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ZUSAMMENFASSUNG
Die vorliegende Arbeit geht den Fragen nach, wie glaubwürdig Berichte über verdrängte
und wiedererlangte Erinnerungen an Inzest und sexuellen Kindsmissbrauch sind bzw.
ob traumatische Erfahrungen überhaupt verdrängt bzw. vergessen werden. Es wird
aufgezeigt, dass diese Debatte sowie die Forschung allgemein in einem historischen,
politischen, juristischen und gesellschaftlichen Kontext stattfindet und von diesem
beeinflusst wird.
Widersprüchliche Argumente und Studien der incest-recovery Bewegung einerseits
sowie der false memory syndrome foundation andererseits werden dargestellt.
Besonderes Gewicht erhalten dabei die Arbeiten von Elisabeth Loftus, die zu zeigen
versuchen, dass a) Traumata nicht vergessen und schon gar nicht verdrängt würden
und b) die meisten zurückgekehrten Erinnerungen an Kindsmissbrauch nicht
authentisch seien.
Loftus' Position wird diskutiert, die Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse in Frage gestellt.
Die neuere Gehirnforschung scheint darauf hin zu deuten, dass Loftus' Experimente
möglicherweise den Prozessen des Traumagedächtnisses nicht gerecht werden.
Ein besseres (neuro-biologisches) Verständnis der Arbeitsweise des Gehirns allgemein
und des Traumagedächtnisses im speziellen sind Voraussetzung, um angemessene
experimentelle Designs zu entwerfen.
INHALTSVERZEICHNIS
Zusammenfassung
Inhaltsverzeichnis ........................................................................................................... 1
Einleitung......................................................................................................................... 2
1
Der Streit um die wiedergefundenen Erinnerungen in seinem Kontext ............. 6
1.1 Uneinigkeit bezüglich Auftretenshäufigkeit ............................................................ 7
1.2 Juristische Prozesse .............................................................................................. 8
1.3 Uneinigkeit bezüglich falscher Beschuldigungen ................................................... 9
1.4 Uneinigkeit bezüglich Schädlichkeit ..................................................................... 11
1.5 Kontroverse über das Gedächtnis........................................................................ 13
2
Gibt es "verdrängte" Missbrauchserinnerungen? Ergebnisse der Gedächtnisund Traumaforschung........................................................................................... 16
2.1 Vergessen versus nicht-vergessen ...................................................................... 16
2.1.1 Die Extrempositionen .................................................................................... 16
2.1.2 Wie üblich ist es, Traumata zu verdrängen / vergessen? ............................. 22
2.1.3 Kindheitsamnesie: Können Traumata aus der Zeit vor dem vierten
Lebensjahr später erinnert werden? ............................................................. 26
2.1.4 Wie wird das Vergessen von Traumata erklärt? ........................................... 28
2.1.5 Wie geht das Gedächtnis mit Traumata um?................................................ 30
2.2 Zusammenfassung der Debatte ums Vergessen ................................................. 34
3
Wie Glaubwürdig und genau sind die Erinnerungen? ....................................... 36
3.1 Zusammenfassung der False Memory Debatte ................................................... 39
4
Diskussion.............................................................................................................. 41
Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 43
1
EINLEITUNG
"Wenn jemand Sie fragt: <Sind sie als Kind sexuell missbraucht worden?> gibt es
nur zwei mögliche Antworten: Die eine lautet <Ja> und die andere <Ich weiss es
nicht>. Sie können nicht mit <Nein> antworten.
Roseanne Arnold in der Talkshow <Oprah>
(Loftus & Ketcham, 1995, S. 231)
Gibt es verdrängte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch?
Ich frage anders: Gibt es den "lieben Gott"? Oder ein Leben nach dem Tod?
Haben wir schon viele Leben hinter uns?
Etwas provokativ reihe ich diese Fragen aneinander. Eines haben sie gemeinsam: Sie
lassen sich nicht mit Bestimmtheit beantworten. Es sind Fragen der Erfahrung, des
Glaubens und des Dafürhaltens. Für keine der Fragen gibt es einen wissenschaftlichen
Beweis, der zu einer eindeutigen Antwort ausreichen würde.
Hat es dann einen Sinn, eine wissenschaftliche Arbeit über dieses Thema schreiben zu
wollen? Ist die Wissenschaft nicht das falsche Instrument, um Anworten auf solche
Fragen zu finden?
Ich meine: Ja und Nein.
Die Wissenschaft ist für solche Fragen ungeeignet, wenn sie zum Ziel hat, die absolute
Wahrheit zu finden. Tote können keine Fragebögen über ein allfälliges Leben nach dem
Tod ausfüllen, und was verdrängt ist, kann per se nicht direkt untersucht werden.
Ist die Forschung also unnütz?
2
Nein, das ist sie – wenn sie sich etwas Bescheidenheit bezüglich Wahrheitsfindung
auferlegt – nicht.
Die Fragen selbst können zwar nicht direkt erforscht werden, wohl aber ihr Umfeld. Es
ist der Wissenschaft möglich, den Gegenstand indirekt zu untersuchen und so vorläufige
Teil-Antworten zu finden.
Gibt es verdrängte Missbrauchserinnerungen? Die Meinungen sind kontrovers:
Traumatische Ereignisse werden immer erinnert.
Missbrauch vergisst man nie.
Traumatische Erfahrungen unterliegen dem Abwehrmechanismus der Verdrängung.
Missbrauch denkt sich niemand aus.
Was sollen wir halten von so unterschiedlichen Aussagen?
Was steckt denn dahinter, wenn sich Erwachsene plötzlich wieder erinnern, als Kind
Opfer sexueller Gewalt gewesen zu sein? Wenn sie nach Jahrzehnten ihre Eltern des
Missbrauchs beschuldigen?
Darüber ist ein erbitterter Streit sowohl unter WisssenschaftlerInnen als auch unter
TherapeutInnen, Angeklagten und angeblichen Opfern entbrannt.
In meiner Arbeit will ich folgenden Fragen nachgehen:
1. Was können TherapeutInnen über den historischen, juristischen und
gesellschaftlichen Kontext, in dem geforscht und debattiert wurde, wissen?
Was bedeutet das für ihre Arbeit?
2. Wie geht das Gedächtnis mit traumatischen Erfahrungen um?
Können traumatische Erlebnisse über Jahre vergessen (bzw. verdrängt) und später
wieder erinnert werden?
Dabei geht es mir nicht so sehr darum, die verschiedenen Konzepte des Vergessens
(wie Verdrängung, Amnesie, zustands-abhängiges Erinnern etc.) zu erläutern bzw.
die Frage nach dem Warum des allfälligen Vergessens von Traumata zu klären,
sondern um die Frage, ob und wenn ja, wie häufig sexuelle Übergriffe in der Kindheit
vergessen und später wieder erinnert werden.
Der Begriff "vergessen" soll dabei phänomenal als Oberbegriff für so
3
unterschiedliche Konstrukte des Vergessens wie Amnesie, Dissoziation oder
Verdrängung verstanden werden.
3. Entsprechen Berichte von wiedergefundenen Missbrauchserinnerungen den
Tatsachen oder sind sie falsche Erzeugnisse eines leicht zu beeinflussenden
Gedächtnisses?
Beim Versuch, diesen Fragen auf die Spur zu kommen, war ich bemüht, vorerst
möglichst unvoreingenommen Studien der verschiedenen Lager zusammenzutragen.
Ein besonderes Augenmerk werden dabei die Untersuchungen von Elisabeth Loftus und
ihren MitarbeiterInnen (u.a. Loftus, 1993) erhalten. Loftus ist wohl die führende
wissenschaftliche Expertin auf dem Gebiet der wiedererlangten Erinnerungen an
sexuellen Kindsmissbrauch. In unzähligen Gedächtnisexperimenten versucht sie zu
demonstrieren, wie unzuverlässig und beeinflussbar unser Gedächtnis ist. Sie zweifelt
stark an der Echtheit der wiedererlangten Erinnerungen. Vielmehr vermutet sie, dass
diese Erinnerungen Produkt therapeutischer Vorannahmen und Suggestionen sind. Vor
den amerikanischen Gerichten vertritt sie vehement die Seite der Angeklagten.
Mir ist es wichtig, die Komplexität des Themas aufzuzeigen und für ein offenes,
kritisches und mehr-dimensionales Denken zu plädieren. Daher räume ich der
Darstellung des Kontextes der "false memory Debatte" einen grossen Stellenwert ein.
Ziel meiner Arbeit ist es nicht, die komplexen Fragen ein für allemal zu beantworten,
sondern einen breiten Überblick zu geben über die gängigsten Forschungsergebnisse
und Standpunkte. Aus Platzgründen werde ich mich beim Darstellen der Studien nur auf
das Wesentliche beschränken. Wer sich für genauere Angaben interessiert, sei auf das
Literaturverzeichnis verwiesen.
Die Experimente sind z.T. äusserst kreativ, die Resultate provokativ, aber ebenso
kontrovers. Einige scheinen zu "beweisen", dass Missbrauchserfahrungen vergessen
oder verdrängt werden – aber andere "belegen" eben auch das pure Gegenteil.
4
Was eine falsche Anschuldigung für den Verdächtigten und dessen ganze Familie
bedeutet, habe ich mit grosser Betroffenheit während eines Praktikums erfahren. Eine
Falschbeschuldigung kann Image, Karriere und Gesundheit einer ganzen Familie
beschädigen. Nicht selten führt sie zu einem erzwungenen Wegzug und damit zu einer
sozialen und geographischen Entwurzelung.
Auf der andern Seite erfüllt mich das unermesslich Leid, das Inzest- und Gewaltopfern
zugefügt wurde, mit Entsetzen und Wut. Viele der Opfer leiden auf allen Ebenen ihres
Lebens: Ihr Körper reagiert mit Schmerzen, Erschöpfung und vielen weiteren Störungen.
Sie sind psychisch verwundet, leiden unter Beziehungsstörungen, mangelndem
Selbstwertgefühl und Depressivität. Ihr Vertrauen in sich selbst und die Welt ist massiv
gestört. Manche von ihnen kämpfen täglich ums Überleben. Auf Missbrauch steht
lebenslänglich – für die Opfer.
Wenn wir nach dem Studium der Forschungsresultate unsere bisherigen Standpunkte
vorsichtiger formulieren, mit dem Begriff der "Wahrheit" bedachter umgehen, wenn wir
die unangenehmen Gefühle, welche Zweifel, Mehrdeutigkeit und Komplexität auslösen,
zulassen können und der verlockenden Illusion von finaler Wahrheit widerstehen, so hat
meine Arbeit ein wichtiges Ziel erreicht.
5
1 DER STREIT UM DIE
WIEDERGEFUNDENEN ERINNERUNGEN
IN SEINEM KONTEXT
Stell Dir vor, eine Frau um die dreissig betritt zum ersten Mal Deine PsychotherapiePraxis, setzt sich und beginnt fast augenblicklich zu weinen.
Vor zwei Monaten hatte sie bei einer Entlassungswelle ihren Job verloren, das war das
Schlimmste, was ihr als Erwachsene je passiert war. Zwei Tage später begannen
komische Träume ihren Schlaf zu gefährden. In den Träumen ist sie jung. Ihr Vater tut
etwas Schreckliches.
Die Träume lassen sie trotz allen Anstrengungen nicht mehr los.
Während des Einschlafens werden Bilder wach und lebendig von ihr und ihrem Vater im
Bett. Nach 20 Jahren scheint sie sich an etwas zu erinnern: Ihr Vater begann, als sie
neun war, sich nachts zu ihr zu legen. Sie versucht, es sich auszureden, aber in ihrem
Innersten "weiss" sie, dass es stimmt. Lange Zeit empfand sie eigenartige Gefühle
gegenüber ihrem Vater. Sie hatte immer Angst gehabt, mit ihm alleine zu sein. Sie hatte
das Gefühl, er könne durch sie hindurch langen. So weit sie in ihrem Leben
zurückdenken kann, fühlte sie sich vage unglücklich und energielos.
In ihrem privaten Leben hatte sie bisher, abgesehen von ihrer Arbeit, wenig Erfolg. Aber
sie will nicht, dass dieses schreckliche Ding, das Inzest heisst, ihr geschehen ist. Wenn
es wirklich wahr sei, so meint sie, wisse sie nicht mehr, wie weiterleben.
Sie fragt Dich: "Ist das wirklich geschehen? Bin ich verrückt? Was soll ich tun? Können
Sie mir helfen? Glauben Sie mir?" (frei nach Pope & Brown, 1996, pp. 1f).
Vielen PsychotherapeutInnen ist dieses oder ein ähnliches Szenario vertraut.
Wie sollen sie reagieren? Werden sie ihren PatientInnen uneingeschränkt glauben, um
das Vertrauensverhältnis nicht zu gefährden? Was aber, wenn die Frau Anzeige
erstatten will? Oder sollen sie die Wahrnehmung und das Erinnerungsvermögen der
6
Berichtenden anzweifeln? Doch damit laufen sie Gefahr, dass ihre Patientin, wenn sie in
grösster Verzweiflung die Praxis aufsucht, sich suizidiert oder psychotisch wird.
Eine wichtige Voraussetzung für richtiges Reagieren ist Informiertheit. Es ist
unerlässlich, dass sich die Helfenden mit den unmittelbaren und längerfristigen
Auswirkungen von sexueller Gewalt auseinandergesetzt haben. Auch ist es hilfreich,
sich bezüglich Gedächtnis- und Traumaforschung auf dem Laufenden zu halten. Und
schliesslich sollten TherapeutInnen sensibilisiert sein für die kontextuellen Faktoren
sowie für ihre eigenen Einstellungen, welche ihr Denken und Handeln beeinflussen.
Judith Herman (1992, zit. nach Pope et al., 1996), Psychiaterin und Traumaforscherin,
schreibt, dass Traumaforschung immer auch einen politischen Aspekt enthält. Es gibt
zahlreiche Arbeiten, die untersucht haben, wie Gesellschaft, Kultur und Politik nicht nur
das wechselnde Verständnis von Wissenschaft, Diagnostik und Therapie beeinflussen
(z.B. Caplan, 1995, zit. nach Pope et al., 1996), sondern auch die spezifischen Themen
sexueller Missbrauch, Trauma und Gedächtnis (z.B. Armstrong, 1994, zit. nach Pope et
al., 1996; Loftus, 1995).
Im Folgenden will ich daher vorerst den Kontext skizzieren, in welchem die Debatte über
verdrängte Missbrauchserinnerungen stattfand und stattfindet.
1.1 UNEINIGKEIT
BEZÜGLICH
AUFTRETENSHÄUFIGKEIT
Früher wurden sexueller Kindsmissbrauch sowie Inzest völlig tabuisiert. Die ExpertInnen
waren sich einig, dass Kindsmissbrauch sehr selten vorkomme. Vor knapp 50 Jahren
berichtete zum Beispiel Weinberg (1955, zit. nach Pope et al., 1996), dass es in den
USA pro Jahr nur ein bis zwei Missbrauchte pro Million Einwohner gebe.
Auch noch 1975 wurde im professionellen Standardwerk Comprehensive Textbook of
Psychiatry eine Rate von nur 1.1 bis 1.9 Betroffene pro Million publiziert (Henderson,
1975, zit. nach Pope et al., 1996).
In den 90er Jahren regte sich Widerstand gegenüber dieser Tabuisierung. Die incestrecovery Bewegung brachte eine Flut von Berichten über wiedererwachte
7
Erinnerungen an sexuellen Kindsmissbrauch mit sich. Die Buchindustrie nutzte die
Gunst der Stunde und warf massenweise Therapie-Ratgeber und Selbsthilfebücher auf
den Markt.
In den Medien wurden täglich Statistiken über die Häufigkeit von Inzest und sexuellem
Missbrauch veröffentlicht. Je nach Definition reichten die Zahlen von 9% bis 50%
Betroffene (z.B. Wetzels, 1997; Bass & Davis, 1990; Pope et al., 1996). Bei vielen
LeserInnen lösten diese hohen Ratenangaben die Frage aus: <Wenn es so häufig
passiert, ist es auch mir geschehen?>
Menschen, die therapeutisch oder juristisch mit sexuellem Missbrauch zu tun haben,
müssen wissen, dass die extrem gegensätzlichen Ansichten über die Basisrate von
Missbrauch Einfluss haben auf ihre (impliziten) Erwartungen und damit auf ihre
therapeutische oder forensische Arbeit. Wer von sehr hohen Prozentzahlen ausgeht,
wird dem Bericht einer Patientin eher glauben als wer annimmt, Kindsmissbrauch finde
sehr selten statt.
1.2 JURISTISCHE PROZESSE
Die Inzest-recovery Bewegung brachte (besonders in den USA) eine Flut von
juristischen Prozessen mit sich.
Töchter verklagten ihre Väter oder andere Familienangehörige. Tausende von Familien
wurden dabei auseinandergerissen.
Unter den wissenschaftlichen ExpertInnen wurde heftig gestritten: Man schrieb sich
Drohbriefe, terrorisierte sich oder klagte sich gegenseitig an.
Aber auch TherapeutInnen liefen Gefahr, in Strafprozesse verwickelt zu werden. Sie
wurden von angeklagten Eltern beschuldigt, in ihren PatientInnen falsche Erinnerungen
wach gerufen zu haben.
Es ist interessant zu wissen, dass sich in den USA die Anwälte den angeblichen Opfern
gratis zur Verfügung stellen, jedoch im Fall des Prozesserfolgs einen gewissen
Prozentsatz der Schadenersatzsumme beanspruchen. Damit ist klar, dass es nicht nur
8
um die Wahrheit geht, sondern vor allem auch um viel Geld, um gewinnen oder
verlieren.
Und schliesslich hatten die Anklagen in vielen Ländern Gesetzesanpassungen
hinsichtlich Verjährungsfristen zur Folge. Denn falls Traumata der Kindheit "verdrängt"
werden und erst nach 10-30 Jahren wieder ans Licht treten, so wären Verjährungsfristen
von 5-10 Jahren zu kurz, um die TäterInnen vor Gericht zu bringen.
TherapeutInnen können den wachsenden juristischen Kontext als unangenehmen Druck
erleben. Die Angst, selbst in ein Gerichtsverfahren hineingezogen zu werden, mag dazu
führen, dass die Glaubwürdigkeit der PatientInnen vermehrt angezweifelt wird.
Auch auf die Forschung hatte der juristische Kontext grossen Einfluss. Für die Gerichte
ist einzig von Bedeutung, ob ein Missbrauchsbericht für wahr oder falsch gehalten bzw.
ob der Angeklagte für schuldig oder unschuldig gesprochen werden soll. Die bisherige
Forschung befasste sich daher fast ausschliesslich mit der äusseren Faktenwahrheit.
Für TherapeutInnen, die mit möglichen Opfern arbeiten, hat wohl die innere
Erlebniswahrheit eine grössere Bedeutung.
1.3 UNEINIGKEIT
BEZÜGLICH FALSCHER
BESCHULDIGUNGEN
So weit die Meinungen bezüglich Basisrate von Missbrauch auseinander gehen, so
kontrastreich sind die Überzeugungen, wie oft falsche Aussagen über sexuellen
Kindsmissbrauch vorkommen.
Wo auf der einen Seite des Spektrums den KlientInnen uneingeschränkter Glaube
geschenkt wird, behauptet die andere Seite, 9 von 10 Aussagen seien falsch (z.B.
Meacham, 1993, zit. nach Pope et al., 1996). Auch Loftus hält die Mehrzahl der
Angeklagten für unschuldige "...Opfer einer Manipulation am Gedächtnis der
angeblichen Opfer" (Schneider, R., 2001, S. 66).
1992 wurde aufgrund einer 'Epidemie' von angeblichen Falschanklagen in den
Vereinigten Staaten die False Memory Syndrom Foundation (FMSF) gegründet,
9
deren erklärtes Ziel es ist, Eltern zu helfen, die von ihren erwachsenen Kindern des
sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurden.
Nach eineinhalb Jahren hatte die Stiftung bereits mehr als 7500 Mitglieder!
ExpertInnen der FMSF glaub(t)en, dass die meisten KlientInnen die Behauptungen ihrer
TherapeutInnen bezüglich Missbrauch unkritisch übernehmen würden. Wenn die
PatientInnen dann den illusorischen Glauben entwickeln, missbraucht worden zu sein,
so leiden sie nach Meinung der FMSF-AnhängerInnen an einer durch Theapie
erzeugten psychischen Störung – dem False Memory Syndrome (FMS).
„Now we know that FMS is an iatrogenic desease created by therapy gone haywire. We
know that FMS has reached epidemic proportions“ (Goldstein & Farmer 1993. p. 9, zit.
nach Pope et al., 1996, p. 79).
Kihlstrom (1996, zit. nach Pope et al., 1996, pp. 71f) folgend gleicht das FMS einer
Persönlichkeitsstörung: In der Broschüre der FMS Foundation gibt er folgende
Definition:
...the False Memory Syndrome – a condition in wich a person’s identity and
interpersonal relationships are centered around a memory of traumatic
experience wich is objectively false but in wich the person strongly believes. (...).
The analogy to personal disorder is intentional. (...). The person may become so
focused on the memory that he or she may be effectively distracted from coping
with real problems in his or her life.
Ceci, Bronfenbrenner, Eckman und Shepard waren unter 17 ForscherInnen, welche ein
Statement herausgaben, in dem sie den Begriff False Memory Syndorme als „...a nonpsychological term originated by a private foundation whose stated purpose is to support
accused parents“ bezeichneten. Sie baten inständig: „for the sake of intellectual
honesty, let’s leave the term ‚false memory syndrome‘ to the popular press“ (Carstensen
et al., 1993, p. 23, zit. nach Pope et al., 1996, p. 72).
Beide Bewegungen, die incest-recovery Bewegung und die False Memory Syndrome
Foundation haben JuristInnen und TherapeutInnen stark beeinflusst. Beide
Bewegungen wollen sich als massgebende Informationsquelle für die Praxis sehen und
10
beide verlassen sich in ihren zentralen Aussagen auf ExpertInnen des
Gesundheitswesens und der Wissenschaft.
1.4 UNEINIGKEIT
1
BEZÜGLICH
SCHÄDLICHKEIT
Viele ExpertInnen vertreten die Ansicht, sexueller Kontakt eines Kindes mit
Erwachsenen sei per se unangenehm und schädlich (z.B. Beitchman, Zucker, Hood,
daCosta, & Ackman, 1991, zit. nach Pope et al., 1996).
Auch Ellen Bass, die sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, Frauen beim Aufdecken und
Verarbeiten von Missbrauchserfahrungen zu helfen, schreibt in ihrem berühmten
Selbsthilfebuch „Trotz allem“ (engl.: „The courage to heal“):
„Jeder sexuelle Missbrauch schädigt das Opfer, und das Trauma ist nicht zu Ende,
wenn der Missbrauch aufhört“ (Bass & Davis, 1990, S. 19).
Ganz anders (und für mich doch sehr fragwürdig und erschreckend) die Ansicht von
FMSF-Anhängern und anderen ForscherInnen (inklusive Elisabeth Loftus): Sie
diskutieren positive (!) Aspekte von sexuellen Kontakten zwischen Kindern und
Erwachsenen. Sie vermuten, dass die Erfahrung dem Kind entweder Vorteile verschaffe
oder angenehm sei. Traumatische Elemente werden verneint oder zumindest in Frage
gestellt:
„It is not clear that fondling or even fellatio ar experienced by infants and young children
as assaultive; they may at times be pleasurable or neutral, thus not carrying the psychic
trauma needed for repression“ (Ceci, Huffman, Smith & Loftus 1994, p. 403, zit. nach
Pope et al., 1996, p. 8).
Auch Gardner glaubt nicht, dass sexuelle Aktivitäten zwischen Kindern und
Erwachsenen notwendigerweise zu Traumata führen müssen:
„In short, there are many women who have had sexual encounters with ther fathers who
do not consider them to have affectet ther lives detrimentally“ (Gardner 1992, p. 670, zit.
nach Pope et al., 1996, p. 8f).
Die extremste Position vertritt Ralph Underwager, einer der FMSF-Mitbegründer. Er gab
in einem Interview mit „The London Times“ zu Protokoll: „...that <scientific evidence>
showed 60% of women sexually abused as children reported that the experience had
1
Einer Recherche von Pope et al. (1996, pp. 69f) folgend gehörten 1996 Persönlichkeiten wie Aaron Beck, David S. Holmes und
Elisabeth Loftus zu den FMSF-Members.
11
been good for them“ (Lightfoot, 1993, p. 2, zit. nach Pope et al., 1996, p. 8). Zu welch
erstaunlichen Resultaten doch <wissenschaftliche Beweise> gelangen können!
Bei allem Respekt, welchen sich Loftus und andere ForscherInnen im Umfeld der False
Memory Syndrome Foundation durch ihre Untersuchungen auf dem Gebiet des
Gedächtnisses verdient haben, scheint es mir doch nötig, beim Lesen der
nachfolgenden Ausführungen im Hinterkopf zu behalten, welche (beinahe zynischen)
Vorannahmen und Einstellungen sich in den Köpfen der Experimentierenden eingenistet
haben.
Empirische Übersichtsstudien zeichnen nämlich ein ganz anderes Bild: Sie kommen
recht einheitlich zum Schluss, dass in praktisch allen Fällen eine positive (wenn auch
nicht kausale) Beziehung bestehe zwischen einem weiten Spektrum
psychologischer, psychosomatischer und interpersonaler Schwierigkeiten und
sexuellem Missbrauch. Jede Person reagiere anders auf Traumata und nicht jede
entwickle eines oder alle Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die
grosse individuelle Variabilität widerspiegle das individuelle Erleben sowie die zur
Verfügung stehenden sozialen und interpersonalen Ressourcen. Die Absenz oder
Präsenz zuvor bestehender Psychopathologien, ein frühes Erstviktimisierungsalter, eine
hohe Gewaltkomponente, eine lange Missbrauchsdauer sowie kontinuierliche low-level
Traumata (wie z.B. Rassismus, Sexismus oder subtile psychische Gewalt) mögen
zudem die Vulnerabilität für schwere traumatische Stressreaktionen erhöhen (z.B. Root,
1992; Beitchman, Zucker, Hood, daCosta & Ackman, 1991, zit. nach Pope et al., 1996).
In einer älteren, aber interessanten Studie verglichen T SAI , F ELDMAN - S UMMERS
E DGAR (1979,
ZIT . NACH
P OPE
ET AL .,
UND
1996) Frauen, die angaben, keine negativen
Auswirkungen des (bekannten) Missbrauchs zu haben einerseits mit Frauen, die sich
geschädigt fühlten und andererseits mit Frauen ohne Missbrauchserfahrung. Dabei ging
es um die Frage, ob sexueller Missbrauch auch dann Spuren hinterlasse, wenn die
Opfer negative Effekte verneinen.
Die Ergebnisse zeigten, dass die Frauen der Gruppe ohne subjektive negative Effekte
zwar durchschnittlich gesünder waren als diejenigen mit wahrgenommenem Schaden,
12
aber höhere Psychopathologie-Werte aufwiesen als die Vergleichsgruppe ohne
Missbrauchserfahrungen.
Anhänger des Verdrängungskonzepts würden wohl dieses Ergebnis als Beweis ihrer
Theorie ansehen. Sie glauben ja, dass das Gehirn die Fähigkeit hat, traumatische
Erlebnisse wie z.B. sexuellen Missbrauch abzuspeichern, ohne dass sie ins
Bewusstsein gelangen. Diese verdrängten Erinnerungen seien zwar nicht zugänglich,
würden aber das Gefühlsleben beeinflussen und psychische Störungen auslösen, die
überwunden werden könnten, wenn die Erinnerung bewusst verarbeitet würde. Andere
ForscherInnen interpretieren diese Resultate völlig anders.
Und damit sind wir bereits mitten in der vielleicht grössten Kontroverse, jener nämlich
über das Gedächtnis.
1.5 KONTROVERSE
ÜBER DAS
GEDÄCHTNIS
Wie soll man sich das Gedächtnis, welches ja Ursprung unseres Erinnerns ist,
vorstellen? Wie „wahr“ oder „falsch“ sind unsere Erinnerungen? Wo und wie werden
Ereignisse verarbeitet und gespeichert? Und wie steht es mit dem Gedächtnis für
Traumata? Erinnert man sich an traumatische Erfahrungen besonders schlecht (siehe
Verdrängung) oder eben gerade besonders gut (siehe flashbulp memories, Kp. 2.1.5)?
Unterliegen alle Gedächtnisarten den selben Gesetzmässigkeiten, wie das u.a. Loftus
(1993) sowie Ornstein, Ceci und Loftus (1996, zit. nach Pope et al., 1996) glauben, oder
ist das Traumagedächtnis biologisch und kognitiv ein völlig oder teilweise anderes
Phänomen (Brown, 1995a+b; van der Kolk & Fisler, 1994, zit. nach Pope et al., 1996)?
Die sich gegenseitig konkurrenzierenden Gedächtnismodelle bilden einen weiteren
Aspekt des Kontextes, in welchem TherapeutInnen und ForensikerInnen ihre Arbeit
leisten.
Wir müssen uns im Klaren sein, dass jede implizite Annahme bzw. jedes
Gedächtnismodell mitbestimmt, was (und was nicht) bzw. wie von ForscherInnen
untersucht wird bzw. wie ein Therapiegespräch geführt wird.
Wer beispielsweise nur von expliziten Erinnerungen ausgeht, wird im Experiment nicht
nach impliziten Gedächtnisinhalten suchen. Und eine Therapeutin, die ausschliesst,
13
dass traumatische Erfahrungen verdrängt werden können, hat keinen Grund, Techniken
zu verwenden, mit denen unbewusste Inhalte möglicherweise ans Licht gefördert
werden könnten.
Bevor wir uns näher mit den Forschungsergebnissen zum Traumagedächtnis befassen,
will ich noch einmal auf unsere Fallgeschichte zurückkommen:
Wie also sollen TherapeutInnen in Anbetracht dieses Kontextes auf die Frage der Frau
reagieren – „Ist das wirklich geschehen? Bin ich verrückt? Was soll ich tun“ ?
Wie bei einem projektiven Test das gleiche Reizmaterial je nach unbewussten Motiven
verschieden gedeutet wird, so laufen auch TherapeutInnen, ForscherInnen und
JuristInnen, ja wir alle Gefahr, ihre/unsere Vorannahmen und Überzeugungen über
diesen einen Bericht der Frau zu stülpen. Die nachfolgenden fiktiven Stellungnahmen
verdeutlichen, zu welch kontroversen Meinungen das führen kann.
-
Die Frau ist eindeutig ein Inzestopfer. Warum sollte jemand eine Geschichte über
etwas so Schreckliches erfinden!? Wir müssen Aussagen über Inzest immer
Glauben schenken; ansonsten kommt es zu einer Reviktimisierung der Opfer.
-
Sie ist ganz klar kein Inzestopfer. Das Gedächtnis verbirgt nicht wichtige
Lebensereignisse, um sie dann plötzlich wieder frei zu geben. Wäre der Frau wirklich
so etwas Schreckliches zugestossen, so hätte sie sich immer daran erinnern können.
-
Wo Rauch ist, da ist auch Feuer! Es ist unsere therapeutische Aufgabe, durch
aufdeckende Verfahren wie Hypnose, freie Assoziation oder Phantasiereisen die
verdrängten Erinnerungen wieder bewusst werden zu lassen, damit sie verarbeitet
werden können.
-
Die Frau zeigt ein deutliches psychiatrisches Syndrom: Sie leidet am „false-memory
syndrome“.
-
Bevor wir mit der Therapie in irgendeiner Weise fortfahren dürfen, ist es unsere
Sorgfaltspflicht als TherapeutInnen, alle erdenklichen Quellen (Beschuldigter,
Familie, Schule, Freunde, Arzt- und Klinikberichte etc.) zu konsultieren, um den
14
Wahrheitsgehalt der Aussagen zu überprüfen.
-
In einem solchen Fall haben TherapeutInnen die Pflicht, dem lokalen
Kinderschutzbeauftragten einen Verdachtsbericht zu übermitteln.
-
Alle Berichte über Vergewaltigungen und Kindsmissbrauch sind erfunden – sie
widerspiegeln die Wunschfantasien unglücklicher Frauen.
Wie die obigen Beispiele zeigen, lastet auf TherapeutInnen, die mit Inzest und
Missbrauch in Kontakt kommen, ein enormer Druck. Die Anzahl möglicher Antworten
verdeutlicht, dass praktisch jede Herangehensweise von einigen KollegInnen für falsch
gehalten wird. Ein Fehlschritt in irgendeine Richtung kann aber gravierende
Konsequenzen haben.
Wer an die Echtheit von Berichten über „verdrängte“ Erinnerungen an Kindsmissbrauch
glaubt, muss sich u.U. den Vorwurf der Hexenjagd gefallen lassen. Jenen, welche nicht
daran glauben, wird möglicherweise vorgeworfen, Pädophilie zu unterstützen oder gar
selber pädophil zu sein.
Frauen, welche die Berichte anderer Frauen anzweifeln, werden als Verräterinnen
beschimpft und jenen, die den Frauen glauben, wird nachgesagt, sie seien feministische
Männer-Verachterinnen, die sich am männlichen Geschlecht rächen wollten.
Es gibt kein Patentrezept für den Umgang mit auftauchenden Erinnerungen an
Missbrauch und Inzest. Aber das Kennen des Kontextes und der Forschungsdaten
sowie das bewusste Wahrnehmen eigener Vorlieben oder Abneigungen sind hilfreiche
Strategien im Umgang mit dem hohen Druck dieser öffentlichen Debatte.
Wenden wir uns jetzt also einigen wichtigen Forschungsresultaten zu.
15
2
GIBT ES "VERDRÄNGTE" MISSBRAUCHSERINNERUNGEN?
ERGEBNISSE DER GEDÄCHTNIS- UND
TRAUMAFORSCHUNG
Dieses Kapitel enthält eine Zusammenstellung von Theorien, Modellen und Studien zu
den zentralen Fragen dieser Arbeit: Werden traumatische Erfahrungen verdrängt /
vergessen und allenfalls später wieder erinnert? Falls ja: Wie üblich / unüblich ist
das?
2.1 VERGESSEN
VERSUS NICHT-VERGESSEN
Kann man sich als ErwachseneR besonders gut oder besonders schlecht an
traumatische Ereignisse aus der Kindheit erinnern? Ist es üblich, dass schreckliche
Kindheitserlebnisse vergessen / verdrängt werden oder geschieht dies höchst selten?
Die inzest-recovery-Bewegung auf der einen und die False Memory Syndrome
Foundation auf der anderen Seite vertreten die beiden äusseren Pole von möglichen
Positionen dieser hoch emotionsgeladenen Debatte. Selten war ein
psychotherapeutisches Thema Brennpunkt einer solch hitzig und zuweilen auch giftig
geführten Auseinandersetzung, bei der sich sowohl die populären Medien wie auch die
professionelle Literatur beteiligten.
2.1.1
DIE EXTREMPOSITIONEN
Ich hab's bisher nicht gewusst, ich hab' bisher überhaupt nichts gewusst... Aber
dann – dann sitzt sie da und leugnet und leugnet, und ich fühl', wie es sonderbar
kalt meinen Rücken raufsteigt und meine Kopfhaut sich zusammenzieht, und ich
16
fühl' um meinen Hals eine Klammer und kann nicht mehr atmen; und dann –
ekstatisch – hör' ich eine Stimme, die schreit, und es war meine Stimme – und mit
eins fiel mir alles ein, was sie mir angetan hat!
Arthur Miller: Hexenjagd
(Loftus & Ketcham, 1995, S. 23)
Wie schon weiter oben erwähnt, gingen in den 80er Jahren v.a. die Inzest-recoveryBewegung, die Selbsthilfeliteratur sowie ein Teil von PsychotherapeutInnen von sehr
hohen Missbrauchsraten aus (bis 50%!). Daher erstaunt es auch nicht, dass u.a. von
dieser Seite her die Meinung vertreten wurde / wird, traumatische Erfahrungen würden
üblicherweise verdrängt bzw. vergessen und könnten z.T. erst viele Jahre später wieder
auftauchen.
Lassen wir vorerst einige von ihnen zu Wort kommen:
• B ASS
UND
D AVIS (1990)
Die Autorinnen des Bestsellers „Trotz allem“, fordern ihre Leserinnen (u.a. durch
Schreibübungen) auf, aktiv Missbrauchserinnerungen zu suchen und zu glauben, dass
„es“ passiert ist, egal ob Erinnerungen vorhanden sind oder nicht.
„Sei bereit, das Unglaubliche zu glauben!“ (Bass & Davis, 1990, S. 322).
"Wenn du dich nicht an solche konkreten Geschehnisse erinnern kannst, und
trotzdem das Gefühl hast, missbraucht worden zu sein, stimmt es vermutlich" (Bass
& Davis 1990, S. 20).
Zu vergessen ist eine der häufigsten und wirkungsvollsten Methoden, mit denen
Kinder auf sexuellen Missbrauch reagieren. Die Psyche besitzt ungeheure
Verdrängungskraft. Viele Kinder können den Missbrauch vergessen, sogar während
er geschieht. Die Fähigkeit zu vergessen erklärt, wieso so vielen erwachsenen
Überlebenden gar nicht klar ist, dass sie missbraucht worden sind (Bass & Davis
1990, S. 36).
17
Kinder reagieren auf ihren Missbrauch oft, indem sie ihn vergessen. (...). Aber an
manche Dinge erinnerst du dich. Wenn du auf eine bestimmte Art angefasst wirst,
wird dir schlecht. Bestimmte Worte oder ein bestimmter Gesichtsausdruck machen
dir Angst. (...). Wissen um Missbrauch beginnt oft mit einem winzigen Gefühl, einer
Intuition oder vagen Ahnung. (...) Dem Verdacht folgt die Bestätigung. Wenn du
glaubst, du seist missbraucht worden, und dein Leben zeigt entsprechende
Symptome, dann stimmt es auch (Bass & Davis 1990, S. 21).
• T HERAPEUT I NNEN
GEBEN DIE SELBE N
A UTORINNEN
FOLGENDE
R ATSCHLÄGE :
Glaub der Überlebenden. Du musst daran glauben, dass deine Klientin sexuell
missbraucht worden ist, auch wenn sie selbst manchmal daran zweifelt. Zweifel ist
Teil der Auseinandersetzung mit dem Missbrauch.
Wenn eine Klientin nicht sicher ist, aber es für möglich hält, dass sie missbraucht
wurde, geh in deiner Arbeit mit ihr davon aus, dass es stimmt.(...). [Denn:]
Missbrauch denkt sich niemand aus (Bass & Davis, 1990, S. 324).
Wenn deine Klientin sagt, sie sei nicht missbraucht worden, und du hast trotzdem
den Verdacht, frag später noch einmal. Kinder unterdrücken die Erinnerung an
sexuellen Missbrauch oft, und vielleicht rufen deine Fragen diese Erinnerungen
wach, entweder sofort oder später. <Nein, bin ich nicht>, kann heissen <Nein, ich
erinnere mich noch nicht daran> (Bass & Davis, 1990, S. 328).
"Verschwende keine Zeit damit zu versuchen, den Täter zu verstehen" (Bass &
Davis, 1990, S. 325).
Wer so provokative und z.T. undifferenzierte Aussagen macht, muss mit Widerspruch
rechnen. Es ist augenfällig, dass Loftus und Bass / Davis das Heu nicht auf der selben
Bühne haben. Trotz ernstgemeinten Bemühungen fanden sie in ihren Streitgesprächen
wenig gemeinsame Nenner. Doch sie haben eines gemein: In ihrer beider Herzen
brennt der feurige Eifer, gegen Ungerechtigkeiten zu protestieren.
18
• B ETROFFENE
BERICHTEN :
Ich merkte, mein Mann wollte gern mit mir schlafen. Plötzlich ging mir diese
Rückblende wie ein Blitz durch den Kopf. Am ehesten kann ich es beschreiben wie
ein Dia, das bei einem Dia-Vortrag zu schnell wechselt, aber langsam genug, dass
du einen Teil des Bildes erkennst. Jemand zwängte irgendwelche Finger in meine
Vagina.
Es war sehr eindrücklich, und so viele meiner Gefühle waren wieder da, dass ich
wusste, ich stelle mir nicht bloss etwas vor. (...). Sogar die Schmerzen waren wieder
da (Bass & Davis, 1990, S. 64f).
Irgend etwas geschah mit mir. Ich konnte es fühlen: Ein kleines bisschen Wahrheit
stieg wie eine Luftblase von tief in mir auf, Wissen aus einem namenlosen Kern,
Wissen, das Jahre voller Nebel durchdringt und sich nicht verleugnen lässt. (...). Ich
verstand die Worte erst, als sie aus mir herausströmten. Ich wusste, ich würde
etwas sagen, aber ich wusste nicht, was.
'Ich bin vergewaltigt worden', sagte ich endlich; mit der winzigen Stimme eines
Kindes gelangen mir schliesslich diese vier Worte. Als ich hörte, wie sie die Stille
des sonnigen Morgens durchschnitten, wusste ich, dass sie wahr waren (Bass &
Davis, 1990, S. 69).
„Ich wurde nicht belästigt als Kind.
Ich hatte Angst, als ich drei war, ein Mann würde mitten in der Nacht in mein Zimmer
kommen und mich HOLEN.
Wie kam ich darauf?“ (Bass und Davis, 1990, S. 93).
„Als ich ein Kind war, sagte ich immer:
'Fass mich nicht an, ich bin lebendig'
Wie kam ich zu diesem Spruch?“ (Bass und Davis, 1990, S. 94).
Das Durchblättern und Querlesen von Selbsthilfebüchern, das Nachspüren der
Fallberichte der „Überlebenden“ lässt wohl die meisten von uns nicht kalt. Zu tragisch
19
scheinen die Schicksale, zu grausam die Taten, zu überwältigend die Konsequenzen.
Spontan möchte man den Betroffenen glauben.
• G EGENPOSITION :
Doch auch die Gegner der Verdrängungs- bzw. Vergessenstheorie, allen voran
Elisabeth Loftus und Mitglieder der False Memory Syndrome Foundation, liefern starke
Argumente – v.a. in Form von wissenschaftlichen „Beweisen“, welche wir uns im
nächsten Kapitel genauer anschauen werden.
Der Grundtenor der FMSF-BeirätInnen tönt folgendermassen: "People who undergo
severe trauma remember it" (Wakefield & Underwager, 1994, p. 182, zit. nach Pope et
al., 1996, p. 73).
Oder: "Traumatic experiences are memorable" (Pope & Hudson, 1995, p. 715, zit. nach
Pope et al., 1996, p. 73).
Beirat Gardner (1993, p.374 zit. nach Pope et al., 1996) behauptete, erfahrenere, ältere
Psychiater würden nicht glauben, dass kindliche Erinnerungen an Missbrauch für
irgendeinen Zeitraum verdrängt werden könnten. Es gebe eine Vielzahl von Beweisen,
dass total falsche Erinnerungen im Hirn suggestiver Patientinnen leicht zu erzeugen
seien. (Indirekt disqualifiziert er damit alle Psychiater, die nicht seiner Meinung sind...).
Feldman-Summers & Pope (1994, zit. nach Pope et al., 1996) glauben, dass genügend
traumatische Erfahrungen dem Bewusstsein immer zugänglich sind, nie so
verschiedenen Konstrukten des Vergessens wie Amnesie, Dissoziation oder
Verdrängung unterliegen und daher auch nie wieder-entdeckt werden können.
Auch Loftus und ihre MitarbeiterInnen (Loftus, 1993; Loftus & Ketcham, 1995) zweifeln
an der Echtheit dieser Erinnerungen. Sie vermuten, deren Quelle liege nicht in der
Vergangenheit, sondern in den vier Wänden des Therapiezimmers. Sie sind überzeugt,
dass 9 von 10 Erinnerungen falsch sind. Wenn Leiden da sei, so sei auch die Frage
nach dem 'Warum?' nicht weit entfernt. Eine Missbrauchsfantasie zu erzeugen mit ihrer
relativ klaren Schnittstelle zwischen Gut und Böse möge die benötigte logische
Erklärung für ungelöste Probleme und verwirrende Gefühle darstellen.
So klagt Loftus (1993) auch die Buchindustrie an, die suggeriere, dass verdrängte
Erinnerungen unzweifelhaft dem eigenen Problem zugrunde lägen, bzw. dass das
20
Aufdecken von verdrängten Erinnerungen einem zu mehr Glück verhelfen würde. Diese
Bücher, so befürchtet Loftus, würden die Suche durch das Gedächtnis lenken und so
zum Kreieren falscher Erinnerungen führen. "Nontheless", schreibt Loftus (1993, p. 525)
zu Recht, "readers without any abuse memories of their own cannot escape the
message that there is a strong likelihood that abuse occurred even in the absence of
such memories".
Nicht gut zu sprechen sind die Leute um Loftus herum auch auf TherapeutInnen, welche
aufdeckende Verfahren wie Hypnose, Regression, Tagträume oder freie Assoziation
verwenden, um an verschüttete Erinnerungen heranzukommen.
Loftus (1993, p. 529) fragt bissig, ob der Therapeut / die Therapeutin wohl 30 Sitzungen
brauche, um (wahre) Erinnerungen an Missbrauch aufzudecken oder 30 Sitzungen, um
durch Visualisierung und Verbalisierung falsche Erinnerungen zu erzeugen.
Sie berichtet von einer Frau, die wegen Depression und Angst eine Therapie aufnahm.
Nach wenigen Monaten vermutet der Therapeut, der Grund ihrer Störung könne in
einem kindlichen Missbrauchstrauma liegen:
Since that time,[so schreibt die Patientin], he [der Therapeut] has become more
and more certain of his diagnosis. ... I have no direct memories of this abuse. ...
The question I can't get past is how something so terrible could have happened to
me without me remembering anything. For the past two years I have done little
else but try to remember. I've tried self-hypnosis and light trance work with my
therapist. And I even travelled to childhood homes. ...in attempt to trigger
memories (Loftus, 1993, p. 528).
Loftus ist sicher, dass die Therapien viele unschuldige Familien ins Unglück gerissen
haben. Ihre Gegner ihrerseits sind überzeugt, dass wegen Loftus unzählige Täter
ungestraft davonkommen.
"Wenn beide ein bisschen recht haben, wird aus dem wissenschaftlichen Problem ein
rechtliches und aus dem rechtlichen ein moralisches", schreibt R. Schneider im Folio der
Neuen Zürcher Zeitung NZZ (2001, S. 70). "Wieviel Zweifel war gemeint, als vor über
2000 Jahren der Satz <Im Zweifel für den Angeklagten> geprägt wurde?
Loftus hat ihre Entscheidung getroffen: <Besser zehn Schuldige freisprechen als einen
Unschuldigen einsperren>. Alles eine Frage der Perspektive", meint Schneider.
21
Loftus's Position ist legitim. Man könnte ihr aber entgegen halten, dass ein Kind, das
missbraucht wird, noch keinerlei Möglichkeiten hat, sich dagegen zu wehren, wogegen
zu unrecht beschuldigte Täter als Erwachsene die Fähigkeit besitzen, sich für ihr Recht
einzusetzen oder sich die nötigen Hilfen zu organisieren.
2.1.2
W I E Ü B L I C H
IST ES,
TRAUMATA
ZU VERDRÄNGEN
/
VERGESSEN?
Befürworter und Gegner sind sich einig, dass sexueller Kindsmissbrauch ein
gewichtiges soziales Problem darstellt. Gestritten wird aber darüber, mit welcher
Wahrscheinlichkeit Traumata vergessen werden. Loftus stellt nicht in Abrede, dass es
vereinzelt Fälle von verlorenen und wiedergefundenen Erinnerungen geben kann, aber
sie kämpft gegen Aussagen wie "most incest survivors have limited recall about their
abuse" oder "half of all incest survivors do not remember that the abuse occured"
(Blume, 1990, p. 81, zit. nach Loftus, 1993, p. 521).
Verschiedenste WissenschaftlerInnen gingen in ihren Studien der Frage nach, wie
üblich es ist, Traumata zu verdrängen / vergessen.
Wie nicht anders zu erwarten war, kamen sie dabei zu ganz unterschiedlichen
Ergebnissen:
• B RIERE
UND
C ONTE :
In einer Studie liessen Briere und Conte (1993, zit. nach Loftus, 1993, S. 521)
TherapeutInnen ihre 450 erwachsenen PatientInnen (93% weiblich), die von
Missbrauchserfahrungen in ihrer Vergangenheit berichtet hatten, fragen: "During the
period of time between when the first forced sexual experience happened and your 18th
birthday was there ever a time when you could not remember the forced sexual
experience?".
Von den 450 angeblich missbrauchten Frauen konnten sich 59% nicht durchgängig an
den Missbrauch erinnern.
Ja-Antworten waren besonders häufig bei Missbrauch mit Gewaltanwendung, bei
22
frühem Beginn, langem Missbrauch und bei grösserer jetziger Symptomatologie.
Briere und Conte folgerten, dass es üblich sei, sexuellen Kindsmissbrauch zu
verdrängen.
Viele andere AutorInnen übernahmen diese Zahlen als Beweis für die Häufigkeit von
Verdrängung.
• R EPLIKATION
VON
L OFTUS :
Doch Loftus (1993) kritisierte die Interpretation der Ergebnisse. Sie argumentierte, dass
Ja-Antworten verschiedenste Bedeutungen haben könnten. "A yes response to the
question could be interpreted in a variety of ways other than <I repressed my memory
for abuse>" (Loftus, 1993, p. 521). Zum Beispiel könne es auch heissen: <Es gab
Zeiten, da konnte ich mich nicht erinnern, ohne mich scheusslich zu fühlen>. Oder: <Es
gab Zeiten, da konnte ich mich nicht dazu bringen, mich daran zu erinnern, denn ich
wollte einfach nicht daran denken>. Aus diesen Gründen sei eine Studie mit präziserer
Fragestellung nötig.
Loftus befürchtet auch, die TherapeutInnen, welche davon ausgehen, dass Verdrängung
ein üblicher Prozess sei, hätten diese Annahme (unbewusst) ihren PatientInnen
kommuniziert, was zu einer Zunahme an Ja-Antworten geführt hätte.
Zudem lasse ein gescheitertes Erinnern noch nicht den Schluss auf Verdrängung zu.
Für das Nicht-Erinnern gebe es viel einfachere Erklärungen als ein so diffuses Konstrukt
wie "Verdrängung". Schliesslich hätten Studien gezeigt, dass sich Menschen (ca. 1425% der Befragten) häufig nicht einmal nach einem Jahr an einschneidende
Lebensereignisse (z.B. Autounfall, Spitalaufenthalt) erinnern könnten (Loftus, 1982, zit.
nach Loftus, 1993).
Hier zeigt sich meiner Meinung nach ein Widerspruch: Loftus kämpft zwar primär gegen
das Konstrukt der "Verdrängung". Sie behauptet aber auch, Missbrauch würde (fast) nie
vergessen. Wie kann sie da so sicher sein, wenn sie doch "belegte", dass sogar
einschneidende Erlebnisse nach einem Jahr nicht erinnert wurden?! Oft benötigen wir ja
nur sehr kleine Gedächtnishilfen, ein Geruch, ein Stichwort, um die Erinnerung an ein
Ereignis, an einen Verkehrsunfall, einen Krankenhausaufenthalt oder eben einen
Missbrauch wieder wach werden zu lassen. Und genau von solchen situativ (durch
Gerüche, Muster, Beziehungen etc) angeregten, unerwartet aufleuchtenden
Erinnerungen berichten ja viele Opfer sexueller Gewalt.
23
In Loftus' eigenen Studie (Loftus, Polonsky & Fullilove, 1993, zit. nach Loftus, 1993)
untersuchte sie 100 arme Afro-Amerikanerinnen und Spanierinnen, welche in der ersten
Woche ihres Drogen und / oder Alkoholentzuges waren und fragte sie, ob sie je als Kind
ein Trauma erlebt hätten, welches sie einst vergessen hatten, jetzt aber wieder erinnern
würden.
Mehr als die Hälfte dieser Frauen berichtete von Erinnerungen an sexuellen Missbrauch.
Die grosse Mehrheit von ihnen gab an, sich während ihres gesamten Lebens an ihren
Missbrauch erinnert zu haben. Nur 18% behaupteten, sie hätten das Trauma
zwischenzeitlich vergessen und später die Erinnerung daran zurückgewonnen.
Loftus ist sich bewusst, dass sie möglicherweise nicht alle missbrauchten Frauen dieser
Stichprobe erfassen konnte, da sich vielleicht manche Betroffene noch gar nicht an den
Missbrauch erinnern konnten oder ihn verleugneten. Trotzdem glaubt sie, dass man
traumatische Erfahrungen meist nicht vergisst und schon gar nicht verdrängt. Ganz im
Gegenteil: Man erinnere sich nur zu gut daran!
Warum sonst, so fragt Loftus, sollten Kinder die Mörder ihrer Eltern anzeigen können,
wenn Verdrängung ein üblicher Abwehrmechanismus wäre?! Loftus fügt eine Studie von
Malmquist (1986, zit. nach Loftus, 1993) an, in der kein einziges Kind, das im Alter von 5
bis 10 Jahren zusehen musste, wie ein Elternteil oder beide ermordet wurde(n), dies
verdrängt hatte. Im Gegenteil: Diese Kinder wurden laufend überflutet von heftigsten
seelischen Schmerzen, sie waren gedanklich vom Trauma absorbiert.
Diese beiden zentralen Studien (Briere & Conte, 1993, versus Loftus, Polonsky &
Fullilove, 1994) zur Frage, wie häufig Traumata verdrängt werden, lösen in mir die Frage
aus, ob nicht jedeR die Zahlen erhalten hat, die er / sie gesucht hat – ganz im Sinne des
"confirmatory bias" (Baron, Beattie, & Hershey, 1988, zit. nach Loftus, 1993) bzw. der
self-fullfilling prophecy ("How does "reality" get constructed?", Snyder, 1984, zit. nach
Loftus, 1993). Der Verzerrungseffekt des confirmatory bias zeigt ja, dass Menschen
generell die Tendenz haben, Informationen zu suchen, die ihren Vorannahmen
entsprechen und auf die Suche nach widersprechenden Belegen zu verzichten.
(Vor dieser Tendenz bin natürlich auch ich beim Lesen und Schreiben nicht gefeit).
24
• K RIEGSVETERANEN
Herman (1992, zit. nach Pope et al., 1996) sowie Lindsay und Read (1994 zit. nach
Pope et al., 1996) äussern grosse Zweifel daran, dass man Traumata vergisst und
später wieder erinnert. Denn kaum ein Vietnam-Kriegsveteran habe von einer
amnestischen Phase berichtet. Und auch Holocaust-Opfer hätten selten vergessen,
dass sie in einem Konzentrationslager waren. Viel eher würden diese Menschen die
Symptome einer post-traumatischen Belastungsstörung entwickeln.
• P ROSPEKTIVE M ISSBRAUCHSSTUDIEN :
Ob sexueller Kindsmissbrauch vergessen wird und welche Auswirkungen ein solches
Trauma aufs spätere Leben hat, wurde fast ausschliesslich retrospektiv untersucht. Wie
oben (Replikation von Loftus) dargestellt, können die Resultate solcher Studien durch
verschiedene Fehler verzerrt werden. Prospektive Studien, welche nachweislich
missbrauchte Kinder bis ins Erwachsenenalter begleiten, wären hingegen
aussagekräftiger, wurden aber wegen des enormen Aufwandes kaum gemacht.
Um so wertvoller ist die prospektive Missbrauchsstudie von Williams (1992; 1994, zit.
nach Pope et al., 1996):
Ca. 200 meist afrikanische Mädchen, die in der Kindheit ein gesichertes
Missbrauchstrauma erlebt hatten, wurden bis ins Erwachsenenalter begleitet, um ihre
Kapazität , sich an das Trauma zu erinnern, zu ermitteln. Williams leitete eine follow-up
Studie der Mädchen bzw. Frauen während einer Periode von 17-20 Jahren nach der
Misshandlung. Sie fand, dass 38% der fast 200 Frauen sich nach dieser Zeit nicht an
dieses spezifische Ereignis erinnern konnten, aber dass sich einige an andere
Episoden sexuellen Missbrauchs erinnerten.
In einem Fall konnte sich eine Frau an den Missbrauch eines Mitopfers erinnern,
leugnete aber ihre eigene Erfahrung, sexuell missbraucht worden zu sein (was zur
gleichen Zeit mit ihrem Mitopfer geschah).
Williams fand heraus, dass sich jene, die zum Zeitpunkt des Missbrauchs jünger waren
sowie die Mädchen, welche die Täter persönlich kannten weniger gut an den
Missbrauch erinnern konnten.
25
Die Erinnerungen der Frauen kamen nicht in der Therapie zurück sondern durch
"Auslösereize" der Umgebung. Die Frauen berichteten einen graduellen Prozess des
Erinnerns, oft initial charakterisiert durch vage und fragmentarische Bilder. Viele
berichteten, dass die Bilder in Träumen auftauchten.
Ein faszinierendes Ergebnis dieser Studie (Williams, 1992; 1994) lässt schliessen, dass
sich Erinnerungen, die erst nach vielen Jahren wieder auftauchen, gesamthaft gesehen
nicht signifikant unterscheiden von jenen, welche nie unterbrochen waren.
Jedenfalls waren die unterbrochenen Erinnerungen ebenso reliabel wie jene von
Menschen, die sich immer an den Missbrauch erinnern konnten (Berliner & Williams,
1994).
Zum selben Ergebnis sind auch Howe, Courage und Peterson (1994, p. 351)
gekommen: "...it seems safe to conclude that traumatic memories are as reliable as any
other memory". Anders als Williams (1992; 1994) glauben sie aber wie Loftus (1993),
dass traumatische Ereignisse nicht schlechter gespeichert und erinnert würden, sondern
im Gegenteil durch ihre Salienz besser: "...like any unique experience, they are more
memorable than other, everyday events only to the extent that they are distinct form
other episodes in memory". (Weiteres zum Thema Reliabilität der Erinnerungen siehe
Kapitel 3).
• W AS
GLAUBEN
P SYCHOTHERAPEUT I NNEN ?
Bottoms, Shaver und Goodman (1991, zit. nach Loftus, 1993) analysierten die
Erfahrungen von 200 PsychotherapeutInnen. Rund ein Drittel der Befragten gaben an,
während ihrer Praxistätigkeit PatientInnen mit Missbrauch behandelt zu haben.
44% dieser angeblichen Opfer berichteten über amnestische Perioden.
Unabhängig davon, ob die Patientinnen amnestische Phasen angaben oder nicht,
glaubten 93% aller TherapeutInnen, dass der berichtete Missbrauch stattgefunden habe.
Viele von ihnen bezeichneten die Symptomatologie als Hauptindiz.
26
2.1.3
KINDHEITSAMNESIE: KÖNNEN TRAUMATA
VOR
DEM VIERTEN
LEBENSJAHR
AUS DER
ZEIT
SPÄTER ERINNERT WERDEN?
Vielen von uns fällt es schon schwer, sich an Ereignisse unserer Vorschulzeit zu
erinnern. Doch es kommt nicht selten vor, dass Menschen glauben, sich wieder an
Missbrauch zu erinnern, der in ihren ersten paar Lebensjahren stattgefunden haben soll.
Als Indiz, dass viele Berichte von aufgetauchten Erinnerungen falsch sind, nennt Loftus
(1993) die Forschungsresultate zur Kindheitsamnesie. Die meisten empirischen Studien
über Kindheitsamnesie seien zum Schluss gekommen, dass unsere frühesten
Erinnerungen erst mit drei oder vier Jahren begännen. Für Howe & Courage (1993, zit.
nach Loftus, 1993) setzt nämlich das autobiographische Speichern und Erinnern
frühestens ein, wenn ein Gefühl für das Selbst entwickelt worden ist, was um den 18.
Monat herum geschieht. Wie, fragen Howe & Courage in einem Titel, soll ich mich
erinnern können, wenn "Ich" nicht da war? (Howe, Courage, & Peterson, 1994. How can
I remember when "I" wasn't there?). Und wieso, fragt auch Loftus (1993), sollten wir
dann Frauen glauben, die behaupten, sich seit einiger Zeit wieder an ihren Missbrauch
zu erinnern, der vor ihrem ersten oder zweiten Lebensjahr begonnen habe?!
Dem kann man entgegnen, dass die Befundlage zur Kindheitsamnesie noch sehr konfus
ist. Es gibt immer mehr empirische Hinweise dafür, dass wir in Ausnahmefällen fähig
sind, uns schon an Dinge vor unserem dritten oder vierten Lebensjahr zu erinnern
(Eacott & Crawley, 1999). Zudem scheint nur das episodische Gedächtnis von der
Amnesie betroffen zu sein, nicht aber das semantische (Wheeler, Stuss, & Tulving,
1997).
B URGESS , H ARTMAN
UND
B AKER (1995) zum Beispiel untersuchten 19 Kinder,
welche zum Zeitpunkt des Missbrauchs durchschnittlich 2.5 Jahre alt waren. (Man stelle
sich das vor!).
Elf von ihnen konnten 5-10 Jahre nach dem Missbrauch unbeeinträchtigt vom Trauma
berichten (full verbal memory). Fünf hatten fragmentarische verbale Gedächtnisspuren
und drei Kinder hatten keine Erinnerungen daran. Der grössere Teil der Kinder konnte
sich also trotz Kindheitsamnesie an das Trauma zurückerinnern.
27
Dies, so vermute ich, könnte auf die extrem traumatische Missbrauchssituation der ca.
Zweieinhalbjährigen zurückzuführen sein.
Weiter glauben Burgess et al. (1995), dass es neben dem verbalen Gedächtnis auch
ein visuelles, ein somatisches und ein verhaltensmässiges Gedächtnis gibt und
demzufolge im Zusammenhang mit Missbrauch nicht nur das verbale Erinnern erforscht
werden sollte.
Dem würden Bass und Davis (1994) sicherlich zustimmen, die neben dem verbalen
Erinnern auch Beispiele von erinnernden Sinnen und Körper-Erinnernungen geben:
"Mir haben der Tastsinn und andere Sinne die Erinnerung zurückgebracht. Gewebe.
Geräusche. Der Geruch des Hauses meines Vaters. Jemand, der nach Wodka riecht"
(Bass & Davis, 1994, S. 66).
"Ich hatte das Bild vor mir, in allen Einzelheiten, ich konnte sogar sehen, wie unsere
Gardinen am Fenster sich bewegten" (Bass & Davis, 1994, S. 67).
Vorläufig haben wir also keine klare Antwort auf unsere Frage, ob Traumata und speziell
solche aus der frühen Kindheit vergessen werden oder nicht. Vermutlich kann diese
Frage nicht isoliert, sondern nur unter Berücksichtigung anderer (z.B. situativer)
Faktoren geklärt werden.
Aber auch jene, die davon ausgehen, dass Traumata vergessen und später wieder
erinnert werden können, sind sich keineswegs einig, durch welche Prozesse dieses
Vergessen am besten erklärt werden kann. Dieser Frage ist der nächste Abschnitt
gewidmet.
2.1.4
WIE
WIRD DAS
VERGESSEN
VON
TRAUMATA
ERKLÄRT?
"Mein Gedächtnis ist das, womit ich vergesse."
Definition eines Kindes
(Loftus & Ketcham, 1995, S.61)
28
Die folgenden, nur rudimentär dargestellten Konzepte und Begriffe versuchen alle, das
Phänomen "Vergessen von Traumata" zu erklären.
•
V ERDRÄNGUNG : Psychodynamische Theorien begründen das Vergessen von
traumatischen Erlebnissen mit dem Konzept der Verdrängung im Sinne eines
Abwehrmechanismus'.
•
D ISSOZIATION
UND ZUST ANDSABHÄNGIGES
E RINNERN : Der Begriff Dissoziation
erklärt Vergessen dadurch, dass Teile des Gedächtnisses oder der Identität von
anderen Teilen abgetrennt werden (Comer, 1995).
Das Konzept geht davon aus, dass ein mentaler Mechanismus Erinnerungen an ein
Trauma neurologisch und kognitiv für den bewussten Zugang solange blockiert, bis
die Person sehr spezifische, enthemmende Abrufhinweise erhält.
Mit zustandsabhängigem Erinnern meint Bower (1981, zit. nach Pope et al., 1996),
dass Erinnerungen, die in einem bestimmten (z.B. hoch affektgeladenen) Zustand
erworben wurden, am besten im selben Zustand wieder aufgefunden werden
können. Sie sind aber nicht verfügbar beim Abruf in einem anderen Zustand, bleiben
dann dissoziiert.
Dalenberg und MitarbeiterInnen (Dalenberg, Coe, Reto, Aransky, & Duvenage, 1995,
zit. nach Pope et al., 1996) sowie u.a. Carlson und Putnam (1993, zit. nach Pope et
al., 1996) fanden in ihren Studien heraus, dass die Zustandsabhängigkeit des Abrufs
besonders charakteristisch sei für Menschen, die früh im Leben mit
Extremsituationen (wie Missbrauch, Gewalt) konfrontiert waren. Je häufiger ein
Mensch als Kind missbraucht worden war, desto zustandsabhängiger sei sein
Gedächtnis und je ähnlicher die emotionalen oder kontextuellen Variablen dem
ursprünglichen Ereignis sind, desto wahrscheinlicher werde das Erinnern.
•
POSTTRAUMATISCHE ( PSYCHOGENE )
A MNESIE : Manche AutorInnen bezeichnen
das Vergessen von traumatischen Erfahrungen auch als nicht-organische,
posttraumatische Amnesie. Sie vermuten, dass dieser Effekt zusammenhängt mit
der betäubenden Komponente der Trauma-Reaktion (Alpert, Brown, & Courtois,
29
1996).
•
SOZIAL - KOGNITIVES
M ODELL : Einen völlig andern Aspekt des Vergessens
präsentiert Jennifer Freyd (1995; 1996, zit. nach Pope et al., 1996). Sie postuliert ein
sozial-kognitives Modell zum Verständnis des Vergessens und der Rückkehr der
Erinnerungen an das "Verrats-Trauma", wie sie sexuellen Kindsmissbrauch nennt.
Freyd glaubt, dass dieser Vertrauensverlust dem vom Täter abhängigen Kind
solange nicht zugänglich sein kann und darf, wie das Kind von der Fürsorge der
Bezugsperson abhängt. Die spätere Fähigkeit, sich als Erwachsene zu erinnern,
hänge mit der grösseren Unabhängigkeit zusammen.
•
N EUROBIOLOGIE : Schliesslich versuchen NeurobiologInnen (u.a. van der Kolk &
Saporta, 1991, zit. nach Pope et al., 1996), das Phänomen "Vergessen von
Traumata" durch biochemische Prozesse zu erklären. Sie fanden heraus, dass
Neurohormone, die zur Zeit des traumatischen Geschehens ausgeschüttet werden,
das Gehirn am Speichern und Konsolidieren der Informationen hindern.
Nachdem wir also bemerkt haben, dass das Phänomen "Vergessen" auf der
theoretischen Ebene ganz unterschiedlich begründet werden kann, wollen wir uns
einigen Forschungsarbeiten verschiedenster Theorie-Traditionen zum Thema Trauma
und Gedächtnis zuwenden. Denn wenn wir mehr darüber wissen, wie das Gedächtnis
mit traumatischen Inhalten umgeht, können wir besser abschätzen, mit welcher
Wahrscheinlichkeit Traumata vergessen bzw. behalten werden.
2.1.5
WIE
GEHT DAS
GEDÄCHTNIS
MIT
TRAUMATA
UM?
Im Zusammenhang mit Behauptungen, Kindsmissbrauch werde verdrängt / vergessen
bzw. besonders gut erinnert, stellt sich die Frage, ob denn dem Traumagedächtnis völlig
andere Prozesse zugrunde liegen als dem Gedächtnis für alltägliche Ereignisse.
Mögliche Hinweis können Untersuchungen zum Erinnern tragischer öffentlicher
30
Ereignisse, sogenannte flashbulp memories, liefern sowie jüngste neurobiologische
Erkenntnisse.
• B LITZLICHTERINNERUNGE N / F LASHBULP M EMORIES / B URNED - IN - VISUAL
I MPRESSIONS
Annahmen, das Gedächtnis funktioniere im Sinne einer Kopientheorie oder einer
Spurentheorie (wie sie z.B. von Freud, 1937 vertreten wurden), werden in der heutigen
Gedächtnisforschung nicht mehr vertreten. Eine Ausnahme bildet das Konzept der
Blitzlichterinnerungen (u.a. Brown & Kulik, 1977, zit. nach Granzow, 1994), welches
jedoch heftig umstritten ist.
Untersuchungen in diesem Bereich scheinen darauf hinzuweisen, dass traumatische
Erfahrungen keinesfalls vergessen oder verdrängt werden. Befürworter des Konzepts
berichten, dass Erinnerungen an Extremsituationen häufig in kopie-ähnlicher Qualität
über 10 – 30 Jahre mit grosser Lebendigkeit und Intensität erinnert werden. Auch Terr
(1988, zit. nach Loftus & Ketcham, 1995) berichtet, traumatische Erlebnisse würden sich
unauslöschlich im Gedächtnis festsetzen und es entstünden "burned-in-visual
impressions", die so abgekapselt würden, dass sie den normalen Zerfallsprozessen
der Gedächtnisinhalte nicht unterlägen.
Brown und Kulik (1977, zit. nach Granzow, 1994, S. 144) postulierten, "...dass der
Organismus in Momenten höchster Überraschung und Folgenschwere über einen <Now
print!>-Mechanismus das FBM [flashbulp memory] als eine Art blitzlichthafter
fotografischer Abbildung der Bewusstseinsumstände dieses Moments erstellt" .
Typische Beispiele solcher Erinnerungen sind Ermordungen von Staatsoberhäuptern
oder die Explosion des Space Shuttles "Challenger". So fand Colegrove (1899, zit. nach
Granzow, 1994) noch 33 Jahre nach der Ermordung Abraham Lincolns genaueste
Erinnerungen. Winograd und Killinger (1983, zit. nach Granzow, 1994) fanden bei
Augenzeugen 16 Jahre nach der Ermordung J. F. Kennedys intakte Erinnerungen.
Und auch McCloskey, Wible und Cohen (1988, zit. nach Granzow, 1994) fanden einige
Tage nach der "Challenger"-Katastrophe eine 100prozentige Behaltensrate. Auch nach
neun Monaten waren immer noch 94% der Informationen abrufbar. Dabei blieb das
Wesentliche erhalten und nur Details gingen (wenn auch erstaunlich langsam) verloren.
Daher zogen die ForscherInnen den Schluss, dass Extrem-Ereignisse und Traumata
eben nicht vergessen, sondern im Gegenteil besonders dauerhaft und genau
31
abgespeichert würden.
Die Form der Erinnerungen im Hirn, so die AutorInnen weiter, sei nicht narrativ,
möglicherweise nicht einmal verbal. Die Gedächtnisaufzeichnungen seien in anderer,
möglicherweise imaginaler Form, repräsentiert.
Als wichtigste Prädiktoren für Genauigkeit, Permanenz und Intensität der
Blitzlichterinnerungen hatten sich emotionale Intensität und persönliche Bedeutung bzw.
Folgenschwere des Ereignisses herauskristallisiert (u.a. Rubin & Kozin, 1984, zit. nach
Granzow, 1994).
Genau hier, bei der persönlichen Bedeutung, setzt eine K RITIK
FLASHBULP MEMORIES
AM
K ONZEPT
DER
an: Zeuge eines schweren Unfalls gewesen zu sein könne zwar
beim Beobachter Stress erzeugen, aber ihn doch nicht ernsthaft traumatisieren. Daher
könne das Beobachten eines Unglücks nicht verglichen werden mit dem eigenen darin
Verwickelt-Sein und schon gar nicht mit dem persönlichen Erleiden schwer
traumatischer Erfahrungen. Noch schlechter lässt sich meiner Meinung nach die
unmittelbare Erfahrung eines Traumas mit dem blossen Betrachten der von Loftus
(1993) vorgeführten Videos über Autounfälle oder ähnlichem vergleichen. Die Frage der
Übertragbarkeit solcher Studien auf die reale Missbrauchssituation muss zumindest in
Frage gestellt werden.
Jedenfalls scheint die Trauma-Definition von GedächtnisforscherInnen nicht die selbe zu
sein wie die von TaumatologInnen, die sich u.a. auf das DSM-IV (APA, 1994) beziehen.
Darin wird ein traumatisches Ereignis definiert als ein Ereignis, das man selbst erlebt hat
oder bei dem man als Zeuge dabei war, das subjektiv als lebensbedrohlich empfunden
wird oder eine Bedrohung für das physische oder psychische Wohl enthält und in dem
die Person Angst, Schrecken oder Hilflosigkeit empfindet.
Ein Video eines Verkehrsunfalls oder gar eines Mordes mag zwar Schrecken erzeugen,
aber wohl nicht als lebensbedrohlich erlebt werden.
Während das Konzept der flasbulp memories also betont, dass Traumata über
Jahrzehnte hinweg in besonders guter Qualität erinnert würden, liefern
WissenschaftlerInnen der Neurobiologie und Neuropsychologie Hinweise, die eher für
ein Vergessen von Kindsmissbrauch und ähnlichem sprechen.
32
• N EUROBIOLOGIE
DES
T RAUMAS
Auch wenn die Forschungszweige Neurobiologie / Neuropsychologie noch jung sind,
vermögen sie vielversprechende Hinweise zu liefern, welche Effekte Traumata auf das
Gedächtnis haben (u.a. van der Kolk & Saporta, 1991, zit. nach Pope et al., 1996).
McGaugh (1992, zit. nach Pope et al., 1996) und das Forschungsteam Cahill, Prins,
Weber und McGaugh (1994, zit. nach Pope et al., 1996) fanden heraus, dass
Neurohormone zur Zeit des traumatischen Ereignisses ausgeschüttet werden, welche
das Hirn am Speichern und Konsolidieren der Informationen hindern.
Viele weitere Resultate deuten darauf hin, dass traumatischer Stress zu hormonalen
Veränderungen im Hirn, und zwar speziell in den Strukturen des limbischen Systems,
der Amygdala und des Hyppocampus' führt, zu Defiziten an Cortisol und
Dysfunktionen im noradrenergen System (u.a. van der Kolk, 1992; McGaugh, 1992;
Cahill, Prins, Weber, & MacGaugh, 1994; Yehuda, 1994, alle zit. nach Pope et al.,
1996).
Neuere Forschungsergebnisse lassen zudem vermuten, dass wir nicht ein, sondern
mehrere Gedächtnissysteme haben. Bremner et al. (1995, zit. nach Pope et al., 1996)
entdeckten mittels bildgebender Verfahren, dass stark affektiv geladene Erinnerungen
vermutlich im limbischen System und in der Amygdala gespeichert werden. Sie glauben,
dass verschiedene Gedächtnisarten verschiedene Teile des Gehirns aktivieren.
Obwohl unser Gehirn über eine erstaunliche Plastizität verfügt, scheint es im Normalfall
doch eine Aufgabenteilung vorzunehmen: In der rechten Hirnhälfte werden
autobiographische Daten gespeichert, persönliche Erinnerungen und emotionsgeladene
Erlebnisse, in der linken Hemisphäre das Weltwissen. Jedenfalls gibt es PatientInnen,
deren besondere Form von Amnesie nur das autobiographische Gedächtnis betrifft.
Besonders wenn in der rechten Hemisphäre der sogenannte Faserzug verletzt ist, die
Verbindung von der Stirnhirnspitze zur Schläfenlappenspitze, die essentiell ist, um lange
Abgespeichertes abzurufen, können die Betroffenen die biographischen Informationen
nicht mehr abrufen, wissen also nichts mehr über sich selbst und ihre Vergangenheit.
Umgekehrt erinnern sie noch alle möglichen Details von SportlerInnen, PolitikerInnen
oder KünstlerInnen, weil das Wissenssystem, also das Fakten-, Welt- und Schulwissen,
intakt geblieben ist (Schweizer Fernsehen: 100 Minuten, "Geheimnis Gehirn", 6.4.02).
33
Neurobiologie und -psychologie scheinen also plausible Erklärungen bereitzustellen,
weshalb traumatische Ereignisse vergessen werden und nicht mit dem Speichern und
Erinnern von alltäglichen Ereignissen gleichgesetzt werden können. Es scheint, dass es
tatsächlich so etwas wie ein Traumagedächtnis gibt.
Trotzdem ist bis jetzt keineswegs genügend geklärt, wie Traumata gespeichert und
erinnert werden, denn auch die physikalischen und neuropsychologischen Aspekte
tendieren zur Komplexität und dürfen nicht zu simplen, generalisierten Lösungen
verleiten.
2.2 ZUSAMMENFASSUNG
DER
DEBATTE
UMS
VERGESSEN
Welche Faktoren erweisen sich nun als entscheidend für die Erinnerbarkeit von
traumatischen Ereignissen?
Zusammenfassend können wir folgende Befundlage festhalten:
1. Ereignisse mit hoher Emotionalität und persönlicher Bedeutsamkeit, häufig auch
solche, die sich durch Überraschungseffekt und Folgenschwere kennzeichnen
(siehe flashbulp memories), scheinen auch über längere Zeiträume mit hoher
Genauigkeit und in detaillierter Form erinnerbar zu sein. Dabei sind hohe imaginale
Anteile (meist in visueller Form) kennzeichnend.
Der Zeitfaktor scheint beim autobiographischen Erinnern eine weit geringere Rolle zu
spielen als z. B. beim Erinnern sinnfreien Materials.
2. Seltene, einmalige und distinkte (unterscheidbare) Ereignisse werden scheinbar
besser erinnert als Routineerlebnisse des Alltags.
3. Möglicherweise unterliegt das Gedächtnis für traumatische Inhalte eigenen
Gesetzmässigkeiten. Dafür sprechen einerseits die vielen Fallberichte und die
therapeutischen Praxiserfahrungen, andererseits die neurobiologischen
Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass das Hirn eine Aufgabenteilung vornimmt
34
und Stresshormone das Speichern und Konsolidieren von Traumata
verunmöglichen oder erschweren.
4. Sexueller Kindsmissbrauch wird scheinbar besonders schlecht erinnert, wenn
folgende Faktoren gegeben sind:
a) Frühe Erstviktimisierung
b) Gewaltanwendung
c) Lange Dauer des Missbrauchs
d) Nahe Beziehung des Opfers zum Täter / zur Täterin
F AZIT
Es bleibt uns nichts anderes übrig, als in Bescheidenheit zuzugeben, dass wir
trotz all der interessanten Studien die psychischen, biologischen und kognitiven
Prozesse des Speicherns, Konsolidierens und Abrufens von traumatischen
Erlebnissen noch zu wenig verstehen, um mit Sicherheit zu wissen, ob sexueller
Kindsmissbrauch vergessen, verdrängt oder immer erinnert wird.
35
3 WIE GLAUBWÜRDIG UND GENAU SIND
DIE ERINNERUNGEN?
Ich erinnere mich, wie ich euch [im Einkaufszentrum] verloren hatte und nach
euch gesucht habe. Ich erinnere mich wirklich daran. Und wie ich dann geweint
habe und Mom auf mich zukam und sagte: "Wo warst du denn? Mach das nie
wieder!"
Chris, Versuchsperson beim Experiment "lost in the mal"
(Loftus & Ketcham, 1995, S. 231)
Zur Validität unserer Erinnerungen allgemein und der Erinnerungen an Kindsmissbrauch
im Speziellen wäre mindestens nochmals so viel zu schreiben wie über das Vergessen
von Traumata.
Kaum ein Thema hat mehr Forschungsarbeiten angeregt als die Frage nach der
Genauigkeit und Wahrheit von Zeugenaussagen bzw. von wiedererlangten
Missbrauchserinnerungen.
Der Streit um die Wahrheit ist in allererster Linie ein juristischer und wurde
dementsprechend noch kämpferischer und erbitterter geführt als jener ums Vergessen.
Im Zusammenhang mit Missbrauch geht es ja auch um sehr viel! Hier um massivste
Übergriffe und Grenzüberschreitungen, um in ihrem tiefsten Wesen entwertete Opfer,
die mit ihrer Anklage versuchen, einen letzten Rest an Selbstwertgefühl zurück zu
gewinnen. Da um den Zusammenhalt ganzer Familien, um tief kränkende,
niederschmetternde Vorwürfe und Beschuldigungen, um mit Füssen getretene
Elternliebe und angetastete Ehre und Integrität.
Es geht wahrlich um sehr viel – auf beiden Seiten.
Und doch lassen die geäusserten Extrempositionen – und mögen sie noch so
wissenschaftlich tönen – lässt das fast völlige Fehlen von Grautönen vermuten, dass die
36
Wahrheit hier und da, hüben wie drüben Stückwerk ist, scheppernde Schellen und
tönernes Erz.
Es ist tatsächlich faszinierend, wie es Loftus und ihren MitarbeiterInnen gelingt,
Erinnerungen zu verformen, zu überlagern und zu verzerren, ja wie es ihnen gar
möglich ist, Pseudoerinnerungen einzupflanzen (siehe u.a. Loftus; 1993; 1995; Loftus
& Davis, 1984, zit. nach Pope et al., 1996; Loftus & Hoffman, 1989, zit. nach Pope et al.,
1996; Loftus & Ketcham, 1995; Loftus & Pickrell, 1995, zit. nach Pope et al., 1996).
Loftus schreibt:
In meinen Experimenten, die ich mit Tausenden von Versuchspersonen über zwei
Jahrzehnte hinweg durchgeführt habe, habe ich Erinnerungen geformt und Leute
dazu veranlasst, sich an nicht vorhandene Gegenstände zu erinnern und
beispielsweise an einen glattrasierten Mann als an einen Schnurrbartträger zu
denken, aus glatten Haaren Locken zu machen, aus Stoppschildern
Vorfahrtsschilder und aus Hämmern Schraubenzieher; ich konnte sie dazu
bringen etwas so grosses und auffälliges wie eine Scheune in eine idyllische
Landschaft zu plazieren, in der es weit und breit kein Gebäude gab. Ich habe
Leuten sogar völlig falsche Erinnerungen einpflanzen können und sie an
Personen glauben lassen, die nie existiert haben, und an Ereignisse, die nie
geschehen sind (Loftus & Ketcham, 1995, S. 18).
Das entscheidende Experiment – einE TherapeutIn, der/die bewusst versucht, einer
Klientin die Erinnerung an einen Missbrauch zu implantieren – kann natürlich aus
ethischen Gründen nicht durchgeführt werden. Doch Loftus hat in ihrem berühmten
Versuch "lost in the mal" und weiteren Studien gezeigt, dass Erinnerungen an
erfundene Erlebnisse (z.B. als Kind im Warenhaus verloren gegangen zu sein)
tatsächlich ins Gedächtnis geschmuggelt werden können (Loftus & Ketcham, 1995, S.
106ff). (Dies gelang allerdings im besten Fall bei rund einem Viertel der
Versuchspersonen).
Tatsächlich lässt sich nicht jede erfundene "Erinnerung" gleich leicht im Hirn versenken.
In einer Replikation der "lost in the mal"-Studie fand Pezdek (1995, zit. nach Pope et
37
al., 1996) heraus, dass zwar 15% der Jugendlichen sich ein häufiges Ereignis (als
kleines Kind im Warenhaus verloren gegangen sein) einpflanzen liessen, dies aber für
ein seltenes Ereignis (als Kind einen rektalen Einlauf erhalten haben) bei keiner
Versuchsperson gelang.
Den Schluss, je unplausibler das Ereignis, desto schwieriger seine Einpflanzung,
werteten viele TherapeutInnen als Zeichen für die Echtheit der manchmal sehr
drastischen und detaillierten wiedererlangten Erinnerungen an einen Kindsmissbrauch.
Natürlich blieb auch weitere Kritik an Loftus' provozierenden Experimenten nicht aus.
Schliesslich wollen wir in einer Welt voller Unsicherheiten wenigstens unseren eigenen
Erinnerungen noch trauen dürfen. "Wem können wir noch vertrauen, wenn der erste
Betrüger schon in unserem Kopf sitzt?" (Schneider, 2001, S. 69).
McCloskey und Zaragoza (1985, zit. nach Granzow, 1994) zum Beispiel oder Alba und
Hasher (1983, zit. nach Granzow, 1994) scheinen zu zeigen, dass die von Loftus
demonstrierten Verzerrungseffekte in hohem Masse ein Ergebnis spezifischer
Eigenheiten der jeweiligen Untersuchungen sind und beispielsweise bei peripheren,
nicht jedoch bei zentralen Informationsquellen experimentell herstellbar sind.
Von psychodynamischer Seite her (zusammenfassend in Granzow, 1994) wurde
kritisiert, dass Loftus nicht wieder-erinnerte verdrängte Erlebnisse untersuche, sondern
die Entstellung nicht-verdrängter Erinnerungen. Wie aber, erwidert Loftus (Loftus &
Ketcham, 1995), sollen Erinnerungen, die (vorderhand) nicht existieren, untersucht
werden?
Weiter kritisieren Psychodynamiker, Loftus' Untersuchungen würden sich nur mit
explizitem, bewusstem Erinnern befassen. Die Psychoanalyse hingegen befasse sich
auch mit unbewusstem Erinnern im Sinne überdauernder Auswirkungen (z.B. in Form
von Wiederholungen oder Agieren).
Auch Granzow (1994) gibt zu Bedenken, dass sich Loftus' Experimente auf aktives
Erinnern i.S.v. bewusstem Rekonstruieren beziehen. Wiederauftauchende oder sich
aufdrängende unerwünschte Erinnerungen, wie sie "Überlebende" sexuellen
Kindsmissbrauchs berichten, würden aber häufig passivem Erinnern (Spence, 1988)
entsprechen. Die "flashbacks", Gedanken, Gefühle und Empfindungen kämen häufig
überraschend, ungebeten und ungesucht, oft mit starken sensorisch-perzeptuellen
38
Anteilen. Ihrem Auftreten gehe manchmal ein veränderter Bewusstseinszustand wie
Müdigkeit, Entspannung, Hypnose etc. voraus.
Nach Granzow (1994) unterliegt aktives Erinnern anderen Verarbeitungsprozessen als
passives. Zum Beispiel seien bei der aktiven Rekonstruktion von Ereignissen Schemata
wichtiger als beim passiven Erinnern. Dies wiederum habe Auswirkungen auf die
Validität (Granzow nennt es "Veridikalität") der Erinnerungen. Granzow fragt sich daher,
ob zur Erfassung von flashbacks und weiteren passiven Erinnerungen andere,
spezifischere Versuchsplände nötig wären.
Und schliesslich wird kritisiert, dass in Loftus' Studien primär der Aspekt der Genauigkeit
und Präzision erfasst wird und nicht auch derjenige der persönlichen Bedeutung.
Denn auch die selbst-orientierten Interpretations- und Elaborationsprozesse würden
Einträge im Gedächtnis hinterlassen, die genauso erinnert werden könnten wie
"externe" Wahrnehmungen und "äussere" Details.
Es wäre noch über viele weitere Studien zum Thema Gedächtnis und Suggestibilität zu
berichten. Doch die Ergebnisse sind aufs Ganze gesehen uneinheitlich und konfus.
Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass die ForscherInnen bislang erst
etwa 5% des Gehirns verstanden haben und zu viele Fragen über die Organisation
des Gedächtnisses und die Arbeitsweise des Hirns offen bleiben.
Sören Kierkegaard (1922) sagte: Wahrheit kann man nicht wissen, nur erleben.
3.1 ZUSAMMENFASSUNG
DER
FALSE MEMORY DEBATTE
Vorläufig können wir, das bekennt auch Loftus (1993), echte Erinnerungen noch
nicht von falschen unterscheiden. Loftus befürchtet aber, dass die vielen
Falscherinnerungen, von denen sie ausgeht, verhindern, dass die Gesellschaft den
tatsächlichen Opfern Glauben schenkt.
Auf der andern Seite darf die Gefahr einer Reviktimisierung tatsächlicher Opfer nicht
unterschätzt werden.
39
Deutlich gemacht haben Loftus und ihre MitarbeiterInnen, wie formbar Teile unseres
Gedächtnisses sind. Wie weit sich aber diese Erkenntnisse generalisieren lassen und
wie passend Loftus' Gedächtnismodell für den spezifischen Fall wieder-erinnerter
kindlicher Traumata ist, bleibt noch unklar. Jene jedenfalls, die behaupten, dass alle
Berichte verdrängter Missbrauchserinnerungen vollkommen falsch sind oder
vollkommen wahr haben sich vom momentanen empirischen Wissensstand entfernt.
So bleibt vorläufig wohl der Entscheid, ob man eher dem angeblichen Opfer glaubt oder
dem vermeintlichen Täter, weniger eine Frage wissenschaftlicher Erkenntnisse sondern
es ist "...alles eine Frage der Perspektive" (Schneider, 2001, S. 70) bzw. des eigenen
Standpunktes.
Jedenfalls verlangt die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse und die Komplexität der
Fragen kritisches Lesen und Denken einerseits, andererseits auch Offenheit für neue
Ergebnisse der Trauma- und Gedächtnisforschung.
Sowohl TherapeutInnen als auch ForscherInnen müssen die verlockende Illusion von
finaler Wahrheit und "one-size-fits-all"-Interventionen vermeiden.
Schliesslich muss aufgrund der (neuro-)biologischen Erkenntnisse über unser
Wahrnehmen gefragt werden, ob die Diskussion um "wahre" oder "falsche"
Erinnerungen wirklich einen Sinn gibt. Unsere Wahrnehmungen und Erinnerungen
können gar nicht "wahr" sein, weil sie von uns selbst konstruiert und mit Bedeutung
versehen sind. "Während unsere Sinnesorgane vieles ausblenden, was in der
Aussenwelt passiert, enthält umgekehrt unsere Wahrnehmungswelt auch ihrem Inhalt
nach sehr vieles, was keinerlei Entsprechung in der Aussenwelt hat" (Roth, 1995, S.
232, zit. nach Grawe, 1998, S. 214). Wir sehen die Welt farbig und räumlich, aber die
Objekte in unserer Umwelt sind nicht farbig, und entfernte Dinge sind auch nicht kleiner
als nahe. Wir geben den Dingen Bedeutung, wir ordnen sie in Kategorien und Begriffen,
und doch sind "... die Ereignisse in der Umwelt an sich bedeutungslos" (Roth, 1995, S.
232, zit. nach Grawe, 1998, S. 214). Dieser Konstruktionsprozess unserer
Wahrnehmungen erfolgt (fast möchte ich sagen: Gott sei Dank) ohne jedes
Bewusstsein. Aus dieser Sicht betrachtet wird jede Diskussion um "wahre" oder
"falsche" Aussagen hinfällig und bedeutungslos.
40
4 DISKUSSION
Es gibt Dinge
1.
2.
Es gibt Fakten und Zahlen
Es gibt Verwirrung und Zweifel
Daten und Zeiten
Frust und Leugnen
Wahre Aussagen
Infragestellen
Es gibt Dinge, die ich weiss.
Es gibt Dinge, die ich nicht weiss.
Ich weiss, was ich anhatte
Ich weiss nicht, warum
Ich weiss, was ich nicht anhatte
oder wie es wirklich
Ich weiss, wo ich war
passiert ist.
Ich weiss, wer bei mir war
Ich weiss seinen Körper über mir
Ich weiss nicht, wann
Ich weiss seine Hand an meiner Brust
es begann
Ich weiss, seine Hand geht nach unten
wo
Ich weiss, da ist noch mehr
er aufhörte
Ich weiss, ich hatte Angst
Ich weiss nicht, wer
Ich weiss, ich rollte mich zusammen
er ist
Ich weiss, ich habe mich gewehrt
falls
Ich weiss, ich habe nein gesagt.
ich ihn liebe.
Lisa Schweig (Bass & Davis, 1990, S. 80)
Zweierlei steht ausser Diskussion:
Erstens: Jeder sexuelle Kindsmissbrauch ist einer zuviel.
Zweitens: Wenn Unschuldige verurteilt werden, so ist das tragisch.
41
In dieser Arbeit habe ich eine grössere Anzahl Daten und Meinungen gesammelt,
zusammengestellt und da und dort mit einer persönlichen Note versehen.
Ich habe anzudeuten versucht, welchen Einfluss der historische, juristische und
gesellschaftliche Kontext in Forschung und Praxis spielen mag, wie er Entscheidungen
in die eine oder andere Richtung beeinflussen kann.
Ich beleuchtete die komplexe Diskussion, ob und wenn ja, wie häufig Kindsmissbrauch
verdrängt oder vergessen wird, und wie unser Gedächtnis ganz allgemein mit
traumatischen Inhalten umgeht. Und schliesslich berichtete ich von der "false memory
Debatte" und setzte mich mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit von
Missbrauchsberichten auseinander.
Mein Ziel war es nicht, jemanden von der Wahrheit zu überzeugen. Vielmehr ist es mir
ein Anliegen, dafür zu sensibilisieren, dass die Wahrheit viele Gesichter hat. Ein
Berg sieht von jeder Seite her anders aus, und doch ist es ein und derselbe Berg. Daher
bemühte ich mich, dem Leser und der Leserin den "Berg" von verschiedenen Seiten her
zu zeigen. Von welcher Seite her sie ihn fortan betrachten oder besteigen wollen, sei
ihnen überlassen.
Ich selbst habe gelernt, dass nicht jede Erinnerung faktisch wahr sein muss. Die eigene
Wahrheitsüberzeugung scheint mit der Faktenwahrheit wenig zu tun zu haben. Ich habe
das Anliegen von Loftus ernst genommen, sich der Verformbarkeit und Beeinflussbarkeit
des Gedächtnisses bewusst zu sein. Ich bin sensibilisierter gegenüber der Möglichkeit
und Gefahr therapeutischer Beeinflussung und Suggestion in Bezug auf sexuellen
Missbrauch. Ich habe selbst erlebt, welch unangenehme Gefühle Zweifel,
Mehrdeutigkeit und Komplexität auslösen können und wie schwierig es ist, sachlich und
unvoreingenommen zu bleiben.
Anders als Bass und Davis (1990) kann ich mir nicht vorstellen, dass jede zweite Frau
als Kind oder Jugendliche sexuell missbraucht wurde. Ich glaube auch nicht, dass jede
Person, die sich über die Möglichkeit sexuellen Missbrauchs Gedanken macht,
tatsächlich Opfer ist. Es mag verlockend scheinen, für die eigenen Probleme einen
Schuldigen zu finden, doch Symptome allein wie Unsicherheit, Selbsthass,
Beziehungsprobleme, Depression, Schmerzen etc. lassen gewiss noch keinen Schluss
42
auf Missbrauch zu. Ich stimme mit Loftus überein, dass gewisse Selbsthilfebücher wie
z.B. "Trotz allem" (Bass & Davis, 1990) mit ihren suggestiven Äusserungen einen
kognitiven und emotionalen Prozess begünstigen, der zu falschen Überzeugungen und
Fehlaussagen führen kann.
In aller Deutlichkeit distanziere ich mich andererseits auch von den Extrempositionen
überzeugter VerdrängungsgegnerInnen. Wenn ein Gründungsmitglied der FMS- Stiftung
die als empirisch deklarierte Überzeugung vertreten darf, dass 60% aller Opfer von
sexuellem Kindsmissbrauch diese Erfahrung als "good for them" beurteilen (Lightfoot,
1993, p. 2, zit. nach Pope et al., 1996, p. 8), so stellt dies meiner Meinung nach die
ganze Stiftung sowie deren Wissenschaftsverständnis in ein schiefes Licht. Wenn Loftus
sagt: "Besser zehn Schuldige freisprechen als einen Unschuldigen einsperren"
(Schneider,2001, S. 70), so dünkt mich, ist auch ihre Objektivität in Frage zu stellen. Es
verwundert dann auch nicht, wenn ihre wissenschaftlichen Experimente zum Schluss
kommen, dass die meisten Berichte von (wieder-erwachten) Erinnerungen an sexuellen
Kindsmissbrauch Hirngespinste seien und es verdrängte Erinnerungen nicht gebe.
Dass – wenn schon – nicht nur die Erinnerungen der angeblichen Opfer, sondern auch
jene der Beschuldigten verformt sein könnten, erwähnt Loftus jedenfalls mit keinem
Wort.
Je länger ich mich mit Experimenten rund ums Erinnern befasse, desto mehr habe ich
den Eindruck, dass die Ergebnisse, (auch wenn sie mathematisch korrekt sein
mögen), mit den ihnen jeweils zugrunde gelegten Gedächtnismodellen stehen und
fallen. So überzeugend auf den ersten Blick Loftus' "Beweisführung" auch tönen
mag, in mir bleibt der Zweifel, ob ihre Experimente dem komplexen Funktionieren
des Gehirns wirklich genügend Rechnung getragen haben. Ein Gedächtnis, das
man sich als System mit verschiedenen "Modulen", die jeweils unterschiedlich arbeiten,
vorstellt, verlangt nach anderen experimentellen Designs als ein Gedächtnis, dessen
Prozessordnung für alle Informationen gleich lautet. Neueste neurologische
Erkenntnisse deuten jedenfalls darauf hin, dass wir mehrere unterschiedlich
funktionierende Gedächtnissysteme haben. Diesen Erkenntnissen müsste in der
weiteren Forschung zum Thema "Trauma und Vergessen" Rechnung getragen werden.
43
Beim momentanen Wissensstand über das Hirn erstaunt es eigentlich nicht, dass die
eine Studie zu einem überzeugend tönenden "Beweis" kommen kann, aber ein anderes
Experiment das Gegenteil "belegt". Nicht, dass die eine Studie falsch wäre und die
zweite richtig. Sondern beide gehen möglicherweise von verschiedenen
Gedächtnismodellen aus und erkennen daher nur einen Teil der Wahrheit.
"...und so sehr sie auch stritten, beharrte doch jeder auf seinem Standpunkt. Alle
sprachen eine Wahrheit aus - aber die ganze Wahrheit kannte keiner" (Feigenwinter,
1985, S. 222).
Dies soll zum Schluss auch die persische Geschichte verdeutlichen:
Warum die Menschen sich streiten:
Einige Inder brachten zu Leuten, die noch nie ein solches Tier gesehen hatten,
einen Elefanten. Sie sperrten ihn in ein dunkles Zimmer ein und sprachen dann
zu den Menschen draussen:
"Geht hinein! Greift nach ihm mit den Händen und sagt uns, woran er euch
erinnert!"
Der Erste tat so, bekam den Rüssel zu fassen und sprach:
"Dies Tier gleicht einem Wasserschlauch."
Der Nächste betastete das Ohr, kam und erklärte: "Es ist einem Fächer ähnlich."
Ein Dritter, der an das Bein geriet, wurde an eine Säule gemahnt, und wieder
einer, dessen Hand über den Rücken strich, behauptete:
"Euer Tier ist wie ein Thron gebaut!"
So hatte jeder am Elefanten das begriffen, womit seine Hand gerade in Berührung
gekommen war, und so sehr sie auch stritten, beharrte doch jeder auf seinem
Standpunkt. Alle sprachen eine Wahrheit aus - aber die ganze Wahrheit kannte
keiner.
Hätten sie im Licht einer Ampel den Elefanten, so wie er wirklich ist, sehen
können: sie hätten erkannt, dass sie mit verschiedenen Worten dasselbe meinten.
Doch immer verstehen wir Menschen nur das, was die eigenen Finger
umschliessen.
Persisch, aus Max Feigenwinter (1985, S. 222)
44
LITERATURVERZEICHNIS
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