ZAHN-, MUND- UND KIEFERHEILKUNDE Abteilung Kieferorthopädie Direktor: Prof. Dr. med. dent. Rainer Schwestka-Polly Forschungsprofil Die Abteilung Kieferorthopädie betreibt zur Zeit vor allem interdisziplinäre klinische Forschung. Es ist das Ziel, in den kommenden Jahren in der Kieferorthopädie verstärkt Fragestellungen der Grundlagenforschung zu bearbeiten. Dazu gehört beispielsweise ein Projekt mit zell- und molekular-biologischen Untersuchungen nach Implantation von Tissue-Engineering-Konstrukten zum Knochenersatz im Sinne einer zellbasierten regenerativen Medizin (insbesondere bei Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten und Bewegung von Zähnen in den Spaltbereich) und ein Projekt zum Resorptionsverhalten von Zähnen (Einfluss von Zahntraumata auf Wurzelresorptionen während kieferorthopädischer Behandlung bei Ratten). Außerdem sollen Kräfte und Drehmomente mit Hilfe einer Kraftmessdose in vitro untersucht werden, die auf Zähne bei Anwendung einer neu entwickelten, lingual befestigten Apparatur wirken (Ein neues Bracketsystem für die Lingualtechnik). Diese Vorhaben sollen in Kooperation mit Kliniken und Instituten der Medizin erfolgen. Dabei wird insbesondere auf die Einwerbung von Drittmitteln Wert gelegt werden. Ausgewähltes Forschungsprojekt Prädisponierende Faktoren für ein Frontzahntrauma und Konsequenzen für die kieferorthopädische Therapie Das Frontzahntrauma ist die häufigste traumatische Läsion des Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereiches. In zahlreichen Studien konnten bei bis zu 50% der untersuchten Patienten Frontzahntraumata nachgewiesen werden. Besonders häufig ist das Frontzahntrauma bei Kindern und Jugendlichen, was auch seine herausragende Bedeutung für die Kieferorthopädie erklärt. Hinsichtlich der prädisponierenden Faktoren für ein Trauma gibt es bislang jedoch in der Literatur widersprüchliche Angaben. Einige Studien sehen eine mögliche Ursache in einer Verlängerung und verstärkten Vorwärtskippung der oberen Frontzähne mit vergrößerter sagittaler Frontzahnstufe. In anderen Untersuchungen konnte ein Zusammenhang zwischen den genannten Faktoren jedoch nicht gefunden werden. Da Patienten mit exponiert stehenden Frontzähnen in der Regel auch eine im Verhältnis zur Zahnstellung zu kurze Oberlippe aufweisen, wurde von uns der Einfluss einer ungenügenden Lippenbedeckung der Frontzähne als ein weiterer möglicher prädisponierender Faktor untersucht. Es wurden insgesamt über 1400 jugendliche Patienten auf ein vorhandenes Frontzahntrauma nachuntersucht. Dazu erfolgte eine anamnestische Befragung sowie eine klinische 504 MHH Forschungsbericht 2004 ZAHN-, MUND- UND KIEFERHEILKUNDE und radiologische Untersuchung der Patienten. 141 dieser Patienten hatten ein Frontzahntrauma erlitten, d.h. etwa 10% aller evaluierten Patienten. Um den Einfluss einer zusätzlichen inadäquaten Lippenbedeckung der Oberkieferfrontzähne zu untersuchen, wurden diese Patienten in insgesamt drei Untersuchungsgruppen eingeteilt. In der ersten Gruppe wurden alle Patienten mit Frontzahntrauma bei normalem Überbiss und adäquater Lippenbedeckung zusammengefasst. In der zweiten Gruppe befanden sich die Patienten mit Frontzahntrauma und vergrößertem Überbiss bei adäquater Lippenbedeckung. In der dritten Gruppe befanden sich alle Patienten mit Frontzahntrauma und vergrößertem Überbiss bei inadäquater Lippenbedeckung der Oberkieferfrontzähne. Von einem vergrößerten Überbiss wurde dabei ab einer sagittalen Frontzahnstufe von über 3mm gesprochen. Eine inadäquate Lippenbedeckung wurde angenommen, wenn mehr als die Hälfte der Oberkieferfrontzahnkronen nicht von der Oberlippe bedeckt wurden. Es zeigte sich, dass männliche Jugendliche signifikant häufiger ein Frontzahntrauma erlitten hatten als weibliche Jugendliche (p < 0,001). In 80% der Fälle waren die mittleren Schneidezähne betroffen. Die Traumata waren hauptsächlich zwischen dem 11. und 15. Lebensjahr aufgetreten. Im Hinblick auf die Bedeutung des Überbisses und der Lippenbedeckung zeigte sich, dass Patienten mit vergrößertem sagittalen Überbiss und inadäquater Lippenbedeckung der Frontzähne signifikant häufiger (p < 0,001) ein Frontzahntrauma erlitten hatten als Patienten mit normalem Überbiss und adäquater Lippenbedeckung oder Patienten mit vergrößertem Überbiss und adäquater Lippenbedeckung der Oberkieferfrontzähne. Aus den genannten Ergebnissen konnte gefolgert werden, dass eine inadäquate Lippenbedeckung der Frontzähne ein wichtiger prädisponierender Faktor für das Auftreten von Frontzahntraumata ist und dass eine kieferorthopädische Stellungskorrektur gefährdeter Zähne aus prophylaktischer Sicht vor dem 11. Lebensjahr unbedingt erfolgen sollte. Dies verdeutlicht den Nutzen und die Notwendigkeit einer kieferorthopädischen Frühbehandlung bei Patienten mit exponiert stehenden Oberkieferfrontzähnen. In der Regel liegen jedoch Frontzahntraumata zu Beginn der kieferorthopädischen Behandlung bereits vor. In einer weiteren eigenen Untersuchung an einem repräsentativen kieferorthopädischen Patientengut konnten wir zeigen, dass ca. 10% dieser Patienten ein Frontzahntrauma vor Behandlungsbeginn erlitten hatten. Zahlreiche Untersuchungen konnten nachweisen, dass eine kieferorthopädische Bewegung traumatisierter Zähne zu verstärkten Wurzelresorptionen führt. Dagegen gab es bislang noch keine Untersuchungen bezüglich des Einflusses einer kieferorthopädischen Bewegung auf die Vitalität traumatisierter Zähne. Wie eingangs bereits erwähnt wurde, weisen Patienten mit Frontzahntrauma neben einer inadäquaten Lippenbedeckung häufig einen vergrößerten Überbiss mit Verlängerung und verstärkter Vorwärtskippung der oberen Schneidezähne auf. In der Regel wird eine solche Zahnfehlstellung durch eine Zahnbewegung in den Knochen therapiert, was auch als Intrusion bezeichnet wird. Das Ziel einer weiteren Studie war es nun, den Einfluss einer solchen Intrusion auf die Vitalität traumatisierter Zähne zu untersuchen. Zusätzliche Untersuchungsparameter waren der Typ des erlittenen Traumas und der Intrusionszeitraum. MHH Forschungsbericht 2004 505 ZAHN-, MUND- UND KIEFERHEILKUNDE In diese Untersuchung wurden alle behandelten Patienten mit vergrößertem Überbiss und verlängerten Oberkieferfrontzähnen aufgenommen, welche durch eine Intrusion der Frontzähne therapiert worden waren. In Abhängigkeit von der Präsenz eines Frontzahntraumas wurden die Patienten in eine Trauma- und eine Kontrollgruppe eingeteilt. Die Traumagruppe bestand aus 171 Patienten mit 248 traumatisierten Oberkieferschneidezähnen. Die Traumata wurden entsprechend der Klassifikation von Andreasen in Kronen- und Parodontalverletzungen eingeteilt. Bei den Kronenverletzungen konnten Schmelz- und Schmelz-Dentin-Frakturen nachgewiesen werden. Die vorgefundenen Parodontalverletzungen bestanden aus unkomplizierten Zahnlockerungen sowie lateralen, extrusiven und intrusiven Zahnverlagerungen. Die Kontrollgruppe beinhaltete 200 Patienten mit 800 kieferorthopädisch intrudierten Oberkieferschneidezähnen ohne anamnestische, klinische und radiologische Hinweise auf ein zurückliegendes Frontzahntrauma. Alle untersuchten Zähne wiesen vor Behandlungsbeginn eine positive Reaktion auf Kältesprayreiz auf, was als positive Vitalität gewertet wurde. Abb. 1: Links: Z.n. intrusivem Frontzahntrauma mit kompletter Obliteration des Pulpenkavums als Traumafolge. Mitte: Intrusionsmechanik zur Stellungskorrektur exponiert stehender Frontzähne. Rechts: Radiologische Zeichen einer Pulpanekrose nach Beginn der kieferorthopädischen Intrusion. Die Ergebnisse zeigten, dass nach kieferorthopädischer Intrusion ein Vitalitätsverlust im Sinne einer Pulpanekrose bei nur 0,25% der Zähne in der Kontrollgruppe, aber bei fast 10% der Zähne in der Traumagruppe feststellbar war, wobei der Unterschied hochsignifikant war ( p < 0,001). Dabei lag die Nekroserate bei Verletzungen der Zahnkrone bei unter 2%, jedoch bei Verletzungen des Zahnhalteapparates bei annähernd 20%. Die höchste Nekroserate zeigte sich nach kieferorthopädischer Intrusion traumatisch intrudierter Zähne (Abb. 1). Es ließ sich aber kein signifikanter Zusammenhang zwischen Intrusionsdauer und Nekroserate feststellen. Es kann somit aus den Ergebnissen gefolgert werden, dass schwerwiegende Verletzungen des Zahnhalteapparates, hier insbesondere eine traumatische Intrusion, zu einer bleibenden Schädigung der Gefäßversorgung führen. Dies scheint eine Nekrose der traumatisierten Zähne während der kieferorthopädischen Intrusion, bei der es zu einer zusätzlichen Kompression der Gefäße kommt, zu begünstigen. Zusammenfassend verdeutlichen die präsentierten Untersuchungen die Notwendigkeit und den Nutzen eines frühzeitigen kieferorthopädischen Eingreifens bei Patienten mit exponiert stehenden Oberkieferschneidezähnen. Dabei sollte es zu einer Stellungskorrektur der 506 MHH Forschungsbericht 2004 ZAHN-, MUND- UND KIEFERHEILKUNDE Frontzähne vor Abschluss des 11. Lebensjahres kommen. Bei bereits vorhandenem Trauma sollte insbesondere bei ausgeprägten Verletzungen des Zahnhalteapparates eine vorsichtige kieferorthopädische Therapie mit sehr geringen Kräften angestrebt werden. Projektverantwortliche: O. Bauss, R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie), in Kooperation mit S. Kiliaridis (Abteilung Kieferorthopädie, Universität Genf); Förderung: Private Stifter Weitere Forschungsprojekte: Entwicklung und Anwendung eines individuellen Lingualsystems als festsitzende kieferorthopädische Apparatur. Projektverantwortliche:D. Wiechmann, R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie); Förderung: Private Stifter Die transpalatinale Distraktion bei Patienten mit und ohne Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Projektverantwortliche: O. Bauss, J.L. Berten, R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie), A. Schramm (Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie); Förderung: Wissenschaftsfond der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie Entwicklung einer computergesteuerten optischen Messapparatur zur räumlichen Aufzeichnung von Unterkieferbewegungen und zugehöriger Software zur Analyse nach biomechanischen Prinzipien. Projektverantwortliche: R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie, Medizinische Hochschule Hannover), D. Kubein-Meesenburg, H. Nägerl, K.M. Thieme (Abteilung Kieferorthopädie, Georg-August-Universität Göttingen); Förderung:Im Rahmen eines interuniversitären Projektes durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft Weiterentwicklung der Splinttechnologie im Rahmen der gelenkbezüglichen kieferorthopädischen Chirurgie unter Anwendung computerassistierter Operationsplanung und navigationsgestützter Operationsumsetzung. Projektverantwortliche: R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie), N.-C. Gellrich, A. Schramm (Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie) Enossale Verankerung bei kieferorthopädischen Behandlungen. Projektverantwortliche: O. Bauss, R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie), A. Schramm, N.-C. Gellrich (Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie) MHH Forschungsbericht 2004 507 ZAHN-, MUND- UND KIEFERHEILKUNDE 3D-Darstellung der wachstums- und entwicklungsbedingten Größen- und Formveränderungen des Oberkiefers bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Projektverantwortliche: J.L. Berten, R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie), G. Swennen, J.E. Hausamen (Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie) Klinische und kernspintomographische Kiefergelenkbefunde bei Patienten mit MarfanSyndrom. Projektverantwortliche: O. Bauss, R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie), in Zusammenarbeit mit R. Sadat-Khonsari (Abteilung Kieferorthopädie, Universität Göttingen), W. Engelke (Abteilung Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Klinikum Minden) und C. Fenske (Abteilung Prothetik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) Aufzeichnung und Analyse des Respirationsverhaltens und der Myofunktion / Zungenbewegung. Projektverantwortliche: R. Schwestka-Polly, G. Hoch, C. v. Kügelgen (Abteilung Kieferorthopädie) Entwicklung und klinische Anwendung der „Vario-Platten“. Projektverantwortliche: R. Schwestka-Polly, B. Seeberger, C. v. Kügelgen, S. Dommes (Abteilung Kieferorthopädie), O. Majdani, T. Lenarz (Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde) Entwicklung des „Unterkiefer-Protraktors“ zur Anwendung bei Patienten mit PierreRobin-Sequenz. Projektverantwortliche: B. Seeberger, J.L. Berten, R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie), B. Bohnhorst (Abteilung Pädiatrische Pneumologie und Neonatologie) Möglichkeiten der Einstellung retinierter Zähne. Projektverantwortliche: J.L. Berten, R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie), A. Schulze (Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie) Entwicklung, Anwendung und Evaluation eines Mundhygienekonzeptes im Rahmen einer präventionsorientierten Kieferorthopädie. Projektverantwortliche: A. Sachse, W. Steffen, T. Gertzen, K. Beberhold, R. SchwestkaPolly Computer- und web-unterstützte Lehre in der Kieferorthopädie. Projektverantwortliche: T. Asselmeyer, B. Lohrmann, R. Schwestka-Polly (Abteilung Kieferorthopädie), H. Matthies (Abteilung Medizinische Informatik), V. Fischer (Bereich Studium und Lehre) 508 MHH Forschungsbericht 2004 ZAHN-, MUND- UND KIEFERHEILKUNDE Originalpublikationen Asselmeyer T, Schwestka-Polly R . Computer- und web-unterstützte Lehre und Evaluation ihres Erfolges am Beispiel des Projektes „Okklusion und Kieferorthopädie“. Dtsch Zahnärztl Z 2004; 59:693-697. Fenske C, Sadat-Khonsari R, Seedorf H, Bauss O, Jüde HD. Zur Erfolgswahrscheinlichkeit von 289 Sedamos-Implantaten. Implantologie 2004; 12:165-174. 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Patente Schwestka-Polly R.: Verfahren zur Herstellung eines Operationssplints und Vorrichtung zur dreidimensionalen Einstellung eines Oberkiefermodells. Patentschrift DE 41 43 252 C2, München 1994; aufrechterhalten 2002. Schwestka-Polly R.: Articulator for cast surgery and method of use. United States Patent 5,281,135, Washington 1994; aufrechterhalten 2002. Weitere Tätigkeiten in der Forschung Schwestka-Polly R.: Gutachter für die Deutschen Forschungsgemeinschaft Wiechmann D, Thalheim A. Produccion digital de brackets para tratamiento lingual. Revista Espanola de Ortodoncia 2004; 34: 115-126. Bücher, Buchbeiträge, Lehrbücher: Krüger M, Tränkmann J. Terapia miofuncional segun el modelo de Hannover. In: Bigenzahn W. Disfunciones orofaciales en la infancia. Barcelona, Madrid, Buenos Aires, Mexico DF: Ars medica; 2004. Abstracts 2004 wurden 20 Abstracts publiziert. Promotionen Hünecke D.: Die Ankylose von Zähnen der zweiten Dentition – konsekutive Anomalien, histologische Befunde sowie Möglichkeiten der Prävention und Therapie. (Dr. med. dent.). 510 MHH Forschungsbericht 2004