Freier Verzehr von Obst und Gemüse

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Peer-Review-Verfahren | Eingegangen: 23.06.2014 | Akzeptiert: 09.09.2014
Vereinfachung der Diät bei Patienten
mit Phenylketonurie (PKU):
Freier Verzehr von Obst und Gemüse
Carmen Rohde, Alena Gerlinde Thiele, Ulrike Mütze, Wieland Kiess, Skadi Beblo, Leipzig
Zusammenfassung
Über einen Zeitraum von drei Jahren wurde bei Patienten mit der angeborenen
Stoffwechselstörung Phenylketonurie der Phenylalaningehalt in verzehrtem Obst
und Gemüse nicht in der Tagesbilanz berücksichtigt. Bei signifikant höherer Phenylalaninzufuhr zeigte sich keinerlei Verschlechterung der metabolischen Einstellung.
Schlüsselwörter: Phenylketonurie, Phenylalanin, Stoffwechselstörung, Diät,
Bilanzierung, Obstverzehr, Gemüseverzehr
Einleitung
Die Phenylketonurie (PKU) (OMIM1
261600) ist eine der häufigsten angeborenen Stoffwechselerkrankungen.
Das zum Phenylalanin (Phe)-Abbau notwendige Enzym Phenylalaninhydroxylase weist infolge von
Mutationen im für sie kodierenden
Gen eine deutlich verminderte Aktivität auf. Unbehandelt kommt es zu
einer schweren psychomotorischen
Retardierung. Nur durch frühzeitige
Diagnosestellung im Rahmen des
Neugeborenenscreenings und den
sofortigen Therapiebeginn mit einer
strengen, proteinrestriktiven Diät
Zitierweise:
Rohde C, Thiele AG, Mütze U,
Kiess W, Beblo S (2014) Simplifying the diet for patients with
phenylketonuria (PKU): unrestricted consumption of fruit and
vegetables. Ernahrungs Umschau
61(12): 178–180
The English version of this article
is available online:
DOI 10.4455/eu.2014.031
M650
entwickeln sich die Patienten normal
[1, 2].
Die diätetische Therapie beruht auf
dem Prinzip der Substratreduktion
(Phe) und Produktsupplementation
(Tyrosin, andere Aminosäuren, Mikronährstoffe). Die Kontrolle der
metabolischen Einstellung erfolgt
anhand der regelmäßigen Bestimmung der Phe-Konzentration im
Plasma oder Trockenblut.
In Abhängigkeit von der Restaktivität der Phenylalaninhydroxylase
weist jeder PKU-Patient eine individuelle Phe-Toleranz auf. Dies entspricht der Menge an Phe, die mit der
Nahrung zugeführt werden kann,
ohne dass die Phe-Plasmakonzentrationen den therapeutischen Bereich übersteigen. Bei Patienten mit
klassischer PKU liegt die durchschnittliche Phe-Toleranz bei nur ca.
200–400 mg/Tag, dies entspricht ca.
5–10 g Protein/Tag.
Mittlerweile steht PKU-Patienten
eine recht große Palette an proteinarmen Speziallebensmitteln zur Verfügung. Die Patienten können ihren
Proteinbedarf nur zu ca. 20 % aus
natürlichen Lebensmitteln decken.
Eine genaue Berechnung der Phe-Gehalte der Lebensmittel mithilfe von
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Nährwerttabellen ist erforderlich.
Aufgrund der stark eingeschränkten Lebensmittelauswahl kann die
Nährstoffzufuhr bei diesen Patienten nicht bedarfsdeckend erfolgen. Daher sind sie auf ein Nährstoffsupplement aus Aminosäuren
und Mikronährstoffen angewiesen,
das mehrmals täglich eingenommen
werden muss. Die Einhaltung der
Diät wird lebenslang empfohlen [3],
ist aber v. a. während der Ausreifung des zentralen Nervensystems,
d. h. bis zum Alter von 10 Jahren,
von entscheidender Bedeutung [2].
Fragestellung
Eine Vereinfachung der Diätführung
ohne Therapieeinbußen würde eine
enorme Erleichterung für PKU-Patienten darstellen, insbesondere für
jene mit klassischer PKU, die ein sehr
strenges Diätregime befolgen müssen. Die meisten Obst- und Gemüsesorten sind im Vergleich zu anderen
Lebensmitteln wie z. B. Getreide oder
Milchprodukten relativ proteinarm.
Daher wurde in einer 4-wöchigen
Cross-over-Studie [4] und einer
einjährigen Nachbeobachtung [5]
bei Kindern mit klassischer PKU im
Alter von 2–10 Jahren untersucht,
welchen Effekt die Nichtbilanzierung
von Obst und Gemüse im Diätregime auf deren Phe-Plasmakonzentrationen hat. Sowohl kurz- als auch
mittelfristig zeigte sich, dass die metabolische Einstellung der Patienten
auch unter Nichtbilanzierung von
1
OMIM= Online Mendelian Inheritance in Man
(Gen-Datenbank)
Obst und Gemüse gleichbleibend gut
war. Nun liegen die Daten zur Langzeitbeobachtung über drei Jahre vor.
Methodik
Von den Patienten mit klassischer
PKU, die an den vorangegangenen
Studien [4, 5] teilgenommen hatten
(n = 19), konnten in die Langzeitbeobachtung über drei Jahre alle Patienten eingeschlossen werden, die
regelmäßig Trockenblutkarten und
Nahrungsprotokolle eingeschickt
hatten. Valide Daten über diesen
langen Zeitraum ließen sich von 9
Patienten auswerten. Diese Patienten
halten eine Phe-bilanzierte Diät ein,
wobei Obst und Gemüse mit einem
Phe-Gehalt von < 75 mg/100 g nicht
in die tägliche Phe-Zufuhr eingerechnet werden. Weiterhin berechnet
wurden pflanzliche Lebensmittel mit
einem darüber liegenden Phe-Gehalt,
z. B. Hülsenfrüchte, Brokkoli, Nüsse.
Während des Beobachtungszeitraums erfolgten reguläre Bestimmungen der Phe-Konzentrationen
im Trockenblut mithilfe der Tandem-Massenspektrometrie [6]. In
die Beurteilung der metabolischen
Einstellung gingen alle Phe-Konzentrationen aus dem Trockenblut der
drei Jahre unter Nichtbilanzierung
von Obst und Gemüse ein und wurden mit den Werten von einem Jahr
vorher verglichen. Zusätzlich wurde
der prozentuale Anteil der Phe-Plasmakonzentrationen oberhalb des therapeutischen Zielbereiches bestimmt.
Der durchschnittliche Obst- und
Gemüseverzehr, die durchschnittliche Phe-Zufuhr aus Obst- und
Gemüse und die durchschnittliche
Gesamt-Phe-Zufuhr vor und nach
drei Jahren unter Nichtbilanzierung
dieser Lebensmittelgruppe wurde
mithilfe von jeweils 3-tägigen Esstagebüchern berechnet (Bundeslebensmittelschlüssel [BLS], Version
3.0) [7] und verglichen (multivariate
Varianzanalyse [MANOVA]).
Ergebnisse
Eine Zusammenfassung der Ergebnisse ist in • Tabelle 1 dargestellt.
Die durchschnittliche Phe-Plasmakonzentration stieg von 203 µmol/L
vor Nichtbilanzierung in den drei
Jahren unter Freigabe von Obst und
Gemüse auf 215 bzw. 219 bzw. 216
µmol/L an und blieb damit über drei
Jahre hinweg stabil im therapeutischen Bereich von 42–240 µmol/L.
Damit bestand weiterhin eine sehr
gute metabolische Einstellung [2].
Die Anzahl der Werte oberhalb des
therapeutischen Bereichs änderte
sich nicht signifikant. Der Obst- und
Gemüseverzehr gemessen in Prozent
der Empfehlungen des Forschungsinstituts für Kinderernährung (FKE)
blieb unverändert. Die Phe-Toleranz
der Patienten erhöhte sich durch
den freien Verzehr von Obst und
Gemüse um 83 mg. Dies entspricht
einer Steigerung um 25 %.
Diskussion
Während des dreijährigen Beobachtungszeitraums, in dem Obst und
Gemüse nicht berechnet wurden,
konnten die Patienten weiterhin
eine gute metabolische Einstellung
einhalten. Der prozentuale Anteil
von Phe-Plasmakonzentrationen
oberhalb des therapeutischen Bereichs blieb unverändert, obwohl
zusätzlich zum altersentsprechenden Anstieg der Phe-Toleranz durchschnittlich 83 mg Phe aus Obst und
Gemüse ohne Bilanzierung verzehrt
wurden. Dies steht im Einklang mit
den Beobachtungen der beiden vorangegangenen Studien mit kürzerer Studiendauer [4, 5]. Der Grund
für eine gleichbleibend gute metabolische Einstellung trotz deutlich
erhöhter Phe-Zufuhr ist nicht abschließend geklärt. Der hohe Ballaststoffgehalt von Obst und Gemüse
und eine damit verbundene schlechtere Proteinabsorption [8] bzw. eine
generell schlechtere Bioverfügbarkeit
von Aminosäuren aus pflanzlichem
Protein [9] kommen hier ursächlich
in Frage.
Diese Ergebnisse bestätigen die Beobachtungen aus zwei anderen Studien, die allerdings auch Patienten
über 10 Jahren und Patienten mit
milderen PKU-Formen eingeschlos-
sen haben: Hier zeigten sich unter
Nichtbilanzierung von Obst und Gemüse bei Gabe von standardisierten
Mahlzeiten [10] und unter Berücksichtigung der Obst- und Gemüsezufuhr anhand einer Pauschale ebenfalls keine Therapieeinbußen [11].
Interessanterweise haben sich in
der vorliegenden Studie die Verzehrgewohnheiten bezüglich Obst
und Gemüse nicht verändert. Der
neu gewonnene Spielraum bezüglich der Phe-Toleranz wurde für
andere Lebensmittel verwendet. Im
Vergleich zu den Verzehrgewohnheiten gesunder 6- bis 10-jähriger
Kinder ist dies nicht verwunderlich,
da der Obst- und Gemüseverzehr
der untersuchten PKU-Patienten mit
91 bzw. 90 bzw. 92 % der Empfehlungen des FKE [12] bereits deutlich
über den Verzehrmengen gesunder
Kinder (48 %) liegen [13].
Für PKU-Patienten der vorliegenden Studie ergibt sich damit indirekt
eine höhere Phe-Toleranz. Von weit
größerer Bedeutung ist die Tatsache,
dass eine ganze Lebensmittelgruppe
für die Patienten frei verfügbar ist.
Auch wenn bereits Daten einer größeren Kohorte von PKU-Patienten
vorliegen [11], so umfassen diese
weitgehend Daten von Erwachsenen, häufig mit milden PKU-Formen. Deshalb wäre es wünschenswert, die erhobenen Daten an einer
größeren Kohorte von Kindern mit
klassischer PKU zu bestätigen.
Dr. troph. Carmen Rohde1
Dipl.-Ernährungswiss. Alena Gerlinde Thiele
Dr. med. Ulrike Mütze
Prof. Dr. med. Wieland Kiess
Dr. med. Skadi Beblo
Universitätsklinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin der Universität Leipzig
Liebigstraße 20a, 04103 Leipzig
1
E-Mail: [email protected]
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International
Committee of Medical Journal Editors besteht.
Ernaehrungs Umschau international | 12/2014 179
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M651
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B (Basis) (-1 Jahr)
bilanzierter Obst-/
Gemüseverzehr
n=9
1 (1. Jahr)
freier Obst-/
Gemüseverzehr
n=9
2 (2. Jahr)
freier Obst-/
Gemüseverzehr
n=9
3 (3. Jahr)
freier Obst-/
Gemüseverzehr
n=7
p*
Phe-Konzentrationen
Durchschnitt in µmol/L
(SD)
203 (77)
215 (65)
219 (55)
216 (55)
0,894
Phe-Konzentrationen
oberhalb des therapeutischen Zielbereiches
Durchschnitt in % (SD)
34 (26)
28 (20)
40 (22)
26 (20)
0,623
382
(69)
–
457
(62)
B vs. 1: < 0,001*1
B vs. 3: 0,001*1
1 vs. 3: 0,012*1
Gesamt Phe-Zufuhr
333
Durchschnitt in mg (SD) (90)
B vs. 1: < 0,001*2
B vs. 3: < 0,001*2
1 vs. 3: 0,628
Phe-Zufuhr aus Obst/
76
Gemüse
(43)
Durchschnitt in mg (SD)
49
(22)
–
83
(24)
B vs 1:0 ,020*
B vs 3: 0,953
1 vs 3: 0,013*
Obst-/Gemüseverzehr
Durchschnitt in % der
FKE-Empfehlungen (SD)
90
(33)
–
92
(28)
0,858
91
50
Tab. 1: V
ergleich der Diätführung bei PKU mit und ohne Bilanzierung von Obst und Gemüse nach 1, 2 und 3 Jahren
FKE = F orschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund, Phe = Phenylalanin, PKU = Phenylketonurie, SD = Standardabweichung
ilk’s multivariate Analyse der Varianz (MANOVA) mit „Zeit“ als Innersubjektfaktor über 4 Studienphasen. Signifikanz wurde angenommen
W
bei p < 0,05
*1
Vergleich der Phe-Zufuhr ohne Berücksichtigung des altersentsprechenden Anstiegs der Phe-Toleranz
*2
Vergleich der Phe-Zufuhr unter Berücksichtigung des altersentsprechenden Anstiegs der Phe-Toleranz
– valide Nahrungsprotokolle nicht für alle Patienten verfügbar
*
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DOI: 10.4455/eu.2014.031
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