Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems.

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Erscheint in: Bredel, Ursula / Müller, Astrid / Hinney, Gabriele (Hgg.) Schriftsystem und
Schrifterwerb: linguistisch – didaktisch – empirisch. Tübingen: Niemeyer.
Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems
Beatrice Primus
1. Vorbemerkungen
In der Sprachdidaktik1 setzt sich in zunehmendem Maße die Auffassung durch, dass der
Schriftspracherwerb als eigenaktives Lernen in einem teilweise selbstorganisierten
Entwicklungsprozess stattfindet. Der Erwerb des Schriftsystems beruht zu einem Großteil auf
der impliziten, unbewussten Anwendung von Prinzipien und Problemlösungsstragien. Er läuft
in diesem Sinne eher als unbewusste Entdeckung schriftsprachlicher Prinzipien und
Beschränkungen ab und weniger als bewusstes Erlernen orthographischer Regeln. Das
bedeutet unter anderem, dass der Erwerbsprozess maßgeblich von den strukturellen
Gegebenheiten des Lerngegenstandes geprägt ist.
Mehrere Untersuchungen belegen die Plausibilität dieser Auffassung. Hier sei lediglich
auf Afflerbachs Untersuchung (1997) über den Erwerb der Kommasetzung vom 7. bis zum
17. Lebensjahr hingewiesen. Ihre Untersuchung ergab, dass die Kommasetzung der
untersuchten 7-jährigen Kinder bereits weitgehend systemkonform ist, wenngleich nicht alle
kommarelevanten Stellen berücksichtigt wurden. Außerdem stellte sie fest, dass die
Ontogenese der Kommakompetenz weitgehend unabhängig von Lehrprozessen ist.2 Sie
schlägt ein Erwerbsmodell vor, nach dem sich die Lerner zunächst eigenaktiv mit dem System
auseinandersetzen. In einer zweiten Phase wenden sie das gelernte System bewusst an, bevor
in einer dritten Phase die bewusste Interpungierung wieder zurückgeht und Routineprozessen
weicht, die nur noch bedingt der Reflexion zugänglich sind.
Für den Sprach- und Rechtschreibunterricht ergeben sich aus diesen Beobachtungen
mehrere Konsequenzen. Didaktische Methoden sind gefragt, die den selbstorganisierten
Erwerbsprozess stützen und sich an den strukturellen Gegebenheiten des Lerngegenstandes,
des Sprachsystems und des entsprechenden Schriftsystems, orientieren. Dies bedeutet
zugleich eine sinnvolle Differenzierung zwischen Sprachnorm und Sprachsystem und
entsprechend dazu zwischen Orthographie und Schriftsystem vorzunehmen. Von vielen
Didaktikern wird daher als Lerninhalt in erster Linie das Schriftsystem und nur in einem
zweiten Schritt das amtliche Regelwerk propagiert.3 Aber auch dies genügt nicht. Eine falsche
Konzeptualisierung der Schriftsystemregularitäten kann ebenfalls negative Folgen zeitigen
(vgl. u.a. Röber-Siekmeyer 1993, Röber-Siekmeyer / Pfisterer 1998, Günther / Nünke 2005,
Bredel, a) in diesem Band). Deshalb sind Lehrende, die bereit sind, diesem Erwerbskonzept
zu folgen, auf mehrfache Weise auf sicheres Sprach- und Schriftsystemwissen angewiesen.
Zum einen spielt dieses Wissen bei der Entwicklung erfolgreicher Unterrichtsmethoden und
bei der Vermittlung eine wichtige Rolle4 und zum anderen bei der Fehleranalyse, die an den
Vermittlungsprozess gekoppelt ist.
1
Für hilfreiche Hinweise und Kommentare danke ich den Bandherausgeberinnen und Nanna Fuhrhop.
Ähnliche Beobachtungen gibt es auch im Bereich der Groß-/Kleinschreibung. So konnte Bredel (2006) schon
in der ersten Klasse über 69% korrekte Groß-/Kleinschreibungen registrieren, obwohl eine explizite Unterweisung noch nicht stattgefunden hatte.
3
Vgl. Röber-Siekmeyer 1993, Hinney 1997, Günther / Nünke 2005, Eisenberg / Fuhrhop 2007 und Bredel et al.,
in diesem Band.
4
Damit ist nicht gemeint, dass die didaktische Vermittlung den hier vorgestellten Schriftsystemregeln möglichst
getreu zu folgen hat, sondern dass sie so konzipiert werden sollte, dass der Zugang zu ihnen erleichert wird.
2
2
Der folgende Beitrag setzt sich das Ziel, den Zugang zu den strukturellen und
funktionalen Grundlagen des deutschen Schriftsystems zu erleichtern, indem er eine
exemplarische Auswahl an Erscheinungen und einen Überblick über neue, didaktisch
einschlägige Forschungsergebnisse bietet. Dabei sollen die strukturellen Grundlagen des
deutschen Schriftsystems auf allen Ebenen, von der Lautstruktur über die Wortstruktur zur
Satzstruktur, berücksichtigt werden, d.h. bezogen auf die Graphematik im weitesten, von den
Bandherausgeberinnen verwendeten Sinn. Die hier angebotene zusammenfassende
Darstellung berücksichtigt die nach Einschätzung der Autorin tragfähigsten neuen
Forschungsergebnisse auf diesem inzwischen sehr intensiv erforschten Gebiet. Sie ist eine
sinnvolle Ergänzung zu Gesamtdarstellungen, die in recht unterschiedlichem Maße neueste
Erkenntnisse berücksichtigen (vgl. Maas 1992, Dürscheid 2006, Augst / Dehn 2007, Nerius
2007, Fuhrhop 2008a).
Schriftsystemregularitäten, die sich auf das lautsprachlich realisierte Sprachsystem
beziehen, werden traditionellerweise als Prinzipien der Orthographie zusammengefasst. Diese
wurden bereits in der älteren Forschung den sprachlichen Ebenen bzw. Wissenskomponenten
folgend in phonologische, morphologische, syntaktische oder semantische systematisiert
(Nerius / Scharnhorst 1980). Der Ebenensystematik folgt weitgehend auch der vorliegende
Beitrag. Die folgenden drei Abschnitte sind den drei wichtigsten Strukturebenen gewidmet:
den phonographischen, morphologischen und syntaktischen Strukturen.
Bevor wir in die Diskussion der Schriftsystemregularitäten einsteigen, sollen
grundlegende Methoden und Begriffe, die für die Didaktik bedeutsam sind, aber meistens
stillschweigend vorausgesetzt werden, erläutert werden. Es gibt allgemeine Regeln bzw.
Beschränkungen des Schriftsystems – wir nennen sie Grundregeln –, die von spezifischeren
Regeln (Spezialregeln) dominiert und somit in ihrer Wirkung blockiert werden können. Unter
der Bedingung, dass eine Regel eine andere dominiert, sind dominierte Regeln verletzbar.5
Übliche Formulierungen sind etwa folgende: Der Langvokal /i:/ wird durch <ie>
wiedergegeben, es sei denn es liegt ein Fremdwort vor (vgl. Röber 2006). Der erste Halbsatz
formuliert die Grundregel, der zweite die Spezialregel für Fremdwörter, die Vorrang erhält,
sofern ihre zusätzliche Eingabebedingung „Fremdwort“ erfüllt ist. So schreibt man viel und
sieben, aber Riten und Limes. Diese Regelinteraktion ist nicht mit Regel und Ausnahme zu
verwechseln. Grundregel und Spezialregel sind systematisch: einmal gelernt, können beide
Regeltypen auf beliebige gleichgeartete Fälle übertragen werden, womit solche Fälle
vorhersagbar sind. Ausnahmen sind nicht-vorhersagbare Einzelfälle, die nicht systematisiert
werden können und lexikalisches Lernen erfordern, wie etwa die Dehnungsschreibung mit
<aa> oder <oo> wie in Haar und Moor. Hier handelt es sich um echte Irregularitäten.
Zu den grundlegenden Konzepten gehören auch die einander nahe stehenden Begriffe der
Markiertheit, des Kanonischen und des Prototypischen (vgl. Taylor 1995, Fuhrhop 2007,
Bredel, a) in diesem Band, Fuhrhop in diesem Band). Die einzelnen Elemente einer
sprachlichen Kategorie sind nicht gleichrangig, sondern nach ihrer kognitiven Einfachheit
geordnet. So ist etwa ein Nomen, das plural-, artikel- und attributfähig ist, wie etwa (ein)
Haus oder (dicke) Bäume, prototypischer als ein Nomen, das keines dieser Eigenschaften
aufweist (vgl. Abschnitt 4.1 weiter unten). Prototypische Elemente bilden den Kern einer
Kategorie oder eines Systems, nicht-prototypische Elemente die Peripherie. Für prototypische
(unmarkierte, kanonische) Erscheinungen gilt u. a., dass sie im Normalfall früher erworben,
kognitiv schneller verarbeitet, häufiger verwendet und sprachlich einfacher kodiert werden als
weniger prototypische Elemente derselben Klasse. Für die Unterrichtsmethodik ergeben sich
aus diesen Überlegungen erste grobe Orientierungshilfen: Grundregel vor Spezialregel vor
5
Ein neueres Grammatikmodell, das die Interaktion verletzbarer Beschränkungen zentral in den Blick nimmt,
ist die Optimalitätstheorie. Schriftsystemuntersuchungen im Rahmen der Optimalitätstheorie sind z. B. Jacobs
(2005), Hemmerich (2007), Geilfuß-Wolfgang (2007).
3
Irregularität sowie prototypische (kanonische) Erscheinungen vor weniger prototypischen
(vgl. Bredel, a) in diesem Band; Fuhrhop, in diesem Band).
2. Phonographische Strukturen
In diesem Abschnitt werden wir einige exemplarische Erscheinungen betrachten, die unter das
phonologische (oder phonographische) Prinzip des Schriftsystems fallen. Üblicherweise
behandelt man auf dieser Ebene Phoneme bzw. Laute einerseits und Grapheme bzw.
Buchstaben andererseits. Der Zusammenhang zwischen den beiden Bezugsgrößen wird in
Phonem-Graphem-Korrespondenzen ausgedrückt. Die entsprechende allgemeinere
Generalisierung liefert das phonographische Prinzip, das von Nerius (2007: 100) in Einklang
mit der traditionelleren Forschung wie folgt formuliert wird: „die Buchstaben- oder
Graphemschrift, bei der Buchstaben oder Buchstabengruppen (Grapheme) einzelne Laute
oder Lautgruppen (Phoneme oder Phonemverbindungen) repräsentieren“. „Unregelmäßigkeiten“ werden wie folgt charakterisiert: „Mehrfach sind einem Phonem mehrere Buchstaben
bzw. einem Buchstaben mehrere Phoneme zuzuordnen“ (2007: 103). So zum Beispiel, „dass
sich der Buchstabe <a> auf die zwei Phoneme /a/ und /a:/ zu beziehen vermag“ (2007: 109).
Soweit die herkömmliche, auf lineare Buchstaben- und Phonemfolgen basierte Auffassung.
Wie sich gleich zeigen wird, sieht sie sich mit mehr Unregelmäßigkeiten als nötig
konfrontiert.
Die neuere Schriftsystemforschung trägt der in der neueren Phonologie entwickelten
Annahme Rechnung, dass lautliche und somit auch graphematische Einheiten auf mehreren
Ebenen hierarchisch strukturiert sind. Inzwischen werden in mehreren Arbeiten Silbe, Fuß
und Wort als weitere Bezugsgrößen berücksichtigt. Der folgende Abschnitt zeigt an
exemplarischen Erscheinungen, dass phonographische Erscheinungen nur mit Bezug auf diese
Struktureinheiten systematischer erfasst werden können als in herkömmlichen Ansätzen. (1)
illustriert die hierarchische graphematische Analyse des Wortes schrieben:
(1)
<ω>
|
F
graphematisches Wort
graphematischer Fuß
σ
A
N
σ
A
|
G
|
b
G G G G
| | |
sch r i e
|
<gerundet>
<kanonisch>
graphematische Silben
N
|
G
|
e
E
|
G
|
n
Konstituenten der Silbe:
A = Anfangsrand, N = Nukleus, E = Endrand
Grapheme
Buchstaben
Buchstabenmerkmale für <e>
Wir gehen in (1) davon aus, dass Laut- und Schrifteinheiten analog strukturiert sind: beide
Systeme verfügen über die in (1) angegebenen, teilweise anders benannten Struktureinheiten
und strukturieren diese auch weitgehend analog. Die kleinste funktionale Spracheinheit ist das
Merkmal, d. h. die kleinste bedeutungsunterscheidende Komponente eines Lautes oder
4
Buchstabens. Die in (1) angegebenen Merkmale für <e> werden weiter unten erläutert.
Merkmale werden zu Buchstaben zusammengefügt. Bestimmte Buchstaben können alleine
oder in bestimmten Verbindungen wie bspw. <sch> Grapheme bilden. Grapheme wiederum
bilden Silbenkonstituenten, die zu ganzen Silben, sodann zu Füßen und schließlich zu
Wörtern zusammengefügt werden. Die in (1) angegebenen Strukturebenen werden im
Folgenden beginnend mit den Buchstabenmerkmalen der Reihe nach besprochen.
2.1 Buchstabenmerkmale, Buchstaben, Grapheme
Wie bereits erwähnt, stellt laut Mehrheitsmeinung der Buchstabe die kleinste relevante
Beschreibungseinheit des Schriftsystems dar. Das Kernstück der traditionellen Graphematik
bilden Laut-Buchstaben- bzw. Phonem-Graphem-Zuordnungen, die im strengen Sinne keine
Regeln sind, da sie sich auf einzelne Einheiten und nicht auf Klassen von Einheiten beziehen.
Regeln, einmal erworben, sind auf mehrere gleichgeartete Einheiten anwendbar. Die
Entwicklung einer regelbezogenen Graphematik kann nur gelingen, wenn Buchstaben in ihre
Bestandteile zerlegt und mit Hilfe von Merkmalen zu Klassen zusammengefasst werden.
Erste Schritte in dieser Richtung wurden in Primus (2004, 2006) und Fuhrhop/Buchmann
(2008) unternommen. Ergebnisse dieser Untersuchungen werden im Folgenden exemplarisch
präsentiert.
Im Gegensatz zu Lauten, deren Merkmale gebündelt auftreten, bestehen Buchstaben aus
vertikal oder horizontal nebeneinander auftretenden Komponenten, d. h. Linien. In komplexen
Einheiten dieser Art ist ein Element der Kopf (auch Grundelement) der Konstruktion, von
dem – falls vorhanden – weitere Elemente, die wir für Buchstaben Codas nennen, abhängen.
Die folgenden heuristischen Identifikationskriterien für Buchstabenköpfe ergeben sich aus
allgemeinen Beschränkungen, denen Buchstaben unterliegen. Die Kopflinie ist obligatorisch,
Codas fakultativ. Vgl. den Buchstabenkörper von <i>, der nur aus der Kopflinie und einem
nicht dem Buchstabenkörper angehörenden Punkt, einem Diakritikum, besteht. Des Weiteren
muss eine Kopflinie vertikal sein, während eine Codalinie auch horizontal sein darf. Somit ist
z. B. beim <e> der nach rechts offene Bogen der Kopf und die horizontale Linie die Coda.
Ferner können Köpfe, wie bspw. bei <f, t, j, p, b, d> lang sein, während Codas, falls sie
vertikal sind, immer kurz sein müssen.
Die Unterscheidung zwischen Kopf und Coda ist für die Graphematik von zentraler
Bedeutung. Die folgenden Beschränkungen beziehen sich entweder auf den Kopf oder die
Coda der Buchstaben oder auf die Beziehung zwischen den beiden. Die Kleinbuchstaben
verhalten sich systemkonformer als die Großbuchstaben und bestätigen somit Arbeiten, die
Kleinbuchstaben aus unabhängigen Gründen als grundlegend einstufen (Gallmann 1985,
Günther 1988). In diesem Beitrag wird zur Illustration lediglich das System der nativen
Kleinbuchstaben für Vokale unter Ausschluss von <y> präsentiert (für Konsonanten vgl.
Primus 2004, 2006).
Die Buchstaben werden mit der serifenlosen Arial-Schriftart illustriert, weil Serifen
phonologisch nicht-funktional sind. Die angegebenen Lauteigenschaften der Buchstaben
beruhen auf ihrer sprachenübergreifend gültigen, aus dem Lateinischen übernommenen
Standardaussprache. Korrespondenzregeln, die in beiden Richtungen gelten, werden mit
Doppelpfeil notiert, unidirektionale mit einem einfachen Pfeil. Das graphematische Merkmal
erscheint in spitzen Klammern, das phonologische Merkmal zwischen Schrägstrichen.
Wenn man die Vokalquantität und das Schwa (den Murmelvokal wie in Atem) als
silbenstrukturelle Erscheinung zunächst außen vor lässt, so bleiben im System der Vokallaute
drei bedeutungsunterscheidende artikulationsbezogene Parameter übrig: Zungenhöhe bzw.
Mundöffnung, Artikulationsort und Lippenrundung. Diesen drei lautlichen Parametern
entsprechen merkmalsbezogene graphematische Kontraste, die im Folgenden nacheinander
eingeführt werden.
5
Der erste merkmalsbezogene graphematische Kontrast bezieht sich auf die runde vs.
gerade Form der Kopflinie. Ihm entspricht der lautliche Kontrast der Zungenhöhe bzw.
Mundöffnung. Vgl. (2). Zur Illustration werden rechts auch die entsprechenden BuchstabenLaut-Korrespondenzen angegeben:
(2)
a. <nicht gerundet > ↔ /geschlossen/
b. <gerundet>
↔ /nicht geschlossen/
<i>-/ɪ/, <u>-/υ/
<e>-/ε/, <o>-/ɔ/, <a>-/a/
Ein Buchstabe mit einem geraden Kopf, wie <i, u>, korrespondiert mit einem geschlossenen
Laut, d. h. /ɪ/ oder /υ/. Ein Buchstabe mit einem gerundetem Kopf, wie <a, e, o>, entspricht
einem nicht geschlossenen, d. h. einem mit größerer Mundöffnung produzierten Laut, wie /a,
ε, ɔ/.
Der zweite lautliche Parameter trennt vordere von nicht-vorderen Artikulationsorten, vgl.
/ɪ, ε/ im Gegensatz zu /a, ɔ, υ/. Dieser lautliche Kontrast wird im System der Kleinbuchstaben
durch die Unterscheidung zwischen einer kanonischen und einer nicht-kanonischen
Orientierung der Kopflinie und der Coda symbolisiert. Die kanonischen Formen fügen sich
der rechtsläufigen Zeilenrichtung und bilden möglichst geschlossene geometrische Figuren
wie bei <i> und <e>. Kanonische Buchstabenformen signalisieren einen vorderen
Artikulationsort wie bei den Lauten /ɪ/ und /ε/. Bei Buchstaben, denen weiter hinten
artikulierte Laute entsprechen, sind Kopf und Coda nicht kanonisch ausgerichtet: der Kopf
zeigt nach links, hat eine linksseitige Coda, oder eine Coda, die sich vom Kopf abwendet, vgl.
<j, k, g, a, u>. Diese Korrespondenzen werden in (3) zusammengefasst und durch
Buchstaben-Laut-Paare illustriert:6
(3)
a. <kanonisch>
↔ /vorne/
<i>-/ɪ/, <e>-/ε/
b. < nicht kanonisch>
↔ /nicht vorne/
<u>-/υ/, <o>-/ɔ/, <a>-/a/
Beim Buchstaben <a> gibt es eine Unklarheit. Die Variante <a> indiziert einen hinteren,
nicht-hohen Vokal; die Variante <a> signalisiert einen vorderen, nicht-hohen Vokal, unter
der plausiblen Annahme, dass das erste runde Element die Kopflinie ist. Diese
graphematische Ambivalenz spiegelt die phonologische Ambivalenz des Vokals /a/ wieder,
der sowohl vorne als auch hinten, also zentral, ausgesprochen wird.7
Bisher wurde das Buchstaben-Laut-Paar <a>-/a/ noch nicht von <e>-/ε/ und <o>-/ɔ/
abgesetzt. Den Kontrast zwischen <a>-/a/ und <e>-/ε/ erfasst (4):
(4)
<offen oben> → sonorer Laut als für den graphematischen Spiegelbuchstaben
Vertikal gespiegelte Formen signalisieren einen Unterschied in der Sonorität bzw. Schallfülle
(vgl. Primus 2004, Fuhrhop/Buchmann 2008). Oben offene Formen sind sonorer, d. h. haben
6
Die hier vorgestellte Systematik der Kleinbuchstaben liefert wichtige heuristische Entscheidungskriterien,
wenn ein Buchstabe, was oft vorkommt, mehrere Zerlegungsmöglichkeiten erlaubt. So analysieren wir <o>
systemkonform als Buchstaben, der aus zwei vertikalen Halbkreisen besteht, wobei der rechte Halbkreis die
Kopflinie bildet. Alle anderen Analyseoptionen ergäben einen systemwidrigen Buchstaben. Eine Bestätigung
erfahren unsere Buchstabenzerlegungen und ihre Merkmalsbeschreibung durch die unabhängig begründeten
Ergebnisse von Berkemeier (1997).
7
Im phonologischen System des Deutschen verhält sich /a/ allerdings eher wie ein hinterer Vokal: er kann
umgelautet werden (vgl. Wagen – Wägen wie dumm – dümmer und Bogen – Bögen) und lizensiert den velaren
Frikativ (Kachel wie Kuchen und kochen) anstelle des palatalen Frikativs (vgl. kichern).
6
mehr Schallfülle, als ihre oben geschlossenen Spiegelbildpartner. Man vergleiche etwa die
Lautwerte der folgenden Buchstabenpaare; der erste Lautwert hat jeweils weniger Schallfülle
als der zweite: Konsonant vs. Vokal für <n u>, stimmlos vs. stimmhaft für <p b>, <f j> und <t
j> sowie halboffener vs. offener Vokal für <e a>.
Der dritte Lautparameter, die Lippenrundung, wird graphematisch nicht direkt
wiedergegeben, weil er sich aus Normalverteilungen für Merkmale ableiten lässt. Hintere
nicht-tiefe Vokale sind im prototypischen Fall rund, wie /υ/ und /ɔ/, alle anderen Vokale sind
im prototypischen Fall nicht rund, wie /a/, /ε/ und //ɪ/ (vgl. Hall 2000).
Das Deutsche verfügt auch über Vokalbuchstaben mit Trema, also <ü, ö, ä>, die komplexe
Grapheme darstellen (vgl. Gallmann 1985). Die lautbezogene Funktion des Tremas ist, den
Lautwert /nicht vorne/, den die nicht-kanonischen Buchstaben <u, o, a> anzeigen, durch
/vorne/ zu ersetzen, vgl. Ödem, Büro, Pädagoge. Alle anderen Merkmale des betreffenden
Lautes bleiben erhalten. Die Tremaregel hat als Spezialregel Vorrang über die Grundregel
(3b) für nicht-kanonische Buchstabenformen und setzt sich somit durch. Der Zusammenhang
zur phonologischen Umlautregel ergibt sich automatisch. Die phonologische Umlautregel
ersetzt bei Wortverwandten den Lautwert /nicht vorne/ durch /vorne/, ist also eine
Frontierung. Man vergleiche etwa die Aussprache von Wagen – Wägen, Bogen – Bögen und
dumm - dümmer.
Als Fazit der merkmalsbezogenen Analyse halten wir fest: die drei qualitativen
Vokalmerkmale Artikulationsort, Mundöffnung und Lippenrundung korrespondieren mit
graphematischen Merkmalen. Die kanonische oder nicht-kanonische Ausrichtung von Kopf
und Coda dient der Wiedergabe eines vorderen oder hinteren Artikulationsortes. Der Kontrast
zwischen runder und gerader Kopflinie entspricht der Unterscheidung zwischen nichtgeschlossener und geschlossener Mundöffnung. Die Lippenrundung wird nicht direkt
wiedergegeben, sondern ergibt sich durch die phonologische Normalverteilung: Hintere nichttiefe Vokale sind rund, alle anderen Vokale sind im unmarkierten (prototypischen) Fall nichtrund. Vordere runde Vokale sind markiert und müssen durch ein Trema über dem
Buchstabenkörper für einen hinteren Vokal angezeigt werden, wie bei <ö> und <ü>.
Vokalbuchstaben mit Trema indizieren generell einen vorderen Artikulationsort. In (5)
werden diese Korrespondenzen in einem Vokaldreieck visualisiert und mit Buchstabenformen
illustriert:
(5)
/vorderer Laut/
<kanonische Ausrichtung>
/geschlossener Laut/
<gerade Kopflinie>
i
/nicht-geschlossener Laut/
<gerundete Kopflinie>
/nicht-vorderer Laut/
<nicht-kanonische Ausrichtung>
ü
u
e, ö
ä
o
a
/offenerer Laut als /ε//
<oben offen gegenüber <e>>
Das Trema ersetzt den Lautwert /nicht vorne/ durch /vorne/ für nicht-kanonisch
ausgerichtete Vokalbuchstaben.
Aus der merkmalsbasierten Vorgehensweise ergeben sich für die Didaktik einschlägige
Erkenntnisse (vgl. Berkemeier 1997, 2003, Primus 2006). In herkömmlichen Darstellungen
finden wir für jedes Phonem mindestens eine eigene Grundregel. Wenn man Vokalquantität
und Schwa als silbenbasierte Erscheinungen zunächst außen vor lässt, so werden für 7
Kurzvokale 7 einzelne Grundkorrespondenzregeln aufgestellt (vgl. Eisenberg (2006: 308),
Augst / Dehn (2007: 86)). Die Zahl der Grundregeln steigt mit der Zahl der Phoneme. Wir
7
hingegen benötigen viel weniger Regeln als Phoneme. Wir kommen mit nur 6 Regeln aus,
wie in (2a,b), (3a,b), (4) und der Tremaregel angegeben. Alle außer der Tremaregel gelten
auch für Konsonantenbuchstaben, was hier aus Platzgründen nicht demonstriert werden
konnte. Wenn man Vokale und Konsonanten zusammenfasst, ist unser Modell deutlich
sparsamer als herkömmliche Analysen. Dieser Vorteil ergibt sich aus der klassifizierenden
Funktion von Merkmalen.
Nützlicher als die rein quantitative Ersparnis ist, dass unser Ansatz die Fakten nicht nur
beschreibt, sondern auch erklärt, d. h. größere Zusammenhänge aufdeckt. Aus Platzgründen
werden nur einige exemplarische Zusammenhänge zur Sprache gebracht. Bei der
merkmalsbasierten Herangehensweise ergibt sich der phonologische Wert eines Buchstabens
unmittelbar aus der Form der Buchstabenteile. So ist bspw. bei der Artikulation offener
Vokale die Lippenstellung und Mundöffnung sichtbar größer, bögiger als bei der Artikulation
der geschlossenen Laute. Diesen Unterschied geben gerundete vs. gerade Kopflinien
unmittelbar, d. h. ikonisch-bildhaft, wieder (vgl. Russ (2000) für ein didaktisches Modell, das
auf Mundbildern basiert). Ein weiterer Zusammenhang betrifft die artikulatorische
Einfachheit der phonologischen Merkmale. Vordere Laute sind einfacher zu artikulieren und
wahrzunehmen als hintere und dementsprechend sind Buchstabenformen für vordere Laute
einfacher („kanonischer“) als für hintere Laute, vgl. <i, e> mit <u, o, a>. Ein weiterer
merkmalsbasierter Zusammenhang besteht bei den Dehnungsbuchstaben, die sich durch eine
runde Kopflinie auszeichnen. Darauf gehen wir später eingehender ein. Ein weiterer
didaktisch nutzbarer Vorteil des merkmalsbasierten graphematischen Modells ist, dass es auf
systematische phonologische Lautkontraste und mithin auf Lautklassen zugreift und damit zur
Stärkung des phonologischen Bewusstseins, einer wichtigen Voraussetzung für die
Schrifteignung, unmittelbar beiträgt.
Wichtig für die Didaktik ist, dass graphematische Merkmale kognitiv reale Bezugsgrößen
darstellen. Es gibt inzwischen mehrere Untersuchungen, die ihre kognitive Validität bei der
Buchstabenerkennung und –produktion8 sowie beim Schriftspracherwerb bestätigen9. So zeigt
eine aus unserer Perspektive vorgenommene Analyse von Erwerbsdaten, dass in
vorschulischen, voralphabetischen Erwerbsphasen die Prinzipien der Buchstabenstruktur
eigenaktiv erworben werden. Solche Prinzipien sind, dass Buchstaben auf einer horizontalen
Linie aufeinander folgen und dass sie aus mindestens einer vertikalen (runden oder geraden)
Linie bestehen. Wie (6) zeigt, produzieren bereits Drei- bis Vierjährige im vorschulischen
Selbstlernprozess Buchstabenvorgänger, die diesen Prinzipien folgen (vgl. weitere Daten in
Gombert / Fayol 1992).
(6)
Schriftprodukt im Alter von 3:8 Jahren (Gombert / Fayol 1992: 31)
Als Fazit halten wir fest, dass Buchstabenmerkmale die kleinsten relevanten Größen unseres
Schriftsystems darstellen.
Den Strukturgrößen der nächsten Ebene, den Buchstaben und Graphemen, kommt in einer
merkmalsbasierten Graphematik eine bescheidenere Rolle zu als in herkömmlichen Modellen.
Grapheme braucht man etwa, um bestimmte bei der Silbentrennung unzerlegbare und nur mit
einem Laut korrespondierende Buchstabenverbindungen wie z. B. <sch> in mi-schen oder
<ch> in la-chen als eine Einheit zu erfassen. Die Nicht-Trennbarkeit des Graphems <sch>
wird in der Strukturdarstellung (1) dadurch erfasst, dass seine Buchstabenteile unter einen mit
8
Vgl. Gibson et al. 1963, Johnson 1981, McClelland / Rumelhart 1981, Kolers 1983, Van Galen 1991,
Schomaker / Segers 1999, Thomassen 2003.
9
Vgl. Gibson / Levin 1975, McCarthy 1979, Berkemeyer 1997, 2003.
8
G notierten Graphem-Knoten fallen.10 Buchstaben sind nötig, um die initiale Großschreibung
korrekt zu erfassen, vgl. Schaufel vs. *SCHaufel.
2.2 Silbenstrukturen
Buchstaben und Grapheme fügen sich zu Silbenstrukturen zusammen. Silbenstrukturen
wurden für die Phonologie der Lautsprachen entwickelt und eingehend erforscht, sie spielen
aber auch in neueren Ansätzen zur Graphematik eine immer wichtigere Rolle.11 Im Deutschen
sind drei Silbentypen relevant: betonte Vollsilben, unbetonte Vollsilben und
Reduktionssilben.12 Die wortakzenttragende Vollsilbe bezeichnen wir als Tonsilbe. Die
betonbaren Vollsilben heben sich strukturell durch einen verzweigenden Nukleus von den
unbetonbaren Reduktionssilben ab, die einen einfachen Nukleus haben, wie (1) für schrieben
und (9) für irre zeigt.13. Wir gehen davon aus, dass Laut- und Schriftsilben analog strukturiert
sind: beide Systeme verfügen über die in (1) angegebenen Struktureinheiten und strukturieren
diese auch weitgehend, aber nicht immer analog. Da Silbenstrukturen und alle weiteren
suprasegmentalen Ebenen zur Phonologie gehören, ordnen wir ihre Verschriftung der
phonographischen Ebene zu. In Einklang mit der neueren Phonologie ist es sinnvoller, das
phonographische Prinzip gemäß der phonologischen Strukturhierarchie in mehrere
Subprinzipien aufzuteilen, als silbische Schreibungen, wie in den meisten anderen Arbeiten
zum Schriftsystem, einem separaten Prinzip zuzuordnen.
In vielen Arbeiten beschränkt sich die Funktion der Silbeneinheit auf die Worttrennung
am Zeilenende, womit nur eine ihrer trivialsten Funktion erfasst wird. Ausgehend von
Günther (1992) und Geilfuß-Wolfgang (2007) gehen wir davon aus, dass die Worttrennung
am Zeilenende durch drei hierarchisch geordnete Grundregeln determiniert wird. Erste
Priorität hat die Trennung nach morphologischen Bestandteilen, falls ein Kompositum oder
eine Präfixbildung vorliegt, die als solche erkennbar ist: ver-armt, Erz-engel, Ur-enkel. Bei
undurchsichtigen morphologischen Bildungen operiert die morphembasierte Trennregel nach
der Reform fakultativ: hin-auf neben hi-nauf, Syn-onym neben Sy-nonym. Liegt keine
morphologische Bildung im Sinne der morphembasierten Trennregel vor, dann trennt man
graphembasiert (Günther 1992): das letzte (und ggf. einzige) Graphem zwischen zwei
Vokalbuchstaben kommt auf die nächste Zeile: war-te, fin-den, ra-sche, wid-rig, dunk-le. Die
Trennung nach Sprechsilben, die in den meisten Standardwerken irreführenderweise zuerst
genannt wird, operiert eigenständig nur bei Fremdwörtern wie in Fe-bruar (neben Feb-ruar),
Ma-gnet (neben Mag-net) sowie beim Aufeinandertreffen zweier Vokalbuchstaben wie in
na-ive (versus Mai) und Zo-ologe (versus Zoo).14
Die mit >> notierte Regelhierarchie für die Worttrennung am Zeilenende und
Trennvarianten, die nach der neuen Rechtschreibung zugelassen sind, zeigt (7):
10
Die Auffassung, dass Grapheme suprasegmentale Einheiten sind, findet man bei Weingarten (2004).
Vgl. Butt / Eisenberg 1990, Prinz / Wiese 1990, Günther 1992, Maas 2000, Primus 2000, 2003.
Psycholinguistische Evidenz liefern z. B. Caramazza / Micelli 1990, Badecker 1996, Domahs et al. 2001,
Weingarten 2004, Nottbusch 2008.
12
Eine abgewandelte Auffassung findet man in den Arbeiten von Maas (1992, 2000) und Röber-Siekmeyer
(1993 u.a.).
13
Die Annahme eines verzweigenden Nukleus für Vollsilben geht auf Wiese (2000) zurück (ähnlich auch
Becker 1996) und wurde auf die Schreibsilbe von der Autorin übertragen (Primus 2000, 2003). Wenn man auf
diese Annahme verzichtet, was prinzipiell möglich ist, kann man die weiter unten besprochene Besonderheit der
zweiten Nukleusposition nicht so elegant erfassen.
14
Es gibt auch Spezialregeln, wie das Verbot der Abtrennung einzelner Vokale (vor der Reform 1996 und nach
der Reform 2006) oder das Verbot der Trennung von <st> (vor der Reform von 1996) oder von <ck> (nach der
Reform von 1996 und 2006).
11
9
(7)
Regelhierarchie für die Worttrennung am Zeilenende und orthographisch zugelassene
Dubletten:
morphologische >> graphematische >> phonologische Trennregel
ver-armt
hin-auf
dunk-le
hi-nauf
Feb-ruar
Zo-ologe
Fe-bruar
Die Regelhierarchie in (7) ist experimentell teilweise gut motiviert. So belegen neuere
Studien, dass Morphemfugen beim Schreiben (vgl. Nottbusch 2008) und Lesen (vgl. GeilfußWolfgang 2007) deutlicher hervortreten als Silbengrenzen.
Im Rechtschreibduden und in manchen Standardwerken wird das System der
Worttrennung am Zeilenende falsch konzeptualisiert. Der Vorrang der graphembasierten
Trennregel gegenüber der phonologischen wird nicht erfasst. In vielen Fällen ergibt sich eine
Trennung, die beiden Regeln entspricht, wie etwa bei war-te und fin-den. Die Regelhierarchie
erkennt man nur im Konfliktfall, wenn die graphematische Trennstelle nicht mit der
phonologischen Silbengrenze zusammenfällt. Bei wid-rig und dunk-le ist bspw. der
Trennstrich nicht an der phonologischen Silbengrenze, sondern gemäß der dominierenden
graphembasierten Trennregel vor dem letzten intervokalischen Graphem platziert.
Die Relevanz der graphematischen Silbenstruktur zeigt sich besonders deutlich bei
Schreibungen, die suprasegmentale lautliche Kontraste, allen voran die Vokalquantität,
wiedergeben. Statt wie in der herkömmlichen Phonologie zwei Vokalreihen anzunehmen, die
sich durch Länge und Gespanntheit voneinander unterscheiden, vgl. /i:/ wie in Lied vs. /ı/ wie
in litt und litten, gehen neuere phonologische Ansätze von einer Vokalreihe aus (vgl. Becker
1996, Wiese 2000). Der Längen- und Gespanntheitskontrast ist als Folgeerscheinung aus der
silbenstrukturellen Einbettung des Vokals ableitbar: Ein Vokal, der beide Nukleuspositionen
belegt, ist immer gespannt und unter Betonung auch lang. Die Korrelation Lang – Gespannt
ist nur bei /ε:/ wie in Ähre aufgebrochen (vgl. Wiese 2000 für eine Erklärung). Ein Vokal, der
nur eine Nukleusposition besetzt, ist immer ungespannt und kurz. Diese Auffassung erlaubt es
auch, die Phonem-Graphem-Korrespondenzen auf eine Vokalreihe zu reduzieren, wie im
vorigen Abschnitt gezeigt.
Die Wiedergabe suprasegmentaler lautlicher Kontraste geschieht im Deutschen wie in
anderen Sprachen nicht durch unterschiedliche Buchstaben, sondern buchstabenübergreifend
und mithin auch graphematisch suprasegmental. Sie ist weniger systematisch, ist an die
zweite Nukleusposition gekoppelt und hebt dort die Grundkorrespondenzregeln zwischen
qualitativen Lautmerkmalen und Buchstaben bzw. Buchstabenmerkmalen auf. Wir
besprechen zunächst die Dehnungszeichen und beschränken uns auf Vokalbuchstaben in
dieser Funktion, wie in Seen, sie, Haar und Moor (zum Dehnungs-<h> vgl. Primus 2000).
Vokalbuchstaben mit Dehnungsfunktion sind nur <a, e, o>, wenn man von regional bedingten
Namenschreibungen absieht (vgl. Troisdorf, Broich). Sie sind in der zweiten Nukleusposition
der Schreibsilbe platziert. In dieser Silbenposition sind sie mit den phonologisch
korrespondierenden Buchstaben <i, u>, wie etwa in sein, Saite, Heu und Bäume,
komplementär verteilt. In (8) wird diese Systematik durch ein partielles Strukturschema und
durch Beispiele verdeutlicht:
10
(8)
a. Nukleus
S
s
H
M
b.
Nukleus
V X
│ │
e e n
i e
a a r
o o r
│
<gerundet>
/stumm/
V
│
e
a
e
ä
X
│
s
i n
S
i t e
H
u
B
u m e
│
<nicht gerundet>
/korrespondierend/
Die in der zweiten Nukleusposition komplementär verteilten Buchstaben lassen sich durch
Buchstabenmerkmale auseinanderhalten. Die stummen Buchstaben <e, a, o> haben einen
gerundeten Kopf, während der Kopf der lautlich korrespondierenden Buchstaben <i, u>
gerade ist.
Was die Doppelkonsonanzschreibung (auch Schärfungsschreibung) wie in Betten und
Lämmer betrifft, so wird sie im Rechtschreibduden (2004: 863, § 2) und in manchen
Standardwerken wie folgt beschrieben: „Folgt im Wortstamm auf einen betonten kurzen
Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens“. Daraus ergibt sich Bett, Betten, Lamm und Lämmer.
Eisenberg (2005, 2006) hingegen erklärt die Doppelkonsonanzschreibung phonologisch durch
einen Gelenkkonsonanten wie in Betten und Lämmer: Ist ein Konsonant ein Silbengelenk, so
wird er durch Verdopplung des Buchstabens für den Konsonanten dargestellt. Gelenkkonsonanten sind eine Folge der silbenstrukturellen Besonderheit des Deutschen, dass ein
betonter Kurzvokal nie in offener Silbe stehen kann. Lamm und Bett befolgen dieses Gesetz
durch einen silbenschließenden Konsonanten, Betten und Lämmer durch einen Gelenkkonsonanten. Ein Gelenkkonsonant ist dadurch charakterisiert, dass er eine Silbe schließt und
zugleich die nächste Silbe eröffnet, wie in (9a) weiter unten gezeigt. Da Gelenkkonsonanten
nur nach Kurzvokal vorkommen, zeigt die graphematische Konsonantenverdopplung auch
Vokalkürze an, aber eben nur indirekt. Außerdem sind beide Erscheinungen, Gelenkbildung
und Vokalkürze, in neueren phonologischen Ansätzen silbenstrukturelle Erscheinungen. Ein
eindeutiger konzeptueller Vorteil der Analyse von Eisenberg liegt in der Tatsache, dass die
Verdopplung des Konsonantengraphems unmittelbar aus den Eigenschaften des
entsprechenden phonologischen Konsonanten abgeleitet wird. Vgl. (9):
(9)
Phonologisches Silbengelenk (a) und graphematische Doppelkonsonanz (b):
(a)
σ σ
|
N O
|
V C C
|
/i
r
σ
|
N
(b)
N
|
V
|
ə/
V
|
<i
σ
O
|
C C
| |
r r
N
|
V
|
e >
Der Rechtschreibduden und Eisenberg divergieren in Fällen wie man, Bett und Lamm. Gemäß
der Duden-Regel sind Bett und Lamm phonologisch motiviert, da ein betonter Kurzvokal
vorliegt, dem im Wortstamm ein einzelner Konsonant folgt. Die Absenz der graphematischen
Verdopplung in man ist hingegen eine Ausnahme. Nach Eisenbergs Auffassung ist man
11
regulär, da kein Gelenkkonsonant vorliegt. Aus demselben Grund sind für Eisenberg Bett und
Lamm nicht phonologisch motiviert, sondern dem Morphemkonstanzprinzip geschuldet: Man
schreibt Lamm wegen Lämmer und Bett wegen Betten. Wir kommen auf diese Fälle im
nächsten Abschnitt zurück.
Unabhängig von dieser Debatte über die Doppelkonsonanzschreibung ist ein
silbenstruktureller Zugriff auf sie systemangemessen. Didaktische Ansätze, die für die
Doppelkonsonanzschreibung silbenstrukturell basierte Unterrichtsmethoden entwickelt haben,
sind besonders erfolgreich (Röber-Siekmeyer 1993, Röber-Siekmeyer / Pfisterer 1998,
Tophinke / Röber-Siekmeyer 2002).
Wenn wir die Silbenstrukturpositionen Revue passieren lassen, so ergibt sich folgende
Systematik. In der ersten Nukleusposition wird die Vokalqualität viel eindeutiger als bisher
angenommen verschriftet, wie im vorigen Abschnitt gezeigt (vgl. auch Primus 2000, 2003).
Die zweite Nukleusposition der Schreibsilbe ist für die Wiedergabe der Vokalquantität und
der mit ihr korrelierenden Gelenkschreibung freigegeben. Dort ist ein stummer
Dehnungsbuchstabe und der erste, stumme Bestandteil eines graphematischen
Doppelkonsonanten platziert. Auch sonst operieren die graphematisch-phonologischen
Korrespondenzen in Abhängigkeit von der Silbenstruktur unterschiedlich gut: im
Anfangsrand der Silbe besser als im Endrand (vgl. tu, du vs. Rad, Rat); in der betonten Silbe
besser als in der unbetonten Silbe oder Reduktionssilbe (vgl. Zug vs. König). Diese
strukturabhängigen Eigenschaften des Schriftsystems korrelieren mit der lautlichen
Wahrnehmungsfähigkeit von Kindern: Sie können silbeninitiale Konsonanten besser
identifizieren als silbenfinale und irren sich dabei weniger in betonten als in unbetonten
Silben (Treiman u. a. 1993).
Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass qualitative Lautkontraste systematischer und
eindeutiger verschriftet werden als suprasegmentale Lautkontraste, zu denen nach neuerer
Auffassung Vokalquantität, Gelenkkonsonanten und Schwa gehören. Diese Überlegungen
erklären, warum die Aneignung suprasegmentaler Kontraste fehlerträchtiger und mit
Verzögerung gegenüber der Aneignung qualitativer Kontraste erfolgt (u. a. Weingarten 2003,
Röber 2006). Als Fazit halten wir fest, dass der graphematischen silbischen Strukturierung im
Schriftsystem eine bedeutende Rolle zukommt und dass die Aneignung suprasegmentaler
phonographischer Erscheinungen, allen voran der Erwerb der Dehnungs- und
Gelenkschreibung, silbenbasierte Unterrichtsmodelle erfordert.
2.3 Fußstruktur und Akzent
Auch die Fußstruktur und die damit korrelierende Akzentstruktur der Wörter ist
graphematisch relevant. Der Fuß ist eine Einheit, die genau eine Tonsilbe und gegebenenfalls
eine oder zwei unbetonte Silben enthält. Die Fußstruktur von schrieben in (1) und von irre in
(9a) ist ein Trochäus mit einer Tonsilbe und einer Reduktionssilbe. Dieser Fußtyp ist das
kanonische Muster für das Deutsche, dem sehr viele flexionsmorphologische Formen folgen
(vgl. Wiese 2000, Eisenberg 2006).
Mit Bezug auf die kanonische Fußstruktur können wir die Systematik der Verschriftung
der Vokalquantität gut in den Griff bekommen.15 In (10) werden die Verhältnisse im
kanonischen Trochäus bestehend aus Tonsilbe und nachfolgender Reduktionssilbe als
Synopse dargestellt (unter Ausschluss von Eigennamen):
15
Die Abhängigkeit der Gelenkschreibung von der Akzentstruktur ist zwar experimentell belegt (Weingarten
2000), die hier präsentierten fußbezogenen Generalisierungen blieben in der bisherigen Forschung unbeachtet.
Zur Rolle des Trochäus als basales Muster im Schriftspracherwerb vgl. Krauß, in diesem Band.
12
(10)
Die Verschriftung der Vokalquantität in der Tonsilbe eines kanonischen Trochäus
vorangehender Kurzvokal
↔ graphematische Doppelkonsonanz (regulär,
produktiv)
Betten
Lacke
lottern
Happen
offen
lassen
Widder
irren
wirren
keine graphematische
Doppelkonsonanz ↔
vorangehender Langvokal
(regulär, produktiv)
beten
Lake
Lote
hapern
Ofen
lasen
wider
Iren
Viren
Langvokal →
Dehnungszeichen
(irregulär, unproduktiv)
Beeten
doofen
wieder
ihren
vieren
In der ersten Zeile erscheinen die entscheidenden beiden Silbenstrukturpositionen umrahmt:
in allen drei Fällen steht <e> in der ersten Nukleusposition. Hier wird die Vokalqualität
eindeutig fixiert. In der zweiten Nukleusposition erscheint in Betten ein stummer
Gelenkanzeiger und in Beeten ein stummer Dehnungsbuchstabe. In beten wird <e> mit beiden
Nukleuspositionen assoziiert und zeigt damit Vokallänge an, was oberflächlich betrachtet
nicht zu erkennen ist. Die Verschriftung der Vokallänge wie in beten (zweite Spalte) ist
systematisch und erklärt sich, wenn man Gelenkschreibungen im kanonischen Trochäus als
Referenz heranzieht (erste Spalte). Um kanonische Trochäen zu erhalten, ist meistens eine
Flexionsform vonnöten (vgl. Eisenbergs Begriff der Explizitform (2006)).
Beachten muss man lediglich, dass Gelenkschreibungen bei komplexen Graphemen nicht
möglich sind, weil in der zweiten Nukleusposition keine komplexen Grapheme stehen können
(vgl. Neef / Primus 2001): *raschscheln, *lachchen, *laßßen. Dies bedeutet, dass bei
komplexen intervokalischen Graphemen die Vokalquantität nicht eindeutig erkennbar ist, vgl.
duschen mit Lang- oder Kurzvokal und huschen mit Kurzvokal.
Ansonsten ist die Verschriftung von Gelenkbildung und mithin Vokalkürze durch eine
graphematische Doppelkonsonanz im kanonischen Trochäus regulär und produktiv (vgl.
jobben, joggen). Erst die Regelhaftigkeit der Gelenkschreibung bedingt die Regelhaftigkeit
ihrer Absenz (zweite Spalte): Wenn sie nicht vorliegt, wie in beten, kann man im kanonischen
Trochäus auf Vokallänge schließen. Dies gilt per logischem Gesetz: „Wenn ein Silbengelenk
und als Folge davon ein Kurzvokal vorliegt, dann wird das Graphem, das dem
Gelenkkonsonanten entspricht, verdoppelt“ (erste Spalte). Dies ist logisch äquivalent mit
„Wenn kein doppelter Konsonantbuchstabe vorliegt, dann ist dieser Konsonant kein Gelenk
und der vorangehende Vokal nicht kurz“ (zweite Spalte).
Eine explizite Dehnungsgraphie (dritte Spalte) ist folglich beim kanonischen Trochäus
nicht nötig. Sie ist in der Tat unproduktiv, auch wenn für den Langvokal /i:/ im nativen
Wortschatz <ie> wesentlich häufiger vorkommt als <i> (Naumann 1989, Röber 2006).
Die nächste Synopse in (11) zeigt, dass sich die Verhältnisse in einer nicht-kanonischen
Fußstrukturposition ändern. D.h.: die Tonsilbe ist nicht wortinital wie in Kommode, blamiert
und Allee oder der Fuß endet nicht mit einer Reduktionssilbe wie in Limit und Koma. In
solchen Fällen ist lediglich die Dehnungsgraphie mit <ee> und <ie> bei einigen betonten
Suffixen regulär und produktiv (dritte Spalte). Der einfache Pfeil in den ersten beiden Spalten
gibt an, in welcher Richtung Irregularität herrscht.
13
(11)
Die Verschriftung der Vokalquantität in einer nicht-kanonischen Fußstrukturposition
vorangehender Kurzkeine graphematische
Langvokal → Dehnungsvokal → graphematische Doppelkonsonanz →
zeichen; regulär und produktiv
Doppelkonsonanz
vorangehender Langvokal in einigen betonten Suffixen:
Allee, Armee, Buklee
regulär: Kommode
regulär: Lima, Koma
Magie, Chemie
irregulär: Limit, blamiert irregulär: Limit, blamiert radieren, dosieren
Wir fassen zusammen. Eine hierarchische Strukturierung oberhalb und unterhalb der Phonemund Buchstabenebene scheint prima facie unnötig komplex. Nichtsdestotrotz wird diese
Komplexität durch mehrere große Vorteile wettgemacht. Zum einen erlauben die
verschiedenen Struktureinheiten einen systematischeren Zugriff auf phonographische
Regularitäten als herkömmliche Ansätze, die mehr Unregelmäßigkeiten in Kauf nehmen
müssen. Zum anderen können wir größere Zusammenhänge besser verstehen.
3. Morphologische Strukturen
In diesem Abschnitt werden wir einige exemplarische Schriftsystemerscheinungen betrachten,
die auf die morphologische Wortstruktur Bezug nehmen. Morphologisch motivierte
Schreibungen findet man in der syntagmatischen und in der paradigmatischen Dimension. Die
syntagmatische Dimension bezieht sich auf miteinander verknüpfte Morpheme und deren
Morphemgrenzen, wie in ver-armen. Die paradigmatische Dimension erfasst Morpheme, die
in einer morphologischen Verwandtschaft zueinander stehen wie Bett – Βetten, alt – älter und
offen – öffnen.
3.1 Paradigmatik
Wir fangen mit paradigmatisch bedingten Schreibungen an. Diese werden dem
graphematischen Prinzip der Morphemkonstanz (auch Stamm- oder Schemakonstanz)
zugeordnet, wonach paradigmatisch aufeinander bezogene Morpheme ähnlich oder gleich
geschrieben werden. Von den Erscheinungen, die auf Morphemkonstanz zurückgeführt
werden, sind die in i)-iii) aufgelisteten besonders prominent (vgl. Dürscheid 20063, Kap. 4.4;
Fuhrhop 2008a, Kap. 4):
i) Die Schreibung mit <ä> für /ε/, wenn dasselbe Morphem in anderen Umgebungen an
dieser Stelle mit <a> verschriftet wird: Hände wegen Hand, älter wegen alt.
ii) Die Auslautverhärtung, wonach alle Obstruenten wie /b, d, g, v, z, ž/ in der Silbenkoda
stimmlos sind, wird nicht verschriftet, wenn dasselbe Morphem in anderen Umgebungen an
dieser Stelle einen stimmhaften Obstruenten schriftlich wiedergibt: Tag wegen Tage, Hund
wegen Hundes.
iii) Morphemfinale graphematische Doppelkonsonanz in Eisenbergs Auffassung, wie im
vorigen Abschnitt bereits erwähnt: Bett wegen Betten, Kuss wegen Küsse.
In den in i)-iii) beschriebenen Fällen ist die Schreibung durch eine paradigmatisch
verwandte Wortform motivierbar, wie angegeben. Ob sie auch phonologisch motiviert werden
kann, hängt davon ab, wie man die phonographischen Korrespondenzen auffasst. Wir
erinnern uns an die verschiedenen Auffassungen über die graphematische Doppelkonsonanz.
Nach der Duden-Regel wird sie durch einen betonten Kurzvokal, dem ein Einzelkonsonant
folgt, ausgelöst: Bett, Betten, Lamm, Lämmer. In der Analyse Eisenbergs ist die
Doppelkonsonanzschreibung phonologisch durch einen Gelenkkonsonanten wie in Betten und
Lämmer motiviert. Die beiden Auffassungen konkurrieren in Fällen wie Bett und Lamm. Nach
14
der Duden-Regel sind auch diese Fälle phonologisch motiviert, weil ein betonter Kurzvokal
vorliegt. Nach Eisenbergs Auffassung sind solche Fälle dem Morphemkonstanzprinzip
geschuldet, wie in iii) weiter oben angegeben, weil kein Silbengelenk vorliegt. Beide
Auffassungen benötigen das Morphemkonstanzprinzip, allerdings in unterschiedlichen
Bereichen.
Für Eisenbergs Auffassung spricht eine grundsätzliche Beobachtung. Kennzeichnend für
graphematische Formen, die durch paradigmatische Morphemkonstanz motiviert sind, ist,
dass sie nicht vollständig vorhersagbar sind. So hat die paradigmatisch motivierte <ä>Schreibung Ausnahmen: Hände wegen Hand, aber behende (nach der Reform von 2006
behände); älter wegen alt, aber Eltern. In diesem Bereich liegt eher ein musterbasiertes, denn
regelbasiertes System vor. Solche Muster bzw. Schemata entstehen durch Analogien mit
bereits vorhandenen, musterstiftenden Formen (vgl. Weingarten 2000). Eisenbergs Regel
kann im Gegensatz zur Duden-Regel erklären, dass die phonographische Gelenkschreibung
(Betten, Küsse, Busse) im kanonischen Trochäus, wie im vorigen Abschnitt gezeigt,
vollständig regulär ist, während die paradigmatisch motivierte Doppelkonsonantschreibung
Ausnahmen hat: Bus trotz Busse, fit trotz fitter.
Zur besseren Identifizierbarkeit von Morphemen tragen auch morphemdifferenzierende
Schreibungen bei, die herkömmlich dem Prinzip der Homonymievermeidung zugeordnet
werden. Gleichlautende, aber bedeutungsverschiedene Morpheme (Homonyme bzw.
Homophone) können im Schriftsystem differenziert werden. Beispiele sind: dehnen – denen,
Lid – Lied, Leib – Laib, das – dass, malen – mahlen.
Zusammenfassend halten wir fest, dass morphologisches paradigmatisches Wissen von
zentraler Bedeutung ist, sei es, weil wir von der Phonographie abweichen müssen, um die
Identität eines Morphems graphematisch zu wahren, sei es, weil wir Flexionsformen für einen
kanonischen Trochäus erzeugen müssen, um die Verschriftung der Vokalquantität besser zu
verstehen.
3.2 Syntagmatik
Wenden wir uns nun der syntagmatischen Morphemstrukturebene zu. Syntagmatisch
komplexe Wörter spielen, wie bereits erwähnt, eine wichtige Rolle bei der Worttrennung am
Zeilenende, wie die Trennungen von ver-armen und hin-auf belegen.
Neuere Forschungen erklären auch die wortinternen Interpunktionszeichen Bindestrich
und Apostroph mit dem Vorliegen besonderer Morphemstrukturen (Bunčić 2004, Bredel
2008, Fuhrhop 2008b). Besonders innovativ ist der Ansatz von Bredel, der sich durch zwei
(voneinander unabhängige) Hauptannahmen von bisherigen Auffassungen abhebt: i) Die
Formmerkmale der Interpunktionszeichen sind nicht arbiträr, sondern funktional motiviert.
Die Funktion der Einzelzeichen lässt sich aus den Einzelmerkmalen oder -elementen, aus
denen sie zusammengesetzt sind, und der Art ihrer Kombination ermitteln. ii) Die
Interpunktionszeichen steuern den Leseprozess. Da im Leseprozess auch grammatische
Strukturen nach allgemeinen Sprachverarbeitungsstrategien verarbeitet werden, ergeben sich
indirekte Bezüge zu grammatischen, u. a. auch morphologischen Strukturen.
In Bredels Ansatz gehören Bindestrich (Divis) und Apostroph zur Klasse der
Füllerzeichen, die auch den Gedankenstrich und die Auslassungspunkte umfasst. Sie zeichnen
sich formal u.a. dadurch aus, dass sie sich nur horizontal ausdehnen können und nicht klitisch
sind, das heißt rechts und links von ihnen können graphische Zeichen gleicher Klassen stehen.
Die Füller instruieren den Leser, dass ein Defekt bei der Verkettung sprachlichen Materials
vorliegt. Die verlängerten Füllerzeichen, Gedankenstrich und Auslassungspunkte, zeigen
Defekte auf der Satz- und Textebene an; die einfacheren Füller, nämlich Bindestrich und
Apostroph, zeigen Defekte innerhalb eines Wortes. Die strichförmigen Füllerzeichen,
Gedankenstrich und Bindestrich, signalisieren Defekte, die im unmittelbar benachbarten Text
15
behoben werden. Die beiden anderen Füllerzeichen, Auslassungspunkte und Apostroph,
zeigen im Text nicht behebbare Defekte, zu denen insbesondere Auslassungen gehören. Diese
Systematik wird in (12) zusammengefasst:
(12) Bindestrich und Apostroph im System der Füllerzeichen nach Bredel (2008):
Defekt im benach- Defekt innerhalb eines Wortes
barten Text
BINDESTRICH
behoben
auf- und abschreitende
See-Elefanten im heiligen Bezirk
Defekt auf der Satz- oder
Textebene
GEDANKENSTRICH
Er hatte das Geld – gestohlen
nicht behoben
AUSLASSUNGSPUNKTE
Er hatte das Geld …
APOSTROPH
heil’gen
Der Divis kommt in drei Umgebungen vor, die in Standardwerken isoliert voneinander
behandelt werden:
i) als Trennstrich am Zeilenende (heili-[Zeilenwechsel]gen),
ii) als Bindestrich (See-Elefant) und
iii) als Ergänzungsbindestrich (auf- und abschreitende).
Die diesen Umgebungen gemeinsame Eigenschaft lässt sich in der leseprozessorientierten
Auffassung Bredels wie folgt angeben: Der Divis instruiert den Leser, eine gegebene
Buchstabenkette als nicht vollständige Wortstruktur zu erfassen. Der zur Komplettierung
erforderliche Wortrest ist jedoch in der unmittelbaren Textumgebung auffindbar. Es handelt
sich demnach um einen behebbaren Defekt, eine temporäre Unterbrechung in der
Verarbeitung der Wortstruktur. Die Unterbrechung kann wegen des Zeilenendes erfolgen, wie
in i) oder aufgrund einer Koordinationsreduktion wie in iii). Bei Komposita wie See-Elefant,
Eisenberg-Grammatik, Garmisch-Partenkirchen wird die Unterbrechung auch grammatisch
gedeutet. Der Divis wird bevorzugt bei unklaren Morphemfugen (vgl. Seeelefant) oder
besonderen Komposita, zu denen Komposita mit Eigennamen wie Eisenberg-Grammatik und
Kopulativkomposita wie Garmisch-Partenkirchen zählen. Fälle wie das Auf-ihn-Einreden
sind nicht durch Wortbildung entstanden und somit morphologisch defekte Wörter. Wie wir
sehen, nimmt der Divis bevorzugt auf Morpheme Bezug. Dies gilt auch für die Worttrennung
am Zeilenende, deren höchstrangige Regel morphembasiert ist (vgl. (7) weiter oben).
Der Apostroph ist wie der Divis auf Wortstrukturen bezogen; im Gegensatz dazu indiziert
er jedoch Defekte, die nicht in der Textumgebung behoben werden, sondern vom Leser
repariert werden müssen. Die Defekte beziehen sich beim Apostroph – wie Bunčić (2004) an
mehreren Sprachen zeigt – bevorzugt auf Morpheme, wie etwa
i) bei unklaren Genitivsuffixen: Alice’, Andreas’, Andrea’s,
ii) bei verkürzten Morphemen: auf’m, ich hab’s, heil’gen, und
iii) bei Morphemen, die semiotisch abweichend als Ziffern verschriftet werden: 68’er.
Wie diese Übersicht zeigt, liegt eine phonologische bzw. graphematische Auslassung
lediglich in ii) vor. Irreführenderweise wird die Auslassung in Standardwerken als
Hauptfunktion des Apostrophs angegeben.
Zusammenfassend halten wir fest, dass das deutsche Schriftsystem verschiedene Mittel
bereitstellt, um morphologische Strukturen auf paradigmatischer wie syntagmatischer Ebene
zu kennzeichnen.
16
4. Syntaktische Strukturen
In diesem Abschnitt werde ich einige exemplarische, in der Fachliteratur sehr kontrovers und
intensiv diskutierte Erscheinungen betrachten, die unter das grammatische (auch syntaktische,
semantische oder pragmatische) Prinzip des Schriftsystems fallen: die satzinterne
Großschreibung, die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Kommasetzung. Da es zur
Großschreibung und Getrennt- und Zusammenschreibung zwei Beiträge in diesem Band gibt
(Bredel, Fuhrhop), werden diese Bereiche hier kürzer behandelt.
4.1 Satzinterne Großschreibung
Die satzinterne Großschreibung bei Substantiven gilt als schwer zu lernen und unsystematisch. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass dies weniger in der Natur unseres Schriftsystems liegt als in der Fehleinschätzung vieler Schriftsystemforscher, Didaktiker und Sprachreformer. Hinsichtlich der satzinternen Großschreibung gibt es zwei konkurrierende Auffassungen, denen verschiedene Nominalitätskonzepte entsprechen (vgl. Gallmann 1997). Vgl.
(13a,b):
(13)
(a) Substantive werden mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben (Rechtschreibduden, Nerius 2007).
(b) Der Kopf jeder Nominalgruppe wird mit einem initialen Großbuchstaben
geschrieben (Maas 1992, Röber-Siekmeyer 1993, Günther / Nünke 2005, Bredel
2006, Bredel, a) in diesem Band).
Die Auffassung (13a) ist wortartbezogen im Sinne der traditionellen Grammatik. Hier
herrscht das lexikonbasierte Wortartkonzept, demzufolge Wortarten Lexemklassen sind
(Duden-Grammatik 2005: 132f.). Ein Ausdruck, der nach (13a) mit einem initialen
Großbuchstaben geschrieben werden muss, wird über die Lexemklasse Substantiv erfasst.
Seine tatsächliche syntaktische Verwendung wird nicht berücksichtigt. Kennzeichnend für
diese Wortartkonzeption ist bspw., dass nicht die tatsächliche nominale Flexion als Kriterium
auftaucht, sondern die grundsätzliche Flektierbarbeit nach Kasus, Numerus und Genus. Auch
spielen typische nominale Begleiter wie Artikel und Adjektiv keine Rolle bei der
Wortartbestimmung. Dies ist mit der lexikonbasierten Konzeption konsistent.
Das notorische Problem der wortartbezogenen Schreibregel sind Substantivierungen und
Desubstantivierungen. Dabei sind nicht Wortartwechsel problematisch, die aus einer
expliziten Derivation hervorgehen, wie etwa die Substantivierung Leser aus lesen und die
Desubstantivierung schriftlich aus Schrift. Problematisch für diese Auffassung sind
Konversionen. Ein Wort wird bei Konversion nicht durch Wortbildungsmittel in eine andere
Wortart überführt, sondern lediglich in einer anderen syntaktischen Umgebung und ggf. mit
anderer Flexion verwendet, z. B. dunkel werden – dem Dunkelwerden, ich – des Ichs, eine
etwas unangenehme Erfahrung – etwas Unangenehmes; die Ängste – angst. Diese
Möglichkeit wird im Deutschen intensiv und oft ad hoc genutzt: das Ich, dein Ja, dieses
Wenn-und-aber. Die Tatsache, dass grundsätzlich jede Wortart syntaktisch wie ein Substantiv
verwendet werden kann, stellt allerdings die gesamte Konzeption der wortartbezogenen
Großschreibregel in Frage.
Die neuere Schreibregel (13b) verwendet das syntaktische relationale Konzept des Kopfes
einer Wortgruppe bzw. Phrase. Alternative Bezeichnungen für Kopf sind Kern oder Regens.
Jede Phrase hat einen Kopf. Kopf und Phrase haben dieselben kategorialen Eigenschaften.
Dies wird bis zu einem gewissen Grad auch in der traditionellen Terminologie berücksichtigt:
Verbalphrase – Verb, Nominalphrase – Nomen, Adjektivphrase – Adjektiv usf. Des Weiteren
bestimmt das Verknüpfungspotenzial des Kopfes, durch welche weiteren Kategorien eine
17
Phrase erweiterbar ist. Für den Kopf einer Nominalgruppe sind vorangestellte flektierte
adjektivische Attribute (große Angst) und artikelähnliche Wörter an ihrem linken Rand
kennzeichnend (diese große Angst). Die neuere Schreibregel (13b) setzt ein distributionelles
Kategorienkonzept voraus. Das wichtigste Kriterium sind die syntagmatischen Relationen, die
eine Einheit eingeht. Damit wird ihr gesamtes syntaktisches Verknüpfungspotenzial erfasst. In
der Praxis begnügt man sich mit einigen symptomatischen Verknüpfungen.
Man kann eine Kopfkategorie auch ‚von oben’, d. h. aufgrund der Kategorie der Phrase
bestimmen. In diesem Zusammenhang steht das Kriterium der nominalen syntaktischen
Funktion (vgl. Gallmann 1997), das u. a. bei Subjekten und Objekten, die nur durch eine
Nominalphrase realisiert werden können, sehr nützlich ist. So haben wir nominale Köpfe in
hat Angst und kriegt Angst, weil die betreffenden Verben an dieser Stelle nominale Objekte
selegieren. Im Unterschied dazu liegen in mir ist angst und das ist mir schnuppe adjektivische
Prädikative wie in mir ist kalt vor.
Die syntaktische Schreibregel ist der wortartbezogenen in mindestens drei Punkten
überlegen. Erstens vereinnahmt sie die Standardfälle der wortartbezogenen Regel: Substantive
sind nämlich die besten Kandidaten für den Kopf einer Nominalphrase (vgl. Bredel, a) in
diesem Band). Zweitens hat die syntaktische Auffassung mit Ad-hoc-Konversionen wie dem
Dunkelwerden, etwas Unangenehmes, ein robustes Ich keine Probleme. Drittens erklärt sie,
warum die zuverlässigsten Kriterien und Proben für die satzinterne Großschreibung die
Erweiterung durch Elemente darstellen, die zu nominalen Köpfen hinzutreten können: Die
Notwendigkeit der Großschreibung erkennt man an Artikeln und artikelähnlichen Wörtern,
wie in vor dem Dunkelwerden, etwas Unangenehmes und das Ich, sowie an vorangestellten
flektierten Adjektiven wie in große Angst und robustes Ich.
Die Situation ist jedoch nicht so einfach, wie bisher dargestellt. Die Neuregelung der
Orthographie hat die wortartbezogene Konzeption gestärkt (vgl. Bredel 2006, Bredel, a) in
diesem Band). Neu eingeführt sind Schreibungen wie im Allgemeinen und Rad fahren. Fälle
wie im Allgemeinen, im Wesentlichen, im Folgenden und des Weiteren könnte man
syntaktisch aufgrund des ggf. mit der Präposition verschmolzenen Artikels erklären. Bei ohne
Weiteres (seit 2006 neben ohne weiteres zugelassen) ist diese Erklärung nicht möglich. Auch
bei den nach 1996 zugelassenen Schreibungen Rad fahren, Eis laufen und Kopf stehen versagt
das Kriterium der Artikel- oder Attributfähigkeit. Rad fahren kann man syntaktisch nur noch
durch eine analoge Übertragung erklären: das Verb fahren duldet in anderen Fällen eine
erweiterte Nominalphrase als Objekt, vgl. einen neuen BMW fahren. Bei Eis laufen und Kopf
stehen versagt auch dieses Kriterium (vgl. auf dem Eis laufen, auf dem Kopf stehen). Seit
2006 sollen daher eislaufen und kopfstehen wieder wie vor 1996 als Norm gelten. Die
Großschreibungen nach Präposition (im Allgemeinen, ohne Weiteres) sind dadurch erklärbar,
dass die beteiligten Präpositionen (in, ohne) sonst nur Nominalgruppen als Ergänzungen
regieren.
Die zusammenfassende Synopse (14) zeigt, dass die syntaktische Schreibregel und die
oben genannten syntaktischen Kriterien zur Bestimmung eines nominalen Kopfes sowohl den
Kernbereich als auch die oben besprochenen Zweifelsfälle der Großschreibung erklären kann:
18
(14)
Kern und Peripherie bei der nominalen Großschreibung (Orthographie nach 2006)
einen
Mann
sehen
artikelfähig ja
attributfähig ja
nominale
ja
syntaktische (Objekt)
Funktion
nicht Rad
fahren
im
ohne
Allgemeinen Weiteres /
weiteres
nein
ja? (-m)
nein
nein
nein
nein
nur in anderen ja
ja
Verwendungen (Ergänzung (Ergänzung
(einen BMW
einer
einer
fahren)
Präposition) Präposition)
eislaufen,
kopfstehen
ist angst /
schnuppe
nein
nein
nein
nein
nein
nein
Die Synopse belegt außerdem, dass die Zweifelsfälle nicht dem Schriftsystem geschuldet
sind, sondern bereits im Sprachsystem angelegt sind. Syntaktische Kategorien sowie andere
sprachliche Erscheinungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch mehrere Eigenschaften
determiniert sind. Nicht alle Repräsentanten einer Erscheinung haben alle einschlägigen
Eigenschaften, wie in (14) am Beispiel der nominalen Kategorie gezeigt (vgl. auch Bredel, a)
in diesem Band). Dieser universellen Besonderheit sprachlicher, kognitiver Klassenbildung
widmet sich die Prototypentheorie (vgl. Taylor 1995). Ein prototypischer Vertreter der Klasse
vereint viele einschlägige Eigenschaften. Solche Vertreter bilden den Kernbereich. Es gibt in
jeder Klasse allerdings auch Vertreter, die weniger klassendefinierende Eigenschaften
aufweisen. Diese sind die Zweifelsfälle in der Peripherie der Klasse. Solche Zweifelsfälle
kann keine Reform beseitigen, erst recht nicht eine lediglich auf die Orthographie bezogene.
Die Leistung der syntaxbezogenen Schreibregel ist auch experimentell anhand von
syntaktisch wohlgeformten Texten mit Pseudowörtern, wie etwa der Vistembar brehlte dem
Luhr Knotten auf den bänken Leuster, nachgewiesen (Weingarten 2000, Günter 2007). Kinder
können in diesen Experimenten recht zielsicher die großzuschreibenden Einheiten
ausschließlich anhand der syntaktischen Umgebung identifizieren. Ein lexikalischer Zugriff
ist bei Pseudowörtern nicht möglich. Es gibt auch verschiedene erfolgreiche Ansätze, die
syntaktische Herangehensweise für den Schulunterricht lernergerecht aufzubereiten (vgl.
Röber-Siekmeyer 1999, Günther / Nünke 2005, Bredel, a) in diesem Band). Hier geht es
darum, die Lerner an die interne Struktur der Nominalgruppe heranzuführen und diese für die
syntaxbasierte Schreibregel zugänglich zu machen.
4.2 Getrennt- und Zusammenschreibung
Die Getrennt-/Zusammenschreibung (oder Spatiumsetzung) wird als der schwierigste Bereich
der deutschen Rechtschreibung betrachtet. Hier wie bei der nominalen Großschreibung
werden wir nachweisen, dass die Zweifelsfälle bereits im Sprachsystem angelegt sind.
Demgegenüber ist das schriftbasierte Prinzip nach neueren Erkenntnissen sehr einfach (Maas
1992, Jacobs 2005, Fuhrhop 2007, Fuhrhop 2008b, Kap. 7; Fuhrhop, in diesem Band). Die
beiden miteinander korrelierenden Grundprinzipien sind in (15) formuliert:
(15)
Grundprinzipien der Spatiumsetzung:
(a) Innerhalb eines Wortes erscheint kein Spatium.
(b) Die Einheiten einer syntaktischen Verknüpfung werden durch Spatien getrennt.
Aufgrund der Erkenntnisse in (15) geht es bei der Spatiumsetzung darum, komplexe Wörter
von syntaktischen Verknüpfungen im Sprachsystem zu trennen. Schwierigkeiten, diese
Unterscheidung zu treffen, liegen in der Natur der Sprache und nicht in der Natur des
Schriftsystems.
19
Um komplexe Wörter zu identifizieren, braucht man solide Wortbildungskenntnisse.
Verbindungen aus zwei oder mehr Stämmen werden zusammengeschrieben, wenn sie
aufgrund einer Wortbildung miteinander verbunden sind, nach dem Wortprinzip (15a). Einige
Komposita sind aufgrund einer Morphemfuge, die kein Flexionselement sein kann, leicht zu
identifizieren: Sonnenstrahl, Zeitungsleser, entzündungshemmend. Univerbierungen wie
mithilfe / mit Hilfe, um so / umso, und sodass /so dass sowie Inkorporationen wie radfahren /
Rad fahren und eislaufen / Eis laufen sind keine prototypischen Wortbildungen. Es handelt
sich um wortbildungsmorphologische Zweifelsfälle, die syntaktischen Verknüpfungen, aus
denen sie durch häufige Verwendung entstanden sind, sehr nahe stehen. Das hat zur Folge,
dass sie auch im Schriftsystem Zweifelsfälle sind, wie angegeben.
Um syntaktische Verknüpfungen zu identifizieren, ist man auf Syntaxwissen angewiesen.
Einheiten, die in einer syntaktischen Relation zueinander stehen, werden durch Spatien
getrennt. Das besagt das Syntagmaprinzip (15b). Während infolge zwischen Wort und
syntaktischer Fügung steht und somit einen Zweifelsfall darstellt, ist [in [der [Folge des
Alphabets]]] eine syntaktische Verknüpfung. Wie die Klammerung zeigt, sind die fraglichen
Einheiten in, der, und Folge nicht einmal unmittelbare Ko-Konstituenten (keine syntaktische
Schwestern), womit eine morphologische Bildung vom Typ Univerbierung wie bei infolge
auszuschließen ist. Daher ist in der Folge eine syntaktisch reguläre Präpositionalphrase mit
einer nominalen Ergänzung der Folge, die ihrerseits syntaktisch regulär gebildet und
syntaktisch beliebig erweiterbar ist.
Die Missverständnisse, die in der Praxis wie in vielen wissenschaftlichen Arbeiten zu
diesem Thema herrschen, rühren teilweise daher, dass – wie bei der Großschreibung auch –
die Einheiten isoliert betrachtet werden. Man meint mit Wortlisten der Sache Herr zu werden.
Doch bereits die scheinbar triviale Frage, ob man Gottes?anbeter getrennt oder
zusammenschreibt, kann ohne syntaktischen Kontext nicht beantwortet werden. In der
Gottesanbeter liegt ein Kompositum vor, während des Gottes Anbeter ein Syntagma ist.
Dieser Unterschied ist nur am Artikel eindeutig erkennbar. Eine Syntaxanalyse verdeutlicht
die Verhältnisse: [der [Gottesanbeter]] im Gegensatz zu [[des Gottes] Anbeter]. Im
Kompositum sind die fraglichen Einheiten verschwestert und der Artikel bezieht sich auf –
anbeter, den morphologischen Kopf des Kompositums (das Grundwort). Im Syntagma sind
die fraglichen Einheiten nicht verschwestert, womit eine morphologische Bildung
ausgeschlossen ist. Der Artikel bezieht sich ausschließlich auf Gottes.
Der Kernbereich umfasst die Fälle, in denen die Anwendung der beiden Prinzipien
sprachlich eindeutige Ergebnisse ergibt. Diese Fälle sind auch im Schriftsystem
unproblematisch. In den Randbereich fallen die Problemfälle, bei welchen die Anwendung
der beiden Prinzipien zu Schwierigkeiten oder zu uneinheitlichen Ergebnissen führt. Diese
Probleme spiegelt das Schriftsystem lediglich wider (vgl. eingehender Fuhrhop, in diesem
Band). Die Synopse in (16) wiederholt weiter oben besprochene Fälle und ordnet sie auf einer
Skala zwischen eindeutiger Wortbildung (erste Zeile) und eindeutiger syntaktischer Fügung
(letzte Zeile) ein. Die Zweifelsfälle erscheinen in der Mitte. Die angegeben Schreibvarianten
waren jahrzehntelang im Fokus der Reformdiskussion.
20
(16)
Die Skala zwischen Wortbildung und syntaktischer Fügung
Sonnenstrahl, Zeitungsleser,
entzündungshemmend
Kompositum
Erkennungsmerkmale: Morphemfuge, die kein
Flexionssuffix sein kann; Glieder keine
Wortgruppen
der Gottesanbeter
Kompositum
Erkennungsmerkmale: Artikel selegiert vom
Grundwort; Glieder keine Wortgruppen
mithilfe / mit Hilfe, sodass / so dass; infolge Univerbierung
Erkennungsmerkmal: Glieder keine
Wortgruppen
nicht Rad fahren / radfahren
Inkorporation, s. auch (14)
nicht Eis laufen / eislaufen
Erkennungsmerkmale: Erstglied keine
Nominalgruppe, nicht statt kein (*kein Rad
fahren, *kein eislaufen)
des Gottes Anbeter; in der Folge
syntaktische Fügung
Erkennungsmerkmal: Ein Glied ist eine
Nominalgruppe (s. Artikel)
Als Fazit halten wir fest, dass die Grundprinzipien der Spatiumsetzung sehr einfach sind. Die
Zweifelsfälle ergeben sich aus der Natur des zugrunde liegenden Sprachsystems.
4.3 Kommasetzung
„Die Funktionen des Kommas in der geschriebenen deutschen Literatursprache sind – im
Gegensatz zur Funktion der meisten übrigen Satzzeichen – vielgestaltig und schwer
überschaubar“ (Nerius 2007: 247). Diese Bemerkung trifft die Mehrheitsmeinung unter Laien
sowie Experten, die sich mit Sprache befassen. Im Folgenden widerlegen wir diese
Mehrheitsmeinung, indem wir zeigen, dass die Kommasetzung im Deutschen auf drei sehr
einfache Regeln zurückgeführt werden kann. Die drei Bedingungen in (17) erklären bis auf
wenige Fälle alle Normen zur Kommasetzung im alten Normsystem vor 1996 und im neuen
Normsystem nach 2006 (vgl. Primus 1993, Bredel / Primus 2007):
(17)
Ein Komma steht zwischen zwei (einfachen oder komplexen) sprachlichen
Ausdrücken genau dann, wenn (a) und (b) oder (a) und (c) zutreffen:
(a) Die Ausdrücke stehen in derselben kommunikativen Einheit (demselben „Satz“ im
weitesten Sinn).
(b) Die Ausdrücke sind nicht-subordinativ miteinander verknüpft.
(c) Die Ausdrücke sind durch eine Satzgrenze getrennt.
Die erste Bedingung schränkt das Komma auf ein satzinternes Vorkommen ein, wobei wir
Satz im weitesten Sinne meinen (vgl. Ach, du hier?). Diese Bedingung schließt aus, dass auf
das Komma eine satzinitiale Majuskel folgt, und sondert damit das Komma von satzabschließenden Interpunktionszeichen wie Punkt, Ausrufezeichen und Fragezeichen ab. Auf
die Form-Funktion-Korrelationen, die sich bei einer merkmalsbasierten Analyse dieser
Interpunktionszeichen ergeben, geht der Interpunktionsbeitrag von Bredel in diesem Band
näher ein (vgl. auch Bredel / Primus 2007, Bredel 2008).
Die zweite Bedingung gilt – wie die erste – für alle Sprachen, die das Komma verwenden
(vgl. Bredel / Primus 2007). Der Bedingung der Nicht-Subordination folgend zeigt das
Komma eine Koordination oder eine Herausstellung an. Dass die Koordination keine
21
subordinative Verknüpfung darstellt, ist unumstritten. Eine Herausstellung löst den
Satzverband und somit die subordinative Anbindung des herausgestellten Elements partiell
oder vollständig auf. Den beiden Erscheinungen ist also gemein, dass sie syntaktisch nichtsubordinative Verknüpfungen involvieren. Wir illustrieren und besprechen zunächst das
Komma bei Koordination. Vgl. (18):
(18)
(a) Paul, Elke und Maria.
(b) *Paul, Elke, und Maria
(c) Sie machten es sich bequem, die Kerzen wurden angezündet(,) und der Gastgeber
versorgte sie mit Getränken.
Was die zweite Bedingung nicht erfasst, ist die komplementäre Verteilung zwischen einer
echten koordinativen Konjunktion wie und und oder und dem Komma, die in den
verschiedenen Schriftsystemen unterschiedlich normiert wird. Im Deutschen steht das
Komma neben einem echten Koordinator nur dann, wenn die Konjunkte vollständige
Hauptsätze mit unterschiedlichen Subjekten sind. Nach der Neuregelung ist diese
Verwendung fakultativ, wie in (18c) angegeben.
Wenden wir uns nun den Herausstellungen zu. (19)-(22) zeigen Beispiele aus dem
Rechtschreibduden (1991, kurz RD) mit der dortigen Beschreibung in Klammern, die in
Altmanns System (1981) die Voraussetzungen für Herausstellungen erfüllen und von
Altmann wie angegeben subklassifiziert werden:
(19)
Linksversetzung (RD, R 94, herausgehobene Satzteile):
Deinen Vater, den habe ich gut gekannt.
(20)
vokativische Herausstellung (RD, R 95, Anrede):
(a) Kinder, hört doch mal zu!
(b) Haben Sie meinen Brief bekommen, Herr Müller?
(21)
Nachtrag (RD, R 98, nachgestellte nähere Bestimmung):
Wir müssen etwas unternehmen, und das bald.
(22)
Parenthetische Herausstellung:
(a) Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdruckes, wurde in Mainz geboren.
(RD, R 97, Beisatz, Apposition)
(b) Dein Wintermantel, der blaue, muss in die Reinigung. (RD, R 99, nachgestelltes
Adjektiv)
Wie die heterogenen und sehr ungenauen Angaben im Rechtschreibduden zeigen, konnte die
traditionelle Forschung Herausstellungen als einheitliches Phänomen nicht erfassen. Damit
wird auch die Systematik des Kommas in diesem Bereich verdunkelt. Wenn man von den
heterogenen semantischen und syntaktischen Funktionen der Herausstellungen absieht, so
kann man deren kommarelevante syntaktische Eigenschaft besser herauspräparieren (vgl.
eingehender Primus 1993, Bredel / Primus 2007).
Herausstellungen sind der Matrixstruktur nicht durch eine kanonische syntaktische
Subordination (bzw. Unterordnung) zugeordnet. Die Herauslösung aus dem Trägersatz ist ihr
wichtigstes Merkmal. Ein deutliches Indiz für diese Herauslösung ist ein syntaktischer
Doppelgänger, wie das Objektpronomen den in (19) und die Subjekte Sie in (20b), Johannes
Gutenberg in (22a) und dein Wintermantel in (22b). Dieser Doppelgänger ist syntaktisch in
den Trägersatz subordinativ eingebunden, fungiert mithin bspw. als Subjekt oder Objekt, und
verhindert die Unterordnung des herausgestellten Materials. So wird die Objektfunktion in
(19) vom Pronomen den übernommen. Da keine Koordination zwischen den und deinen Vater
22
vorliegt, kann deinen Vater nicht das syntaktische Objekt von kennen sein.16 In anderen Fällen
ist eine Herausstellung schon daran erkennbar, dass sie in den Trägersatz nicht integrierbar ist.
So verhält es sich mit der Anrede Kinder in (20a), die nicht das Subjekt der Imperativform
hört zu sein kann. Auch die nähere Bestimmung in (21) ist in den Trägersatz nicht
subordinativ integrierbar: *Wir müssen etwas und das bald unternehmen. Schließlich gibt es
auch Fälle, wo die Interpretation als Herausstellung fraglich ist und nur durch eine Analyse
des Diskurszusammenhangs bzw. der Autorintention geklärt werden kann: Geh, bitte, nach
Hause! vs. Geh bitte nach Hause! Wichtig festzuhalten ist dabei, dass die Optionsfreiheit
nicht dem Komma gilt, sondern der syntaktischen Konstruktion. Bei einer Interpretation als
Herausstellung muss der Schreiber die Kommas setzen. Bei Unterordnung darf er kein
Komma verwenden.
Die dritte Bedingung verlangt in Verbund mit der ersten Bedingung ein Komma bei
satzinternen Satzgrenzen. Satzinterne Satzgrenzen entstehen auch bei Satzkoordination (vgl.
(18c) weiter oben) und bei Herausstellungen, wo Elemente aus dem Trägersatz herausgelöst
sind. Aber nur die dritte Bedingung erfasst auch die Satzsubordination (vgl. Ich weiß, dass du
kommst. Ich frage mich, wer kommt.). Während Nebensätze, die durch finite Verben gebildet
werden, für die dritte Bedingung völlig unproblematisch sind, führte die Kommasetzung bei
Infinitivkonstruktionen zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten und fiel aus diesem Grund
der Reform von 1996 zum Opfer. Die Reform von 1996 stellte alle Kommas bei
Infinitivkonstruktionen frei. Vgl. die Beispiele in (23), die der alten Regelung entsprechen
und dem Rechtschreibduden (1991, R 107) entnommen sind:
(23)
(a) Du scheinst heute schlecht gelaunt zu sein.
(b) Er glaubt(,) mir damit imponieren zu können.
(c) Sie ging in die Stadt, um einzukaufen.
Das Problem hat nichts mit dem Komma zu tun, sondern mit der zugrunde liegenden
sprachlichen Gegebenheit, dass Infinitivkonstruktionen im Deutschen ihre Satzwertigkeit
verlieren, wenn sie kohärent angeknüpft sind. Bei kohärenten Infinitivgruppen entsteht
zwischen Matrixverb und subordiniertem Infinitivverb eine sehr enge syntaktische Bindung.
Die einzelnen Bedingungen für die Bildung kohärenter Infinitivkonstruktionen können hier
aus Platzmangel nicht eingehend besprochen werden (vgl. Primus 1993). Hier seien einige
Erscheinungen erwähnt, die bisherige Arbeiten als Bedingungen der Kommasetzung oder der
Kohärenz nennen, ohne den Bezug zwischen Kommasetzung und Kohärenz herzustellen.
Leicht nachvollziehbar ist vor allem die Kohärenzrestriktion (vgl. Eisenberg 2006: 363f.),
dass Infinitiv- und Partizipgruppen, die als valenzfreie Angaben von Verben oder
Substantiven fungieren, nie kohärent und somit stets satzwertig sind. Damit ist gemäß unserer
dritten Bedingung, der alten Norm und des tatsächlichen Sprachgebrauchs bei valenzfreien
Infinitivgruppen wie in (23c) immer ein Komma zu setzen. Diese Kohärenzrestriktion erklärt
die neueste Reform von 2006, die in solchen Fällen das Komma wieder einführt.
Die Kohärenz blockieren auch pronominale Kopien für Infinitivkonstruktionen, vgl. Zu
tanzen, das ist ihre größte Freude. Erinnere mich daran, den Mülleimer zu leeren. Dies
erklärt die Reform von 2006, die das Komma in solchen Fällen wieder einführt. Umgekehrt
ist eine Satzverschränkung und eine Platzierung innerhalb der Verbalklammer ein klares Indiz
16
Auch Afflerbachs Untersuchung (1997) bestätigt die Wirksamkeit des hier diskutierten DoppelgängerKriteriums. Die ontogenetisch frühesten Herausstellungskommas erscheinen bei Linksversetzungen wie die in
(19) gezeigte. Das folgende Verfahren würde den Zugang des Lerners zum Herausstellungskomma erleichtern.
Die ist klug (Aussagesatz mit Verb-Zweit-Stellung und Subjektpronomen im Vorfeld) => Diese Frau, die ist
klug (Doppelung des Subjekts, Herausstellung vor dem Vorfeld). Dasselbe mit einem Objekt: Den kenne ich =>
Den Mann, den kenne ich. Wichtig ist der syntaktische Zugriff, weil das Subjekt bzw. Objekt aufgrund des
Koreferenzverhältnisses nicht semantisch, sondern nur formal dupliziert wird.
23
für Kohärenz und duldet kein Komma: Diesen Vorgang wollen wir zu erklären versuchen.
Wir hatten den Betrag zu überweisen beschlossen. Auch die Wahl des Matrixverbs hilft
weiter. So nimmt das modalverbähnliche Verb scheinen nur kohärente Infinitivgruppen als
Objekt zu sich (vgl. (23a)).
Bei Infinitivgruppen, die als Ergänzungen zu anderen Matrixverben fungieren und keine
Kohärenzrestriktionen verletzen, bleibt dem Schreibenden eine Entscheidungsfreiheit bei der
Wahl der Konstruktion. In (23b) kann die Infinitivkonstruktion sowohl kohärent und somit
ohne Komma als auch inkohärent und somit mit Komma angeknüpft werden. Die in (23b)
gezeigte Entscheidungsfreiheit betrifft nicht die Kommasetzung selbst, sondern die Wahl der
syntaktischen Konstruktion.
Die Fehleinschätzungen und Missverständnisse im Bereich der Kommasetzung kann den
Didaktikern und Norminstanzen am wenigsten zur Last gelegt werden. Vielmehr ist die
Schriftsystemforschung in die Pflicht zu nehmen, die es versäumt hat, neuere
Forschungsentwicklungen für ihre Belange nutzbar zu machen. Bezeichnend für diese prekäre
Situation ist, dass auch die neuesten Auflagen einiger sprachwissenschaftlich anerkannter
Grammatiken (vgl. Duden 2005, Eisenberg 2006) die Interpunktion überhaupt nicht
behandeln. Aber auch sonst verbreiten sich neue Erkenntnisse nur zögerlich. Während sich
die Kohärenztheorie als Erklärung der Kommasetzung bei Infinitivgruppen durchzusetzen
beginnt (vgl. Dürscheid 2006: 171f.), bleibt der Zusammenhang zwischen Koordination und
Herausstellung sowie die Systematik der Herausstellung mit wenigen Ausnahmen (Eisenberg
et al. 2005, Fuhrhop 2008a) unbeachtet.
Wir fassen zusammen. Die in diesem Kapitel behandelten Bereiche der deutschen
Orthographie – nominale Großschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung und Kommasetzung – sind laut Mehrheitsmeinung äußerst schwer durchschaubar und deshalb reformbedürftig. Neuere Forschungen demonstrieren, dass die Zweifelsfälle und die schwer
durchschaubaren Erscheinungen im (nicht-reformierbaren) Sprachsystem und nicht im
(prinzipiell reformierbaren) Schriftsystem liegen. Das Schriftsystem lässt sich in diesen
Bereichen wie in den anderen hier behandelten Gebieten durch sehr einfache Grundregeln
erfassen. Viel komplexer und weitgehend konstruktionsabhängig sind die Verhältnisse im
(lautbezogenen) Sprachsystem. Konkreter: Es ist sehr schwer zu bestimmen, ob im
Sprachsystem ein komplexes Wort oder eine Wortgruppe vorliegt. Im Gegensatz dazu ist es
einfach zu lernen, dass man innerhalb von Wörtern (und somit auch innerhalb von
Wortbildungsprodukten) keine Spatien setzen darf und dass man die syntaktischen
Bestandteile von Syntagmen durch Spatien trennen muss.17
5. Schlussbetrachtungen
Das Fazit des letzten Kapitels gilt mutatis mutandis in unterschiedlichem Ausmaß für alle in
diesem Beitrag angesprochenen Strukturebenen des Sprach- und Schriftsystems. Im Lichte
der neueren Forschung kann die immer noch vorherrschende Auffassung, dass das
Sprachsystem einfach und systematisch und das Schriftsystem komplex und unsystematisch
sei, als einer der größten Irrtümer in der Geschichte der Sprachwissenschaft abgetan werden.
Die eigentliche didaktische Herausforderung liegt also auf dem Gebiet des Sprachsystems
und fällt strikt genommen in den Bereich des Grammatikunterrichts. Dass Grammatik
üblicherweise im Zuge des Rechtschreibunterrichts vermittelt wird, ist daher angebracht.
Denn nur die schriftliche Fixierung des Sprachsystems zwingt uns dazu, grammatische
Bewusstheit zu entwickeln und im Zweifelsfall über Sprachstrukturen zu reflektieren. Mit den
Worten Gorniks (2003: 815): „Grammatik im engeren Sinn ist vorschulisch kein Thema der
17
Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der beiden neueren einschlägigen Monographien – Jacobs 2005 und
Furhhop 2007 – bestätigt diese Einschätzung. So braucht Fuhrhop zehn Kapitel, um die grammatischen
Verhältnisse zu klären, und nur ein Kapitel für die Getrennt- und Zusammenschreibung.
24
spontanen Sprachreflexion von Kindern. Mit dem Beginn des Schriftspracherwerbs aber
wenden sich Kinder von sich aus [...] der Struktur der Sprache zu. Die neue Weise, Sprache
zu gebrauchen, nämlich in Form der Schrift, lässt grammatische Bewusstheit entstehen.“
Mit „der Struktur der Sprache“ thematisiert Gornik einen weiteren wichtigen Aspekt.
Wenn man sich fragt, woran viele herkömmliche Arbeiten über Orthographie scheiterten, so
fällt auf, dass es in vielen Fällen an Strukturbezogenheit mangelte. Etliche missverstandene
Erscheinungen wurden nur isoliert, losgelöst von ihrer strukturellen Einbettung betrachtet:
einzelne Buchstaben und Phoneme anstelle von hierarchischen Strukturen, eine
lexikonbasierte Wortartkonzeption für die nominale Großschreibung, der Versuch, die
Getrennt- und Zusammenschreibung mit Wortlisten in den Griff zu bekommen. Der Leitfaden
einer solchen Methode ist: einmal <e> für /e/, überall <e> für /e/, also ist das zweite <e> in
Allee eine Unregelmäßigkeit; Angst einmal großgeschrieben, immer großgeschrieben, also ist
mir ist angst eine Ausnahme; Gottesanbeter einmal zusammengeschrieben, immer
zusammengeschrieben, also ist des Gottes Anbeter unerklärlich. Ein solcher Zugang wird
sprachlichen Gegebenheiten nicht gerecht. Nur eine strukturbezogene Betrachtung kann, wie
in diesem Beitrag gezeigt, der tatsächlichen Verwendung von Sprache und Schrift gerecht
werden. Mit den Worten Eisenbergs (2006: 5): „Die eigentlich wichtige und interessante
Aufgabe einer Grammatik ist, etwas über die Struktur der Einheiten einer Sprache
mitzuteilen. Wer sich mit einer Sprache zu beschäftigen hat und andere als feuilletonistische
Aussagen über sie machen möchte, muss sich auf strukturelle Begebenheiten beziehen
können.“
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