24 PD DR. THOMAS TIMMERMANN 9. DAS U RYSOHNSCHE L EMMA In diesem Abschnitt wollen wir untersuchen, wann ein topologischer Raum metrisierbar ist: Definition 9.1. Ein topologischer Raum heißt metrisierbar, wenn es eine Metrik gibt, die seine Topologie erzeugt. Beispiel 9.2. Auf X := [0, 1]N = ∏n∈N [0, 1] wird die Produkt-Topologie von der Metrik d(x, y) := |xn − yn | 2n n∈N ∑ erzeugt, denn für jedes Netz (xλ )λ und jedes x in X gilt: λ→∞ λ→∞ 3.5 λ→∞ d(xλ , x) −−−→ 0 ⇔ ∀n ∈ N : xλ,n −−−→ xn ⇔ xλ −−−→ x. Um metrisierbar zu sein, muss ein Raum (X, τ) (1) “viele” stetige Funktionen besitzen: wird τ durch eine Metrik d erzeugt, so sind alle Funktionen der Form d(x, −) : X → R, y 7→ d(x, y), (x ∈ X) stetig und τ ist die initiale Topologie bezüglich dieser Abbildungen; (2) “viele” offene Mengen besitzen, zum Beispiel Hausdorffsch sein (siehe Beispiel 5.6 (2)). Wir präzisieren zunächst Bedingung (2) und sehen dann, dass (1) folgt: Lemma 9.3. Für jeden topologischen Raum sind äquivalent: (1) Sind A, B ⊆ X abgeschlossen und disjunkt, so existieren U,V ⊆ X offen und disjunkt mit A ⊆ U und B ⊆ V . (2) Ist A ⊆ W ⊆ X mit A abgeschlossen und W offen, so existiert U ⊆ X offen mit A ⊆ U ⊆ U ⊆ W. Beweis. (1)⇔(2): Setze B = W c und wähle U,V wie in (1). Dann folgt U ⊆ V c ⊆ W . (2)⇒(1): Setze W := Bc , wähle U wie in (2) und setze V := (U)c . Definition 9.4. Ein topologischer Raum X heißt normal, falls er Hausdorffsch ist und obige Bedingungen (1) und (2) erfüllt. Achtung: In der Literatur wird manchmal die Hausdorff-Bedingung nicht vorausgesetzt! Beispiel 9.5. (1) Jeder kompakte Raum ist normal (Satz 6.8.) GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016) 25 (2) Ist die Topologie auf X erzeugt von einer Metrik d, so ist X normal: Sind A, B wie oben, so sind die Funktionen dA (x) := inf{d(x, y) : y ∈ A},¸ dB (x) := inf{d(x, y) : y ∈ B}, f (x) := dA (x) dA (x) + dB (x) stetig mit dA |A = 0, dB |B = 0, also f |A = 0 und f |B = 1. Setze nun U = f −1 ((−1, 1/2)), V = f −1 ((1/2, 2)). Satz 9.6 (Urysohns Lemma). Sei X ein normaler topologischer Raum und A, B ⊆ X abgeschlossen und disjunkt. Dann existiert eine stetige Funktion f : X → [0, 1] mit f |A = 0 und f |B = 1. Beweis. Setze U1 := Bc . Wähle schrittweise offene Mengen Uk/2m für k = 0, . . . , 2m und m = 0, 1, . . . wie folgt: • U0 mit A ⊆ U0 und U0 ⊆ U1 , • U1/2 mit U0 ⊆ U1/2 und U 1/2 ⊆ U1 , • U1/4 ,U3/4 usw., also mit Uk/2m ⊆ U(k+1)/2m für k = 0, . . . , 2m − 1 und m ∈ N. Definiere f : X → [0, 1] durch f (x) = inf {k/2m : x ∈ Uk/2m } ∪ {1} . Für x ∈ A ⊆ U0 ist f (x) = 0, für x ∈ B = U1c ist f (x) = 1. Für jedes t ∈ (0, 1) ist [ f −1 ([0,t)) = Uk/2m offen, k/2m <t f −1 ((t, 1]) = [ t<k/2m (Uk/2m )c = [ c Uk/2m offen. t<k/2m Daraus folgt die Stetigkeit von f . Satz 9.6 und Beispiel 9.2 führen zur Metrisierbarkeit folgender Räume. Definition 9.7. Ein topologischer Raum X heißt zweit-abzählbar, wenn er eine abzählbare Basis besitzt. Satz 9.8 (Urysohn). Jeder zweit-abzählbare, normale topologische Raum ist metrisierbar. Beweis. Sei X normal mit abzählbarer Basis U1 ,U2 , . . .. Setze I := {(k, l) ∈ N × N : Uk ⊆ Ul }, 26 PD DR. THOMAS TIMMERMANN wähle für jedes (k, l) ∈ I eine stetige Funktion (Satz 9.6) und betrachte fk,l : X → [0, 1] mit f |Uk = 0 und f |Ulc = 1 F : X → [0, 1]I , x 7→ ( fk,l (x))(k,l)∈I . Wie in Beispiel 9.2 sieht man, dass F(X) ⊆ [0, 1]I metrisierbar ist. Nun genügt zu zeigen: F : X → F(X) ist ein Homöomorphismus, d.h. für jeden Punkt x und jedes Netz (xλ )λ in X gilt: xλ → x ⇔ F(xλ ) → F(x) (daraus folgt natürlich auch die Injektivität von F). “⇒”: Folgt aus 3.5, denn für jedes (k, l) ∈ I folgt fk,l (xλ ) → fk,l (x) (da fk,l stetig ist). “⇐”: Angenommen, xλ 6→ x. Dann gibt es ein l so, dass nicht alle xλ ab einem λ0 in Ul liegen. Wähle erst eine offene Umgebung V von x mit V ⊆ Ul (Lemma 9.3) und dann ein k mit x ∈ Uk und Uk ⊆ V . Dann ist (k, l) ∈ I und für jedes λ0 gibt es ein λ ≥ λ0 mit xλ ∈ Ulc , also fk,l (xλ ) = 1, fk,l (x) = 0 und d(xλ , x) ≥ 1/2k+l . Eine weitere wichtige Anwendung des Urysohnschen Lemmas ist: Satz 9.9 (Tietze). Sei X ein normaler Raum, A ⊆ X abgeschlossen und f : A → R stetig und beschränkt. Dann gibt es eine stetige Funktion f˜ : X → R mit f˜|A ≡ f und supx∈X | f˜(x)| = supx∈A | f (x)|. Beweis. Siehe Übung.