9. Das Lemma von Urysohn und Metrisierbarkeit

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PD DR. THOMAS TIMMERMANN
9. DAS U RYSOHNSCHE L EMMA
In diesem Abschnitt wollen wir untersuchen, wann ein topologischer Raum metrisierbar
ist:
Definition 9.1. Ein topologischer Raum heißt metrisierbar, wenn es eine Metrik gibt,
die seine Topologie erzeugt.
Beispiel 9.2. Auf X := [0, 1]N = ∏n∈N [0, 1] wird die Produkt-Topologie von der Metrik
d(x, y) :=
|xn − yn |
2n
n∈N
∑
erzeugt, denn für jedes Netz (xλ )λ und jedes x in X gilt:
λ→∞
λ→∞
3.5
λ→∞
d(xλ , x) −−−→ 0 ⇔ ∀n ∈ N : xλ,n −−−→ xn ⇔ xλ −−−→ x.
Um metrisierbar zu sein, muss ein Raum (X, τ)
(1) “viele” stetige Funktionen besitzen: wird τ durch eine Metrik d erzeugt, so sind
alle Funktionen der Form
d(x, −) : X → R, y 7→ d(x, y),
(x ∈ X)
stetig und τ ist die initiale Topologie bezüglich dieser Abbildungen;
(2) “viele” offene Mengen besitzen, zum Beispiel Hausdorffsch sein (siehe Beispiel
5.6 (2)).
Wir präzisieren zunächst Bedingung (2) und sehen dann, dass (1) folgt:
Lemma 9.3. Für jeden topologischen Raum sind äquivalent:
(1) Sind A, B ⊆ X abgeschlossen und disjunkt, so existieren U,V ⊆ X offen und
disjunkt mit A ⊆ U und B ⊆ V .
(2) Ist A ⊆ W ⊆ X mit A abgeschlossen und W offen, so existiert U ⊆ X offen mit
A ⊆ U ⊆ U ⊆ W.
Beweis. (1)⇔(2): Setze B = W c und wähle U,V wie in (1). Dann folgt U ⊆ V c ⊆ W .
(2)⇒(1): Setze W := Bc , wähle U wie in (2) und setze V := (U)c .
Definition 9.4. Ein topologischer Raum X heißt normal, falls er Hausdorffsch ist und
obige Bedingungen (1) und (2) erfüllt.
Achtung: In der Literatur wird manchmal die Hausdorff-Bedingung nicht vorausgesetzt!
Beispiel 9.5.
(1) Jeder kompakte Raum ist normal (Satz 6.8.)
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
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(2) Ist die Topologie auf X erzeugt von einer Metrik d, so ist X normal: Sind A, B
wie oben, so sind die Funktionen
dA (x) := inf{d(x, y) : y ∈ A},¸ dB (x) := inf{d(x, y) : y ∈ B},
f (x) :=
dA (x)
dA (x) + dB (x)
stetig mit dA |A = 0, dB |B = 0, also f |A = 0 und f |B = 1. Setze nun
U = f −1 ((−1, 1/2)),
V = f −1 ((1/2, 2)).
Satz 9.6 (Urysohns Lemma). Sei X ein normaler topologischer Raum und A, B ⊆ X
abgeschlossen und disjunkt. Dann existiert eine stetige Funktion f : X → [0, 1] mit f |A =
0 und f |B = 1.
Beweis. Setze U1 := Bc . Wähle schrittweise offene Mengen Uk/2m für k = 0, . . . , 2m und
m = 0, 1, . . . wie folgt:
• U0 mit A ⊆ U0 und U0 ⊆ U1 ,
• U1/2 mit U0 ⊆ U1/2 und U 1/2 ⊆ U1 ,
• U1/4 ,U3/4 usw.,
also mit Uk/2m ⊆ U(k+1)/2m für k = 0, . . . , 2m − 1 und m ∈ N. Definiere f : X → [0, 1]
durch
f (x) = inf {k/2m : x ∈ Uk/2m } ∪ {1} .
Für x ∈ A ⊆ U0 ist f (x) = 0, für x ∈ B = U1c ist f (x) = 1. Für jedes t ∈ (0, 1) ist
[
f −1 ([0,t)) =
Uk/2m offen,
k/2m <t
f −1 ((t, 1]) =
[
t<k/2m
(Uk/2m )c =
[
c
Uk/2m offen.
t<k/2m
Daraus folgt die Stetigkeit von f .
Satz 9.6 und Beispiel 9.2 führen zur Metrisierbarkeit folgender Räume.
Definition 9.7. Ein topologischer Raum X heißt zweit-abzählbar, wenn er eine abzählbare Basis besitzt.
Satz 9.8 (Urysohn). Jeder zweit-abzählbare, normale topologische Raum ist metrisierbar.
Beweis. Sei X normal mit abzählbarer Basis U1 ,U2 , . . .. Setze
I := {(k, l) ∈ N × N : Uk ⊆ Ul },
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wähle für jedes (k, l) ∈ I eine stetige Funktion (Satz 9.6)
und betrachte
fk,l : X → [0, 1] mit f |Uk = 0 und f |Ulc = 1
F : X → [0, 1]I , x 7→ ( fk,l (x))(k,l)∈I .
Wie in Beispiel 9.2 sieht man, dass F(X) ⊆ [0, 1]I metrisierbar ist. Nun genügt zu zeigen:
F : X → F(X) ist ein Homöomorphismus, d.h. für jeden Punkt x und jedes Netz (xλ )λ
in X gilt:
xλ → x
⇔
F(xλ ) → F(x)
(daraus folgt natürlich auch die Injektivität von F).
“⇒”: Folgt aus 3.5, denn für jedes (k, l) ∈ I folgt fk,l (xλ ) → fk,l (x) (da fk,l stetig ist).
“⇐”: Angenommen, xλ 6→ x. Dann gibt es ein l so, dass nicht alle xλ ab einem λ0 in Ul
liegen. Wähle erst eine offene Umgebung V von x mit V ⊆ Ul (Lemma 9.3) und dann
ein k mit x ∈ Uk und Uk ⊆ V . Dann ist (k, l) ∈ I und für jedes λ0 gibt es ein λ ≥ λ0 mit
xλ ∈ Ulc , also fk,l (xλ ) = 1, fk,l (x) = 0 und d(xλ , x) ≥ 1/2k+l .
Eine weitere wichtige Anwendung des Urysohnschen Lemmas ist:
Satz 9.9 (Tietze). Sei X ein normaler Raum, A ⊆ X abgeschlossen und f : A → R stetig und beschränkt. Dann gibt es eine stetige Funktion f˜ : X → R mit f˜|A ≡ f und
supx∈X | f˜(x)| = supx∈A | f (x)|.
Beweis. Siehe Übung.
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