J. Hoppe, M. Rosenkranz Seltene dysautonome Syndrome ISBN 978-3-17-024556-3 Kapitel K2 aus T. Brandt, H.C. Diener, C. Gerloff (Hrsg.) Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012 Kohlhammer BDG_neu.book Seite 1437 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 K2 Seltene dysautonome Syndrome von J. Hoppe und M. Rosenkranz* Störungen des vegetativen (autonomen) Nervensystems treten selten isoliert, sondern überwiegend im Rahmen anderer Grunderkrankungen auf. Bezüglich autonomer Störungen im Rahmen spezieller neurologischer Erkrankungen und Syndrome (M. Parkinson, atypische Parkinson-Syndrome, Polyneuropathien, Synkopen und orthostatische Intoleranz) wird auf die entsprechenden Kapitel verwiesen. In vorliegendem Kapitel werden aus neurologischer Sicht bedeutsame, seltene dysautonome Störungen und Störungen der Sudomotorik behandelt, die in den übrigen Kapiteln weitgehend unberücksichtigt bleiben. Aufgrund der klinischen Relevanz erfolgt darüber hinaus ein kurzer Überblick über die Therapie gastrointestinaler autonomer Symptome. Auf die Darstellung der Anatomie und Physiologie des autonomen Nervensystems und eine systematische Darstellung autonomer Erkrankungen bzw. Syndrome wird verzichtet. K 2.1 Klinik Die klinische Symptomatik bei autonomen Störungen ist sehr heterogen und stark von der Lokalisation der Schädigung des autonomen Nervensystems abhängig (s. Tab. K 2.1). Häufig manifestiert sich eine autonome Störung mit kardiovaskulären Regulationsstörungen (orthostatische Intoleranz, orthostatische Hypotonie, Synkopen), gastrointestinalen Symptomen (Übelkeit, Obstipation, Diarrhö, Gewichtsverlust), Blasenstörungen (Nykturie, Inkontinenz, Urge-Symptomatik, Blasenentleerungsstörungen mit Restharnbildung) und/oder Störungen der Schweißsekretion (Hypo-/Anhidrose, subjektive Hitzeintoleranz). Störungen der okulären autonomen Innervation können durch reduzierten Tränenfluss, Akkomodationsstörungen, Pupillomotorikstörungen mit Anisokorie, einer Ptosis oder dem Vollbild eines Horner-Syndroms symptomatisch werden. Männliche Patienten klagen mitunter über Erektions- und/oder Ejakulationsstörungen. K 2.2 Primäre autonome Störungen K 2.2.1 Isolierte autonome Insuffizienz (pure autonomic failure, Bradbury-Eggleston-Syndrom) Klinik Die isolierte autonome Insuffizienz wurde 1925 von Bradbury und Eggleston erstbeschrieben (Bradbury Tab. K 2.1: Klinische Symptome bei autonomen Störungen Herz-Kreislauf • Symptome der orthostatischen Intoleranz • Orthostatische Hypotonie • Synkopen Schweißdrüsen • Hitze-Intoleranz • trockene, häufig überwärmte Haut • unzureichendes Schwitzen bei Fieber oder Hitze • vermehrtes Schwitzen Exokrine Drüsen • trockene Augen bei verminderter Produktion von Tränenfüssigkeit • Mundtrockenheit Magen-DarmTrakt • • • • Blase • imperativer Harndrang, Dranginkontinenz • Blasenentleerungsstörung mit Restharnbildung, Harnverhalt • Nykturie Genitalorgane • Erektionsstörungen • Ejakulationsstörungen Obstipation Diarrhoe Völlegefühl Übelkeit und Eggleston 1925). Bei der Erstbeschreibung handelte es sich um drei Patienten mit chonischer posturaler Hypotension und häufigen Synkopen, Bradykardie, verminderter Herzratenvariabilität, verminderter Schweißsekretion, Obstipation und erektiler Dysfunktion. Ber der isolierten autonomen Insuffizienz (engl pure autonomic failure) kommt es in der Folge einer überwiegend postganglionären autonomen Schädigung zu variablen autonomen Symptomen. Die Erkrankung wird in der Regel im mittleren Lebensalter symptomatisch. Häufig stehen zunächst orthostatische Symptome im Vordergrund und bleiben in vielen Fällen während des gesamten Krankheitsverlaufs das führende Symptom. Bei Männern können Sexualfunktionsstörungen das erste Krankheitszeichen sein. Die Hauptbeschwerden bestehen häufig morgens, nach üppigen Mahlzeiten, körperlicher Belastung oder in warmer Umgebung. Neben Sexualfunktionsstörungen und orthostatischen Symptomen treten bei der isolierten autonomen Insuffizienz häufig Blasenfunktionsstörungen mit Nykturie, Inkontinenz und Urge-Symptomatik sowie Schweißsekretionsstörungen auf. Auch Geruchsstörungen treten bei Patienten mit isolierter * Autor des ursprünglichen Kapitels »Vegetative Störungen« in der 5. Auflage: B. R. Brehm. 1437 K 2 BDG_neu.book Seite 1438 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 Endokrines und vegetatives Nervensystem autonomer Insuffizienz auf, jedoch seltener als beim M. Parkinson (Silveira-Moriyama et al. 2009). tienten sollten über den prinzipiell benignen Verlauf der Erkrankung informiert werden. Pathophysiologie K 2.2.2 Bei der reinen autonomen Insuffizienz handelt es sich wie beim M. Parkinson um eine Lewy-Körperchen-Synucleinopathie. Beide Erkrankungen sind durch eine dopaminerge, noradrenerge und kardiale Denervierung gekennzeichnet. Durch die kardiale Denervierung unterscheidet sich die isolierte autonome Insuffizienz pathophysiologisch von der schweren autonomen Störung im Rahmen einer Multisystematrophie, bei der es durch Akkumulation von Alpha-Synuclein in Gliazellen zu einem zentralen Katecholaminmangel bei meist erhaltener kardialer Innervierung kommt. Bei Patienten mit reiner autonomer Insuffizienz wurden auch in kleinen marklosen Hautnerven Alpha-Synucleinablagerungen gefunden (Shishido et al. 2010). Pathoanatomisch kommt es zu einem Verlust von Zellen in der intermediolateralen Rückenmarksäule sowie zu einem Verlust des Katecholamin-Reuptakes. Die Noradrenalin-Plasma-Konzentrationen sind erniedrigt und beim Aufstehen fehlt der typische Noradrenalin-Anstieg (Schatz 1984a, 1984b). Die Urin-Noradrenalin-Konzentration und die Dopamin-Ausscheidung im Urin sind üblicherweise reduziert. Der Noradrenalin-Mangel führt zu einer postsynaptischen Sensitivierung von Adrenorezeptoren und zu einer Überempfindlichkeit bei intravenöser Katecholamingabe. Die Geruchsstörungen sowohl bei der isolierten autonomen Insuffizienz als auch beim M. Parkinson sind unabhängig vom Vorhandensein eines klinischen Parkinsonsyndroms und dem striatalen dopaminergen Defizit mit der Lewy-Körperchen-Pathologie und der kardialen sympathischen Denervierung assoziiert (Goldstein und Sewell 2009). Die klinischen und neuropathologischen Gemeinsamkeiten von M. Parkinson und der reinen autonomen Insuffizienz legen eine ähnliche Pathogenese beider Erkrankungen mit unterschiedlicher klinischer Manifestation nahe. Diagnostik Die isolierte autonome Insuffizienz ist eine Ausschlussdiagnose. Andere primäre oder sekundäre Ursachen autonomer Funktionsstörungen müssen ausgeschlossen werden. Klinisch ist die Abgrenzung gegenüber autonomen Störungen bei M. Parkinson mitunter unmöglich. Wichtig ist die Abgrenzung gegenüber autonomen Störungen im Rahmen einer MSA (zusätzliche neurologische Symptome wie zerebelläre und/oder extrapyramidale Zeichen oder kortikospinale Symptome). Die Möglichkeit, durch Hautbiopsien in vivo intraneuronale Synucleinablagerungen nachzuweisen, könnte zukünftig Einfluss auf die Diagnosestellung bekommen (Shishido et al. 2010, Kaufmann und Goldstein 2010). Pragmatische Therapie Eine kausale Therapie der isolierten autonomen Insuffizienz ist nicht bekannt. In der Regel steht die symptomatische Therapie der orthostatischen Symptome im Vordergrund (s. Kap. C 3). Die Pa1438 Dopamin-β-HydroxylaseMangel Der Dopamin-β-Hydroxylase-Mangel (Robertson et al. 1986) ist eine sehr seltene autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, bei der Dopamin nicht β-hydroxyliert wird, mit der Folge eines fast vollständiges Fehlens von Adrenalin, Noradrenalin und deren Metabolite. Klinisch stehen kardiovaskuläre Störungen mit ausgeprägter orthostatischer Hypotension im Vordergrund. Die Erkrankung manifestiert sich meist unmittelbar nach der Geburt und führt bereits bei Neugeborenen zu Kreislaufregulationsstörungen. Im weiteren Verlauf treten vielfältige autonome Symptome auf. Bei Erwachsenen imponieren häufig eine ausgeprägte Ptosis und eine schwere orthostatische Hypotension; betroffene Männer klagen zudem häufig über Sexualfunktionsstörungen. Bei der körperlichen Untersuchung ist der Blutdruck im Liegen meist normal oder niedrig und die Herzfrequenz normal. Nach dem Hinstellen fällt der systolische Blutdruck rasch deutlich ab und wird nicht durch einen adäquaten Anstieg der Herzfrequenz kompensiert. Die okuläre autonome Innervation ist ebenfalls betroffen, es imponiert eine Miosis, die Pupillen reagieren normal auf Licht, die Akkommodation ist ungestört. Diagnostik Im Sammelurin sind weder Noradrenalin noch dessen Metabolite nachweisbar. Die Dopamin-Spiegel im Plasma, Urin und Liquor sind erhöht. Der Dopamin-β-Hydroxylase-Mangel muss differentialdiagnostisch abgegrenzt werden von der familiären Dysautonomie (s. u.) und der isolierten autonomen Insuffizienz (s. o.). Beim Dopamin-β-HydroxylaseMangel ruft eine kutane Histamininjektion wie beim Gesunden eine Hautrötung hervor, nicht jedoch bei Patienten mit familiärer Dysautonomie. Ferner sind im Gegensatz zur familiären Dysautonomie bei Patienten mit Dopamin-β-HydroxylaseMangel Tränenfluss und Kornealreflex normal. Bei Patienten mit Dopamin-β-Hydroxylase-Mangel hat Thyramin keinen Effekt auf den arteriellen Druck, wohl aber bei Patienten mit isolierter autonomer Insuffizienz. Pragmatische Therapie Der Dopamin-β-Hydroxylase-Mangel ist sehr selten und wurde nur in Fallberichten beschrieben (Robertson et al. 1986, Mathias et al. 1990, Thompson et al. 1995). Die Gabe von L-Dihydroxyphenylserin (, B) (L-DOPS) kann die Symptome deutlich lindern. L-DOPS ist ein »Prodrug« und wird peripher über die DOPA-Decarboxylase in Noradrenalin metabolisiert. Die Therapie beginnt in der Regel mit 3 × 25 mg/d und wird schrittweise gesteigert. In einigen Fällen sind Dosierungen bis 2 × 500 mg/d notwendig (Robertson und Davis 1995, Man in ’t Veld et al. 1987, Biaggioni et al. 1987, Biaggioni und Robertson 1987). Zur Behandlung der orthostatischen Hypotension siehe auch Kapitel C 3. BDG_neu.book Seite 1439 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 Seltene dysautonome Syndrome Verlauf men Störungen mit der Erholung der motorischen Funktionen (s. Kap. J 1). Die Erkrankung ist sehr selten. Zum Verlauf liegen keine Daten und größeren Studien oder Fallserien vor. Die Gabe von L-DOPS vermag die relevantesten Symptome der Erkrankung zu lindern und hat damit einen günstigen Einfluss auf den Verlauf. K 2.2.3 Autonome Polyneuropathien Autonome Störungen treten häufig im Rahmen von Polyneuropathien auf. Bezüglich autonomer Störungen im Rahmen sekundärer Polyneuropathien und Läsionen peripherer Nerven sowie autonomer Störungen im Rahmen gemischter hereditärer Polyneuropathien wird auf Kapitel J 2 verwiesen. Im Folgenden wird auf sekundäre und hereditäre Polyneuropathien eingegangen, bei denen autonome Störungen im Vordergrund stehen. K 2.2.3.1 Akute oder subakute idiopathische Dysautonomien Klinik Bei den akuten und subakuten idiopathischen Dysautonomien kommt es zu einer schweren Funktionsstörung des sympathischen und/oder parasympathischen autonomen Nervensystems, während somatische Fasern nicht betroffen sind (pure pandysautonomia) (Young et al. 1969, Grubb und Kosinski 1997a). Häufig geben die Patienten eine vorausgehende febrile Erkrankung an. Der Beginn der autonomen Störung ist mitunter fulminant. Die Symptome sind vielfältig und betreffen die Kreislaufregulation (orthostatische Hypotension, Synkopen), den Gastrointestinaltrakt (Obstipation, Diarrhoe), die Blasenfunktion (Blasenatonie) und/oder die männliche Sexualfunktion (erektile Funktionsstörungen). Die Symptome zeigen mitunter deutlich Fluktuationen, sind in den Morgenstunden besonders stark ausgeprägt (orthostatische Hypotension) und verschlechtern sich nach den Mahlzeiten und nach sportlicher Aktivität. 5 % der Patienten klagen über Angina-pectoris-Symptome ohne angiographisch nachweisbare koronare Herzkrankheit. Die Patienten weisen eine verringerte Konzentration von Noradrenalin im Plasma und Urin auf. Es besteht eine Hypersensitivität gegenüber allen Sympathikomimetika. Auch beim Guillain-BarréSyndrom werden häufig autonome Störungen beobachtet (s. Kap. J 1). Häufige Symptome/Zeichen sind eine verminderte Herzfrequenzvariabilität, Sinustachykardie, Bradykardie bis zur Asystolie, arterieller Hypertonus oder Hypotonus, pupillomotorische und sudomotorische Funktionsstörungen. Verlauf Der klinische Verlauf der akuten Dysautonomie ist relativ gutartig. Die Erkrankung läuft nicht immer progredient, eine Restitution ist in der Regel jedoch inkomplett. Die Haupttodesursache besteht in rezidivierenden Lungenembolien und pulmonalen Infekten. Beim Guillain-Barré-Syndrom steht die Gefahr lebensgefährlicher Rhythmusstörungen im Vordergrund. In der Regel bessern sich die autono- Pragmatische Therapie Patienten mit akuter Dysautonomie sollten über den gutartigen Verlauf der Erkrankung und die günstige Prognose aufgeklärt werden. Einige Patienten profitieren analog zur orthostatischen Dysregulation vom Überkreuzen der Beine (, B) beim aufrechten Stehen, Bauchpresse oder Kompressionsstrümpfe oder -hosen (, B) (s. auch Kap. C 3). Pharmakologisch können Fludrocortison (, B, Astonin® H), Midodrin (, B, Gutron®) oder Erythropoetin (, B, Erypo®) helfen (s. Kap. C 3). Bei V. a. eine autoimmune Genese wurden Kortikoide erfolgreich eingesetzt, aber auch i. v.-Immunglobuline oder Plasmapherese (, C) (Heafield et al. 1996, Smit et al. 1997). Die eingeschränkte Herzfrequenzvariabilität macht eine Monitorüberwachung und ggf. die Anlage/Implantation eines Herzschrittmachers notwendig. K 2.2.3.2 Familiäre Dysautonomie hereditäre sensomotorische und autonome Neuropathie (HSAN Typ III; Riley Day-Syndrom) Die Familiäre Dysautonomie (Riley et al. 1949) gehört zur Gruppe der hereditären sensiblen und autonomen Neuropathien (HSAN). Es handelt sich um eine seltene, autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung des autonomen Nervensystems, die fast ausschließlich bei Ashkenazi-Juden beobachtet wird. Durch den Gendefekt kommt es zu einer defizienten Ausreifung sensibler, sympathischer und teilweise parasympathischer Neurone und zu einem progredienten Zellverlust. Klinik Die autonomen Störungen sind in unterschiedlichem Ausmaß bereits bei der Geburt vorhanden. Typische Symptome sind vermindertes Schmerzempfinden, Wachstumsstörungen mit Kleinwuchs und Skoliosen, verringerte Tränenproduktion, corneale Analgesie, orthostatische Hypotension, hypertensive Krisen im Liegen, Fehlen der fungiformen Zungenpapillen (Fukutake et al. 1996), Dysphagie verbunden mit Aspirationen und vermehrten pulmonalen Infekten, lokale Hautrötungen, Hyperhidrosis, gastroösophagealer Reflux und verlängerte Magenpassage (McDougall und McLeod 1996, Mass et al. 1996). Das QTc-Intervall kann verlängert sein (Gefahr des plötzlichen Herztodes). Durch die orthostatische Hypotension können renale glomeruläre Ischämien auftreten, die dann eine Azotämie verursachen. Die Symptome können sehr variabel ausgeprägt sein. In der klinischen Untersuchung sind die Muskeleigenreflexe meist abgeschwächt oder nicht auslösbar. Nach kutaner Histamininjektion bleibt eine lokale Hautrötung aus. Die Adrenalin- und Noradrenalin-Werte sind normal, die Werte der Homovanillinmandelsäure aber gesteigert. Andere Ursachen der autonomen Symptome müssen ausgeschlossen werden. Eine genetische Testung und eine pränatale Diagnostik sind möglich (Oddoux et al. 1999, 1995). 1439 K 2