Reicht ein Beweis oder muss ich es auch begründen? Torsten Linnemann Aufbau - Beweisen und Kompetenzstufen - Argumentieren und Unsicherheit - Begründen und Kompetenzentwicklung Mathematik ist eine beweisende Disziplin (Heintz, 2000) Torsten Linnemann 2 Was ist ein Beweis? (Nach Ufer et al, 2009) «…Verknüpfung deduktiver Schlüsse[…]basierend auf[…]gemeinsamer Wissensbasis…» «Wie Mac Laine (1981) darstellt, werden in der wissenschaftlichen Mathematik meist Beweise kommuniziert, die eben nicht im eigentlichen Sinn formal abgefasst sind, sich aber prinzipiell zu formalen Beweisen ergänzen lassen, indem fehlende Stücke eingefügt werden.» «A proof becomes a proof after the social act of accepting it as a proof.» (Manin, 1977) Torsten Linnemann 3 Was ist ein Beweis in der Schule? (Nach Ufer, 2009) «Beispielsweise sollte ein Beweis aus einer Kette deduktiver Schlüsse bestehen, die von den Voraussetzungen zur Behauptung führt…» «Ein streng axiomatischer Aufbau ist hier in der Regel weder sinnvoll noch möglich…» «…aus welchen (plausiblen) Annahmen [wird] eine Aussage deduktiv abgeleitet…» Torsten Linnemann 4 Beispiel (Ufer, 2009) - «Lücken»: erster Schritt abhängig von Definition Raute - zweiter Schritt: von Seitenmitten auf Symmetrieachsen bedarf Argumentation (Seitenmitten sind Bildpunkte bei Spiegelung) - Lücken füllbar: Beweis (mit Idee Symmetrieachsen) Torsten Linnemann 5 Beispiel (Ufer, 2009) - «Fehler»: 90 Grad als Folgerung aus «Rechteck» statt aus Symmetrie. Zirkelschluss, kein Beweis - Idee Symmetrieachsen ist aber da – Lücke leicht füllbar? - Lücken müssen von AutorIn gefüllt werden können Torsten Linnemann 6 Beispiel I aus der Zahlentheorie - Beginnend mit der Zahl 19 werden fortlaufend die ungeraden Zahlen aufgeschrieben. Die erste Zahl, die 19, wird eingekreist, und die nächste gestrichen. Die 23 wird wieder eingekreist und die nächsten beiden Zahlen gestrichen. Jetzt wird die 29 eingekreist, und die nächsten drei Zahlen wiederum gestrichen, etc. - Sind alle so entstehenden Zahlen prim? Welche nicht? - Argumentation: Die ersten Zahlen sind 19, 23, 29, 37, 47, 59, 73. Also sind wahrscheinlich auch die nächsten Folgenglieder prim. - Induktive Schlüsse sind nicht zulässig. Beispiele reichen nicht für einen Beweis. Torsten Linnemann 7 Beispiel II aus der Zahlentheorie Satz: Werden drei aufeinanderfolgende Zahlen addiert, so ist die Summe durch drei teilbar. 1 + 2 + 3 = 6 2 + 3 + 4 = 9 3 + 4 + 5 = 12 4 + 5 + 6 = 15 Kein Beweis Torsten Linnemann 8 Beispiel II aus der Zahlentheorie Satz: Werden drei aufeinanderfolgende Zahlen addiert, so ist die Summe durch drei teilbar. 1 + ↓+1 2 + 3 + 4 + 5 = 4 + 5 = 6 9 ↓+3 = ↓+1 + 6 ↓+3 ↓+1 ↓+1 + 3 ↓+1 ↓+1 ↓+1 4 + ↓+1 ↓+1 3 2 12 ↓+3 = 15 - Immer noch kein Beweis. - Aber leicht formalisierbar zu vollständiger Induktion. - Beweis?? Torsten Linnemann 9 Beweise mit charakteristischen Beispielen, induktiv - Umstritten, soziale Akzeptanz bei MathematikerInnen nahe bei Null - Diskussion wird schnell emotional . - Abgrenzung zu Scheinargumenten ist schwierig. Verlagerung der «Beweislast» zum Lesenden - Lücken müssen von AutorIn gefüllt werden können. Torsten Linnemann 10 Beweis muss korrekt sein in (Ufer, 2009) - Beweisschema (deduktive Argumente) - Beweisstruktur (Anordnung der Argumente, keine Zirkelschlüsse) - Beweiskette (keine Lücken) Kompetenzstufen beim Abschluss der Sekundarstufen II-Ausbildung sollten sich daran orientieren. Kompetenzstufen zeigen sich in zunehmender eigenständiger Prozesssteuerung der Schülerinnen und Schüler. (Meyer, 2012) Torsten Linnemann 11 Kompetenzstufen Argumentieren und Kommunizieren (Siller et al 2013) – Entwurf für das Standardsetting für die gemeinsame Reifeprüfung in Österreich 1. Einfache fachsprachliche Begründungen ausführen 2. Verstehen und Nachvollziehen von mathematischen Begriffen, Sätzen, Verfahren, Darstellungen, Argumentationsketten und Kontexten 3. mathematische Argumentationen prüfen bzw. vervollständigen, mehrschrittige mathematische Standard-Argumentationen durchführen 4. eigenständige Argumentationsketten aufbauen, fachlich korrekte Erklärung von mathematischen Sachverhalten, Resultaten und Entscheidungen Torsten Linnemann 12 Schülerlösung auf Stufe 4 zum obigen Primzahlproblem - Eigene Ideen für Bezüge (arithm. Folgen 2. Ordnung, quadrat. Funktionen, ModuloRechnungen) - mehrschrittig: logisch und lückenlos - fachsprachlich korrekt - beantwortet nicht: genau welche Folgenglieder sind Primzahlen Torsten Linnemann 13 Argumentieren und Unsicherheit - It is the last stage in the operation – an ultimate check – but it isn’t the primary thing at all. (Atiyah, zitiert aus Heintz, 2000, S. 144) - Mathematic is an experimental science. It matters little, that the mathematician experiments with pencil and paper while the chemist uses test-tube and retort… (Wiener, zitiert aus Heintz, 2000, S. 144) - Entstehende Mathematik ist nicht sicher, Grundlagen nicht unbedingt geklärt (Analysis im 17./18. Jahrhundert), Unsicherheit hat seinen Platz Torsten Linnemann 14 Toulmin, Argumentationsschema, nach Inglis (2007) D – Data W – Warrant B – Backing Q – Modal Qualifier R – Rebutal C - Conclusion Ausgehend von D, weil W gilt (wegen B), können wir mit Wahrscheinlichkeit Q (ausser wenn R gilt) C schliessen. Torsten Linnemann Gegeben die Folge f_n von potenziellen Primzahlen (D). Die Verteilung von Primzahlen ist aber unregelmässig (W), sonst wäre es kein so reichhaltiges Gebiet (B), es ist also unwahrscheinlich (Q), dass alle f_n Primzahlen sind (C), ausser ich finde doch einen Beweis (R). 15 Warrants, Argumentationstypen, nach Inglis (2007) - empirical, analytical (reichhaltig, Fahse, 2013) - symbolic, ritual (pseudoformal, Fahse 2013) - authoritarian (apodiktisch, Fahse 2013) Bei beiden Untersuchungen schneidet apodiktisch nicht schlecht ab, Fahse (2013) untersucht Aussagen zu 7:0 Gleich viele apodiktische wie reichhaltige Begründungen, aber fast doppelt so viele richtige Ergebnisse bei apodiktisch Manchmal ist es wichtiger, richtiges Ergebnis zu haben als gute Begründung. Torsten Linnemann 16 Begründen dient der Steigerung der Sicherheit einer Aussage. Beweisen hat vollständige Sicherheit als Ziel (nach Fahse, 2013) Torsten Linnemann 17 Begründen und Kompetenzentwicklung – Thesen - Untersuchungen orientieren sich an Defiziten, statt an Kompetenzen - Untersuchungen orientieren sich an Fachwissenschaft, nicht an Vorkenntnissen der Schülerinnen und Schüler - Untersuchungen wählen schwierige Themen (Primzahlen, Seitenmittenrechteck, 7:0) Torsten Linnemann 18 Eigene Untersuchungen Fachmittelschule Schweiz, 10.-12, Klasse Berufsziele: Sozialarbeiter, Pflegefachperson, Primarlehrperson Einsatz von substanziellen Lernumgebungen (Wittmann): natürliche Differenzierung, Anstrengungsbereitschaft, Problemlösen, Begründen Kognitiv aktivierender Mathematikunterricht in der Mittelschule (KAMM): Entwicklung einer dieser Schule angepassten Didaktik (Linnemann, 2012 und 2013) Torsten Linnemann 19 KAMM 3: Beispiel einer Lernumgebung (angelehnt an Zahlenbuch 6) b) Wählen Sie ein Quadrat mit vier Zahlen in der Hundertertafel. Bilden Sie die Produkte der Diagonalen (im Beispiel also 16 · 27 und 17 · 26. Führen Sie auch hier mehrere Beispiele aus. Was stellen Sie fest? Begründung? Torsten Linnemann 20 Hundertertafel: Bearbeitung Auf einer Diagonalen gibt es 10 mehr als auf der anderen. Dies ist so, weil man die beiden hinteren Zahlen immer gleich mit sich selber multipliziert. 16*27= 10*20+10*7+6*20+6*7 17*26= 10*20+10*6+7*20+6*7 Der einzige Unterschied ist man rechnet einmal die kleinere Zahl der ersten Stelle mit der grösseren Zahl der zweiten Stelle und umgekehrt. Bsp 2 13*24=10*20+10*4+3*20+3*4 14*23=10*20+10*3+4*20+3*4 Torsten Linnemann 21 - Für mich ist eine Begründung gut, wenn man viele Beispiele macht und dann in eigenen Worten die Beispiele erklärt. Eine Begründung muss auf den Punkt sein und nicht langes „Herumgefasel“. Sie muss in einem verständlichen und gutem Deutsch geschrieben sein (einfach). - Sie muss klar und übersichtlich dargestellt sein. - Eine gute Begründung ist kurz und bündig. Lieber ein allgemeines Beispiel als irgendwelche Zahlen. - Jeder Schritt wurde erklärt und Zahlen stellen Denkhilfen dar. - Die Erklärung ist verständlich aufgeschrieben. Zudem ist sie nicht sehr lang. Eine gute Erklärung kann ohne Zahlen auskommen, diese jedoch als Hilfestellung verwenden. Torsten Linnemann 22 Bearbeitung einer Gymnasiastin (10. Klasse) Frage der Schülerin: «Reicht ein Beweis, oder muss ich es auch begründen?» Proofs that proof and proofs that explain (Hanna, G.) Torsten Linnemann 23 Lernumgebung zu Treppenzahlen – mit der mündlichen Aufforderung zu begründen Torsten Linnemann 24 Summe von 3 aufeinanderfolgenden Zahlen arithmetisch, direkt arithmetisch, induktiv ikonisch sprachlich Torsten Linnemann 25 Widerlegung Torsten Linnemann 26 Allgemeine Hypothese Torsten Linnemann 27 Fazit - Kompetenz ist trainierbar - Orientierung an Vorerfahrungen der Schülerinnen und Schüler - Arithmetik, ikonische Darstellungen, Text als Elemente von Begründungen - Algebra als Mittel zur Klärung, zum Experimentieren (nennen wir das mal x und sehen was passiert…) - Rebutal, Modal Qualifier zulassen - erklärende Beweise - Induktion ermutigen - operative Beweise - charakteristische Beispiele - Thematisierung von Zirkelschlüssen, nicht schlüssigen Induktionen Torsten Linnemann 28 Fazit II - Kompetenzentwicklungsmodell echt anders als Kompetenzstufenmodell - Kompetenztrainingslager (Bruder 2012)? Torsten Linnemann 29 Literatur - - - Bruder, R. (2012). Konsequenzen aus den Kompetenzen? Vortrag auf der 46. Tagung für Didaktik der Mathematik am 06.03.2012 in Weingarten. http://www.math-learning.com/files/120306wg.pdf, 1.10.2012 Fahse, C. (2013): Argumentationstypen. Vortrag an der Jahrestagung der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, Münster 2013. Heintz, B. (2000): Die Innenwelt der Mathematik. Zur Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin. Wien: Springer. Inglis, M., Mejia-Ramos, J. and Simpson, A. (2007): Modelling mathematical argumentation: the importance of qualification. Educ Stud Math, 66, 3–21 Linnemann, T. (2012): Innermathematisches Experimentieren in Lernumgebungen in der Sekundarstufe II. In: Ludwig, M. und Kleine, M.: Beiträge zum Mathematikunterricht 2012. Vorträge auf der 46. Tagung für Didaktik der Mathematik, 557-560. Münster: WTM Linnemann, T. und Turina, M. (2013): Lernumgebungen differenziert begleiten. Vortrag an der Jahrestagung der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, Münster 2013. MacLane, S. (1981): Mathematical Models: A Sketch for the Philosophy of Mathematics. The American Mathematical Monthly, 88, 462-472. Manin, Y. (1977): A Course in Mathematical Logic. New York: Springer. Meyer, H. (2012). Kompetenzorientierung allein macht noch keinen guten Unterricht. Handout zum Vortrag auf der didacta 2012. Siller, S., Bruder, R., Hascher, T., Linnemann, T. und Steinfeld, J. (2013): Stufenmodellierung mathematischer Kompetenz am Ende der Sekundarstufe II. Vortrag an der Jahrestagung der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, Münster 2013. Toulmin, S. (1958): The uses of argument. UK: Cambridge University Press. Ufer, S., Heinze, A., Kuntze, S. und Rudolph-Albert, F. (2009): Beweisen und Begründen im Mathematikunterricht. Journal für Mathematik-Didaktik, 30, 30-54. Torsten Linnemann 30