statt kein (*kein Rad fahren, *kein eislaufen) des Gottes Anbeter; in der Folge syntaktische Fügung Erkennungsmerkmal: Ein Glied ist eine Nominalgruppe (s. Artikel) Als Fazit halten wir fest, dass die Grundprinzipien der Spatiumsetzung sehr einfach sind. Die Zweifelsfälle ergeben sich aus der Natur des zugrunde liegenden Sprachsystems. 4.3 Kommasetzung „Die Funktionen des Kommas in der geschriebenen deutschen Literatursprache sind – im Gegensatz zur Funktion der meisten übrigen Satzzeichen – vielgestaltig und schwer überschaubar“ (Nerius 2007: 247). Diese Bemerkung trifft die Mehrheitsmeinung unter Laien sowie Experten, die sich mit Sprache befassen. Im Folgenden widerlegen wir diese Mehrheitsmeinung, indem wir zeigen, dass die Kommasetzung im Deutschen auf drei sehr einfache Regeln zurückgeführt werden kann. Die drei Bedingungen in (17) erklären bis auf wenige Fälle alle Normen zur Kommasetzung im alten Normsystem vor 1996 und im neuen Normsystem nach 2006 (vgl. Primus 1993, Bredel / Primus 2007): (17) Ein Komma steht zwischen zwei (einfachen oder komplexen) sprachlichen Ausdrücken genau dann, wenn (a) und (b) oder (a) und (c) zutreffen: (a) Die Ausdrücke stehen in derselben kommunikativen Einheit (demselben „Satz“ im weitesten Sinn). (b) Die Ausdrücke sind nicht-subordinativ miteinander verknüpft. (c) Die Ausdrücke sind durch eine Satzgrenze getrennt. Die erste Bedingung schränkt das Komma auf ein satzinternes Vorkommen ein, wobei wir Satz im weitesten Sinne meinen (vgl. Ach, du hier?). Diese Bedingung schließt aus, dass auf das Komma eine satzinitiale Majuskel folgt, und sondert damit das Komma von satzabschließenden Interpunktionszeichen wie Punkt, Ausrufezeichen und Fragezeichen ab. Auf die Form-Funktion-Korrelationen, die sich bei einer merkmalsbasierten Analyse dieser Interpunktionszeichen ergeben, geht der Interpunktionsbeitrag von Bredel in diesem Band näher ein (vgl. auch Bredel / Primus 2007, Bredel 2008). Die zweite Bedingung gilt – wie die erste – für alle Sprachen, die das Komma verwenden (vgl. Bredel / Primus 2007). Der Bedingung der Nicht-Subordination folgend zeigt das Komma eine Koordination oder eine Herausstellung an. Dass die Koordination keine 21 subordinative Verknüpfung darstellt, ist unumstritten. Eine Herausstellung löst den Satzverband und somit die subordinative Anbindung des herausgestellten Elements partiell oder vollständig auf. Den beiden Erscheinungen ist also gemein, dass sie syntaktisch nichtsubordinative Verknüpfungen involvieren. Wir illustrieren und besprechen zunächst das Komma bei Koordination. Vgl. (18): (18) (a) Paul, Elke und Maria. (b) *Paul, Elke, und Maria (c) Sie machten es sich bequem, die Kerzen wurden angezündet(,) und der Gastgeber versorgte sie mit Getränken. Was die zweite Bedingung nicht erfasst, ist die komplementäre Verteilung zwischen einer echten koordinativen Konjunktion wie und und oder und dem Komma, die in den verschiedenen Schriftsystemen unterschiedlich normiert wird. Im Deutschen steht das Komma neben einem echten Koordinator nur dann, wenn die Konjunkte vollständige Hauptsätze mit unterschiedlichen Subjekten sind. Nach der Neuregelung ist diese Verwendung fakultativ, wie in (18c) angegeben. Wenden wir uns nun den Herausstellungen zu. (19)-(22) zeigen Beispiele aus dem Rechtschreibduden (1991, kurz RD) mit der dortigen Beschreibung in Klammern, die in Altmanns System (1981) die Voraussetzungen für Herausstellungen erfüllen und von Altmann wie angegeben subklassifiziert werden: (19) Linksversetzung (RD, R 94, herausgehobene Satzteile): Deinen Vater, den habe ich gut gekannt. (20) vokativische Herausstellung (RD, R 95, Anrede): (a) Kinder, hört doch mal zu! (b) Haben Sie meinen Brief bekommen, Herr Müller? (21) Nachtrag (RD, R 98, nachgestellte nähere Bestimmung): Wir müssen etwas unternehmen, und das bald. (22) Parenthetische Herausstellung: (a) Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdruckes, wurde in Mainz geboren. (RD, R 97, Beisatz, Apposition) (b) Dein Wintermantel, der blaue, muss in die Reinigung. (RD, R 99, nachgestelltes Adjektiv) Wie die heterogenen und sehr ungenauen Angaben im Rechtschreibduden zeigen, konnte die traditionelle Forschung Herausstellungen als einheitliches Phänomen nicht erfassen. Damit wird auch die Systematik des Kommas in diesem Bereich verdunkelt. Wenn man von den heterogenen semantischen und syntaktischen Funktionen der Herausstellungen absieht, so kann man deren kommarelevante syntaktische Eigenschaft besser herauspräparieren (vgl. eingehender Primus 1993, Bredel / Primus 2007). Herausstellungen sind der Matrixstruktur nicht durch eine kanonische syntaktische Subordination (bzw. Unterordnung) zugeordnet. Die Herauslösung aus dem Trägersatz ist ihr wichtigstes Merkmal. Ein deutliches Indiz für diese Herauslösung ist ein syntaktischer Doppelgänger, wie das Objektpronomen den in (19) und die Subjekte Sie in (20b), Johannes Gutenberg in (22a) und dein Wintermantel in (22b). Dieser Doppelgänger ist syntaktisch in den Trägersatz subordinativ eingebunden, fungiert mithin bspw. als Subjekt oder Objekt, und verhindert die Unterordnung des herausgestellten Materials. So wird die Objektfunktion in (19) vom Pronomen den übernommen. Da keine Koordination zwischen den und deinen Vater 22 vorliegt, kann deinen Vater nicht das syntaktische Objekt von kennen sein.16 In anderen Fällen ist eine Herausstellung schon daran erkennbar, dass sie in den Trägersatz nicht integrierbar ist. So verhält es sich mit der Anrede Kinder in (20a), die nicht das Subjekt der Imperativform hört zu sein kann. Auch die nähere Bestimmung in (21) ist in den Trägersatz nicht subordinativ integrierbar: *Wir müssen etwas und das bald unternehmen. Schließlich gibt es auch Fälle, wo die Interpretation als Herausstellung fraglich ist und nur durch eine Analyse des Diskurszusammenhangs bzw. der Autorintention geklärt werden kann: Geh, bitte, nach Hause! vs. Geh bitte nach Hause! Wichtig festzuhalten ist dabei, dass die Optionsfreiheit nicht dem Komma gilt, sondern der syntaktischen Konstruktion. Bei einer Interpretation als Herausstellung muss der Schreiber die Kommas setzen. Bei Unterordnung darf er kein Komma verwenden. Die dritte Bedingung verlangt in Verbund mit der ersten Bedingung ein Komma bei satzinternen Satzgrenzen. Satzinterne Satzgrenzen entstehen auch bei Satzkoordination (vgl. (18c) weiter oben) und bei Herausstellungen, wo Elemente aus dem Trägersatz herausgelöst sind. Aber nur die dritte Bedingung erfasst auch die Satzsubordination (vgl. Ich weiß, dass du kommst. Ich frage mich, wer kommt.). Während Nebensätze, die durch finite Verben gebildet werden, für die dritte Bedingung völlig unproblematisch sind, führte die Kommasetzung bei Infinitivkonstruktionen zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten und fiel aus diesem Grund der Reform von 1996 zum Opfer. Die Reform von 1996 stellte alle Kommas bei Infinitivkonstruktionen frei. Vgl. die Beispiele in (23), die der alten Regelung entsprechen und dem Rechtschreibduden (1991, R 107) entnommen sind: (23) (a) Du scheinst heute schlecht gelaunt zu sein. (b) Er glaubt(,) mir damit imponieren zu können. (c) Sie ging in die Stadt, um einzukaufen. Das Problem hat nichts mit dem Komma zu tun, sondern mit der zugrunde liegenden sprachlichen Gegebenheit, dass Infinitivkonstruktionen im Deutschen ihre Satzwertigkeit verlieren, wenn sie kohärent angeknüpft sind. Bei kohärenten Infinitivgruppen entsteht zwischen Matrixverb und subordiniertem Infinitivverb eine sehr enge syntaktische Bindung. Die einzelnen Bedingungen für die Bildung kohärenter Infinitivkonstruktionen können hier aus Platzmangel nicht eingehend besprochen werden (vgl. Primus 1993). Hier seien einige Erscheinungen erwähnt, die bisherige Arbeiten als Bedingungen der Kommasetzung oder der Kohärenz nennen, ohne den Bezug zwischen Kommasetzung und Kohärenz herzustellen. Leicht nachvollziehbar ist vor allem die Kohärenzrestriktion (vgl. Eisenberg 2006: 363f.), dass Infinitiv- und Partizipgruppen, die als valenzfreie Angaben von Verben oder Substantiven fungieren, nie kohärent und somit stets satzwertig sind. Damit ist gemäß unserer dritten Bedingung, der alten Norm und des tatsächlichen Sprachgebrauchs bei valenzfreien Infinitivgruppen wie in (23c) immer ein Komma zu setzen. Diese Kohärenzrestriktion erklärt die neueste Reform von 2006, die in solchen Fällen das Komma wieder einführt. Die Kohärenz blockieren auch pronominale Kopien für Infinitivkonstruktionen, vgl. Zu tanzen, das ist ihre größte Freude. Erinnere mich daran, den Mülleimer zu leeren. Dies erklärt die Reform von 2006, die das Komma in solchen Fällen wieder einführt. Umgekehrt ist eine Satzverschränkung und eine Platzierung innerhalb der Verbalklammer ein klares Indiz 16 Auch Afflerbachs Untersuchung (1997) bestätigt die Wirksamkeit des hier diskutierten DoppelgängerKriteriums. Die ontogenetisch frühesten Herausstellungskommas erscheinen bei Linksversetzungen wie die in (19) gezeigte. Das folgende Verfahren würde den Zugang des Lerners zum Herausstellungskomma erleichtern. Die ist klug (Aussagesatz mit Verb-Zweit-Stellung und Subjektpronomen im Vorfeld) => Diese Frau, die ist klug (Doppelung des Subjekts, Herausstellung vor dem Vorfeld). Dasselbe mit einem Objekt: Den kenne ich => Den Mann, den kenne ich. Wichtig ist der syntaktische Zugriff, weil das Subjekt bzw. Objekt aufgrund des Koreferenzverhältnisses nicht semantisch, sondern nur formal dupliziert wird. 23 für Kohärenz und duldet kein Komma: Diesen Vorgang wollen wir zu erklären versuchen. Wir hatten den Betrag zu überweisen beschlossen. Auch die Wahl des Matrixverbs hilft weiter. So nimmt das modalverbähnliche Verb scheinen nur kohärente Infinitivgruppen als Objekt zu sich (vgl. (23a)). Bei Infinitivgruppen, die als Ergänzungen zu anderen Matrixverben fungieren und keine Kohärenzrestriktionen verletzen, bleibt dem Schreibenden eine Entscheidungsfreiheit bei der Wahl der Konstruktion. In (23b) kann die Infinitivkonstruktion sowohl kohärent und somit ohne Komma als auch inkohärent und somit mit Komma angeknüpft werden. Die in (23b) gezeigte Entscheidungsfreiheit betrifft nicht die Kommasetzung selbst, sondern die Wahl der syntaktischen Konstruktion. Die Fehleinschätzungen und Missverständnisse im Bereich der Kommasetzung kann den Didaktikern und Norminstanzen am wenigsten zur Last gelegt werden. Vielmehr ist die Schriftsystemforschung in die Pflicht zu nehmen, die es versäumt hat, neuere Forschungsentwicklungen für ihre Belange nutzbar zu machen. Bezeichnend für diese prekäre Situation ist, dass auch die neuesten Auflagen einiger sprachwissenschaftlich anerkannter Grammatiken (vgl. Duden 2005, Eisenberg 2006) die Interpunktion überhaupt nicht behandeln. Aber auch sonst verbreiten sich neue Erkenntnisse nur zögerlich. Während sich die Kohärenztheorie als Erklärung der Kommasetzung bei Infinitivgruppen durchzusetzen beginnt (vgl. Dürscheid 2006: 171f.), bleibt der Zusammenhang zwischen Koordination und Herausstellung sowie die Systematik der Herausstellung mit wenigen Ausnahmen (Eisenberg et al. 2005, Fuhrhop 2008a) unbeachtet. Wir fassen zusammen. Die in diesem Kapitel behandelten Bereiche der deutschen Orthographie – nominale Großschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung und Kommasetzung – sind laut Mehrheitsmeinung äußerst schwer durchschaubar und deshalb reformbedürftig. Neuere Forschungen demonstrieren, dass die Zweifelsfälle und die schwer durchschaubaren Erscheinungen im (nicht-reformierbaren) Sprachsystem und nicht im (prinzipiell reformierbaren) Schriftsystem liegen. Das Schriftsystem lässt sich in diesen Bereichen wie in den anderen hier behandelten Gebieten durch sehr einfache Grundregeln erfassen. Viel komplexer und weitgehend konstruktionsabhängig sind die Verhältnisse im (lautbezogenen) Sprachsystem. Konkreter: Es ist sehr schwer zu bestimmen, ob im Sprachsystem ein komplexes Wort oder eine Wortgruppe vorliegt. Im Gegensatz dazu ist es einfach zu lernen, dass man innerhalb von Wörtern (und somit auch innerhalb von Wortbildungsprodukten) keine Spatien setzen darf und dass man die syntaktischen Bestandteile von Syntagmen durch Spatien trennen muss.17 5. Schlussbetrachtungen Das Fazit des letzten Kapitels gilt mutatis mutandis in unterschiedlichem Ausmaß für alle in diesem Beitrag angesprochenen Strukturebenen des Sprach- und Schriftsystems. Im Lichte der neueren Forschung kann die immer noch vorherrschende Auffassung, dass das Sprachsystem einfach und systematisch und das Schriftsystem komplex und unsystematisch sei, als einer der größten Irrtümer in der Geschichte der Sprachwissenschaft abgetan werden. Die eigentliche didaktische Herausforderung liegt also auf dem Gebiet des Sprachsystems und fällt strikt genommen in den Bereich des Grammatikunterrichts. Dass Grammatik üblicherweise im Zuge des Rechtschreibunterrichts vermittelt wird, ist daher angebracht. Denn nur die schriftliche Fixierung des Sprachsystems zwingt uns dazu, grammatische Bewusstheit zu entwickeln und im Zweifelsfall über Sprachstrukturen zu reflektieren. Mit den Worten Gorniks (2003: 815): „Grammatik im engeren Sinn ist vorschulisch kein Thema der 17 Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der beiden neueren einschlägigen Monographien – Jacobs 2005 und Furhhop 2007 – bestätigt diese Einschätzung. So braucht Fuhrhop zehn Kapitel, um die grammatischen Verhältnisse zu klären, und nur ein Kapitel für die Getrennt- und Zusammenschreibung. 24 spontanen Sprachreflexion von Kindern. Mit dem Beginn des Schriftspracherwerbs aber wenden sich Kinder von sich aus [...] der Struktur der Sprache zu. Die neue Weise, Sprache zu gebrauchen, nämlich in Form der Schrift, lässt grammatische Bewusstheit entstehen.“ Mit „der Struktur der Sprache“ thematisiert Gornik einen weiteren wichtigen Aspekt. Wenn man sich fragt, woran viele herkömmliche Arbeiten über Orthographie scheiterten, so fällt auf, dass es in vielen Fällen an Strukturbezogenheit mangelte. Etliche missverstandene Erscheinungen wurden nur isoliert, losgelöst von ihrer strukturellen Einbettung betrachtet: einzelne Buchstaben und Phoneme anstelle von hierarchischen Strukturen, eine lexikonbasierte Wortartkonzeption für die nominale Großschreibung, der Versuch, die Getrennt- und Zusammenschreibung mit Wortlisten in den Griff zu bekommen. Der Leitfaden einer solchen Methode ist: einmal <e> für /e/, überall <e> für /e/, also ist das zweite <e> in Allee eine Unregelmäßigkeit; Angst einmal großgeschrieben, immer großgeschrieben, also ist mir ist angst eine Ausnahme; Gottesanbeter einmal zusammengeschrieben, immer zusammengeschrieben, also ist des Gottes Anbeter unerklärlich. Ein solcher Zugang wird sprachlichen Gegebenheiten nicht gerecht. Nur eine strukturbezogene Betrachtung kann, wie in diesem Beitrag gezeigt, der tatsächlichen Verwendung von Sprache und Schrift gerecht werden. Mit den Worten Eisenbergs (2006: 5): „Die eigentlich wichtige und interessante Aufgabe einer Grammatik ist, etwas über die Struktur der Einheiten einer Sprache mitzuteilen. Wer sich mit einer Sprache zu beschäftigen hat und andere als feuilletonistische Aussagen über sie machen möchte, muss sich auf strukturelle Begebenheiten beziehen können.“ 6. Literatur Afflerbach, Sabine. 1997. Ontogenese der Kommasetzung vom 7. bis zum 17. Lebensjahr. Eine empirische Studie. Frankfurt/M.: Lang (=Theorie und Vermittlung der Sprache 26). Altmann, Hans. 1981. Formen der 'Herausstellung' im Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Augst, Gerhard / Dehn, Mechthild. 2007. Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht. Können – Lehren – Lernen. Eine Einführung für Studierende und Lehrende aller Schulformen. 3. Aufl. Stuttgart: Ernst Klett. Badecker, William. 1996. 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