Wissen 64 Gigapixel-Kamera Multiple Sklerose Google sammelt Meisterwerke Neue Medikamente gegen die Nervenkrankheit Digital — 62 Gesundheit — 61 Verbissene Liebhaber Aggressive Schildkrötenmännchen werden kastriert – im Zürcher Tierspital mit der Schlüsselloch-Chirurgie Nicht abzuschütteln: Ein Männchen macht sich an die Auserwählte ran Martina Frei Caroline ist ein rabiater Liebhaber. Er bedrängt sein Weibchen aufs Heftigste. Ihr Panzer sei schon recht ramponiert, weil Caroline mit seinem immer dagegenschlage, berichtet die Besitzerin der beiden Schildkröten, Stéphanie Borel. Vor über 18 Jahren hatte ihr ein Züchter die beiden griechischen Landschildkröten als Weibchen verkauft. Dass Caroline ein Männchen ist, wurde erst offenbar, als er mit etwa 600 Gramm Körpergewicht geschlechtsreif wurde. Das war vor rund 12 Jahren. Jetzt wiegt er 890 Gramm. Welches Geschlecht sie haben, hängt bei den Schildkröten von der Bruttemperatur ab. Unterhalb einer bestimmten Temperatur entwickeln sich die Tiere eher zu Männchen, darüber eher zu Weibchen – nur wissen die Züchter nicht genau, wo diese Grenze liegt. So gibt es unter den als Heimtieren gehaltenen Reptilien deutlich mehr Männchen als Weibchen. Caroline verhalte sich seiner Partnerin gegenüber richtig aggressiv, sagt Borel. In Gefangenschaft kann ein Männchen nicht verschie- dene Weibchen decken wie in freier Wildbahn, also muss immer das gleiche hinhalten. «Die Alternativen waren: Caroline wegzugeben, ihn kastrieren zu lassen oder beide Tiere getrennt zu halten.» Borel entschied sich fürs Kastrieren, sie hänge an beiden Schildkröten. Deshalb liegt Caroline jetzt narkotisiert in Rechtsseitenlage im Zürcher Tierspital. Seine Hinterbeine sind zusammengebunden, im Maul hat er ein dünnes Silikonschläuchlein, über das er alle acht Sekunden beatmet wird. Tags zuvor bekam die Schildkröte bereits vorsorglich das Schmerzmittel Morphin. Aggressive Schildkrötenmännchen sind ein Problem. Sie beissen und verfolgen oft nicht nur Weibchen beständig, auch Konkurrenten werden teils heftig attackiert – ein natürliches, aus menschlicher Sicht aber recht grob anmutendes Verhalten. Vor drei Jahren begann JeanMichel Hatt, die ersten Schildkröten zu kastrieren – ein Novum bei uns. Auf die Idee hatte ihn ein Bericht über die Kastration von Sumpfschildkröten in den USA gebracht. «Dieses Jahr haben wir bereits 25 Schildkrötenmännchen operiert», sagt Hatt. Sogar aus dem Foto: Getty Images deutschen Bremen wurden schon Schildkröten gebracht. Das Kastrieren ist nur von April bis September möglich, da die Tiere in der kalten Jahreszeit in Winterstarre verfallen. Doch wie kastriert man ein Tier, dessen Hoden im Innern des Panzers verborgen sind? Schlüssellochchirurgie machts möglich. «Es ist eine Frage von Ausrüstung und Technik», sagt Hatt. Vorsichtig schneidet sein Assistent eine kleine Öffnung in Carolines linke Leiste. Durch einen 1 Zentimeter langen Schlitz führt der Operateur nun die Instrumente ein: eine Kamera, eine Zange Ein Hoden wird entfernt – so gross wie eine Aprikose Chemische Kastration – Implantat unter der Haut Rund 700 Franken kostet der Eingriff, vergleichbar mit der Kastration einer Hündin. «Wenn man diese Summe auf die Lebenszeit der Schildkröte von 60 Jahren umrechnet, ist es allerdings gar nicht so viel», findet Jean-Michel Hatt, Leiter der Klinik für Zoo-, Heimund Wildtiere am Zürcher Tierspital. Angesichts des verbrauchten Materials und des Zeitaufwands sei der Preis angemessen. Ärzte können Hunde, Katzen und andere Tiere nicht nur chirurgisch, sondern auch chemisch kastrieren. Dabei wird – ohne Narkose – ein kleines Implantat unter die Haut gespritzt, das ein Medikament abgibt. Der Wirkstoff stimuliert zunächst die Produktion von Geschlechtshormonen; nach rund zwei Wochen ermüdet die Hirnanhangdrüse, und die Geschlechtshormonproduktion verebbt vorübergehend. Der Vorteil dieser Methode ist, dass die Wirkung nach sechs bis zwölf Monaten aufhört und das Tier dann wieder fruchtbar ist. Mit der chemischen Kastration kann der Tierhalter auch testen, wie sich die definitive chirurgische Kastration auswirken würde, zum Beispiel bezüglich einer Gewichtszunahme des Tieres. Bei Schildkröten funktioniert diese Methode jedoch nicht zuverlässig. (mfr) und eine winzige Schere. «Es ist schwierig, an der richtigen Stelle reinzukommen. Lunge, Darm, Harnblase – die Organe liegen bei den Schildkröten sehr nah beisammen», sagt Hatt, der auf einem Bildschirm vor sich ins Innere der Schildkröte blickt. Vor dem Eingriff müssen diese Patienten zwei Tage lang fasten, um im Panzerinnern mehr Platz zu schaffen. Erschwert wird der Eingriff, wenn eine Schildkröte zu dick ist. «Hier sieht man die verfettete Leber», erklärt Hatt. Gelblich schimmert das Organ auf dem Bildschirm, eigentlich sollte es tiefrot sein. Übergewichtige Schildkröten sind in unseren Breitengraden häufig. Zu viel mastiges Futter, vermutet Hatt. Die Besitzerin beteuert, nur Gartenpflanzen gefüttert zu haben. Sachte arbeitet sich der Chirurg zum Hoden vor: ein riesiges Organ, fast so gross wie Carolines Kopf. «Wir haben schon Schildkrötenhoden entfernt, die waren so gross wie eine Aprikose», sagt Hatt. Nach 20 Minuten hat der Zootierspezialist den linken Hoden weggeschnitten und nach draussen befördert. Zwei kleine Metallklemmen sorgen dafür, dass es nicht blutet. Sie werden im Bauch der Schildkröte verbleiben. Schmerzmittel, baden und aufpassen bei der Fütterung Der Assistent näht die Wunde zu, dann wird Caroline behutsam auf die andere Seite gedreht, um auch den rechten Hoden zu entfernen. Eineinhalb Stunden dauert der ganze Eingriff. Warum schneidet Hatt nicht ein Loch in den Panzer? «Es dauert Monate bis Jahre, bis das verheilen würde», winkt er ab. Und die chemische Kastration funktioniere bei Schildkröten nicht gut. Etwa eine Stunde nach dem Operationsende fängt Caroline an, sich wieder zu bewegen. Für ein paar Tage bekommt der Patient noch ein Schmerzmittel, bald wird er auch wieder baden dürfen. In ein bis zwei Monaten hat seine Partnerin dann Ruhe vor seinen Avancen. «Er wird deutlich ruhiger werden. Da müssen Sie mit dem Füttern gut aufpassen, damit er nicht weiter zunimmt», schärft Hatt der Besitzerin ein. «Gras und Kräuter genügen vollauf.»