Ästhetische Bildung als Beitrag zur Entwicklung der

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Ästhetische Bildung als Beitrag zur Begabungsförderung:
Betrachtung im Lichte interdisziplinärer Lernforschung
Prof. Dr. Willi Stadelmann
In: Gysin, Béeatrice (Hrsg.): Wozu Zeichnen? Qualität und Wirkung der materialisierten Geste durch die Hand. Verlag Niggli; Sulgen/Zürich 2010, S. 95-102
Man kann einen Menschen nicht lehren,
man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu tun.
Galileo Galilei
Ästhetische Bildung ist nicht Mittel zum Zweck oder Vehikel für ausserästhetische
Zwecke, sondern Befähigung zu einer eigenständigen und eigenwertigen Weise der
Wahrnehmung bzw. Erfahrung und der Gestaltung von Wirklichkeit oder vorstellbarer
alternativer Möglichkeiten. Jedem Kind, jedem Jugendlichen und jedem Erwachsenen
ästhetische Wahrnehmung und ästhetische Praxis in dieser Eigenständigkeit und diesem Eigenwert zugänglich zu machen, ist eine der Aufgaben recht verstandener Allgemeinbildung heute.
Wolfgang Klafki
Zur Einleitung eine begriffliche Klärung: Wenn im Folgenden von “Wissen” die Rede ist, das
wir uns aneignen oder das wir unseren Schülerinnen und Schülern zugänglich machen wollen, dann sind damit immer sowohl kognitives Wissen als auch Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Strategien und Emotionen gemeint. Das Gehirn verarbeitet all dies grundsätzlich in gleicher Weise. Auch die Entwicklung von zeichnerisch-gestalterischen, handwerklichen, musikalischen und motorischen Fähigkeiten beruht auf Lernprozessen, auf Anpassungsreaktionen im Gehirn.
1.
1.1
Neuropsychologie des Lernens:
Lernforschung
Eine Disziplin der interdisziplinären
Aussagekraft von Resultaten aus der neuropsychologischen Forschung zum Thema
Lernen
Erkenntnisse der Neuropsychologie sind nicht dergestalt, dass sie die gesamte bisherige
Pädagogik quasi über den Haufen werfen und damit absolut Neues für den Unterricht bringen. Was wir heute über Lernen wissen, wissen wir aus der Pädagogik, der Lernpsychologie,
der Schulpraxis. Die Neurowissenschaften haben aus sich heraus keine neue Dimension des
Lernens aufgezeigt. Doch können sie zum tieferen Verständnis von Lernen einiges beitragen
und einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Lernprozessen und zur Unterstützung von
pädagogischen Anliegen liefern. Lernen besteht aus hochkomplexen psychisch-biologischen
Prozessen und lässt sich nicht auf einfache Rezepte reduzieren. Was lernwirksam ist und
was nicht, ist sehr individuell. Darum sollen ausgewählte Erkenntnisse zum Thema Lernen
aus der Neuropsychologie im Folgenden als Beitrag zum Wissen über Lernen beschrieben
werden; als Ergänzungen und Erläuterungen zu den Erkenntnissen aus den Bildungswissenschaften und der Psychologie.
1.2
1.2.1
Hirnentwicklung zwischen Erbanlagen und sozialer Umwelt
Unser Gehirn hat keinen direkten Zugang zur Aussenwelt: Wahrnehmung als eine
Grundlage von Lernen
Von unseren Sinnesorganen her kommen weder Bilder noch Gerüche noch Töne noch sonst
direkte ‚reale’ Gegebenheiten ins Gehirn. Alles Aufgenommene gelangt verschlüsselt, ‚kodiert’ ins Gehirn in Form von elektrischen Impulsmustern. Dort werden die kodierten Signale
individuell interpretiert (‚in Bewusstsein umgewandelt’). Das Nervensystem hat ohne Sinnessystem (Sinnesorgane) keine Information, weder über den eigenen Zustand noch über
Umweltreize. Die Nervenzellen (Neuronen) und Neuronalen Netzwerke sind nicht selbst die
Information sondern nur Träger der Information. Ein vom Sinnessystem abgeschnittenes
neuronales Netz kann nicht aus sich selber Information erzeugen. Es gibt keine Information
ohne individuelle Interpretation. Die Neurowissenschaften bestätigen also, was wir aus der
Psychologie schon lange wissen, dass wir die Welt nie so ‚wahr’ nehmen können, wie sie
real existiert. Wir erleben sie im Rahmen der Qualität und der Leistungsfähigkeit unserer
Sinnesorgane sowie der Fähigkeit unseres Gehirns, Signale zu interpretieren. Daraus folgt,
dass Wahrnehmung nur möglich ist mit Hilfe des Gedächtnisses, das die Fähigkeit eröffnet,
Neues mit Vergangenem zu vergleichen. Lernen ist auf Gedächtnis angewiesen. Sowohl
Gedächtnis als auch Wahrnehmung sind mit Lernen verbunden. Stets vergleichen wir mit
unserem Gehirn Neues mit der bisherigen Erfahrung, mit bisherigem Wissen und bisherigen
Fähigkeiten und Fertigkeiten. Wahrnehmung beeinflusst künftige Wahrnehmung; die Wahrnehmungsfähigkeit wird durch stetige aktive Wahrnehmung geschult, entwickelt und verfeinert. Das Gehirn operiert auf der Basis seiner eigenen Geschichte (Schmidt, 1991 S. 146148). Daraus können wir ermessen, wie wichtig für erfolgreiches Lernen die bisherige Lernbiografie des Individuums, sein Vorwissen und Vorkönnen sind. Und wie wichtig der Zugang
zur Erkenntnis über die Phänomene, über die Sinneserfahrung ist. Der Entwicklung und Verfeinerung der Sinnesorgane kommt für die Lernbiografie grosse Bedeutung zu: Eine „Schule
des Sehens“ beispielsweise, wie sie zur ästhetischen Bildung gehört, trägt viel zur Lernbiografie bei.
1.2.2
Was ist vererbt, was steuert die soziale Umwelt bei?
Warum haben Menschen unterschiedliche kognitive Leistungsfähigkeiten? Wir können heute
aufgrund von gut gesichertem Wissen davon ausgehen, dass Erbmerkmale (‚Gene’) die
kognitive Entwicklung nicht allein bestimmen. Es braucht unabdingbar Umwelteinflüsse, Stimulationen, welche die Wirkung der Gene auf die kognitive Entwicklung erst recht ermöglichen. Für eine optimale Hirnentwicklung braucht es beides: Anlage und Stimulation. Ein Kind
kann mit noch so guten Anlagen zum Beispiel für Zeichnen- Gestalten oder Musik auf die
Welt kommen; wenn es nicht (früh) Gelegenheit erhält, optisch zu beobachten, optisch und
feinmotorisch stimuliert zu werden, zu zeichnen und zu gestalten bzw. nicht früh mit Musik
stimuliert wird, in seiner Lebensumgebung in ein ‚Musikbad’ eintauchen und ein Instrument
lernen kann, werden sich die Anlagen nicht oder nur suboptimal auswirken. Es gibt keinen
Automatismus zwischen Erbanlagen und kognitiver Entwicklung: Ein Kind mit guten Erbanlagen für Bildnerisches Gestalten wird nicht ‚von selbst’, quasi ‚automatisch’ Kunstmaler. Gene
und Umwelt wirken also nicht völlig unabhängig voneinander sondern stehen in einer Wechselbeziehung. Stimulation fördert und steuert die Genexpression. Verhaltensgenetische Zwillings- und Adoptionsstudien lassen Schlüsse über den Einfluss der ‚Gene’ und der Umwelt
auf die kognitive Entwicklung des Menschen zu (Neubauer 2005 S. 10; Neubauer/Stern 2007
S. 110): „…dass bei Kindern und Jugendlichen etwa 50% der Intelligenzunterschiede in einer
Bevölkerung auf die Gene, etwa 25% auf (von Mitgliedern einer Familie geteilte) Umwelteinflüsse (also familiäre Einflüsse) und 20% auf nichtgeteilte Umwelteinflüsse (überwiegend
ausserfamiliäre Einflüsse) zurückgeführt werden können (die restlichen 5% sind Messfehler).“ „Bei den nichtgeteilten Einflüssen spielen Quantität und Qualität der ‚Beschulung’ eine
grosse Rolle“. Wenn wir diese Erkenntnisse etwas holzschnittartig zusammenfassen, können
wir aussagen, dass etwa 50% der Intelligenzunterschiede der Kinder und Jugendlichen auf
die Erbanlagen und etwa 45% auf ‚Familie’ und ‚Schule’ zurückführbar sind. Der Einfluss von
‚Familie’ und ‚Schule’ ist also viel grösser, als viele Eltern und Lehrpersonen meinen. Dies
legt eine enge Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrpersonen nahe mit dem Ziel der
optimalen kognitiven Entwicklung der Kinder. Eltern (Familie und/oder Peer Group, in welcher das Kind aufwächst) und Schule tragen gemeinsam eine enorme Verantwortung für die
Entwicklung der Kinder.
1.2.3
Netzwerk Gehirn
Das Gehirn ist das am stärksten vernetzte System, das wir kennen; kein anderes natürliches
Netzwerk weist einen derartigen Vernetzungsgrad auf.
In unserem Gehirn befinden sich nach Schätzungen etwa 120 Milliarden Neuronen (Nervenzellen), die dreidimensional vernetzt sind. Ein Neuron kann dabei mehrere Tausend Kontakte
mit anderen Neuronen haben. So entsteht ein sehr dichtes Netzwerk von Verbindungen und
Kontakten, das eine Faserlänge von etwa 400'000 km erreicht (Schätzung). Innerhalb beziehungsweise zwischen den Neuronen laufen elektrische und chemische Prozesse ab, welche
das Aufnehmen, Interpretieren und Abgeben von Informationen ermöglichen. Die Stärke, die
Leistungsfähigkeit, das Potenzial des Gehirns liegen insbesondere in der Fähigkeit, Informationen verknüpfend zu verarbeiten. Lernen bedeutet auch aus Sicht der Neurowissenschaften vor allem vernetzen, verbinden, einbauen in das bisherige Netzwerk, aufbauen auf dem
bisherigen Netzwerk. Aber auch Optimierung des Netzwerks durch Abbau von Verbindungen, die nicht dienlich sind („pruning“) und auch schneller machen von Verbindungen (Myelisiniserung von Axonen).
Unser Gehirn trennt Sinneserfahrungen und ‚Lernstoff’ nicht nach Disziplinen, sondern verarbeitet sie ‚verbunden’. Wenn wir etwas sehen, ordnen wir auch Bewegungs-, Hör-, Tastund Riecherlebnisse zu, die wir dann später mit erinnern. Diese Erkenntnisse weisen darauf
hin, dass offenbar Lernprozesse, welche Vernetzung fördern und die Fähigkeiten des Gehirns zu vernetzen ausnützen, erfolgreicher sind als ‚lineare’, isolierte, zersplitternde Formen.
Deshalb sind wohl Unterrichtsmethoden, die verschiedene Eingangskanäle der Wahrnehmung ansprechen, vielseitige Fähigkeiten, Fertigkeiten und Tätigkeiten anregen und so das
Gehirn vielseitig beanspruchen, zu bevorzugen.
1.3
1.3.1
Neuronale Plastizität: Hirnentwicklung und Lernbiographie
Plastizität des Gehirns
Gut abgesicherte Forschungsresultate aus den Neuro-Wissenschaften belegen, dass Lernprozesse nur möglich sind, weil sich das Gehirn ein Leben lang entwickeln kann. Lernen und
Hirnentwicklung sind miteinander gekoppelt. Informationsübertragungen werden durch Veränderungen an Synapsen (Kontaktstellen im neuronalen Netzwerk) verbessert. Neue Synapsen können gebildet werden, was zu neuen Verknüpfungen, zur Erweiterung des Netzwerks führt. So können Gehirnteile durch Lernen wachsen; parallel dazu können aber auch
Vernetzungsteile, die nicht gebraucht werden, abgebaut werden (‚pruning’). Lernen prägt
(auch makroskopisch) Strukturen des Gehirns: Das Gehirn ist plastisch. Dazu kommt, dass
die Geschwindigkeit der Informationsübertragung durch Lernen gesteigert werden kann. Gehirnareale entwickeln sich, wenn sie stimuliert werden; Veränderungen im Gehirn erfolgen
erstaunlich schnell, vor allem in der Kindheit. Es sei erwähnt, dass schon lange vor der Geburt das Gehirn durch Umwelteinflüsse mitgeformt wird. Aber auch erwachsene Gehirne
bleiben grundsätzlich flexibel; die Plastizität geht aber mit zunehmendem Alter zurück (vgl.
weiter unten). Ohne in einen ‚Frühförderungs- Wahn’ zu verfallen, müssen wir zur Kenntnis
nehmen, dass gewisse Fähigkeiten und Fertigkeiten früh gelernt und eingeübt werden müssen, damit sie ein Leben lang erfolgreich praktiziert werden können. Gut untersucht sind
diesbezüglich das Lernen von Musikinstrumenten, von Sprachen und von Bewegung (Feinmotorik). Wichtig ist, dass Veränderungen des Gehirns durch Üben aufrecht erhalten werden
müssen; auch dies zeigt sich beispielhaft in der Musik beim Instrumentalspiel, beim Sprachenlernen und bei der Entwicklung der Feinmotorik, die für Zeichnen und Gestalten von
grosser Bedeutung ist. Aktivitäten des Lernenden, das (motorische oder verinnerlichte)
‚Selbst–Tun’ sind für den Lernerfolg unabdingbar. Das Gehirn folgt dem Grundsatz ‚Use it or
lose it’.
Das Gehirn ist also das Resultat seiner Benutzung. Lebenslanges Lernen setzt lebenslange
Aktivitäten voraus; anregungsarme Umgebungen sind schlecht für die Entwicklung und Erhaltung der Lernfähigkeit.
Jeder Lernprozess schafft Grundlagen für weiterführende Lernpozesse. Nicht nur Wissen
wird gelernt, sondern es entstehen gleichzeitig neue Potenziale und Lernstrategien für weiterführendes Lernen. Neue Strukturen werden auf bisherigen aufgebaut. Dies sind weitere
Belege für Erkenntnisse, die wir bereits aus der Psychologie und Pädagogik kennen: Das
Vorwissen und Vorkönnen, die bisherige Lernbiografie eines Lernenden spielen für sein weiteres Lernen eine entscheidende Rolle. Vorteile des Erwachsenenlernens gegenüber dem
kindlichen Lernen liegen insbesondere in der breiteren Lernbiografie, der Erfahrung, dem
umfangreicheren nutzbaren Wissen, den ausgebildeten und bewährten Lernstrategien. So
können zunehmende Defizite der Plastizität beim Älterwerden erfolgreich kompensiert werden. Im Übrigen zeigen neuere Untersuchungen, dass die Plastizität des Gehirns erstaunlich
gross bleibt bis ins hohe Alter; dies im Gegensatz zu früheren Auffassungen, welche die
Plastizität nach der Pubertät als relativ gering beschrieben.
Durch Lernen entsteht zunehmend Individualität, weil sich die Gehirne der Menschen im Einklang mit ihrer einzigartigen Biografie entwickeln. Gehirne unterscheiden sich in ihren (Fein-)
Strukturen wie Fingerabdrucke. Wenn also in einer Schulklasse 25 Schülerinnen und Schüler
sitzen, bringen alle ihre individuelle Lernbiografie, ihre individuelle Hirnstruktur mit. Bereits
diese Erkenntnis macht klar, dass Gruppen von Schülerinnen und Schülern, egal wie und
wie oft sie durch Selektion gebildet wurden, immer heterogen sind. Homogene Klassen gibt
es nicht. Heterogenität von Gruppen ist natürlich (Buholzer/Stadelmann 2009).
Ziel aller didaktischen Massnahmen auf allen Schulstufen bis in die Erwachsenenbildung
muss die Stimulation der Lernenden zum ‚Selbst- Tun’ sein. Im Sinne von: more learning –
less teaching. Und: Menschen sind Individuen, die nicht alle gleich gefördert werden können.
Individualisierung des Unterrichts ist unabdingbar.
Lernen verändert also unser Gehirn ein Leben lang; durch Lernprozesse findet eine lebenslange Hirnentwicklung statt.
1.4
Emotionen fördern Lernprozesse
Schon seit langer Zeit wissen wir, dass Emotionen und Lernen eng zusammenhängen. Die
Begriffe ‚Emotion’ und ‚Gefühl’ werden im allgemeinen Sprachgebrauch synonym verwendet:
In der Regel ist bei der üblichen Verwendung des Wortes Emotion der Begriff des Gefühls
eingeschlossen. Antonio R. Damasio unterscheidet zwischen Emotionen und Gefühlen und
zeigt in seiner Theorie, dass Emotionen den Gefühlen voraus gehen. Emotionen sind nach
Damasio individuelle physische (körperliche) Reaktionen auf Reize. Gefühle sind individuelle
psychische Interpretationen der physischen Reaktionen, also der Emotionen. Ein einfaches
Beispiel: Wenn uns etwas Angst einjagt, reagiert unser Organismus physisch; dies zeigt sich
an typischer Mimik, an erhöhter Herzfrequenz, am bleichen Gesicht, an weit geöffneten Augen, an feuchten Händen. Diese Primär-Reaktion bezeichnet Damasio als Emotion. Die individuelle psychische Interpretation, das individuelle ‚Fühlen’ und psychische Bewerten der
Emotion bezeichnet er als Gefühl. „Die Emotionen treten auf der Bühne des Körpers auf, die
Gefühle auf der Bühne des Geistes.“ „Emotionen und Gefühle sind im Zuge eines kontinuierlichen Prozesses so eng miteinander verknüpft, dass wir verständlicherweise dazu neigen,
sie als ein einziges Phänomen wahrzunehmen.“ (Damasio 2003, S. 101 ff). Emotionen/Gefühle beeinflussen Informationsvorgänge und damit auch das Lernen. „Gefühle sind
einerseits Ergebnisse von Informationsverarbeitungsprozessen und beeinflussen andererseits selbst Informationsvorgänge“. „Beim Prozess der Informationsverarbeitung handelt es
sich eigentlich immer um ein Zusammenwirken kognitiver und emotionaler Prozesse. Emotionale (und motivationale) Faktoren sind selbst bei den abstraktesten Formen intellektueller
Leistungen beteiligt“ (Edelmann 2000, S. 240 ff). Gefühle wirken bei der Informationsverarbeitung, beim Lernen als selektiver Filter. „Der Filter ist durchlässig für Material, das mit der
Stimmung des Wahrnehmenden übereinstimmt, nicht aber für inkongruentes Material. Wichtige Faktoren für die Gedächtnisleistung sind ein intensives Gefühl bei der Informationsaufnahme und ein hoher Grad an Bedeutsamkeit des Lernmaterials. Vergessen wird vor allem
der mangelnden subjektiven Wichtigkeit des Materials und der fehlenden Aufmerksamkeit
bei der Informationsaufnahme zugeschrieben.“ (ebd.). Aufmerksamkeit ist abhängig von
Emotionen und Gefühlen. In verschiedenen Untersuchungen konnte bestätigt werden, dass
Lernende mit positiven (fördernden, stimulierenden, wohltuenden, hoffnungsvollen, erfolgsversprechenden) Gefühlslagen, besser in der Lage sind zu lernen und komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Den Zusammenhang zwischen Gefühlslage und Motivation beschreibt Edelmann: „Ein aktuelles leistungsmotiviertes Handeln findet besonders dann statt,
wenn die Tendenz ‚Hoffnung auf Erfolg’ die Tendenz ‚Furcht vor Misserfolg’ überwiegt.“ (ebd.
S. 254) Einen Menschen motivieren bedeutet also unter anderem, ihm die Möglichkeit eröffnen, Hoffnung auf Erfolg seiner Anstrengungen, seiner Aktivitäten zu haben. Förderorientierte, zielgerichtete Haltung von Eltern und Lehrpersonen steht im Vordergrund. Schulisches
Lernen muss sich noch mehr von Defizitorientierung zu Förderorientierung entwickeln. Beurteilung von Leistung muss fördernden Charakter haben.
Also: Individuell als bedeutsam und wichtig empfundene Ereignisse werden schneller gelernt
und besser gespeichert. Es liegt auf der Hand, dass gerade Musik und Bildnerisches Gestalten eng mit Emotionen und Gefühlen verbunden sind.
1.5
Begabung und Intelligenz
Das Wort Begabung enthält den Begriff ‚Gabe’. Es suggeriert also, was historisch gesehen
verständlich ist, dass Begabung jedem Menschen von Geburt an gegeben ist; bestimmt und
unveränderlich. Diese Ansicht von Begabung als Konstante im Leben eines Menschen muss
korrigiert werden:
Wie bereits weiter oben ausgeführt, tritt der Mensch mit seinem Lern- und Entwicklungspotenzial in Beziehung zu seiner Umwelt. Es entsteht eine lebenslange Wechselwirkung, in der
das Individuum seine Umwelt beeinflusst und verändert und die Umwelt das Individuum beeinflusst und verändert (Plastizität). In dieser Wechselwirkung entwickelt sich das Leistungspotenzial, das Leistungsvermögen des Individuums, seine Begabung. Als Begabung können
wir also allgemein das Leistungsvermögen insgesamt bezeichnen. Spezieller ist mit Begabung die jeweils individuelle Ausprägung der leistungsbezogenen Entwicklungsmöglichkeiten
gemeint, also jener Faktoren, die bei entsprechender Disposition und langfristiger systematischer Anregung und Förderung das Individuum in die Lage versetzen, auf Gebieten, die in
der jeweiligen Kultur als wertvoll betrachtet werden, anspruchsvolle Tätigkeiten durchzuführen (persönliches, individuelles Begabungsprofil).
Begabung ist also keine Konstante, Begabung ist ein lebenslanger Prozess zwischen Anlage
und Umwelt, zwischen Potenzial und Stimulation. Wenn Begabung eine Konstante wäre,
könnte man auch nicht von Begabungsförderung sprechen; denn Konstantes ist nicht förderbar. Begabungsförderung ist ein Leben lang möglich und nötig.
Intelligenz kann verstanden werden als allgemeine Denk- und Lernfähigkeit, mit unterschiedlichen individuellen Ausprägungen. Sie umfasst zum Beispiel die Fähigkeiten eines Individuums, mit verbalem Material, mit Zahlen und ihren Beziehungen, mit figuralen und räumlichen
Gegebenheiten umzugehen. Die genaue ‚Natur’ der Intelligenz ist unklar; jedenfalls befähigt
hohe Intelligenz zu raschen, sicheren, effektiven und effizienten mentalen Tätigkeiten. Sie
lässt sich durch standardisierte Tests relativ präzise erfassen und gibt einen Zustand zu einem definierten (Mess-)Zeitpunkt wieder. Intelligenz ist ein Teil von Begabung, der standardisiert messbar gemacht wird. Begabung und Hochbegabung lassen sich also nicht einfach
durch einen Intelligenzquotienten erfassen und definieren. Begabung umfasst mehr als Intelligenz, da die Denk- und Lernfähigkeit allein noch nicht von selbst, quasi automatisch, besondere Leistungen hervorbringt. Leistungswille, sachbezogenes Interesse, Arbeitsdisziplin
und Selbstvertrauen sind Begabungsfaktoren, die durch die geschilderte Wechselwirkung
lebenslang entstehen und in ihrem organisierten Zusammenwirken mit der Denk- und Lernfähigkeit erst besondere Leistungen ermöglichen. Die Gesamtorganisation all dieser Faktoren kann mit dem Begriff ‚Persönlichkeit’ umschrieben werden. Jedes Kind ist eine Person
und damit ein Einzelfall. Begabungsförderung ist im weiteren Sinne immer Persönlichkeitsentwicklung (iPEGE 2009 S. 17-20).
2.
Was heisst Wissen ‚vermitteln’ und Wissen ‚erinnern’?
Wissen und Verhalten werden im Gehirn nicht als Ganzes, sozusagen in fest umrissenen
Schubladen abgelegt. Die Speicherung im Gehirn erfolgt netzwerkartig verteilt. Bevorzugt
abgelegt werden offenbar individuell besonders beeindruckende, emotional begleitete ‚Eckwerte’, ‚Ankerpunkte’ des Wissens und Verhaltens, und zwar je nach Qualität an verschiedenen Orten: Farbeindrücke an anderen Stellen als Eindrücke über Form und Materialbeschaffenheit oder als Gerüche oder als Töne. Beim Erinnern und Reproduzieren setzt das Gehirn
das Gelernte aus den abgelegten Eckwerten wieder neu zusammen.
Die Vorstellung, Lehrpersonen könnten den Schülerinnen und Schülern Wissen vermitteln,
weitergeben, so dass sie es nachher ‚besitzen’, muss revidiert werden. Bedeutung, Wissen,
Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Fertigkeiten können nicht von der Lehrperson auf die Schülerinnen und Schüler übertragen werden. Die Bedeutung dessen, was sie vermitteln will, wird
ausschliesslich im Gehirn der Lernenden individuell interpretiert und erzeugt. Lernende konstruieren ihre Welt selbst. Wissen und Verhalten werden nicht passiv erworben, sondern in
jedem Individuum aktiv konstruiert. Lehrpersonen haben keinen direkten Zugriff auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler; sie können ‚nur’ Umgebungen schaffen, Unterlagen bereitstellen, emotionelle Zugänge ermöglichen, stimulieren, alles mit dem Ziel, dass Schülerinnen und Schüler selbst aktiv werden und individuell ihr Wissen und Verhalten konstruieren.
Erinnern und Reproduzieren bedeutet immer Neu-Interpretieren. „Erinnerungen werden nicht
so abgerufen, wie sie eingespeichert wurden, sondern wir beziehen beim Abruf inzwischen
angesammeltes zusätzliches Wissen mit ein und rufen Information entsprechend unserer
momentanen, zum Zeitpunkt des Abrufs vorherrschenden Gemütslage ab.“ Jede Erinnerung
zieht eine Neueinspeicherung nach sich, „wodurch die erneut eingespeicherte ‚alte’ Information zwar einerseits gefestigt wird, andererseits aber auch modifiziert an gegenwärtige Gegebenheiten angepasst wird“ (Markowitsch 2002 S. 83 ff). Erinnertes ist nicht identisch mit
dem Gespeicherten und bei der Speicherung Erlebten. Erinnern bedeutet neu interpretieren;
Erinnerungen entwickeln sich im Rahmen des weiteren Lernens. Diese Tatsache relativiert
unseren Zugang zur ‚wahren’ Welt noch mehr; und macht soziale Kommunikation und soziales Lernen so wichtig.
2.1
Computer-Einsatz zur Förderung des Lernens?
Ich möchte vorweg nehmen, dass ich den Gebrauch von Computern als Hilfsmittel in der
Schule als sehr wichtig erachte. Wir können Kinder nicht an dieser neuen Kulturtechnik vorbei schulen; Computer gehören zur Welt der Kinder und Erwachsenen und beeinflussen unser Leben immer mehr. Trotzdem seien einige konstruktiv-kritische Anmerkungen erlaubt:
Computer und Internet gelten heute als der Zugang zum Wissen. Dies ist sicher vom technischen Aspekt her richtig; doch zu welchem Wissen? Das Internet gaukelt vielen Schülerinnen und Schülern vor, mit dem Abrufen von Information sei auch schon gelernt. Immer wieder höre ich Schülerinnen und Schüler sagen: “Wozu brauchen wir eigentlich noch den ganzen Schulkram mit Unterricht durch Lehrpersonen usw.; wir können doch alles ganz einfach
aus dem Computer runterladen!” Computer und Internet spiegeln also vor, man könne sehr
schnell und ohne Anstrengung zu Erkenntnissen kommen. Dies führt zur Idee bei vielen
Schülerinnen und Schülern, man müsse nichts mehr mit eigener Aktivität und Anstrengung
erarbeiten, nachvollziehen, üben. Jedoch: Das Sitzen vor dem Bildschirm lässt nur noch bestimmte, stark reduzierte Formen der Wahrnehmung zu, die ein aktives und selbst gesteuertes Erfassen von Phänomenen vermindern.
Der Computer darf und soll den Schülerinnen und Schülern die persönliche Auseinandersetzung mit Lerngebieten nicht abnehmen. Der Computer kann Wissen nicht ‚vermitteln’. Auch
beim “E- Learning“ müssen aktive Prozesse im Gehirn der Kinder ablaufen, damit Lerneffekte entstehen.
Hartmut von Hentig hat dies 2001 an einem Vortrag wie folgt formuliert (Vortrags- Notiz WS):
“Computer drohen zu schlechten Schulbüchern zu werden, bei denen nicht mehr die Phänomene der Ausgangspunkt des Fragens und Rätselns sind. Vielmehr werden den Schülern
Fragen ins Maul geschmiert und die Antworten gleich hinterher geschoben“.
Lehrpersonen müssen den Einsatz von Computern gut planen, damit sie wirklich als Hilfsmittel für das Lernen wirken. Hier ist übrigens noch viel Arbeit im didaktischen Bereich zu leisten. Ich stelle bei Gesprächen mit Lehrpersonen und bei Unterrichtsbesuchen zum Teil immer noch recht grosse Hilflosigkeit fest, wie Computer im Deutsch-, Französisch-, Geschichte-, Musik- und Zeichen-Unterricht eingesetzt werden können. Immer noch wird computergestützter Unterricht vor allem der Mathematik und den Naturwissenschaften ‚zugeschoben’.
Der Einsatz von ‚E- Learning’ darf Primärerfahrungen der Schülerinnen und Schüler nicht
schmälern. Es wäre aus uns nun einsichtigen Gründen fatal, wenn Schülerinnen und Schüler
das Lernen fast ausschliesslich über den Bildschirm, über eine Metaebene, erfahren müssten. Der direkte Kontakt zu Menschen und zu den Phänomenen ist unabdingbar. Und damit
auch das Selbst- Gestalten, das Mit- Eigenen- Händen- Nachvollziehen z.B. durch Zeichnen
und Gestalten. Computer können also bezüglich Förderung von Lernprozessen bei unseren
Kindern die primäre Wahrnehmung nicht ersetzen. Der Computer kann als Instrument ergänzen und anregen; wenn der Computer zeichnet, ersetzt er damit das eigenaktive Zeichnen, das die Wahrnehmungsfähigkeit der Kinder fördert, nicht. Das Kind muss tätig sein,
nicht der Computer allein. Ich plädiere deshalb dafür, dass Lehrpersonen als eine Art Kontrast-Verhalten zum ‚E- Learning’ Primärerfahrungen und soziale Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler besonders fördern. Der Wahrnehmungs- Schulung muss grundsätzlich
mehr Aufmerksamkeit zukommen: Genaues Hinsehen, Hinhören, Fühlen und Spüren, Nachvollziehen.
3.
Mehrperspektivische Bildung
Die geschilderten Erkenntnisse der interdisziplinären Lernforschung unterstützen das Postulat der mehrperspektivischen Bildung (Wanzenried 2004 S.38/39; Hervorhebungen WS).
-
-
-
„Bildung ist nur als Prozess beschreibbar und nicht als Kanon von Inhalten. In solchen Prozessen verändert sich die Wahrnehmung von Objekten, von Situationen,
Konstellationen so, dass eine Sache für den Menschen nachher nicht mehr dieselbe
ist.
Bildung ist die Fähigkeit, Perspektiven zu wechseln und Fachgrenzen zu überschreiten. Solcher Perspektivenwechsel beinhaltet die Kompetenzen, die Sichtweise eines
Gesprächpartners versuchsweise zu übernehmen, eine Sache aus einem anderen
fachlichen Blickwinkel zu betrachten sowie die Grenzen zwischen Fachdisziplinen zu
überschreiten.
Bildung braucht die Kombination differenzierter Zugriffe und wird durch Vereinseitigung und Fixierung verhindert. Bildung wird erhofft, wo eine breite Palette von Erfah-
-
rungs- und Handlungsmöglichkeiten zu tätiger Auseinandersetzung führen. Dabei
wirken kombinierte und komplexe Zugriffe dem Entstehen von Fixierungen und Vorurteilen entgegen.
Bildung geschieht im sozialen Kontext und ist an Selbstreflexion gebunden. (…)“
Also: Bildung setzt die Fähigkeit voraus, „den Blick zu wechseln, und Bekanntes mit fremdem Blick neu zu sehen“. „Bildung als Fähigkeit, verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten und
Gestaltungsmittel zu gebrauchen, um Wirklichkeiten damit unterschiedlich zu konstruieren
und mitzuteilen, was im eigenen Kopf wirksam wurde.(…)“ (ebd.)
Aus diesen Erkenntnissen wird erst recht sichtbar, welch hohen Stellenwert ‚ästhetische Bildung’ für den Menschen hat.
4.
Instrumentalspiel und Bildnerisches Gestalten als Beispiele
4.1
Instrumentalspiel
Neuere Untersuchungen bestätigen, dass Musik ein hohes Potenzial für die Hirnentwicklung
aufweist. Instrumentalunterricht (untersucht ist speziell das Lernen von Tasteninstrumenten),
wenn er früh einsetzt (vor dem achten Altersjahr), hat intensiven Einfluss auf die Mikrostruktur des Gehirns. So ist gut belegt, dass das Gehirn professioneller Musikerinnen und Musiker
sich signifikant unterscheidet von demjenigen musikalischen Laien. Im Lichte der Erkenntnisse über die Plastizität des Gehirns erstaunt diese Tatsache nicht. Das Spielen eines
Stücks vom Blatt ist für das Gehirn ein hochaktiver, komplexer Vorgang. Das Umwandeln
des abstrakten Notenbilds letztlich in Feinmotorik der Hände erfordert komplexe und koordinierte Tätigkeiten des Gehirns. Diese vielseitigen Tätigkeiten regen das Gehirn intensiv an
und fördern Entwicklungsprozesse im Rahmen der Plastizität. Es gibt Hinweise, dass Instrumental-Spiel die Gehirnentwicklung im Sinne der Entwicklung des räumlichen Vorstellungsvermögens sowie, als Folge davon, des abstrakten Denkens, was sich wiederum positiv auf
die Mathematik- Kompetenzen auswirkt, fördert.
Die verschiedenen Studien der letzten Jahre geben Hinweise darauf, dass früher Musikunterricht (Instrumentalunterricht) unter anderem auch folgendes bewirkt (Jäncke 2008, S.
194/195):
-
bessere verbale Gedächtnisleistungen bei Musikern
unter bestimmten Umständen besseres visuelles Gedächtnis bei Musikern
bessere Leistungen in visuell- räumlichen Tests
offenbar unterstützen Musizieren und Musikbegabung die Rechenleistung
ausserordentliche motorische Fähigkeiten
eine Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit.
Musik hat also klar eine Einwirkung auf die Gehirnentwicklung, und Musik fördert die Begabungsentwicklung der Menschen. Die Forschungsresultate können aber nicht so interpretiert
werden, dass Kinder, die beginnen, ein Instrument zu spielen, dann plötzlich viel bessere
Mathematiknoten in der Schule erzielen. Zu viele andere Einflüsse spielen für das Erreichen
einer guten Mathematiknote mit, so dass der Anteil des Instrumentalunterrichts wohl schwer
zu messen ist.
Die Forschungsergebnisse zeigen deutlich, dass Musikunterricht, vor allem, wenn er früh
einsetzt, viel zur Gehirn-Entwicklung unserer Kinder beitragen kann. Übrigens: Folgen auf
die Hirnentwicklung durch Instrumentalunterricht sind auch bei Erwachsenen nachweisbar;
es lohnt sich also auch später noch, ein Instrument zu lernen; die Folgen auf die Hirnentwicklung sind dann allerdings nicht mehr so tief greifend wie bei den Kindern.
4.2
Bildnerisches Gestalten: Sehen und Sichtbarmachen
Bildnerisches Gestalten besteht aus einer Summe hochkomplexer Aktivitäten, welche optische Wahrnehmung, Gedächtnis (Vergleich von äusserer ‚Realität’ mit innerer Vorstellung;
Interpretation), Emotionalität, Kreativität und Feinmotorik der Hände miteinander verbinden.
Zu Bildnerischem Gestalten gehören also sowohl äusserliche, ‚organische’ Tätigkeiten wie
aktives sehen und beobachten, zeichnen, malen, plastisch bilden als auch ‚verinnerlichte’
Tätigkeiten wie interpretieren, andere Sichtweisen erleben, verschieden Ausdrucksformen
erkennen. Ästhetische Bildung zum Beispiel durch Bildnerisches Gestalten öffnet also Spielräume, Spielfelder, Räume für innere Bilder, für eigene Interpretationen, für Imaginationen,
für elementare Erfahrungsmöglichkeiten.
Das Gehirn und nicht das Auge entscheidet, welche Objekte in unserem Blickfeld für uns
subjektiv sehenswert sind und welche nicht. Durch Bildnerisches Gestalten werden die
Wahrnehmungsmöglichkeit des Sehsinns und des Tastsinns (beim plastischen Arbeiten) und
die Interpretationsfähigkeit des Gehirns geschärft. Es fördert die Beobachtung („man sieht,
was man weiss“). und ist ein wichtiger Zugang zur Welt. Beim Bildnerischen Gestalten gibt
die Bewegung der Hand individuellen Wahrnehmungen und Interpretationen Form. Wahrnehmungen werden aktiv nachvollzogen, verändert, verfremdet, symbolisiert, abstrahiert.
Räumliche Vorstellung wird zu Form auf der Ebene oder im Raum (Plastik). Die Bewegung
der Hand, die Bewegungen der Augen (Sakkaden) beim aktiven Wahrnehmen geben Impulse auf spezifische Vernetzungen im Gehirn. So fördert die Darstellung der ‚realen’ Wahrnehmung (‚Abzeichnen’) die Wahrnehmungsfähigkeit des Gehirns; das Nachvollziehen durch
die Hand codiert die Wahrnehmung vielseitiger und nachhaltiger und speichert sie effizienter
ab. Bildnerisches Gestalten schult also die visuelle Wahrnehmung und fördert das visuelle
Lernen. Es fördert aber auch die innere Vorstellungskraft und die Kreativität. Bildnerisches
Gestalten ist verbunden mit aufwändiger Aktivität im Gehirn, die, davon können wir ausgehen, analog zum Instrumentalspiel hohe Anregung auf Veränderung und Optimierung von
Vernetzungsstrukturen gibt und damit einen Beitrag zur Begabungsentwicklung leistet. Der
Einfluss von Bildnerischem Gestalten auf Hirnentwicklung ist allerdings im Vergleich mit dem
Einfluss von Instrumentalspiel noch wenig untersucht. Die Aussagen in diesem Kapitel stützen sich also vorwiegend auf Analogieschlüsse. Auch hier können wir aber davon ausgehen,
dass eine gestalterische Tätigkeit früh im Leben unserer Kinder gefördert werden muss, um
nachhaltige bildnerische Wirkung zu erzielen, weil eben die Plastizität des Gehirns in früher
Kindheit besonders ausgeprägt ist.
Hartmut von Hentig bezeichnet in seinen „Schriften zur ästhetischen Erziehung“ die Kunst
als Massstab der Ästhetischen Erziehung (Hentig 1987 S.113) und schreibt:
„Wenn Kunst all das ist, was uns fragen macht, ob etwas möglich ist (und nicht nur, ob es
notwendig ist), ob etwas so oder anders gewollt werden kann (und nicht nur, ob es von Natur
so ist), ob es Genuss bringt (und nicht nur ob es nützt); wenn Kunst das ist, was uns erlaubt,
Alternativen zu der uns geläufigen Erfahrung wahrzunehmen; wenn sie das ist, was uns erlaubt, mit den Widersprüchen zu leben, die die Ratio einstweilen oder nie auflösen kann –
dann scheint sie mir hinreichend praktisch definiert und wert, unter grossen Anstrengungen
erhalten zu werden.“ (ebd. S. 103).
Ästhetische Bildung unserer Kinder in Familie und Schule ist nicht einfach nice to have sondern ein unabdingbarer Beitrag zur Begabungsentwicklung für das Verstehen der Welt.
Literatur
Buholzer, Alois;
Stadelmann, Willi:
Homogenität als Illusion. Kognitive Heterogenität als Herausforderung und Binnendifferenzierung. In: ide. Informationen zur Deutschdidaktik 3/2009: „Sekundarstufe I“. Innsbruck, Studienverlag
Damasio, Antonio:
Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen.
List, München (2003)
Edelmann, Walter:
Lernpsychologie. Weinheim Beltz PVU (2000)
Von Hentig, Hartmut :
Ergötzen, Belehren, Befreien. Schriften zur ästhetischen
Erziehung. Fischer, Frankfurt am Main (1987)
International Panel of
Experts for Gifted
Education (iPEGE):
Jäncke, Lutz:
Markowitsch,
Hans-Joachim:
Neubauer, Aljoscha:
Neubauer, Aljoscha;
Stern, Elsbeth:
Wanzenried, Peter:
Schmidt, Siegfried J.
(Hrsg.):
Professionelle Begabtenförderung. Özbf, Salzburg
(2009)
Macht Musik schlau? Hans Huber, Bern (2008)
Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. Darmstadt, Primus (2002)
Begabung möglichst früh erkennen und fördern; in: journal
für begabtenförderung 2/2005
Lernen macht intelligent. Warum Begabung gefördert werden muss. München, DVA (2007)
Unterrichten als Kunst. Zürich, Pestalozzianum
(2004)
Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Frankfurt am Main, Suhrkamp
Wissenschaft (1991).
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