500 Jahre „Entdeckung“ Brasiliens

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500 Jahre
„Entdeckung“ Brasiliens
Siegfried Schacht
Unterschiedliche Interessen und Sichtweisen
„Brasil 500 anos“ – seit mehreren
Jahren bereitet sich das Land auf das
fünfhundertjährige Jubiläum seiner
„Entdeckung“ vor. Am 22. April 1500
sichteten der portugiesische Seefahrer
Pedro Álvares Cabral und seine Begleiter die Küste des heutigen Brasilien.
Einen Tag später gingen sie nördlich
der jetzigen Stadt Porto Seguro (port.
Sicherer Hafen) an Land und standen
den dort lebenden Indios gegenüber.
hnlich wie im Kolumbusjahr 1992
sehen viele Gruppen in Brasilien
und Europa allerdings keinen
Grund zum Feiern dieser Begegnung.
Ä
„Zufällige Entdeckung“
Nachdem Vasco da Gama 1498 mit seiner Flotte erstmalig den Seeweg nach Indien gefunden hatte, wurde Cabral zum
Oberbefehlshaber einer zweiten Indienflotte ernannt, um die angebahnten Handelsbeziehungen zu festigen. Er sollte
auftragsgemäß den Golf von Guinea wegen der dort häufigen Windstillen (Kalmen) in südwestlicher Richtung umfahren und dann dem Kap der Guten Hoffnung zustreben. Infolge einer bisher nicht
eindeutig geklärten Routenabweichung
Richtung (Süd-)Westen (Nordostpassat?) entdeckte Cabral nach traditioneller Auffassung dann unbeabsichtigt und
zufällig Brasilien (vgl. Karte).
Geplantes (Wieder-)Auffinden
Schon die Quellen aus dem 16. Jahrhundert bedienen sich im Hinblick auf Brasilien nicht des Wortes „descobrimento“
(= Entdeckung), sondern des Ausdrucks
„achamento“ (= Auffindung). Danach
muss das Land bereits vor Cabral von
Portugiesen „entdeckt“ worden sein. Jorge Couto, Historiker an der Universität
Lissabon, belegt in seinem 1995 erschienenen Werk „A construção do Brasil“,
10
dass der portugiesische Seefahrer Duarte
Pacheco bereits Ende 1498 die Nordküste des heutigen Brasilien und die Amazonasmündung erreicht haben muss. Diese
Entdeckung wurde jedoch vom portugiesischen König Manuel I. aus einem ein-
sichtigen Grund streng geheim gehalten:
Der neu aufgefundene Küstenstreifen lag
westlich der im Vertrag von Tordesillas
(1494) festgelegten Demarkationslinie
und somit in der Einflusssphäre des Erzkonkurrenten Spanien (historisch kor-
Praxis Geographie 3/2000
rekt: Katholische Königreiche Kastilien
und Aragon). Der Vertrag von Tordesillas
hatte nach längerem Ringen zu entdeckende Gebiete in Übersee zwischen
den beiden Seemächten aufgeteilt, wobei
man zunächst damit die Herrschaftsbereiche und Seewege nach Indien und
dem Orient abstecken wollte, da man
noch nicht glaubte, dass Kolumbus
(1492) einen ganzen neuen Kontinent
entdeckt hatte. Die Kirche hatte den Vertrag vermittelt. Doch letztlich regelte der
Vertrag von Tordesillas damit auch die
vorläufige Aufteilung der „Neuen Welt“.
Das bereits bekannte Land wurde also
von Cabral an einer Stelle „wiederaufgefunden“, die eindeutig in der portugiesischen Einflusssphäre lag (vgl. Karte
S. 10). Dementsprechend konnte nun die
offizielle Inbesitznahme des zunächst
„Terra de Vera Cruz“ genannten Gebietes
durch die portugiesische Krone inszeniert
werden. In dem als „Taufschein Brasiliens“ bezeichneten Brief des Schiffssekretärs Pêro Vaz de Caminha an den König wird in durchaus anrührender Weise
von dieser Inszenierung und der Begegnung mit den Ureinwohnern berichtet
(vgl. Figge 1998, Jacob 1974, Pögl 1986).
500 Jahre Ausrottung und
Unterdrückung
Schnell wurde aus der so positiv geschilderten „ersten Begegnung der Kulturen“
eine bis heute andauernde Geschichte
der Ausrottung, Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen, Tieren und
Pflanzen. Von den vielen indigenen Völkern mit rund 5 Mio. Menschen bei Ankunft der Portugiesen leben heute nur
noch wenige Stämme mit etwa 300 000
Personen. Die ursprünglich riesigen Bestände des für die Farbstoff-Gewinnung
Aus der Resolution der Widerstandsbewegung
Wir nähern uns dem 22. April 2000, der
Tag, an dem vor 500 Jahren eine Gruppe bewaffneter Portugiesen an Land
ging, um uns als Kolonie zu annektieren. … Jener 22. April 1500 war ein
mystischer Tag, Anfang von Gewalt
und Unmenschlichkeit, die bis heute
andauern. …
Unsere Sichtweise der Geschichte:
Wir, die indigenen Völker, die Schwarzen, die sozialen Organisationen und
alle, die sich in der Bewegung: 500 Jahre Widerstand der Indios, Schwarzen
und Volksbewegungen zusammengefunden haben, gehen bei der Lektüre
der Geschichte von jenen aus, die viel
Leid ertragen mussten und gegen die
koloniale Plünderung und Ausbeutung
kämpfen, die man aus ihren Ländereien, den Städten und der offiziellen Geschichte verdrängte. Wir schenken der
Geschichtsschreibung der dominierenden Klassen keinen Glauben, die sich
wertvollen Brasilholz-Baumes (Pau-Brasil), nach dem das Land seinen Namen
erhielt, sind auf kümmerliche Reste zusammengeschrumpft. Nur zwei von unzähligen Beispielen.
Die Bewegung „500 Jahre Widerstand
der Indios, Schwarzen und Volksbewegungen“ will deshalb einen Gegenpol zu
den offiziellen Feierlichkeiten setzen (vgl.
Resolution). In der Bewegung haben sich
alle Organisationen der einheimischen,
farbigen Bevölkerung zusammengeschlossen.
■
als einzige Protagonisten und Sieger
darstellen, die in ihrer falschen Version
des historischen Prozesses als Helden
auftreten. Unsere Bewegung will dieses offizielle Lügenmärchen entlarven
und die wahre Geschichte der indigenen Völker, der versklavten Schwarzen, der Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen erzählen. …
Unsere Bewegung will ganz eindeutig einen Gegenpol zu den offiziellenFestakten setzen. Diese feiern den
500-jährigen Aufbau einer vermeintlich
vereinten und harmonischen Nation,
die aus ihrer Sicht mit der „freiwilligen
Beteiligung“ der indigenen Völker, der
in dieses Land „verpflanzten“ Afrikaner und der weißen Europäer geschaffen wurde. Vergangene und aktuelle
Konflikte kommen dabei nicht zur
Sprache. Für uns sind die Konflikte Teil
der Geschichte, der Gegenwart und wie
sich abzeichnet, auch der Zukunft. …
aus: Rundbrief der Brasilienhilfe P. Leeb, 1/1999
Literatur
Bitterli, U.: Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus
bis Alexander von Humboldt. München 1991
Couto, J.: A Construção do Brasil. Lisboa 1995
Figge, H. H.: Tupi. Zum westafrikanischen Ursprung
einer südamerikanischen Sprache. Frankfurt 1998
Jacob, E. G.: Grundzüge der Geschichte Brasiliens.
Darmstadt 1974 (Grundzüge, Bd. 24)
Pögl, J. (Hrsg.): Die reiche Fracht des Pedro Álvares
Cabral. Seine Indische Fahrt und die Entdeckung Brasiliens 1500-1501. Stuttgart, Wien 1986
Schacht, S.: Mit einem Containerschiff über den Atlantik. Praxis Geographie 26 (1996) H. 2, S. 12–13
Schröder, P.: Der Vertrag von Tordesillas 1494.
Machtpolitik und europäische Expansion nach Übersee. Geographische Rundschau 46 (1994) H. 6,
S. 368–371
Seit mehr als einem Jahr weisen in
den Hauptstädten der Bundesstaaten
– hier in Aracaju – große CountdownUhren auf das Jubiläum der
„Entdeckung“ des Landes hin.
Foto: S. Schacht
Praxis Geographie 3/2000
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