Weitere Files findest du auf www.semestra.ch/files DIE FILES DÜRFEN NUR FÜR DEN EIGENEN GEBRAUCH BENUTZT WERDEN. DAS COPYRIGHT LIEGT BEIM JEWEILIGEN AUTOR. ZUSAMMENFASSUNG Die vorliegende Arbeit geht den Fragen nach, wie glaubwürdig Berichte über verdrängte und wiedererlangte Erinnerungen an Inzest und sexuellen Kindsmissbrauch sind bzw. ob traumatische Erfahrungen überhaupt verdrängt bzw. vergessen werden. Es wird aufgezeigt, dass diese Debatte sowie die Forschung allgemein in einem historischen, politischen, juristischen und gesellschaftlichen Kontext stattfindet und von diesem beeinflusst wird. Widersprüchliche Argumente und Studien der incest-recovery Bewegung einerseits sowie der false memory syndrome foundation andererseits werden dargestellt. Besonderes Gewicht erhalten dabei die Arbeiten von Elisabeth Loftus, die zu zeigen versuchen, dass a) Traumata nicht vergessen und schon gar nicht verdrängt würden und b) die meisten zurückgekehrten Erinnerungen an Kindsmissbrauch nicht authentisch seien. Loftus' Position wird diskutiert, die Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse in Frage gestellt. Die neuere Gehirnforschung scheint darauf hin zu deuten, dass Loftus' Experimente möglicherweise den Prozessen des Traumagedächtnisses nicht gerecht werden. Ein besseres (neuro-biologisches) Verständnis der Arbeitsweise des Gehirns allgemein und des Traumagedächtnisses im speziellen sind Voraussetzung, um angemessene experimentelle Designs zu entwerfen. INHALTSVERZEICHNIS Zusammenfassung Inhaltsverzeichnis ........................................................................................................... 1 Einleitung......................................................................................................................... 2 1 Der Streit um die wiedergefundenen Erinnerungen in seinem Kontext ............. 6 1.1 Uneinigkeit bezüglich Auftretenshäufigkeit ............................................................ 7 1.2 Juristische Prozesse .............................................................................................. 8 1.3 Uneinigkeit bezüglich falscher Beschuldigungen ................................................... 9 1.4 Uneinigkeit bezüglich Schädlichkeit ..................................................................... 11 1.5 Kontroverse über das Gedächtnis........................................................................ 13 2 Gibt es "verdrängte" Missbrauchserinnerungen? Ergebnisse der Gedächtnisund Traumaforschung........................................................................................... 16 2.1 Vergessen versus nicht-vergessen ...................................................................... 16 2.1.1 Die Extrempositionen .................................................................................... 16 2.1.2 Wie üblich ist es, Traumata zu verdrängen / vergessen? ............................. 22 2.1.3 Kindheitsamnesie: Können Traumata aus der Zeit vor dem vierten Lebensjahr später erinnert werden? ............................................................. 26 2.1.4 Wie wird das Vergessen von Traumata erklärt? ........................................... 28 2.1.5 Wie geht das Gedächtnis mit Traumata um?................................................ 30 2.2 Zusammenfassung der Debatte ums Vergessen ................................................. 34 3 Wie Glaubwürdig und genau sind die Erinnerungen? ....................................... 36 3.1 Zusammenfassung der False Memory Debatte ................................................... 39 4 Diskussion.............................................................................................................. 41 Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 43 1 EINLEITUNG "Wenn jemand Sie fragt: <Sind sie als Kind sexuell missbraucht worden?> gibt es nur zwei mögliche Antworten: Die eine lautet <Ja> und die andere <Ich weiss es nicht>. Sie können nicht mit <Nein> antworten. Roseanne Arnold in der Talkshow <Oprah> (Loftus & Ketcham, 1995, S. 231) Gibt es verdrängte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch? Ich frage anders: Gibt es den "lieben Gott"? Oder ein Leben nach dem Tod? Haben wir schon viele Leben hinter uns? Etwas provokativ reihe ich diese Fragen aneinander. Eines haben sie gemeinsam: Sie lassen sich nicht mit Bestimmtheit beantworten. Es sind Fragen der Erfahrung, des Glaubens und des Dafürhaltens. Für keine der Fragen gibt es einen wissenschaftlichen Beweis, der zu einer eindeutigen Antwort ausreichen würde. Hat es dann einen Sinn, eine wissenschaftliche Arbeit über dieses Thema schreiben zu wollen? Ist die Wissenschaft nicht das falsche Instrument, um Anworten auf solche Fragen zu finden? Ich meine: Ja und Nein. Die Wissenschaft ist für solche Fragen ungeeignet, wenn sie zum Ziel hat, die absolute Wahrheit zu finden. Tote können keine Fragebögen über ein allfälliges Leben nach dem Tod ausfüllen, und was verdrängt ist, kann per se nicht direkt untersucht werden. Ist die Forschung also unnütz? 2 Nein, das ist sie – wenn sie sich etwas Bescheidenheit bezüglich Wahrheitsfindung auferlegt – nicht. Die Fragen selbst können zwar nicht direkt erforscht werden, wohl aber ihr Umfeld. Es ist der Wissenschaft möglich, den Gegenstand indirekt zu untersuchen und so vorläufige Teil-Antworten zu finden. Gibt es verdrängte Missbrauchserinnerungen? Die Meinungen sind kontrovers: Traumatische Ereignisse werden immer erinnert. Missbrauch vergisst man nie. Traumatische Erfahrungen unterliegen dem Abwehrmechanismus der Verdrängung. Missbrauch denkt sich niemand aus. Was sollen wir halten von so unterschiedlichen Aussagen? Was steckt denn dahinter, wenn sich Erwachsene plötzlich wieder erinnern, als Kind Opfer sexueller Gewalt gewesen zu sein? Wenn sie nach Jahrzehnten ihre Eltern des Missbrauchs beschuldigen? Darüber ist ein erbitterter Streit sowohl unter WisssenschaftlerInnen als auch unter TherapeutInnen, Angeklagten und angeblichen Opfern entbrannt. In meiner Arbeit will ich folgenden Fragen nachgehen: 1. Was können TherapeutInnen über den historischen, juristischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem geforscht und debattiert wurde, wissen? Was bedeutet das für ihre Arbeit? 2. Wie geht das Gedächtnis mit traumatischen Erfahrungen um? Können traumatische Erlebnisse über Jahre vergessen (bzw. verdrängt) und später wieder erinnert werden? Dabei geht es mir nicht so sehr darum, die verschiedenen Konzepte des Vergessens (wie Verdrängung, Amnesie, zustands-abhängiges Erinnern etc.) zu erläutern bzw. die Frage nach dem Warum des allfälligen Vergessens von Traumata zu klären, sondern um die Frage, ob und wenn ja, wie häufig sexuelle Übergriffe in der Kindheit vergessen und später wieder erinnert werden. Der Begriff "vergessen" soll dabei phänomenal als Oberbegriff für so 3 unterschiedliche Konstrukte des Vergessens wie Amnesie, Dissoziation oder Verdrängung verstanden werden. 3. Entsprechen Berichte von wiedergefundenen Missbrauchserinnerungen den Tatsachen oder sind sie falsche Erzeugnisse eines leicht zu beeinflussenden Gedächtnisses? Beim Versuch, diesen Fragen auf die Spur zu kommen, war ich bemüht, vorerst möglichst unvoreingenommen Studien der verschiedenen Lager zusammenzutragen. Ein besonderes Augenmerk werden dabei die Untersuchungen von Elisabeth Loftus und ihren MitarbeiterInnen (u.a. Loftus, 1993) erhalten. Loftus ist wohl die führende wissenschaftliche Expertin auf dem Gebiet der wiedererlangten Erinnerungen an sexuellen Kindsmissbrauch. In unzähligen Gedächtnisexperimenten versucht sie zu demonstrieren, wie unzuverlässig und beeinflussbar unser Gedächtnis ist. Sie zweifelt stark an der Echtheit der wiedererlangten Erinnerungen. Vielmehr vermutet sie, dass diese Erinnerungen Produkt therapeutischer Vorannahmen und Suggestionen sind. Vor den amerikanischen Gerichten vertritt sie vehement die Seite der Angeklagten. Mir ist es wichtig, die Komplexität des Themas aufzuzeigen und für ein offenes, kritisches und mehr-dimensionales Denken zu plädieren. Daher räume ich der Darstellung des Kontextes der "false memory Debatte" einen grossen Stellenwert ein. Ziel meiner Arbeit ist es nicht, die komplexen Fragen ein für allemal zu beantworten, sondern einen breiten Überblick zu geben über die gängigsten Forschungsergebnisse und Standpunkte. Aus Platzgründen werde ich mich beim Darstellen der Studien nur auf das Wesentliche beschränken. Wer sich für genauere Angaben interessiert, sei auf das Literaturverzeichnis verwiesen. Die Experimente sind z.T. äusserst kreativ, die Resultate provokativ, aber ebenso kontrovers. Einige scheinen zu "beweisen", dass Missbrauchserfahrungen vergessen oder verdrängt werden – aber andere "belegen" eben auch das pure Gegenteil. 4 Was eine falsche Anschuldigung für den Verdächtigten und dessen ganze Familie bedeutet, habe ich mit grosser Betroffenheit während eines Praktikums erfahren. Eine Falschbeschuldigung kann Image, Karriere und Gesundheit einer ganzen Familie beschädigen. Nicht selten führt sie zu einem erzwungenen Wegzug und damit zu einer sozialen und geographischen Entwurzelung. Auf der andern Seite erfüllt mich das unermesslich Leid, das Inzest- und Gewaltopfern zugefügt wurde, mit Entsetzen und Wut. Viele der Opfer leiden auf allen Ebenen ihres Lebens: Ihr Körper reagiert mit Schmerzen, Erschöpfung und vielen weiteren Störungen. Sie sind psychisch verwundet, leiden unter Beziehungsstörungen, mangelndem Selbstwertgefühl und Depressivität. Ihr Vertrauen in sich selbst und die Welt ist massiv gestört. Manche von ihnen kämpfen täglich ums Überleben. Auf Missbrauch steht lebenslänglich – für die Opfer. Wenn wir nach dem Studium der Forschungsresultate unsere bisherigen Standpunkte vorsichtiger formulieren, mit dem Begriff der "Wahrheit" bedachter umgehen, wenn wir die unangenehmen Gefühle, welche Zweifel, Mehrdeutigkeit und Komplexität auslösen, zulassen können und der verlockenden Illusion von finaler Wahrheit widerstehen, so hat meine Arbeit ein wichtiges Ziel erreicht. 5 1 DER STREIT UM DIE WIEDERGEFUNDENEN ERINNERUNGEN IN SEINEM KONTEXT Stell Dir vor, eine Frau um die dreissig betritt zum ersten Mal Deine PsychotherapiePraxis, setzt sich und beginnt fast augenblicklich zu weinen. Vor zwei Monaten hatte sie bei einer Entlassungswelle ihren Job verloren, das war das Schlimmste, was ihr als Erwachsene je passiert war. Zwei Tage später begannen komische Träume ihren Schlaf zu gefährden. In den Träumen ist sie jung. Ihr Vater tut etwas Schreckliches. Die Träume lassen sie trotz allen Anstrengungen nicht mehr los. Während des Einschlafens werden Bilder wach und lebendig von ihr und ihrem Vater im Bett. Nach 20 Jahren scheint sie sich an etwas zu erinnern: Ihr Vater begann, als sie neun war, sich nachts zu ihr zu legen. Sie versucht, es sich auszureden, aber in ihrem Innersten "weiss" sie, dass es stimmt. Lange Zeit empfand sie eigenartige Gefühle gegenüber ihrem Vater. Sie hatte immer Angst gehabt, mit ihm alleine zu sein. Sie hatte das Gefühl, er könne durch sie hindurch langen. So weit sie in ihrem Leben zurückdenken kann, fühlte sie sich vage unglücklich und energielos. In ihrem privaten Leben hatte sie bisher, abgesehen von ihrer Arbeit, wenig Erfolg. Aber sie will nicht, dass dieses schreckliche Ding, das Inzest heisst, ihr geschehen ist. Wenn es wirklich wahr sei, so meint sie, wisse sie nicht mehr, wie weiterleben. Sie fragt Dich: "Ist das wirklich geschehen? Bin ich verrückt? Was soll ich tun? Können Sie mir helfen? Glauben Sie mir?" (frei nach Pope & Brown, 1996, pp. 1f). Vielen PsychotherapeutInnen ist dieses oder ein ähnliches Szenario vertraut. Wie sollen sie reagieren? Werden sie ihren PatientInnen uneingeschränkt glauben, um das Vertrauensverhältnis nicht zu gefährden? Was aber, wenn die Frau Anzeige erstatten will? Oder sollen sie die Wahrnehmung und das Erinnerungsvermögen der 6 Berichtenden anzweifeln? Doch damit laufen sie Gefahr, dass ihre Patientin, wenn sie in grösster Verzweiflung die Praxis aufsucht, sich suizidiert oder psychotisch wird. Eine wichtige Voraussetzung für richtiges Reagieren ist Informiertheit. Es ist unerlässlich, dass sich die Helfenden mit den unmittelbaren und längerfristigen Auswirkungen von sexueller Gewalt auseinandergesetzt haben. Auch ist es hilfreich, sich bezüglich Gedächtnis- und Traumaforschung auf dem Laufenden zu halten. Und schliesslich sollten TherapeutInnen sensibilisiert sein für die kontextuellen Faktoren sowie für ihre eigenen Einstellungen, welche ihr Denken und Handeln beeinflussen. Judith Herman (1992, zit. nach Pope et al., 1996), Psychiaterin und Traumaforscherin, schreibt, dass Traumaforschung immer auch einen politischen Aspekt enthält. Es gibt zahlreiche Arbeiten, die untersucht haben, wie Gesellschaft, Kultur und Politik nicht nur das wechselnde Verständnis von Wissenschaft, Diagnostik und Therapie beeinflussen (z.B. Caplan, 1995, zit. nach Pope et al., 1996), sondern auch die spezifischen Themen sexueller Missbrauch, Trauma und Gedächtnis (z.B. Armstrong, 1994, zit. nach Pope et al., 1996; Loftus, 1995). Im Folgenden will ich daher vorerst den Kontext skizzieren, in welchem die Debatte über verdrängte Missbrauchserinnerungen stattfand und stattfindet. 1.1 UNEINIGKEIT BEZÜGLICH AUFTRETENSHÄUFIGKEIT Früher wurden sexueller Kindsmissbrauch sowie Inzest völlig tabuisiert. Die ExpertInnen waren sich einig, dass Kindsmissbrauch sehr selten vorkomme. Vor knapp 50 Jahren berichtete zum Beispiel Weinberg (1955, zit. nach Pope et al., 1996), dass es in den USA pro Jahr nur ein bis zwei Missbrauchte pro Million Einwohner gebe. Auch noch 1975 wurde im professionellen Standardwerk Comprehensive Textbook of Psychiatry eine Rate von nur 1.1 bis 1.9 Betroffene pro Million publiziert (Henderson, 1975, zit. nach Pope et al., 1996). In den 90er Jahren regte sich Widerstand gegenüber dieser Tabuisierung. Die incestrecovery Bewegung brachte eine Flut von Berichten über wiedererwachte 7 Erinnerungen an sexuellen Kindsmissbrauch mit sich. Die Buchindustrie nutzte die Gunst der Stunde und warf massenweise Therapie-Ratgeber und Selbsthilfebücher auf den Markt. In den Medien wurden täglich Statistiken über die Häufigkeit von Inzest und sexuellem Missbrauch veröffentlicht. Je nach Definition reichten die Zahlen von 9% bis 50% Betroffene (z.B. Wetzels, 1997; Bass & Davis, 1990; Pope et al., 1996). Bei vielen LeserInnen lösten diese hohen Ratenangaben die Frage aus: <Wenn es so häufig passiert, ist es auch mir geschehen?> Menschen, die therapeutisch oder juristisch mit sexuellem Missbrauch zu tun haben, müssen wissen, dass die extrem gegensätzlichen Ansichten über die Basisrate von Missbrauch Einfluss haben auf ihre (impliziten) Erwartungen und damit auf ihre therapeutische oder forensische Arbeit. Wer von sehr hohen Prozentzahlen ausgeht, wird dem Bericht einer Patientin eher glauben als wer annimmt, Kindsmissbrauch finde sehr selten statt. 1.2 JURISTISCHE PROZESSE Die Inzest-recovery Bewegung brachte (besonders in den USA) eine Flut von juristischen Prozessen mit sich. Töchter verklagten ihre Väter oder andere Familienangehörige. Tausende von Familien wurden dabei auseinandergerissen. Unter den wissenschaftlichen ExpertInnen wurde heftig gestritten: Man schrieb sich Drohbriefe, terrorisierte sich oder klagte sich gegenseitig an. Aber auch TherapeutInnen liefen Gefahr, in Strafprozesse verwickelt zu werden. Sie wurden von angeklagten Eltern beschuldigt, in ihren PatientInnen falsche Erinnerungen wach gerufen zu haben. Es ist interessant zu wissen, dass sich in den USA die Anwälte den angeblichen Opfern gratis zur Verfügung stellen, jedoch im Fall des Prozesserfolgs einen gewissen Prozentsatz der Schadenersatzsumme beanspruchen. Damit ist klar, dass es nicht nur 8 um die Wahrheit geht, sondern vor allem auch um viel Geld, um gewinnen oder verlieren. Und schliesslich hatten die Anklagen in vielen Ländern Gesetzesanpassungen hinsichtlich Verjährungsfristen zur Folge. Denn falls Traumata der Kindheit "verdrängt" werden und erst nach 10-30 Jahren wieder ans Licht treten, so wären Verjährungsfristen von 5-10 Jahren zu kurz, um die TäterInnen vor Gericht zu bringen. TherapeutInnen können den wachsenden juristischen Kontext als unangenehmen Druck erleben. Die Angst, selbst in ein Gerichtsverfahren hineingezogen zu werden, mag dazu führen, dass die Glaubwürdigkeit der PatientInnen vermehrt angezweifelt wird. Auch auf die Forschung hatte der juristische Kontext grossen Einfluss. Für die Gerichte ist einzig von Bedeutung, ob ein Missbrauchsbericht für wahr oder falsch gehalten bzw. ob der Angeklagte für schuldig oder unschuldig gesprochen werden soll. Die bisherige Forschung befasste sich daher fast ausschliesslich mit der äusseren Faktenwahrheit. Für TherapeutInnen, die mit möglichen Opfern arbeiten, hat wohl die innere Erlebniswahrheit eine grössere Bedeutung. 1.3 UNEINIGKEIT BEZÜGLICH FALSCHER BESCHULDIGUNGEN So weit die Meinungen bezüglich Basisrate von Missbrauch auseinander gehen, so kontrastreich sind die Überzeugungen, wie oft falsche Aussagen über sexuellen Kindsmissbrauch vorkommen. Wo auf der einen Seite des Spektrums den KlientInnen uneingeschränkter Glaube geschenkt wird, behauptet die andere Seite, 9 von 10 Aussagen seien falsch (z.B. Meacham, 1993, zit. nach Pope et al., 1996). Auch Loftus hält die Mehrzahl der Angeklagten für unschuldige "...Opfer einer Manipulation am Gedächtnis der angeblichen Opfer" (Schneider, R., 2001, S. 66). 1992 wurde aufgrund einer 'Epidemie' von angeblichen Falschanklagen in den Vereinigten Staaten die False Memory Syndrom Foundation (FMSF) gegründet, 9 deren erklärtes Ziel es ist, Eltern zu helfen, die von ihren erwachsenen Kindern des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurden. Nach eineinhalb Jahren hatte die Stiftung bereits mehr als 7500 Mitglieder! ExpertInnen der FMSF glaub(t)en, dass die meisten KlientInnen die Behauptungen ihrer TherapeutInnen bezüglich Missbrauch unkritisch übernehmen würden. Wenn die PatientInnen dann den illusorischen Glauben entwickeln, missbraucht worden zu sein, so leiden sie nach Meinung der FMSF-AnhängerInnen an einer durch Theapie erzeugten psychischen Störung – dem False Memory Syndrome (FMS). „Now we know that FMS is an iatrogenic desease created by therapy gone haywire. We know that FMS has reached epidemic proportions“ (Goldstein & Farmer 1993. p. 9, zit. nach Pope et al., 1996, p. 79). Kihlstrom (1996, zit. nach Pope et al., 1996, pp. 71f) folgend gleicht das FMS einer Persönlichkeitsstörung: In der Broschüre der FMS Foundation gibt er folgende Definition: ...the False Memory Syndrome – a condition in wich a person’s identity and interpersonal relationships are centered around a memory of traumatic experience wich is objectively false but in wich the person strongly believes. (...). The analogy to personal disorder is intentional. (...). The person may become so focused on the memory that he or she may be effectively distracted from coping with real problems in his or her life. Ceci, Bronfenbrenner, Eckman und Shepard waren unter 17 ForscherInnen, welche ein Statement herausgaben, in dem sie den Begriff False Memory Syndorme als „...a nonpsychological term originated by a private foundation whose stated purpose is to support accused parents“ bezeichneten. Sie baten inständig: „for the sake of intellectual honesty, let’s leave the term ‚false memory syndrome‘ to the popular press“ (Carstensen et al., 1993, p. 23, zit. nach Pope et al., 1996, p. 72). Beide Bewegungen, die incest-recovery Bewegung und die False Memory Syndrome Foundation haben JuristInnen und TherapeutInnen stark beeinflusst. Beide Bewegungen wollen sich als massgebende Informationsquelle für die Praxis sehen und 10 beide verlassen sich in ihren zentralen Aussagen auf ExpertInnen des Gesundheitswesens und der Wissenschaft. 1.4 UNEINIGKEIT 1 BEZÜGLICH SCHÄDLICHKEIT Viele ExpertInnen vertreten die Ansicht, sexueller Kontakt eines Kindes mit Erwachsenen sei per se unangenehm und schädlich (z.B. Beitchman, Zucker, Hood, daCosta, & Ackman, 1991, zit. nach Pope et al., 1996). Auch Ellen Bass, die sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, Frauen beim Aufdecken und Verarbeiten von Missbrauchserfahrungen zu helfen, schreibt in ihrem berühmten Selbsthilfebuch „Trotz allem“ (engl.: „The courage to heal“): „Jeder sexuelle Missbrauch schädigt das Opfer, und das Trauma ist nicht zu Ende, wenn der Missbrauch aufhört“ (Bass & Davis, 1990, S. 19). Ganz anders (und für mich doch sehr fragwürdig und erschreckend) die Ansicht von FMSF-Anhängern und anderen ForscherInnen (inklusive Elisabeth Loftus): Sie diskutieren positive (!) Aspekte von sexuellen Kontakten zwischen Kindern und Erwachsenen. Sie vermuten, dass die Erfahrung dem Kind entweder Vorteile verschaffe oder angenehm sei. Traumatische Elemente werden verneint oder zumindest in Frage gestellt: „It is not clear that fondling or even fellatio ar experienced by infants and young children as assaultive; they may at times be pleasurable or neutral, thus not carrying the psychic trauma needed for repression“ (Ceci, Huffman, Smith & Loftus 1994, p. 403, zit. nach Pope et al., 1996, p. 8). Auch Gardner glaubt nicht, dass sexuelle Aktivitäten zwischen Kindern und Erwachsenen notwendigerweise zu Traumata führen müssen: „In short, there are many women who have had sexual encounters with ther fathers who do not consider them to have affectet ther lives detrimentally“ (Gardner 1992, p. 670, zit. nach Pope et al., 1996, p. 8f). Die extremste Position vertritt Ralph Underwager, einer der FMSF-Mitbegründer. Er gab in einem Interview mit „The London Times“ zu Protokoll: „...that <scientific evidence> showed 60% of women sexually abused as children reported that the experience had 1 Einer Recherche von Pope et al. (1996, pp. 69f) folgend gehörten 1996 Persönlichkeiten wie Aaron Beck, David S. Holmes und Elisabeth Loftus zu den FMSF-Members. 11 been good for them“ (Lightfoot, 1993, p. 2, zit. nach Pope et al., 1996, p. 8). Zu welch erstaunlichen Resultaten doch <wissenschaftliche Beweise> gelangen können! Bei allem Respekt, welchen sich Loftus und andere ForscherInnen im Umfeld der False Memory Syndrome Foundation durch ihre Untersuchungen auf dem Gebiet des Gedächtnisses verdient haben, scheint es mir doch nötig, beim Lesen der nachfolgenden Ausführungen im Hinterkopf zu behalten, welche (beinahe zynischen) Vorannahmen und Einstellungen sich in den Köpfen der Experimentierenden eingenistet haben. Empirische Übersichtsstudien zeichnen nämlich ein ganz anderes Bild: Sie kommen recht einheitlich zum Schluss, dass in praktisch allen Fällen eine positive (wenn auch nicht kausale) Beziehung bestehe zwischen einem weiten Spektrum psychologischer, psychosomatischer und interpersonaler Schwierigkeiten und sexuellem Missbrauch. Jede Person reagiere anders auf Traumata und nicht jede entwickle eines oder alle Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die grosse individuelle Variabilität widerspiegle das individuelle Erleben sowie die zur Verfügung stehenden sozialen und interpersonalen Ressourcen. Die Absenz oder Präsenz zuvor bestehender Psychopathologien, ein frühes Erstviktimisierungsalter, eine hohe Gewaltkomponente, eine lange Missbrauchsdauer sowie kontinuierliche low-level Traumata (wie z.B. Rassismus, Sexismus oder subtile psychische Gewalt) mögen zudem die Vulnerabilität für schwere traumatische Stressreaktionen erhöhen (z.B. Root, 1992; Beitchman, Zucker, Hood, daCosta & Ackman, 1991, zit. nach Pope et al., 1996). In einer älteren, aber interessanten Studie verglichen T SAI , F ELDMAN - S UMMERS E DGAR (1979, ZIT . NACH P OPE ET AL ., UND 1996) Frauen, die angaben, keine negativen Auswirkungen des (bekannten) Missbrauchs zu haben einerseits mit Frauen, die sich geschädigt fühlten und andererseits mit Frauen ohne Missbrauchserfahrung. Dabei ging es um die Frage, ob sexueller Missbrauch auch dann Spuren hinterlasse, wenn die Opfer negative Effekte verneinen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Frauen der Gruppe ohne subjektive negative Effekte zwar durchschnittlich gesünder waren als diejenigen mit wahrgenommenem Schaden, 12 aber höhere Psychopathologie-Werte aufwiesen als die Vergleichsgruppe ohne Missbrauchserfahrungen. Anhänger des Verdrängungskonzepts würden wohl dieses Ergebnis als Beweis ihrer Theorie ansehen. Sie glauben ja, dass das Gehirn die Fähigkeit hat, traumatische Erlebnisse wie z.B. sexuellen Missbrauch abzuspeichern, ohne dass sie ins Bewusstsein gelangen. Diese verdrängten Erinnerungen seien zwar nicht zugänglich, würden aber das Gefühlsleben beeinflussen und psychische Störungen auslösen, die überwunden werden könnten, wenn die Erinnerung bewusst verarbeitet würde. Andere ForscherInnen interpretieren diese Resultate völlig anders. Und damit sind wir bereits mitten in der vielleicht grössten Kontroverse, jener nämlich über das Gedächtnis. 1.5 KONTROVERSE ÜBER DAS GEDÄCHTNIS Wie soll man sich das Gedächtnis, welches ja Ursprung unseres Erinnerns ist, vorstellen? Wie „wahr“ oder „falsch“ sind unsere Erinnerungen? Wo und wie werden Ereignisse verarbeitet und gespeichert? Und wie steht es mit dem Gedächtnis für Traumata? Erinnert man sich an traumatische Erfahrungen besonders schlecht (siehe Verdrängung) oder eben gerade besonders gut (siehe flashbulp memories, Kp. 2.1.5)? Unterliegen alle Gedächtnisarten den selben Gesetzmässigkeiten, wie das u.a. Loftus (1993) sowie Ornstein, Ceci und Loftus (1996, zit. nach Pope et al., 1996) glauben, oder ist das Traumagedächtnis biologisch und kognitiv ein völlig oder teilweise anderes Phänomen (Brown, 1995a+b; van der Kolk & Fisler, 1994, zit. nach Pope et al., 1996)? Die sich gegenseitig konkurrenzierenden Gedächtnismodelle bilden einen weiteren Aspekt des Kontextes, in welchem TherapeutInnen und ForensikerInnen ihre Arbeit leisten. Wir müssen uns im Klaren sein, dass jede implizite Annahme bzw. jedes Gedächtnismodell mitbestimmt, was (und was nicht) bzw. wie von ForscherInnen untersucht wird bzw. wie ein Therapiegespräch geführt wird. Wer beispielsweise nur von expliziten Erinnerungen ausgeht, wird im Experiment nicht nach impliziten Gedächtnisinhalten suchen. Und eine Therapeutin, die ausschliesst, 13 dass traumatische Erfahrungen verdrängt werden können, hat keinen Grund, Techniken zu verwenden, mit denen unbewusste Inhalte möglicherweise ans Licht gefördert werden könnten. Bevor wir uns näher mit den Forschungsergebnissen zum Traumagedächtnis befassen, will ich noch einmal auf unsere Fallgeschichte zurückkommen: Wie also sollen TherapeutInnen in Anbetracht dieses Kontextes auf die Frage der Frau reagieren – „Ist das wirklich geschehen? Bin ich verrückt? Was soll ich tun“ ? Wie bei einem projektiven Test das gleiche Reizmaterial je nach unbewussten Motiven verschieden gedeutet wird, so laufen auch TherapeutInnen, ForscherInnen und JuristInnen, ja wir alle Gefahr, ihre/unsere Vorannahmen und Überzeugungen über diesen einen Bericht der Frau zu stülpen. Die nachfolgenden fiktiven Stellungnahmen verdeutlichen, zu welch kontroversen Meinungen das führen kann. - Die Frau ist eindeutig ein Inzestopfer. Warum sollte jemand eine Geschichte über etwas so Schreckliches erfinden!? Wir müssen Aussagen über Inzest immer Glauben schenken; ansonsten kommt es zu einer Reviktimisierung der Opfer. - Sie ist ganz klar kein Inzestopfer. Das Gedächtnis verbirgt nicht wichtige Lebensereignisse, um sie dann plötzlich wieder frei zu geben. Wäre der Frau wirklich so etwas Schreckliches zugestossen, so hätte sie sich immer daran erinnern können. - Wo Rauch ist, da ist auch Feuer! Es ist unsere therapeutische Aufgabe, durch aufdeckende Verfahren wie Hypnose, freie Assoziation oder Phantasiereisen die verdrängten Erinnerungen wieder bewusst werden zu lassen, damit sie verarbeitet werden können. - Die Frau zeigt ein deutliches psychiatrisches Syndrom: Sie leidet am „false-memory syndrome“. - Bevor wir mit der Therapie in irgendeiner Weise fortfahren dürfen, ist es unsere Sorgfaltspflicht als TherapeutInnen, alle erdenklichen Quellen (Beschuldigter, Familie, Schule, Freunde, Arzt- und Klinikberichte etc.) zu konsultieren, um den 14 Wahrheitsgehalt der Aussagen zu überprüfen. - In einem solchen Fall haben TherapeutInnen die Pflicht, dem lokalen Kinderschutzbeauftragten einen Verdachtsbericht zu übermitteln. - Alle Berichte über Vergewaltigungen und Kindsmissbrauch sind erfunden – sie widerspiegeln die Wunschfantasien unglücklicher Frauen. Wie die obigen Beispiele zeigen, lastet auf TherapeutInnen, die mit Inzest und Missbrauch in Kontakt kommen, ein enormer Druck. Die Anzahl möglicher Antworten verdeutlicht, dass praktisch jede Herangehensweise von einigen KollegInnen für falsch gehalten wird. Ein Fehlschritt in irgendeine Richtung kann aber gravierende Konsequenzen haben. Wer an die Echtheit von Berichten über „verdrängte“ Erinnerungen an Kindsmissbrauch glaubt, muss sich u.U. den Vorwurf der Hexenjagd gefallen lassen. Jenen, welche nicht daran glauben, wird möglicherweise vorgeworfen, Pädophilie zu unterstützen oder gar selber pädophil zu sein. Frauen, welche die Berichte anderer Frauen anzweifeln, werden als Verräterinnen beschimpft und jenen, die den Frauen glauben, wird nachgesagt, sie seien feministische Männer-Verachterinnen, die sich am männlichen Geschlecht rächen wollten. Es gibt kein Patentrezept für den Umgang mit auftauchenden Erinnerungen an Missbrauch und Inzest. Aber das Kennen des Kontextes und der Forschungsdaten sowie das bewusste Wahrnehmen eigener Vorlieben oder Abneigungen sind hilfreiche Strategien im Umgang mit dem hohen Druck dieser öffentlichen Debatte. Wenden wir uns jetzt also einigen wichtigen Forschungsresultaten zu. 15 2 GIBT ES "VERDRÄNGTE" MISSBRAUCHSERINNERUNGEN? ERGEBNISSE DER GEDÄCHTNIS- UND TRAUMAFORSCHUNG Dieses Kapitel enthält eine Zusammenstellung von Theorien, Modellen und Studien zu den zentralen Fragen dieser Arbeit: Werden traumatische Erfahrungen verdrängt / vergessen und allenfalls später wieder erinnert? Falls ja: Wie üblich / unüblich ist das? 2.1 VERGESSEN VERSUS NICHT-VERGESSEN Kann man sich als ErwachseneR besonders gut oder besonders schlecht an traumatische Ereignisse aus der Kindheit erinnern? Ist es üblich, dass schreckliche Kindheitserlebnisse vergessen / verdrängt werden oder geschieht dies höchst selten? Die inzest-recovery-Bewegung auf der einen und die False Memory Syndrome Foundation auf der anderen Seite vertreten die beiden äusseren Pole von möglichen Positionen dieser hoch emotionsgeladenen Debatte. Selten war ein psychotherapeutisches Thema Brennpunkt einer solch hitzig und zuweilen auch giftig geführten Auseinandersetzung, bei der sich sowohl die populären Medien wie auch die professionelle Literatur beteiligten. 2.1.1 DIE EXTREMPOSITIONEN Ich hab's bisher nicht gewusst, ich hab' bisher überhaupt nichts gewusst... Aber dann – dann sitzt sie da und leugnet und leugnet, und ich fühl', wie es sonderbar kalt meinen Rücken raufsteigt und meine Kopfhaut sich zusammenzieht, und ich 16 fühl' um meinen Hals eine Klammer und kann nicht mehr atmen; und dann – ekstatisch – hör' ich eine Stimme, die schreit, und es war meine Stimme – und mit eins fiel mir alles ein, was sie mir angetan hat! Arthur Miller: Hexenjagd (Loftus & Ketcham, 1995, S. 23) Wie schon weiter oben erwähnt, gingen in den 80er Jahren v.a. die Inzest-recoveryBewegung, die Selbsthilfeliteratur sowie ein Teil von PsychotherapeutInnen von sehr hohen Missbrauchsraten aus (bis 50%!). Daher erstaunt es auch nicht, dass u.a. von dieser Seite her die Meinung vertreten wurde / wird, traumatische Erfahrungen würden üblicherweise verdrängt bzw. vergessen und könnten z.T. erst viele Jahre später wieder auftauchen. Lassen wir vorerst einige von ihnen zu Wort kommen: • B ASS UND D AVIS (1990) Die Autorinnen des Bestsellers „Trotz allem“, fordern ihre Leserinnen (u.a. durch Schreibübungen) auf, aktiv Missbrauchserinnerungen zu suchen und zu glauben, dass „es“ passiert ist, egal ob Erinnerungen vorhanden sind oder nicht. „Sei bereit, das Unglaubliche zu glauben!“ (Bass & Davis, 1990, S. 322). "Wenn du dich nicht an solche konkreten Geschehnisse erinnern kannst, und trotzdem das Gefühl hast, missbraucht worden zu sein, stimmt es vermutlich" (Bass & Davis 1990, S. 20). Zu vergessen ist eine der häufigsten und wirkungsvollsten Methoden, mit denen Kinder auf sexuellen Missbrauch reagieren. Die Psyche besitzt ungeheure Verdrängungskraft. Viele Kinder können den Missbrauch vergessen, sogar während er geschieht. Die Fähigkeit zu vergessen erklärt, wieso so vielen erwachsenen Überlebenden gar nicht klar ist, dass sie missbraucht worden sind (Bass & Davis 1990, S. 36). 17 Kinder reagieren auf ihren Missbrauch oft, indem sie ihn vergessen. (...). Aber an manche Dinge erinnerst du dich. Wenn du auf eine bestimmte Art angefasst wirst, wird dir schlecht. Bestimmte Worte oder ein bestimmter Gesichtsausdruck machen dir Angst. (...). Wissen um Missbrauch beginnt oft mit einem winzigen Gefühl, einer Intuition oder vagen Ahnung. (...) Dem Verdacht folgt die Bestätigung. Wenn du glaubst, du seist missbraucht worden, und dein Leben zeigt entsprechende Symptome, dann stimmt es auch (Bass & Davis 1990, S. 21). • T HERAPEUT I NNEN GEBEN DIE SELBE N A UTORINNEN FOLGENDE R ATSCHLÄGE : Glaub der Überlebenden. Du musst daran glauben, dass deine Klientin sexuell missbraucht worden ist, auch wenn sie selbst manchmal daran zweifelt. Zweifel ist Teil der Auseinandersetzung mit dem Missbrauch. Wenn eine Klientin nicht sicher ist, aber es für möglich hält, dass sie missbraucht wurde, geh in deiner Arbeit mit ihr davon aus, dass es stimmt.(...). [Denn:] Missbrauch denkt sich niemand aus (Bass & Davis, 1990, S. 324). Wenn deine Klientin sagt, sie sei nicht missbraucht worden, und du hast trotzdem den Verdacht, frag später noch einmal. Kinder unterdrücken die Erinnerung an sexuellen Missbrauch oft, und vielleicht rufen deine Fragen diese Erinnerungen wach, entweder sofort oder später. <Nein, bin ich nicht>, kann heissen <Nein, ich erinnere mich noch nicht daran> (Bass & Davis, 1990, S. 328). "Verschwende keine Zeit damit zu versuchen, den Täter zu verstehen" (Bass & Davis, 1990, S. 325). Wer so provokative und z.T. undifferenzierte Aussagen macht, muss mit Widerspruch rechnen. Es ist augenfällig, dass Loftus und Bass / Davis das Heu nicht auf der selben Bühne haben. Trotz ernstgemeinten Bemühungen fanden sie in ihren Streitgesprächen wenig gemeinsame Nenner. Doch sie haben eines gemein: In ihrer beider Herzen brennt der feurige Eifer, gegen Ungerechtigkeiten zu protestieren. 18 • B ETROFFENE BERICHTEN : Ich merkte, mein Mann wollte gern mit mir schlafen. Plötzlich ging mir diese Rückblende wie ein Blitz durch den Kopf. Am ehesten kann ich es beschreiben wie ein Dia, das bei einem Dia-Vortrag zu schnell wechselt, aber langsam genug, dass du einen Teil des Bildes erkennst. Jemand zwängte irgendwelche Finger in meine Vagina. Es war sehr eindrücklich, und so viele meiner Gefühle waren wieder da, dass ich wusste, ich stelle mir nicht bloss etwas vor. (...). Sogar die Schmerzen waren wieder da (Bass & Davis, 1990, S. 64f). Irgend etwas geschah mit mir. Ich konnte es fühlen: Ein kleines bisschen Wahrheit stieg wie eine Luftblase von tief in mir auf, Wissen aus einem namenlosen Kern, Wissen, das Jahre voller Nebel durchdringt und sich nicht verleugnen lässt. (...). Ich verstand die Worte erst, als sie aus mir herausströmten. Ich wusste, ich würde etwas sagen, aber ich wusste nicht, was. 'Ich bin vergewaltigt worden', sagte ich endlich; mit der winzigen Stimme eines Kindes gelangen mir schliesslich diese vier Worte. Als ich hörte, wie sie die Stille des sonnigen Morgens durchschnitten, wusste ich, dass sie wahr waren (Bass & Davis, 1990, S. 69). „Ich wurde nicht belästigt als Kind. Ich hatte Angst, als ich drei war, ein Mann würde mitten in der Nacht in mein Zimmer kommen und mich HOLEN. Wie kam ich darauf?“ (Bass und Davis, 1990, S. 93). „Als ich ein Kind war, sagte ich immer: 'Fass mich nicht an, ich bin lebendig' Wie kam ich zu diesem Spruch?“ (Bass und Davis, 1990, S. 94). Das Durchblättern und Querlesen von Selbsthilfebüchern, das Nachspüren der Fallberichte der „Überlebenden“ lässt wohl die meisten von uns nicht kalt. Zu tragisch 19 scheinen die Schicksale, zu grausam die Taten, zu überwältigend die Konsequenzen. Spontan möchte man den Betroffenen glauben. • G EGENPOSITION : Doch auch die Gegner der Verdrängungs- bzw. Vergessenstheorie, allen voran Elisabeth Loftus und Mitglieder der False Memory Syndrome Foundation, liefern starke Argumente – v.a. in Form von wissenschaftlichen „Beweisen“, welche wir uns im nächsten Kapitel genauer anschauen werden. Der Grundtenor der FMSF-BeirätInnen tönt folgendermassen: "People who undergo severe trauma remember it" (Wakefield & Underwager, 1994, p. 182, zit. nach Pope et al., 1996, p. 73). Oder: "Traumatic experiences are memorable" (Pope & Hudson, 1995, p. 715, zit. nach Pope et al., 1996, p. 73). Beirat Gardner (1993, p.374 zit. nach Pope et al., 1996) behauptete, erfahrenere, ältere Psychiater würden nicht glauben, dass kindliche Erinnerungen an Missbrauch für irgendeinen Zeitraum verdrängt werden könnten. Es gebe eine Vielzahl von Beweisen, dass total falsche Erinnerungen im Hirn suggestiver Patientinnen leicht zu erzeugen seien. (Indirekt disqualifiziert er damit alle Psychiater, die nicht seiner Meinung sind...). Feldman-Summers & Pope (1994, zit. nach Pope et al., 1996) glauben, dass genügend traumatische Erfahrungen dem Bewusstsein immer zugänglich sind, nie so verschiedenen Konstrukten des Vergessens wie Amnesie, Dissoziation oder Verdrängung unterliegen und daher auch nie wieder-entdeckt werden können. Auch Loftus und ihre MitarbeiterInnen (Loftus, 1993; Loftus & Ketcham, 1995) zweifeln an der Echtheit dieser Erinnerungen. Sie vermuten, deren Quelle liege nicht in der Vergangenheit, sondern in den vier Wänden des Therapiezimmers. Sie sind überzeugt, dass 9 von 10 Erinnerungen falsch sind. Wenn Leiden da sei, so sei auch die Frage nach dem 'Warum?' nicht weit entfernt. Eine Missbrauchsfantasie zu erzeugen mit ihrer relativ klaren Schnittstelle zwischen Gut und Böse möge die benötigte logische Erklärung für ungelöste Probleme und verwirrende Gefühle darstellen. So klagt Loftus (1993) auch die Buchindustrie an, die suggeriere, dass verdrängte Erinnerungen unzweifelhaft dem eigenen Problem zugrunde lägen, bzw. dass das 20 Aufdecken von verdrängten Erinnerungen einem zu mehr Glück verhelfen würde. Diese Bücher, so befürchtet Loftus, würden die Suche durch das Gedächtnis lenken und so zum Kreieren falscher Erinnerungen führen. "Nontheless", schreibt Loftus (1993, p. 525) zu Recht, "readers without any abuse memories of their own cannot escape the message that there is a strong likelihood that abuse occurred even in the absence of such memories". Nicht gut zu sprechen sind die Leute um Loftus herum auch auf TherapeutInnen, welche aufdeckende Verfahren wie Hypnose, Regression, Tagträume oder freie Assoziation verwenden, um an verschüttete Erinnerungen heranzukommen. Loftus (1993, p. 529) fragt bissig, ob der Therapeut / die Therapeutin wohl 30 Sitzungen brauche, um (wahre) Erinnerungen an Missbrauch aufzudecken oder 30 Sitzungen, um durch Visualisierung und Verbalisierung falsche Erinnerungen zu erzeugen. Sie berichtet von einer Frau, die wegen Depression und Angst eine Therapie aufnahm. Nach wenigen Monaten vermutet der Therapeut, der Grund ihrer Störung könne in einem kindlichen Missbrauchstrauma liegen: Since that time,[so schreibt die Patientin], he [der Therapeut] has become more and more certain of his diagnosis. ... I have no direct memories of this abuse. ... The question I can't get past is how something so terrible could have happened to me without me remembering anything. For the past two years I have done little else but try to remember. I've tried self-hypnosis and light trance work with my therapist. And I even travelled to childhood homes. ...in attempt to trigger memories (Loftus, 1993, p. 528). Loftus ist sicher, dass die Therapien viele unschuldige Familien ins Unglück gerissen haben. Ihre Gegner ihrerseits sind überzeugt, dass wegen Loftus unzählige Täter ungestraft davonkommen. "Wenn beide ein bisschen recht haben, wird aus dem wissenschaftlichen Problem ein rechtliches und aus dem rechtlichen ein moralisches", schreibt R. Schneider im Folio der Neuen Zürcher Zeitung NZZ (2001, S. 70). "Wieviel Zweifel war gemeint, als vor über 2000 Jahren der Satz <Im Zweifel für den Angeklagten> geprägt wurde? Loftus hat ihre Entscheidung getroffen: <Besser zehn Schuldige freisprechen als einen Unschuldigen einsperren>. Alles eine Frage der Perspektive", meint Schneider. 21 Loftus's Position ist legitim. Man könnte ihr aber entgegen halten, dass ein Kind, das missbraucht wird, noch keinerlei Möglichkeiten hat, sich dagegen zu wehren, wogegen zu unrecht beschuldigte Täter als Erwachsene die Fähigkeit besitzen, sich für ihr Recht einzusetzen oder sich die nötigen Hilfen zu organisieren. 2.1.2 W I E Ü B L I C H IST ES, TRAUMATA ZU VERDRÄNGEN / VERGESSEN? Befürworter und Gegner sind sich einig, dass sexueller Kindsmissbrauch ein gewichtiges soziales Problem darstellt. Gestritten wird aber darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit Traumata vergessen werden. Loftus stellt nicht in Abrede, dass es vereinzelt Fälle von verlorenen und wiedergefundenen Erinnerungen geben kann, aber sie kämpft gegen Aussagen wie "most incest survivors have limited recall about their abuse" oder "half of all incest survivors do not remember that the abuse occured" (Blume, 1990, p. 81, zit. nach Loftus, 1993, p. 521). Verschiedenste WissenschaftlerInnen gingen in ihren Studien der Frage nach, wie üblich es ist, Traumata zu verdrängen / vergessen. Wie nicht anders zu erwarten war, kamen sie dabei zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen: • B RIERE UND C ONTE : In einer Studie liessen Briere und Conte (1993, zit. nach Loftus, 1993, S. 521) TherapeutInnen ihre 450 erwachsenen PatientInnen (93% weiblich), die von Missbrauchserfahrungen in ihrer Vergangenheit berichtet hatten, fragen: "During the period of time between when the first forced sexual experience happened and your 18th birthday was there ever a time when you could not remember the forced sexual experience?". Von den 450 angeblich missbrauchten Frauen konnten sich 59% nicht durchgängig an den Missbrauch erinnern. Ja-Antworten waren besonders häufig bei Missbrauch mit Gewaltanwendung, bei 22 frühem Beginn, langem Missbrauch und bei grösserer jetziger Symptomatologie. Briere und Conte folgerten, dass es üblich sei, sexuellen Kindsmissbrauch zu verdrängen. Viele andere AutorInnen übernahmen diese Zahlen als Beweis für die Häufigkeit von Verdrängung. • R EPLIKATION VON L OFTUS : Doch Loftus (1993) kritisierte die Interpretation der Ergebnisse. Sie argumentierte, dass Ja-Antworten verschiedenste Bedeutungen haben könnten. "A yes response to the question could be interpreted in a variety of ways other than <I repressed my memory for abuse>" (Loftus, 1993, p. 521). Zum Beispiel könne es auch heissen: <Es gab Zeiten, da konnte ich mich nicht erinnern, ohne mich scheusslich zu fühlen>. Oder: <Es gab Zeiten, da konnte ich mich nicht dazu bringen, mich daran zu erinnern, denn ich wollte einfach nicht daran denken>. Aus diesen Gründen sei eine Studie mit präziserer Fragestellung nötig. Loftus befürchtet auch, die TherapeutInnen, welche davon ausgehen, dass Verdrängung ein üblicher Prozess sei, hätten diese Annahme (unbewusst) ihren PatientInnen kommuniziert, was zu einer Zunahme an Ja-Antworten geführt hätte. Zudem lasse ein gescheitertes Erinnern noch nicht den Schluss auf Verdrängung zu. Für das Nicht-Erinnern gebe es viel einfachere Erklärungen als ein so diffuses Konstrukt wie "Verdrängung". Schliesslich hätten Studien gezeigt, dass sich Menschen (ca. 1425% der Befragten) häufig nicht einmal nach einem Jahr an einschneidende Lebensereignisse (z.B. Autounfall, Spitalaufenthalt) erinnern könnten (Loftus, 1982, zit. nach Loftus, 1993). Hier zeigt sich meiner Meinung nach ein Widerspruch: Loftus kämpft zwar primär gegen das Konstrukt der "Verdrängung". Sie behauptet aber auch, Missbrauch würde (fast) nie vergessen. Wie kann sie da so sicher sein, wenn sie doch "belegte", dass sogar einschneidende Erlebnisse nach einem Jahr nicht erinnert wurden?! Oft benötigen wir ja nur sehr kleine Gedächtnishilfen, ein Geruch, ein Stichwort, um die Erinnerung an ein Ereignis, an einen Verkehrsunfall, einen Krankenhausaufenthalt oder eben einen Missbrauch wieder wach werden zu lassen. Und genau von solchen situativ (durch Gerüche, Muster, Beziehungen etc) angeregten, unerwartet aufleuchtenden Erinnerungen berichten ja viele Opfer sexueller Gewalt. 23 In Loftus' eigenen Studie (Loftus, Polonsky & Fullilove, 1993, zit. nach Loftus, 1993) untersuchte sie 100 arme Afro-Amerikanerinnen und Spanierinnen, welche in der ersten Woche ihres Drogen und / oder Alkoholentzuges waren und fragte sie, ob sie je als Kind ein Trauma erlebt hätten, welches sie einst vergessen hatten, jetzt aber wieder erinnern würden. Mehr als die Hälfte dieser Frauen berichtete von Erinnerungen an sexuellen Missbrauch. Die grosse Mehrheit von ihnen gab an, sich während ihres gesamten Lebens an ihren Missbrauch erinnert zu haben. Nur 18% behaupteten, sie hätten das Trauma zwischenzeitlich vergessen und später die Erinnerung daran zurückgewonnen. Loftus ist sich bewusst, dass sie möglicherweise nicht alle missbrauchten Frauen dieser Stichprobe erfassen konnte, da sich vielleicht manche Betroffene noch gar nicht an den Missbrauch erinnern konnten oder ihn verleugneten. Trotzdem glaubt sie, dass man traumatische Erfahrungen meist nicht vergisst und schon gar nicht verdrängt. Ganz im Gegenteil: Man erinnere sich nur zu gut daran! Warum sonst, so fragt Loftus, sollten Kinder die Mörder ihrer Eltern anzeigen können, wenn Verdrängung ein üblicher Abwehrmechanismus wäre?! Loftus fügt eine Studie von Malmquist (1986, zit. nach Loftus, 1993) an, in der kein einziges Kind, das im Alter von 5 bis 10 Jahren zusehen musste, wie ein Elternteil oder beide ermordet wurde(n), dies verdrängt hatte. Im Gegenteil: Diese Kinder wurden laufend überflutet von heftigsten seelischen Schmerzen, sie waren gedanklich vom Trauma absorbiert. Diese beiden zentralen Studien (Briere & Conte, 1993, versus Loftus, Polonsky & Fullilove, 1994) zur Frage, wie häufig Traumata verdrängt werden, lösen in mir die Frage aus, ob nicht jedeR die Zahlen erhalten hat, die er / sie gesucht hat – ganz im Sinne des "confirmatory bias" (Baron, Beattie, & Hershey, 1988, zit. nach Loftus, 1993) bzw. der self-fullfilling prophecy ("How does "reality" get constructed?", Snyder, 1984, zit. nach Loftus, 1993). Der Verzerrungseffekt des confirmatory bias zeigt ja, dass Menschen generell die Tendenz haben, Informationen zu suchen, die ihren Vorannahmen entsprechen und auf die Suche nach widersprechenden Belegen zu verzichten. (Vor dieser Tendenz bin natürlich auch ich beim Lesen und Schreiben nicht gefeit). 24 • K RIEGSVETERANEN Herman (1992, zit. nach Pope et al., 1996) sowie Lindsay und Read (1994 zit. nach Pope et al., 1996) äussern grosse Zweifel daran, dass man Traumata vergisst und später wieder erinnert. Denn kaum ein Vietnam-Kriegsveteran habe von einer amnestischen Phase berichtet. Und auch Holocaust-Opfer hätten selten vergessen, dass sie in einem Konzentrationslager waren. Viel eher würden diese Menschen die Symptome einer post-traumatischen Belastungsstörung entwickeln. • P ROSPEKTIVE M ISSBRAUCHSSTUDIEN : Ob sexueller Kindsmissbrauch vergessen wird und welche Auswirkungen ein solches Trauma aufs spätere Leben hat, wurde fast ausschliesslich retrospektiv untersucht. Wie oben (Replikation von Loftus) dargestellt, können die Resultate solcher Studien durch verschiedene Fehler verzerrt werden. Prospektive Studien, welche nachweislich missbrauchte Kinder bis ins Erwachsenenalter begleiten, wären hingegen aussagekräftiger, wurden aber wegen des enormen Aufwandes kaum gemacht. Um so wertvoller ist die prospektive Missbrauchsstudie von Williams (1992; 1994, zit. nach Pope et al., 1996): Ca. 200 meist afrikanische Mädchen, die in der Kindheit ein gesichertes Missbrauchstrauma erlebt hatten, wurden bis ins Erwachsenenalter begleitet, um ihre Kapazität , sich an das Trauma zu erinnern, zu ermitteln. Williams leitete eine follow-up Studie der Mädchen bzw. Frauen während einer Periode von 17-20 Jahren nach der Misshandlung. Sie fand, dass 38% der fast 200 Frauen sich nach dieser Zeit nicht an dieses spezifische Ereignis erinnern konnten, aber dass sich einige an andere Episoden sexuellen Missbrauchs erinnerten. In einem Fall konnte sich eine Frau an den Missbrauch eines Mitopfers erinnern, leugnete aber ihre eigene Erfahrung, sexuell missbraucht worden zu sein (was zur gleichen Zeit mit ihrem Mitopfer geschah). Williams fand heraus, dass sich jene, die zum Zeitpunkt des Missbrauchs jünger waren sowie die Mädchen, welche die Täter persönlich kannten weniger gut an den Missbrauch erinnern konnten. 25 Die Erinnerungen der Frauen kamen nicht in der Therapie zurück sondern durch "Auslösereize" der Umgebung. Die Frauen berichteten einen graduellen Prozess des Erinnerns, oft initial charakterisiert durch vage und fragmentarische Bilder. Viele berichteten, dass die Bilder in Träumen auftauchten. Ein faszinierendes Ergebnis dieser Studie (Williams, 1992; 1994) lässt schliessen, dass sich Erinnerungen, die erst nach vielen Jahren wieder auftauchen, gesamthaft gesehen nicht signifikant unterscheiden von jenen, welche nie unterbrochen waren. Jedenfalls waren die unterbrochenen Erinnerungen ebenso reliabel wie jene von Menschen, die sich immer an den Missbrauch erinnern konnten (Berliner & Williams, 1994). Zum selben Ergebnis sind auch Howe, Courage und Peterson (1994, p. 351) gekommen: "...it seems safe to conclude that traumatic memories are as reliable as any other memory". Anders als Williams (1992; 1994) glauben sie aber wie Loftus (1993), dass traumatische Ereignisse nicht schlechter gespeichert und erinnert würden, sondern im Gegenteil durch ihre Salienz besser: "...like any unique experience, they are more memorable than other, everyday events only to the extent that they are distinct form other episodes in memory". (Weiteres zum Thema Reliabilität der Erinnerungen siehe Kapitel 3). • W AS GLAUBEN P SYCHOTHERAPEUT I NNEN ? Bottoms, Shaver und Goodman (1991, zit. nach Loftus, 1993) analysierten die Erfahrungen von 200 PsychotherapeutInnen. Rund ein Drittel der Befragten gaben an, während ihrer Praxistätigkeit PatientInnen mit Missbrauch behandelt zu haben. 44% dieser angeblichen Opfer berichteten über amnestische Perioden. Unabhängig davon, ob die Patientinnen amnestische Phasen angaben oder nicht, glaubten 93% aller TherapeutInnen, dass der berichtete Missbrauch stattgefunden habe. Viele von ihnen bezeichneten die Symptomatologie als Hauptindiz. 26 2.1.3 KINDHEITSAMNESIE: KÖNNEN TRAUMATA VOR DEM VIERTEN LEBENSJAHR AUS DER ZEIT SPÄTER ERINNERT WERDEN? Vielen von uns fällt es schon schwer, sich an Ereignisse unserer Vorschulzeit zu erinnern. Doch es kommt nicht selten vor, dass Menschen glauben, sich wieder an Missbrauch zu erinnern, der in ihren ersten paar Lebensjahren stattgefunden haben soll. Als Indiz, dass viele Berichte von aufgetauchten Erinnerungen falsch sind, nennt Loftus (1993) die Forschungsresultate zur Kindheitsamnesie. Die meisten empirischen Studien über Kindheitsamnesie seien zum Schluss gekommen, dass unsere frühesten Erinnerungen erst mit drei oder vier Jahren begännen. Für Howe & Courage (1993, zit. nach Loftus, 1993) setzt nämlich das autobiographische Speichern und Erinnern frühestens ein, wenn ein Gefühl für das Selbst entwickelt worden ist, was um den 18. Monat herum geschieht. Wie, fragen Howe & Courage in einem Titel, soll ich mich erinnern können, wenn "Ich" nicht da war? (Howe, Courage, & Peterson, 1994. How can I remember when "I" wasn't there?). Und wieso, fragt auch Loftus (1993), sollten wir dann Frauen glauben, die behaupten, sich seit einiger Zeit wieder an ihren Missbrauch zu erinnern, der vor ihrem ersten oder zweiten Lebensjahr begonnen habe?! Dem kann man entgegnen, dass die Befundlage zur Kindheitsamnesie noch sehr konfus ist. Es gibt immer mehr empirische Hinweise dafür, dass wir in Ausnahmefällen fähig sind, uns schon an Dinge vor unserem dritten oder vierten Lebensjahr zu erinnern (Eacott & Crawley, 1999). Zudem scheint nur das episodische Gedächtnis von der Amnesie betroffen zu sein, nicht aber das semantische (Wheeler, Stuss, & Tulving, 1997). B URGESS , H ARTMAN UND B AKER (1995) zum Beispiel untersuchten 19 Kinder, welche zum Zeitpunkt des Missbrauchs durchschnittlich 2.5 Jahre alt waren. (Man stelle sich das vor!). Elf von ihnen konnten 5-10 Jahre nach dem Missbrauch unbeeinträchtigt vom Trauma berichten (full verbal memory). Fünf hatten fragmentarische verbale Gedächtnisspuren und drei Kinder hatten keine Erinnerungen daran. Der grössere Teil der Kinder konnte sich also trotz Kindheitsamnesie an das Trauma zurückerinnern. 27 Dies, so vermute ich, könnte auf die extrem traumatische Missbrauchssituation der ca. Zweieinhalbjährigen zurückzuführen sein. Weiter glauben Burgess et al. (1995), dass es neben dem verbalen Gedächtnis auch ein visuelles, ein somatisches und ein verhaltensmässiges Gedächtnis gibt und demzufolge im Zusammenhang mit Missbrauch nicht nur das verbale Erinnern erforscht werden sollte. Dem würden Bass und Davis (1994) sicherlich zustimmen, die neben dem verbalen Erinnern auch Beispiele von erinnernden Sinnen und Körper-Erinnernungen geben: "Mir haben der Tastsinn und andere Sinne die Erinnerung zurückgebracht. Gewebe. Geräusche. Der Geruch des Hauses meines Vaters. Jemand, der nach Wodka riecht" (Bass & Davis, 1994, S. 66). "Ich hatte das Bild vor mir, in allen Einzelheiten, ich konnte sogar sehen, wie unsere Gardinen am Fenster sich bewegten" (Bass & Davis, 1994, S. 67). Vorläufig haben wir also keine klare Antwort auf unsere Frage, ob Traumata und speziell solche aus der frühen Kindheit vergessen werden oder nicht. Vermutlich kann diese Frage nicht isoliert, sondern nur unter Berücksichtigung anderer (z.B. situativer) Faktoren geklärt werden. Aber auch jene, die davon ausgehen, dass Traumata vergessen und später wieder erinnert werden können, sind sich keineswegs einig, durch welche Prozesse dieses Vergessen am besten erklärt werden kann. Dieser Frage ist der nächste Abschnitt gewidmet. 2.1.4 WIE WIRD DAS VERGESSEN VON TRAUMATA ERKLÄRT? "Mein Gedächtnis ist das, womit ich vergesse." Definition eines Kindes (Loftus & Ketcham, 1995, S.61) 28 Die folgenden, nur rudimentär dargestellten Konzepte und Begriffe versuchen alle, das Phänomen "Vergessen von Traumata" zu erklären. • V ERDRÄNGUNG : Psychodynamische Theorien begründen das Vergessen von traumatischen Erlebnissen mit dem Konzept der Verdrängung im Sinne eines Abwehrmechanismus'. • D ISSOZIATION UND ZUST ANDSABHÄNGIGES E RINNERN : Der Begriff Dissoziation erklärt Vergessen dadurch, dass Teile des Gedächtnisses oder der Identität von anderen Teilen abgetrennt werden (Comer, 1995). Das Konzept geht davon aus, dass ein mentaler Mechanismus Erinnerungen an ein Trauma neurologisch und kognitiv für den bewussten Zugang solange blockiert, bis die Person sehr spezifische, enthemmende Abrufhinweise erhält. Mit zustandsabhängigem Erinnern meint Bower (1981, zit. nach Pope et al., 1996), dass Erinnerungen, die in einem bestimmten (z.B. hoch affektgeladenen) Zustand erworben wurden, am besten im selben Zustand wieder aufgefunden werden können. Sie sind aber nicht verfügbar beim Abruf in einem anderen Zustand, bleiben dann dissoziiert. Dalenberg und MitarbeiterInnen (Dalenberg, Coe, Reto, Aransky, & Duvenage, 1995, zit. nach Pope et al., 1996) sowie u.a. Carlson und Putnam (1993, zit. nach Pope et al., 1996) fanden in ihren Studien heraus, dass die Zustandsabhängigkeit des Abrufs besonders charakteristisch sei für Menschen, die früh im Leben mit Extremsituationen (wie Missbrauch, Gewalt) konfrontiert waren. Je häufiger ein Mensch als Kind missbraucht worden war, desto zustandsabhängiger sei sein Gedächtnis und je ähnlicher die emotionalen oder kontextuellen Variablen dem ursprünglichen Ereignis sind, desto wahrscheinlicher werde das Erinnern. • POSTTRAUMATISCHE ( PSYCHOGENE ) A MNESIE : Manche AutorInnen bezeichnen das Vergessen von traumatischen Erfahrungen auch als nicht-organische, posttraumatische Amnesie. Sie vermuten, dass dieser Effekt zusammenhängt mit der betäubenden Komponente der Trauma-Reaktion (Alpert, Brown, & Courtois, 29 1996). • SOZIAL - KOGNITIVES M ODELL : Einen völlig andern Aspekt des Vergessens präsentiert Jennifer Freyd (1995; 1996, zit. nach Pope et al., 1996). Sie postuliert ein sozial-kognitives Modell zum Verständnis des Vergessens und der Rückkehr der Erinnerungen an das "Verrats-Trauma", wie sie sexuellen Kindsmissbrauch nennt. Freyd glaubt, dass dieser Vertrauensverlust dem vom Täter abhängigen Kind solange nicht zugänglich sein kann und darf, wie das Kind von der Fürsorge der Bezugsperson abhängt. Die spätere Fähigkeit, sich als Erwachsene zu erinnern, hänge mit der grösseren Unabhängigkeit zusammen. • N EUROBIOLOGIE : Schliesslich versuchen NeurobiologInnen (u.a. van der Kolk & Saporta, 1991, zit. nach Pope et al., 1996), das Phänomen "Vergessen von Traumata" durch biochemische Prozesse zu erklären. Sie fanden heraus, dass Neurohormone, die zur Zeit des traumatischen Geschehens ausgeschüttet werden, das Gehirn am Speichern und Konsolidieren der Informationen hindern. Nachdem wir also bemerkt haben, dass das Phänomen "Vergessen" auf der theoretischen Ebene ganz unterschiedlich begründet werden kann, wollen wir uns einigen Forschungsarbeiten verschiedenster Theorie-Traditionen zum Thema Trauma und Gedächtnis zuwenden. Denn wenn wir mehr darüber wissen, wie das Gedächtnis mit traumatischen Inhalten umgeht, können wir besser abschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Traumata vergessen bzw. behalten werden. 2.1.5 WIE GEHT DAS GEDÄCHTNIS MIT TRAUMATA UM? Im Zusammenhang mit Behauptungen, Kindsmissbrauch werde verdrängt / vergessen bzw. besonders gut erinnert, stellt sich die Frage, ob denn dem Traumagedächtnis völlig andere Prozesse zugrunde liegen als dem Gedächtnis für alltägliche Ereignisse. Mögliche Hinweis können Untersuchungen zum Erinnern tragischer öffentlicher 30 Ereignisse, sogenannte flashbulp memories, liefern sowie jüngste neurobiologische Erkenntnisse. • B LITZLICHTERINNERUNGE N / F LASHBULP M EMORIES / B URNED - IN - VISUAL I MPRESSIONS Annahmen, das Gedächtnis funktioniere im Sinne einer Kopientheorie oder einer Spurentheorie (wie sie z.B. von Freud, 1937 vertreten wurden), werden in der heutigen Gedächtnisforschung nicht mehr vertreten. Eine Ausnahme bildet das Konzept der Blitzlichterinnerungen (u.a. Brown & Kulik, 1977, zit. nach Granzow, 1994), welches jedoch heftig umstritten ist. Untersuchungen in diesem Bereich scheinen darauf hinzuweisen, dass traumatische Erfahrungen keinesfalls vergessen oder verdrängt werden. Befürworter des Konzepts berichten, dass Erinnerungen an Extremsituationen häufig in kopie-ähnlicher Qualität über 10 – 30 Jahre mit grosser Lebendigkeit und Intensität erinnert werden. Auch Terr (1988, zit. nach Loftus & Ketcham, 1995) berichtet, traumatische Erlebnisse würden sich unauslöschlich im Gedächtnis festsetzen und es entstünden "burned-in-visual impressions", die so abgekapselt würden, dass sie den normalen Zerfallsprozessen der Gedächtnisinhalte nicht unterlägen. Brown und Kulik (1977, zit. nach Granzow, 1994, S. 144) postulierten, "...dass der Organismus in Momenten höchster Überraschung und Folgenschwere über einen <Now print!>-Mechanismus das FBM [flashbulp memory] als eine Art blitzlichthafter fotografischer Abbildung der Bewusstseinsumstände dieses Moments erstellt" . Typische Beispiele solcher Erinnerungen sind Ermordungen von Staatsoberhäuptern oder die Explosion des Space Shuttles "Challenger". So fand Colegrove (1899, zit. nach Granzow, 1994) noch 33 Jahre nach der Ermordung Abraham Lincolns genaueste Erinnerungen. Winograd und Killinger (1983, zit. nach Granzow, 1994) fanden bei Augenzeugen 16 Jahre nach der Ermordung J. F. Kennedys intakte Erinnerungen. Und auch McCloskey, Wible und Cohen (1988, zit. nach Granzow, 1994) fanden einige Tage nach der "Challenger"-Katastrophe eine 100prozentige Behaltensrate. Auch nach neun Monaten waren immer noch 94% der Informationen abrufbar. Dabei blieb das Wesentliche erhalten und nur Details gingen (wenn auch erstaunlich langsam) verloren. Daher zogen die ForscherInnen den Schluss, dass Extrem-Ereignisse und Traumata eben nicht vergessen, sondern im Gegenteil besonders dauerhaft und genau 31 abgespeichert würden. Die Form der Erinnerungen im Hirn, so die AutorInnen weiter, sei nicht narrativ, möglicherweise nicht einmal verbal. Die Gedächtnisaufzeichnungen seien in anderer, möglicherweise imaginaler Form, repräsentiert. Als wichtigste Prädiktoren für Genauigkeit, Permanenz und Intensität der Blitzlichterinnerungen hatten sich emotionale Intensität und persönliche Bedeutung bzw. Folgenschwere des Ereignisses herauskristallisiert (u.a. Rubin & Kozin, 1984, zit. nach Granzow, 1994). Genau hier, bei der persönlichen Bedeutung, setzt eine K RITIK FLASHBULP MEMORIES AM K ONZEPT DER an: Zeuge eines schweren Unfalls gewesen zu sein könne zwar beim Beobachter Stress erzeugen, aber ihn doch nicht ernsthaft traumatisieren. Daher könne das Beobachten eines Unglücks nicht verglichen werden mit dem eigenen darin Verwickelt-Sein und schon gar nicht mit dem persönlichen Erleiden schwer traumatischer Erfahrungen. Noch schlechter lässt sich meiner Meinung nach die unmittelbare Erfahrung eines Traumas mit dem blossen Betrachten der von Loftus (1993) vorgeführten Videos über Autounfälle oder ähnlichem vergleichen. Die Frage der Übertragbarkeit solcher Studien auf die reale Missbrauchssituation muss zumindest in Frage gestellt werden. Jedenfalls scheint die Trauma-Definition von GedächtnisforscherInnen nicht die selbe zu sein wie die von TaumatologInnen, die sich u.a. auf das DSM-IV (APA, 1994) beziehen. Darin wird ein traumatisches Ereignis definiert als ein Ereignis, das man selbst erlebt hat oder bei dem man als Zeuge dabei war, das subjektiv als lebensbedrohlich empfunden wird oder eine Bedrohung für das physische oder psychische Wohl enthält und in dem die Person Angst, Schrecken oder Hilflosigkeit empfindet. Ein Video eines Verkehrsunfalls oder gar eines Mordes mag zwar Schrecken erzeugen, aber wohl nicht als lebensbedrohlich erlebt werden. Während das Konzept der flasbulp memories also betont, dass Traumata über Jahrzehnte hinweg in besonders guter Qualität erinnert würden, liefern WissenschaftlerInnen der Neurobiologie und Neuropsychologie Hinweise, die eher für ein Vergessen von Kindsmissbrauch und ähnlichem sprechen. 32 • N EUROBIOLOGIE DES T RAUMAS Auch wenn die Forschungszweige Neurobiologie / Neuropsychologie noch jung sind, vermögen sie vielversprechende Hinweise zu liefern, welche Effekte Traumata auf das Gedächtnis haben (u.a. van der Kolk & Saporta, 1991, zit. nach Pope et al., 1996). McGaugh (1992, zit. nach Pope et al., 1996) und das Forschungsteam Cahill, Prins, Weber und McGaugh (1994, zit. nach Pope et al., 1996) fanden heraus, dass Neurohormone zur Zeit des traumatischen Ereignisses ausgeschüttet werden, welche das Hirn am Speichern und Konsolidieren der Informationen hindern. Viele weitere Resultate deuten darauf hin, dass traumatischer Stress zu hormonalen Veränderungen im Hirn, und zwar speziell in den Strukturen des limbischen Systems, der Amygdala und des Hyppocampus' führt, zu Defiziten an Cortisol und Dysfunktionen im noradrenergen System (u.a. van der Kolk, 1992; McGaugh, 1992; Cahill, Prins, Weber, & MacGaugh, 1994; Yehuda, 1994, alle zit. nach Pope et al., 1996). Neuere Forschungsergebnisse lassen zudem vermuten, dass wir nicht ein, sondern mehrere Gedächtnissysteme haben. Bremner et al. (1995, zit. nach Pope et al., 1996) entdeckten mittels bildgebender Verfahren, dass stark affektiv geladene Erinnerungen vermutlich im limbischen System und in der Amygdala gespeichert werden. Sie glauben, dass verschiedene Gedächtnisarten verschiedene Teile des Gehirns aktivieren. Obwohl unser Gehirn über eine erstaunliche Plastizität verfügt, scheint es im Normalfall doch eine Aufgabenteilung vorzunehmen: In der rechten Hirnhälfte werden autobiographische Daten gespeichert, persönliche Erinnerungen und emotionsgeladene Erlebnisse, in der linken Hemisphäre das Weltwissen. Jedenfalls gibt es PatientInnen, deren besondere Form von Amnesie nur das autobiographische Gedächtnis betrifft. Besonders wenn in der rechten Hemisphäre der sogenannte Faserzug verletzt ist, die Verbindung von der Stirnhirnspitze zur Schläfenlappenspitze, die essentiell ist, um lange Abgespeichertes abzurufen, können die Betroffenen die biographischen Informationen nicht mehr abrufen, wissen also nichts mehr über sich selbst und ihre Vergangenheit. Umgekehrt erinnern sie noch alle möglichen Details von SportlerInnen, PolitikerInnen oder KünstlerInnen, weil das Wissenssystem, also das Fakten-, Welt- und Schulwissen, intakt geblieben ist (Schweizer Fernsehen: 100 Minuten, "Geheimnis Gehirn", 6.4.02). 33 Neurobiologie und -psychologie scheinen also plausible Erklärungen bereitzustellen, weshalb traumatische Ereignisse vergessen werden und nicht mit dem Speichern und Erinnern von alltäglichen Ereignissen gleichgesetzt werden können. Es scheint, dass es tatsächlich so etwas wie ein Traumagedächtnis gibt. Trotzdem ist bis jetzt keineswegs genügend geklärt, wie Traumata gespeichert und erinnert werden, denn auch die physikalischen und neuropsychologischen Aspekte tendieren zur Komplexität und dürfen nicht zu simplen, generalisierten Lösungen verleiten. 2.2 ZUSAMMENFASSUNG DER DEBATTE UMS VERGESSEN Welche Faktoren erweisen sich nun als entscheidend für die Erinnerbarkeit von traumatischen Ereignissen? Zusammenfassend können wir folgende Befundlage festhalten: 1. Ereignisse mit hoher Emotionalität und persönlicher Bedeutsamkeit, häufig auch solche, die sich durch Überraschungseffekt und Folgenschwere kennzeichnen (siehe flashbulp memories), scheinen auch über längere Zeiträume mit hoher Genauigkeit und in detaillierter Form erinnerbar zu sein. Dabei sind hohe imaginale Anteile (meist in visueller Form) kennzeichnend. Der Zeitfaktor scheint beim autobiographischen Erinnern eine weit geringere Rolle zu spielen als z. B. beim Erinnern sinnfreien Materials. 2. Seltene, einmalige und distinkte (unterscheidbare) Ereignisse werden scheinbar besser erinnert als Routineerlebnisse des Alltags. 3. Möglicherweise unterliegt das Gedächtnis für traumatische Inhalte eigenen Gesetzmässigkeiten. Dafür sprechen einerseits die vielen Fallberichte und die therapeutischen Praxiserfahrungen, andererseits die neurobiologischen Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass das Hirn eine Aufgabenteilung vornimmt 34 und Stresshormone das Speichern und Konsolidieren von Traumata verunmöglichen oder erschweren. 4. Sexueller Kindsmissbrauch wird scheinbar besonders schlecht erinnert, wenn folgende Faktoren gegeben sind: a) Frühe Erstviktimisierung b) Gewaltanwendung c) Lange Dauer des Missbrauchs d) Nahe Beziehung des Opfers zum Täter / zur Täterin F AZIT Es bleibt uns nichts anderes übrig, als in Bescheidenheit zuzugeben, dass wir trotz all der interessanten Studien die psychischen, biologischen und kognitiven Prozesse des Speicherns, Konsolidierens und Abrufens von traumatischen Erlebnissen noch zu wenig verstehen, um mit Sicherheit zu wissen, ob sexueller Kindsmissbrauch vergessen, verdrängt oder immer erinnert wird. 35 3 WIE GLAUBWÜRDIG UND GENAU SIND DIE ERINNERUNGEN? Ich erinnere mich, wie ich euch [im Einkaufszentrum] verloren hatte und nach euch gesucht habe. Ich erinnere mich wirklich daran. Und wie ich dann geweint habe und Mom auf mich zukam und sagte: "Wo warst du denn? Mach das nie wieder!" Chris, Versuchsperson beim Experiment "lost in the mal" (Loftus & Ketcham, 1995, S. 231) Zur Validität unserer Erinnerungen allgemein und der Erinnerungen an Kindsmissbrauch im Speziellen wäre mindestens nochmals so viel zu schreiben wie über das Vergessen von Traumata. Kaum ein Thema hat mehr Forschungsarbeiten angeregt als die Frage nach der Genauigkeit und Wahrheit von Zeugenaussagen bzw. von wiedererlangten Missbrauchserinnerungen. Der Streit um die Wahrheit ist in allererster Linie ein juristischer und wurde dementsprechend noch kämpferischer und erbitterter geführt als jener ums Vergessen. Im Zusammenhang mit Missbrauch geht es ja auch um sehr viel! Hier um massivste Übergriffe und Grenzüberschreitungen, um in ihrem tiefsten Wesen entwertete Opfer, die mit ihrer Anklage versuchen, einen letzten Rest an Selbstwertgefühl zurück zu gewinnen. Da um den Zusammenhalt ganzer Familien, um tief kränkende, niederschmetternde Vorwürfe und Beschuldigungen, um mit Füssen getretene Elternliebe und angetastete Ehre und Integrität. Es geht wahrlich um sehr viel – auf beiden Seiten. Und doch lassen die geäusserten Extrempositionen – und mögen sie noch so wissenschaftlich tönen – lässt das fast völlige Fehlen von Grautönen vermuten, dass die 36 Wahrheit hier und da, hüben wie drüben Stückwerk ist, scheppernde Schellen und tönernes Erz. Es ist tatsächlich faszinierend, wie es Loftus und ihren MitarbeiterInnen gelingt, Erinnerungen zu verformen, zu überlagern und zu verzerren, ja wie es ihnen gar möglich ist, Pseudoerinnerungen einzupflanzen (siehe u.a. Loftus; 1993; 1995; Loftus & Davis, 1984, zit. nach Pope et al., 1996; Loftus & Hoffman, 1989, zit. nach Pope et al., 1996; Loftus & Ketcham, 1995; Loftus & Pickrell, 1995, zit. nach Pope et al., 1996). Loftus schreibt: In meinen Experimenten, die ich mit Tausenden von Versuchspersonen über zwei Jahrzehnte hinweg durchgeführt habe, habe ich Erinnerungen geformt und Leute dazu veranlasst, sich an nicht vorhandene Gegenstände zu erinnern und beispielsweise an einen glattrasierten Mann als an einen Schnurrbartträger zu denken, aus glatten Haaren Locken zu machen, aus Stoppschildern Vorfahrtsschilder und aus Hämmern Schraubenzieher; ich konnte sie dazu bringen etwas so grosses und auffälliges wie eine Scheune in eine idyllische Landschaft zu plazieren, in der es weit und breit kein Gebäude gab. Ich habe Leuten sogar völlig falsche Erinnerungen einpflanzen können und sie an Personen glauben lassen, die nie existiert haben, und an Ereignisse, die nie geschehen sind (Loftus & Ketcham, 1995, S. 18). Das entscheidende Experiment – einE TherapeutIn, der/die bewusst versucht, einer Klientin die Erinnerung an einen Missbrauch zu implantieren – kann natürlich aus ethischen Gründen nicht durchgeführt werden. Doch Loftus hat in ihrem berühmten Versuch "lost in the mal" und weiteren Studien gezeigt, dass Erinnerungen an erfundene Erlebnisse (z.B. als Kind im Warenhaus verloren gegangen zu sein) tatsächlich ins Gedächtnis geschmuggelt werden können (Loftus & Ketcham, 1995, S. 106ff). (Dies gelang allerdings im besten Fall bei rund einem Viertel der Versuchspersonen). Tatsächlich lässt sich nicht jede erfundene "Erinnerung" gleich leicht im Hirn versenken. In einer Replikation der "lost in the mal"-Studie fand Pezdek (1995, zit. nach Pope et 37 al., 1996) heraus, dass zwar 15% der Jugendlichen sich ein häufiges Ereignis (als kleines Kind im Warenhaus verloren gegangen sein) einpflanzen liessen, dies aber für ein seltenes Ereignis (als Kind einen rektalen Einlauf erhalten haben) bei keiner Versuchsperson gelang. Den Schluss, je unplausibler das Ereignis, desto schwieriger seine Einpflanzung, werteten viele TherapeutInnen als Zeichen für die Echtheit der manchmal sehr drastischen und detaillierten wiedererlangten Erinnerungen an einen Kindsmissbrauch. Natürlich blieb auch weitere Kritik an Loftus' provozierenden Experimenten nicht aus. Schliesslich wollen wir in einer Welt voller Unsicherheiten wenigstens unseren eigenen Erinnerungen noch trauen dürfen. "Wem können wir noch vertrauen, wenn der erste Betrüger schon in unserem Kopf sitzt?" (Schneider, 2001, S. 69). McCloskey und Zaragoza (1985, zit. nach Granzow, 1994) zum Beispiel oder Alba und Hasher (1983, zit. nach Granzow, 1994) scheinen zu zeigen, dass die von Loftus demonstrierten Verzerrungseffekte in hohem Masse ein Ergebnis spezifischer Eigenheiten der jeweiligen Untersuchungen sind und beispielsweise bei peripheren, nicht jedoch bei zentralen Informationsquellen experimentell herstellbar sind. Von psychodynamischer Seite her (zusammenfassend in Granzow, 1994) wurde kritisiert, dass Loftus nicht wieder-erinnerte verdrängte Erlebnisse untersuche, sondern die Entstellung nicht-verdrängter Erinnerungen. Wie aber, erwidert Loftus (Loftus & Ketcham, 1995), sollen Erinnerungen, die (vorderhand) nicht existieren, untersucht werden? Weiter kritisieren Psychodynamiker, Loftus' Untersuchungen würden sich nur mit explizitem, bewusstem Erinnern befassen. Die Psychoanalyse hingegen befasse sich auch mit unbewusstem Erinnern im Sinne überdauernder Auswirkungen (z.B. in Form von Wiederholungen oder Agieren). Auch Granzow (1994) gibt zu Bedenken, dass sich Loftus' Experimente auf aktives Erinnern i.S.v. bewusstem Rekonstruieren beziehen. Wiederauftauchende oder sich aufdrängende unerwünschte Erinnerungen, wie sie "Überlebende" sexuellen Kindsmissbrauchs berichten, würden aber häufig passivem Erinnern (Spence, 1988) entsprechen. Die "flashbacks", Gedanken, Gefühle und Empfindungen kämen häufig überraschend, ungebeten und ungesucht, oft mit starken sensorisch-perzeptuellen 38 Anteilen. Ihrem Auftreten gehe manchmal ein veränderter Bewusstseinszustand wie Müdigkeit, Entspannung, Hypnose etc. voraus. Nach Granzow (1994) unterliegt aktives Erinnern anderen Verarbeitungsprozessen als passives. Zum Beispiel seien bei der aktiven Rekonstruktion von Ereignissen Schemata wichtiger als beim passiven Erinnern. Dies wiederum habe Auswirkungen auf die Validität (Granzow nennt es "Veridikalität") der Erinnerungen. Granzow fragt sich daher, ob zur Erfassung von flashbacks und weiteren passiven Erinnerungen andere, spezifischere Versuchsplände nötig wären. Und schliesslich wird kritisiert, dass in Loftus' Studien primär der Aspekt der Genauigkeit und Präzision erfasst wird und nicht auch derjenige der persönlichen Bedeutung. Denn auch die selbst-orientierten Interpretations- und Elaborationsprozesse würden Einträge im Gedächtnis hinterlassen, die genauso erinnert werden könnten wie "externe" Wahrnehmungen und "äussere" Details. Es wäre noch über viele weitere Studien zum Thema Gedächtnis und Suggestibilität zu berichten. Doch die Ergebnisse sind aufs Ganze gesehen uneinheitlich und konfus. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass die ForscherInnen bislang erst etwa 5% des Gehirns verstanden haben und zu viele Fragen über die Organisation des Gedächtnisses und die Arbeitsweise des Hirns offen bleiben. Sören Kierkegaard (1922) sagte: Wahrheit kann man nicht wissen, nur erleben. 3.1 ZUSAMMENFASSUNG DER FALSE MEMORY DEBATTE Vorläufig können wir, das bekennt auch Loftus (1993), echte Erinnerungen noch nicht von falschen unterscheiden. Loftus befürchtet aber, dass die vielen Falscherinnerungen, von denen sie ausgeht, verhindern, dass die Gesellschaft den tatsächlichen Opfern Glauben schenkt. Auf der andern Seite darf die Gefahr einer Reviktimisierung tatsächlicher Opfer nicht unterschätzt werden. 39 Deutlich gemacht haben Loftus und ihre MitarbeiterInnen, wie formbar Teile unseres Gedächtnisses sind. Wie weit sich aber diese Erkenntnisse generalisieren lassen und wie passend Loftus' Gedächtnismodell für den spezifischen Fall wieder-erinnerter kindlicher Traumata ist, bleibt noch unklar. Jene jedenfalls, die behaupten, dass alle Berichte verdrängter Missbrauchserinnerungen vollkommen falsch sind oder vollkommen wahr haben sich vom momentanen empirischen Wissensstand entfernt. So bleibt vorläufig wohl der Entscheid, ob man eher dem angeblichen Opfer glaubt oder dem vermeintlichen Täter, weniger eine Frage wissenschaftlicher Erkenntnisse sondern es ist "...alles eine Frage der Perspektive" (Schneider, 2001, S. 70) bzw. des eigenen Standpunktes. Jedenfalls verlangt die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse und die Komplexität der Fragen kritisches Lesen und Denken einerseits, andererseits auch Offenheit für neue Ergebnisse der Trauma- und Gedächtnisforschung. Sowohl TherapeutInnen als auch ForscherInnen müssen die verlockende Illusion von finaler Wahrheit und "one-size-fits-all"-Interventionen vermeiden. Schliesslich muss aufgrund der (neuro-)biologischen Erkenntnisse über unser Wahrnehmen gefragt werden, ob die Diskussion um "wahre" oder "falsche" Erinnerungen wirklich einen Sinn gibt. Unsere Wahrnehmungen und Erinnerungen können gar nicht "wahr" sein, weil sie von uns selbst konstruiert und mit Bedeutung versehen sind. "Während unsere Sinnesorgane vieles ausblenden, was in der Aussenwelt passiert, enthält umgekehrt unsere Wahrnehmungswelt auch ihrem Inhalt nach sehr vieles, was keinerlei Entsprechung in der Aussenwelt hat" (Roth, 1995, S. 232, zit. nach Grawe, 1998, S. 214). Wir sehen die Welt farbig und räumlich, aber die Objekte in unserer Umwelt sind nicht farbig, und entfernte Dinge sind auch nicht kleiner als nahe. Wir geben den Dingen Bedeutung, wir ordnen sie in Kategorien und Begriffen, und doch sind "... die Ereignisse in der Umwelt an sich bedeutungslos" (Roth, 1995, S. 232, zit. nach Grawe, 1998, S. 214). Dieser Konstruktionsprozess unserer Wahrnehmungen erfolgt (fast möchte ich sagen: Gott sei Dank) ohne jedes Bewusstsein. Aus dieser Sicht betrachtet wird jede Diskussion um "wahre" oder "falsche" Aussagen hinfällig und bedeutungslos. 40 4 DISKUSSION Es gibt Dinge 1. 2. Es gibt Fakten und Zahlen Es gibt Verwirrung und Zweifel Daten und Zeiten Frust und Leugnen Wahre Aussagen Infragestellen Es gibt Dinge, die ich weiss. Es gibt Dinge, die ich nicht weiss. Ich weiss, was ich anhatte Ich weiss nicht, warum Ich weiss, was ich nicht anhatte oder wie es wirklich Ich weiss, wo ich war passiert ist. Ich weiss, wer bei mir war Ich weiss seinen Körper über mir Ich weiss nicht, wann Ich weiss seine Hand an meiner Brust es begann Ich weiss, seine Hand geht nach unten wo Ich weiss, da ist noch mehr er aufhörte Ich weiss, ich hatte Angst Ich weiss nicht, wer Ich weiss, ich rollte mich zusammen er ist Ich weiss, ich habe mich gewehrt falls Ich weiss, ich habe nein gesagt. ich ihn liebe. Lisa Schweig (Bass & Davis, 1990, S. 80) Zweierlei steht ausser Diskussion: Erstens: Jeder sexuelle Kindsmissbrauch ist einer zuviel. Zweitens: Wenn Unschuldige verurteilt werden, so ist das tragisch. 41 In dieser Arbeit habe ich eine grössere Anzahl Daten und Meinungen gesammelt, zusammengestellt und da und dort mit einer persönlichen Note versehen. Ich habe anzudeuten versucht, welchen Einfluss der historische, juristische und gesellschaftliche Kontext in Forschung und Praxis spielen mag, wie er Entscheidungen in die eine oder andere Richtung beeinflussen kann. Ich beleuchtete die komplexe Diskussion, ob und wenn ja, wie häufig Kindsmissbrauch verdrängt oder vergessen wird, und wie unser Gedächtnis ganz allgemein mit traumatischen Inhalten umgeht. Und schliesslich berichtete ich von der "false memory Debatte" und setzte mich mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit von Missbrauchsberichten auseinander. Mein Ziel war es nicht, jemanden von der Wahrheit zu überzeugen. Vielmehr ist es mir ein Anliegen, dafür zu sensibilisieren, dass die Wahrheit viele Gesichter hat. Ein Berg sieht von jeder Seite her anders aus, und doch ist es ein und derselbe Berg. Daher bemühte ich mich, dem Leser und der Leserin den "Berg" von verschiedenen Seiten her zu zeigen. Von welcher Seite her sie ihn fortan betrachten oder besteigen wollen, sei ihnen überlassen. Ich selbst habe gelernt, dass nicht jede Erinnerung faktisch wahr sein muss. Die eigene Wahrheitsüberzeugung scheint mit der Faktenwahrheit wenig zu tun zu haben. Ich habe das Anliegen von Loftus ernst genommen, sich der Verformbarkeit und Beeinflussbarkeit des Gedächtnisses bewusst zu sein. Ich bin sensibilisierter gegenüber der Möglichkeit und Gefahr therapeutischer Beeinflussung und Suggestion in Bezug auf sexuellen Missbrauch. Ich habe selbst erlebt, welch unangenehme Gefühle Zweifel, Mehrdeutigkeit und Komplexität auslösen können und wie schwierig es ist, sachlich und unvoreingenommen zu bleiben. Anders als Bass und Davis (1990) kann ich mir nicht vorstellen, dass jede zweite Frau als Kind oder Jugendliche sexuell missbraucht wurde. Ich glaube auch nicht, dass jede Person, die sich über die Möglichkeit sexuellen Missbrauchs Gedanken macht, tatsächlich Opfer ist. Es mag verlockend scheinen, für die eigenen Probleme einen Schuldigen zu finden, doch Symptome allein wie Unsicherheit, Selbsthass, Beziehungsprobleme, Depression, Schmerzen etc. lassen gewiss noch keinen Schluss 42 auf Missbrauch zu. Ich stimme mit Loftus überein, dass gewisse Selbsthilfebücher wie z.B. "Trotz allem" (Bass & Davis, 1990) mit ihren suggestiven Äusserungen einen kognitiven und emotionalen Prozess begünstigen, der zu falschen Überzeugungen und Fehlaussagen führen kann. In aller Deutlichkeit distanziere ich mich andererseits auch von den Extrempositionen überzeugter VerdrängungsgegnerInnen. Wenn ein Gründungsmitglied der FMS- Stiftung die als empirisch deklarierte Überzeugung vertreten darf, dass 60% aller Opfer von sexuellem Kindsmissbrauch diese Erfahrung als "good for them" beurteilen (Lightfoot, 1993, p. 2, zit. nach Pope et al., 1996, p. 8), so stellt dies meiner Meinung nach die ganze Stiftung sowie deren Wissenschaftsverständnis in ein schiefes Licht. Wenn Loftus sagt: "Besser zehn Schuldige freisprechen als einen Unschuldigen einsperren" (Schneider,2001, S. 70), so dünkt mich, ist auch ihre Objektivität in Frage zu stellen. Es verwundert dann auch nicht, wenn ihre wissenschaftlichen Experimente zum Schluss kommen, dass die meisten Berichte von (wieder-erwachten) Erinnerungen an sexuellen Kindsmissbrauch Hirngespinste seien und es verdrängte Erinnerungen nicht gebe. Dass – wenn schon – nicht nur die Erinnerungen der angeblichen Opfer, sondern auch jene der Beschuldigten verformt sein könnten, erwähnt Loftus jedenfalls mit keinem Wort. Je länger ich mich mit Experimenten rund ums Erinnern befasse, desto mehr habe ich den Eindruck, dass die Ergebnisse, (auch wenn sie mathematisch korrekt sein mögen), mit den ihnen jeweils zugrunde gelegten Gedächtnismodellen stehen und fallen. So überzeugend auf den ersten Blick Loftus' "Beweisführung" auch tönen mag, in mir bleibt der Zweifel, ob ihre Experimente dem komplexen Funktionieren des Gehirns wirklich genügend Rechnung getragen haben. Ein Gedächtnis, das man sich als System mit verschiedenen "Modulen", die jeweils unterschiedlich arbeiten, vorstellt, verlangt nach anderen experimentellen Designs als ein Gedächtnis, dessen Prozessordnung für alle Informationen gleich lautet. Neueste neurologische Erkenntnisse deuten jedenfalls darauf hin, dass wir mehrere unterschiedlich funktionierende Gedächtnissysteme haben. Diesen Erkenntnissen müsste in der weiteren Forschung zum Thema "Trauma und Vergessen" Rechnung getragen werden. 43 Beim momentanen Wissensstand über das Hirn erstaunt es eigentlich nicht, dass die eine Studie zu einem überzeugend tönenden "Beweis" kommen kann, aber ein anderes Experiment das Gegenteil "belegt". Nicht, dass die eine Studie falsch wäre und die zweite richtig. Sondern beide gehen möglicherweise von verschiedenen Gedächtnismodellen aus und erkennen daher nur einen Teil der Wahrheit. "...und so sehr sie auch stritten, beharrte doch jeder auf seinem Standpunkt. Alle sprachen eine Wahrheit aus - aber die ganze Wahrheit kannte keiner" (Feigenwinter, 1985, S. 222). Dies soll zum Schluss auch die persische Geschichte verdeutlichen: Warum die Menschen sich streiten: Einige Inder brachten zu Leuten, die noch nie ein solches Tier gesehen hatten, einen Elefanten. Sie sperrten ihn in ein dunkles Zimmer ein und sprachen dann zu den Menschen draussen: "Geht hinein! Greift nach ihm mit den Händen und sagt uns, woran er euch erinnert!" Der Erste tat so, bekam den Rüssel zu fassen und sprach: "Dies Tier gleicht einem Wasserschlauch." Der Nächste betastete das Ohr, kam und erklärte: "Es ist einem Fächer ähnlich." Ein Dritter, der an das Bein geriet, wurde an eine Säule gemahnt, und wieder einer, dessen Hand über den Rücken strich, behauptete: "Euer Tier ist wie ein Thron gebaut!" So hatte jeder am Elefanten das begriffen, womit seine Hand gerade in Berührung gekommen war, und so sehr sie auch stritten, beharrte doch jeder auf seinem Standpunkt. Alle sprachen eine Wahrheit aus - aber die ganze Wahrheit kannte keiner. Hätten sie im Licht einer Ampel den Elefanten, so wie er wirklich ist, sehen können: sie hätten erkannt, dass sie mit verschiedenen Worten dasselbe meinten. Doch immer verstehen wir Menschen nur das, was die eigenen Finger umschliessen. Persisch, aus Max Feigenwinter (1985, S. 222) 44 LITERATURVERZEICHNIS Die für diese Arbeit wichtigsten Literaturquellen erscheinen fettgedruckt. Alba, J. W., & Hasher, L. (1983). Is memory schematic? Psychological Bulletin, 93, 203231. Alpert, J. L., Brown, L. S., & Courtois, C. A. (1996). Symptomatic clients ans memories of childhood abuse: What the trauma and child sexual abuse literature tells us. In J. Alpert, L. S. Brown, S. J. Ceci, C. A. Courtois, E. F. Loftus, & P. A. Ornstein, Final report of the working group on investigation of memories of childhood abuse. Washington, DC: American Psychological Association. American Psychiatric Association (1994). 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