M ART IN LUT H E R UND DAS JUD E NT UM MARTIN L UTHER 183 UND DAS J UDENTUM R ÜCKBLICK UND AUFBRUC H Informationen zur Wanderausstellung 1 Wanderausstellung Martin Luther und das Judentum – Rückblick und Aufbruch Die Ausstellung besteht aus insgesamt 17 Rollups, zwölf breiten und fünf schmalen. Auf drei Textilbannern mit Hängevorrichtung befinden sich Impressum, Autoren-Kurzbiografien und Bildnachweis. Zur Ausleihe kontaktieren Sie bitte: Pfarrer Dr. Bernd Krebs Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Georgenkirchstr. 69 10249 Berlin Tel. 030/24344 – 381 [email protected] Publikation Der durchgehend farbige Katalog enthält den gesamten Inhalt der Ausstellung, dazu einen geschichtlichen Überblick und ein ausführliches Literaturverzeichnis. Format DinA5 quer, Hardcover, 192 Seiten. Eine Ausstellung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Touro College Berlin Eine englische Version wird vorraussichtlich im Herbst 2016 erscheinen. Werbemittel Gefördert durch die Da die Werbemittel konsequent im Erscheinungsbild gehalten werden sollen, aktualisieren wir sie nach Ihren Vorgaben. Es existieren bereits Vorlagen für Flyer und DinA Plakat hoch zur allgemeinen Ankündigung und ggfs. einem Rahmenprogramm. Sie können entweder Druckvorlagen oder auch fertig gedruckte Produkte bestellen. Weitere Werbemittel auf Anfrage. Für die Anpassung und Anfragen zu Druckpreisen kontaktieren Sie bitte unsere Grafikerin Bettina Kubanek: [email protected] | (030) 52 66 34 15 Übersicht martin L ut h e r und das J ude nt um 2 Denn es ist eine große Gefahr, die vorigen Dinge zu vergessen und wieder in sie hineinzugeraten. Martin Luther in seiner Vorlesung über das 1. Buch Mose, 1535–1545 Martin Luther hat ein schwieriges Erbe hinterlassen. In der Anfangszeit der Reformation hat er dafür plädiert, die Juden menschlich zu behandeln. Später hat er sie unerträglich geschmäht und die Anwendung von Gewalt gegen sie gefordert. Auch sein übriges Schrifttum lässt keinen Raum für jüdisches Leben. Alles Licht fällt auf die Seite des Evangeliums, alles Dunkel auf die jüdische Seite, symbolisiert vom Gesetz ohne Gnade. Lucas Cranach senior und junior, ihre Werkstatt und andere Künstler haben diese Auffassung Luthers auf vielen Bildern umgesetzt. Von zwei Beispielen nimmt die Ausstellung ihren Ausgang. Durch die Aussagekraft von Cranachs Bildern und durch Luthers eigene Schriften ist dessen negative Sicht des Judentums durch die Jahrhunderte hin wirksam geworden. Das jüdische Selbstbild blieb bedeutungslos, obwohl Jesus, wie Luther anfangs betonte, „ein geborner Jude“ war. Auf den historisch angeordneten Tafeln erhalten jüdische und christliche Perspektiven Raum. Sie sind durch farbige Hintergrundflächen gekennzeichnet: christlich jüdisch Übereinstimmend mit der Zusammensetzung der Arbeitsgruppe ist auch der überwiegende Teil der Texte, die die jüdische Seite betreffen, von christlichen Mitgliedern verfasst. Erst nach dem Holocaust haben die evangelischen Kirchen begonnen, sich dem lastenden Erbe von Luthers Judenfeindschaft zu stellen. Hier reiht sich die Ausstellung ein. Sie wird von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und dem Touro College Berlin getragen und ist von einer Arbeitsgruppe beider Institutionen erarbeitet worden. rückbLick und Eine Ausstellung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Touro College Berlin aufbruch Ausstellungstafeln, nummeriert (RollUps: 12 Stück breit 150 x 230cm / 5 Stück schmal: b 80 x h 230cm) Gefördert durch die 1 ei n e b i b e L – z w e i L e k t ü r e n 2 di e a n f ä n g e – J u d e n t u m u n d a Lt e k i r c h e 3 weLtLiche macht, kirche und Jüdische gemeinden im mitteLaLter Martin Luther steht in Traditionen, die bis an die Anfänge des Christentums zurückreichen. Im Rahmen seiner Auslegung der Bibel hat er sie teils in ihrer ursprünglichen Form, teils in der Gestalt aufgenommen, in der sie im Lauf der Kirchengeschichte ausgeprägt wurden. Jene Anfänge der Kirche aber sind nicht ohne ihre Verwur zelung in der biblisch-jüdischen Geschichte zu verstehen. Die 1000-jährige Zeit des christlichen Mittelalters (500–1500) ist für das Judentum in weiten Teilen Europas eine Epoche von anfänglichem Miteinander und erzwungenem späterem Niedergang. Zuerst heißt man die Juden aufgrund ihrer Fertigkeiten willkommen. Später betrachtet man sie als unliebsame Konkurrenten auf wirtschaftlichem und religiösem Gebiet und diskriminiert, verfolgt, vertreibt oder ermordet sie. Dennoch hat es auch in dunklen Zeiten Phasen eines friedlichen Miteinanders von Christen und Juden sowie kaiserlichen und päpstlich-bischöflichen Schutz jüdischer Gemeinden gegeben. Die wenigsten Menschen konnten im 16. Jahrhundert lesen und schreiben. So hat der Wittenberger Maler Lucas Cranach die Lehre Martin Luthers (1483–1546) und der Reformation auf einem leicht verständlichen und oft von ihm und anderen wiederholten Bild für alle zusammengefasst. Aus christlicher Sicht könnte man es überschreiben: Der Herr wird euch selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären. ( Jes. 7,14) Es wird offenbart Gottes Zorn vom Himmel über aller Menschen gottloses Wesen und Unrecht. (Röm. 1,18) lichT s TaTT Dunkel In jüdischer Sicht ist das Lehrbild Cranachs lückenhaft. Von der Zuwendung des Schöpfers zu den Kindern Israel und dem Versprechen seiner bleibenden Treue findet sich kaum eine Spur. Vor allem lässt das Bild nichts von dem Wichtigsten erahnen: Das Gesetz, die von Mose auf dem Berg Sinai empfangene Tora, ist für Jüdinnen und Juden in erster Linie nicht Ankläger, sondern eine kostbare Gabe. Sie ist mit Dank und Treue zu beantworten, dem Evangelium vergleichbar. Auf der rechten Bildseite steht vorn der verlorene Mensch. Johannes der Täufer verweist ihn auf den gekreuzigten Christus. Ein Blutstrahl geht von dem Gekreuzigten aus, der den Menschen von seinen Sünden reinigt. Unter dem Kreuz aber entsteigt der auferstandene Christus dem Grab, unter seinen Füßen die besiegten beiden Monster. Im Hintergrund des Bildes wird die Vorgeschichte der Erlösung angedeutet: Maria empfängt das Jesuskind vom Himmel herab, den Hirten auf dem Felde wird die Weihnachtsbotschaft verkündigt und eine Erzählung aus dem Alten Testament deutet auf das erlösende Geschehen am Kreuz voraus. Sie sind allzumal Sünder und mangeln, dass sie sich Gottes nicht rühmen mögen (können). (Röm. 3,23) Die Sünde ist des Todes Durch das Gesetz kommt Spieß, aber das Gesetz ist Erkenntnis der Sünden. (Röm. 3,20) der Sünden Kraft. Das Gesetz und die und die Propheten gehen bis auf die Zeit des Johannes. (1. Kor. 15,56) Das Gesetz richtet Zorn an. (Röm. 4,15) (Mt. 11,13) Der Gerechte lebt seines Glaubens. (Röm. 1,17) Wir halten (dafür), dass ein Mensch gerecht werde durch den Glauben, ohne Werke des Gesetzes. (Röm. 3,28) Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. Johannes der Täufer. ( Joh. 1,29) In der (durch die) Heiligung des Geistes zum Gehorsam und zur Besprengung des Blutes (mit dem Blut) Jesu Christi. (1. Petr. 1,2) Der Tod ist verschlungen im Sieg. Tod, wo ist dein Spieß? Hölle, wo ist dein Sieg? Dank habe Gott, der uns den Sieg gibt durch Jesus Christus, unsern Herrn. (1. Kor. 15,54–55) 1 Oft sind den Lehrbildern am oberen und unteren Rand die Bibelstellen vor allem aus dem Neuen Testament beigegeben, auf die sich die einzelnen Teile des Bildes stützen. So ist es auch bei diesem Bild Gesetz und Evangelium aus der Werkstatt Lucas Cranachs, nach 1529 eine zusammenfassung der Theologie luthers Außer von Lucas Cranach (1472–1553) sind Lehrbilder dieser Art von seinem gleichnamigen Sohn (1515–1586), von seiner Werkstatt, von seinen Schülern und anderen Malern angefertigt worden. Meistens sind sie farbig und auf Holz gemalt. Gelegentlich sind die erklärenden Bibelverse wie auf dem nebenstehenden Bild lateinisch beigegeben. Dieses Bild stammt von Lucas Cranach senior oder junior. Es ist wie der obige Holzschnitt eine „gemalte Zusammenfassung der Theologie Luthers“ (Martin Treu). Es beschließt deshalb auch den biografischen Rundgang durch die Dauerausstellung des Lutherhauses in Wittenberg. 2 Unten: Lucas Cranach d. Ä. / d. J., Gesetz und Gnade, um 1550 Die Reichweite Die alttestamentliche Erzählung vom rettenden Anblick der ehernen Schlange (4. Mose 21; vergleiche Johannes 3) ist auf dem farbigen Tafelbild – anders als auf dem Holzschnitt – im Hintergrund der linken Bildhälfte angedeutet. Neben diesem Unterschied gibt es weitere. Die beherrschende Bildanlage aber bleibt auf fast allen Bildern gleich: Auf der rechten Hälfte ist die befreiende Botschaft der Reformation nachgezeichnet. Auf der linken Seite werden das Elend des Menschen und seine Zukunftslosigkeit ins Bild gesetzt. Symbol dafür ist die verdorrte Baumhälfte in der Mitte des Bildes. In die Düsternis der linken Bildhälfte gerät zusammen mit allen Menschen auch die jüdische Gemeinschaft. 3 Lucas Cranach d. Ä. / d. J., Epitaph-Flügelaltar für Herzog Johann Friedrich von Sachsen und seine Familie, 1555 (Ausschnitt, gesamtes Bild auf Tafel 6) Der Ausschnitt mit den Porträts von Lucas Cranach d. Ä. und Martin Luther ist dem Mittelteil des Altarbildes in der Stadtkirche St. Peter und Paul in Weimar entnommen. Das Bild wird beherrscht von einer Darstellung des Gekreuzigten, von dem ein sühnender Blutstrahl auf das Haupt des Malers niedergeht. Im hier nicht wiedergegebenen Hintergrund des Bildes sind weitere Motive des Themas „Gesetz und Gnade“ wiederholt. Auf diese Weise hat Cranach sich selber in die Aussage des von ihm so oft gemalten Motivgeflechts einbezogen. Das Blut Jesu Christi reiniget vnns (von) allen sunnden. In (der er)sten Epis(tel) Joan(nis) am I Ca(pitel): Darum so last vns hin zu tretten mit Freidigkeit zu dem Gnadenstul auff das wir Barmherezigkeit empfa- T e m p e l u n D T o Ra Die ganze BiB el auf einem BilD Auf der linken Seite im Hintergrund werden Adam und Eva von der Schlange verführt. Sie übertreten das göttliche Gebot und werden von den Monstern Tod und Teufel in die Feuerhölle getrieben. Mose, begleitet von den Propheten, hält dem fliehenden Menschen das übertretene göttliche Gesetz entgegen, das den Sünder verklagt. Über allem aber thront Christus als Richter, der das Urteil spricht. Auf dem Berg Sinai empfängt Mose außer den beiden Bundestafeln auch die Gesetze für den späteren Bau des Tempels und für die Anfertigung seiner Kultgeräte (2. Mose 25–31). Die Dekalogtafeln erhalten ihren Platz in der Bundeslade. Sie ist der Ort der unsichtbaren Gegenwart Gottes in seinem Volk und erhält später ihren Platz im Allerheiligsten des Tempels in Jerusalem. Nach der Zerstörung des Ersten Tempels (586 v. d. Z.) beginnt das Exil der Juden in Babylon und am Ende des 6. Jahrhunderts die Zeit des Zweiten Tempels. In politischen und gesellschaftlichen Konflikten bildet das Judentum im Land Israel neue Lebensformen aus. In den umliegenden Ländern entstehen blühende Diasporagemeinden. erbe und auftrag Alter christlicher Tradition folgend hat Martin Luther die Kirche als alleinige Erbin und allein befähigte Auslegerin der Bibel gesehen. Er hat jüdisches Verständnis der Bibel, insbesondere des Gesetzes, an zahllosen Stellen attackiert. Gelegentlich hat er verständnisvolle Worte für die Lage der Juden. Auch finden sich manche bemerkenswerten Aussagen über das Gesetz. Ungeachtet dessen ist der Reformator vor Schmähworten gegen die jüdische Gemeinschaft und ihren Umgang mit dem Gesetz, vor verleumderischen Anschuldigungen und vor Aufrufen zu ihrer Vertreibung nicht zurückgeschreckt. 1 Mose gibt den Israeliten die Bundestafeln kund und legt sie in die Bundeslade. Weltchronologie, Niederlande, 15. Jahrhundert 5 Juliana Heidenreich, Schall und Rauch am Berg Gottes, 2004 Auf Hebräisch ist – als mündliche Rede im Wolkendunkel der Offenbarung zerfließend – der Anfang der Bundestafeln zu lesen: „Ich bin der HErr, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhause. Du sollst nicht haben …“ (2. Mose 20,2). Rechts darunter folgt in Druckbuchstaben die Fortsetzung dieses Gebotes: „andere Götter neben mir …“. Auf der gegenüberliegenden Seite des Berges steht der Anfang von 2. Mose 19 (V. 1–10), der Bericht über die Vorbereitungen für die Offenbarung. Deren Licht erstrahlt bis zur Lagerstätte des Volkes hinab. Ein Baum des Lebens ist sie Nach lutherischem Verständnis hat Israel am Berg Sinai die Zehn Gebote empfangen. Nach jüdischem Verständnis ist diese Gabe eingebettet in ein umfassenderes Geschehen. Nach der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten offenbart sich Gott seinem Volk und schließt mit ihm durch Mose einen Bund. Was Israel in diesem Bund zu tun hat, erfährt es wegweisend auf den beiden Bundes- oder Gesetzestafeln. Sie stehen stellvertretend für die ganze Tora, wie sie in den 5 Büchern Mose niedergelegt ist. 3 Eine Schriftrolle vom Toten Meer mit einem der ältesten Bibelkommentare, dem Pescher Habakuk aus Höhle 1 von Qumran 4 Relief mit gefangenen Juden und eroberten Tempelgeräten auf dem Triumphbogen für Kaiser Vespasian und seinen Sohn Titus in Rom nach ihrem Sieg im 1. Jüdisch-Römischen Krieg (zeichnerische Rekonstruktion) Vornehmlich am Schabbat wird in einem festgelegten Ritus aus einer Torarolle mit den 5 Büchern vorgelesen. Im Rahmen dieses Ritus hebt der Vorbeter die geöffnete Rolle hoch empor und zeigt sie der Gemeinde, indem er verkündet: „Dies ist die Tora, die Mose vor die Kinder Israel gelegt hat, auf Befehl Gottes durch Mose. Ein Baum des Lebens ist sie denen, die an ihr festhalten …“ 6 Unten: Marc Chagall, Mose empfängt die Gesetzestafeln, 1931 Das Bild hebt den himmlischen Ursprung der Tora hervor. Die Strahlen auf dem Haupt des Mose, oft als Hörner dargestellt, sind ein Widerschein seiner Gottesbegegnung (vergleiche 2. Mose 34,29). 2 Der Zweite Tempel in seiner von Herodes erneuerten Gestalt mit dem Vorhof der Frauen im Vordergrund (Rekonstruktion) 4 Solomon Alexander Hart, Das Jubelfest über das Gesetz in der Synagoge von Livorno, 1850 Luthers düsteres Bild vom jüdischen Volk und seinem Gesetz hat die Kirchen lutherischer Prägung über Jahrhunderte hin mehr oder weniger bestimmt. Umso mehr gilt es, die Tora als Zentrum jüdischen Lebens auch mit jüdischen Augen sehen zu lernen. 5 Unten: Ein Blatt aus einer Handschrift des Babylonischen Talmuds, Frankreich, 1238 Grundlage der beiden zwischen 500 und 800 abgeschlossenen Talmude ist die um 200 zusammengestellte Mischna. Sie erfasst die bis dahin neben der Bibel ausgebildete Rechtstradition (= Halacha). Die beiden Werke enthalten außer der Mischna vor allem die nachfolgenden Diskussionen über deren Rechtsüberlieferungen. 7 Unten: Beter mit Torarolle und Gebetsschal, Italien, um 1400 In einer weit zurückreichenden Tradition wird die persönliche Beziehung des einzelnen Beters zur Tora veranschaulicht, indem er mit einer Torarolle im Arm dargestellt wird, wie sie im Gottesdienst für die Vorlesung aus den 5 Büchern Mose benutzt wird. gruppen und Bewegungen konflikte In der Gewissheit, dass er lebt und wiederkommen wird, entstehen nach seinem Tod Gemeinden Jesu im Land Israel und rund ums Mittelmeer. Sie verkündigen ihn als Messias und Gottessohn. Die Pharisäer, weithin Laien aus der Mittelschicht, bilden die Vorstellung von einer zweifachen Tora aus. Neben der schriftlichen sei Mose die ständig neu zu bestimmende und darum beweglichere mündliche Tora für die Gemeinde Israels übergeben worden. Der Ort ihrer Pflege wie auch die Stätte der Bibelauslegung ist die Synagoge. In der Diaspora machen sich die neuen Missionare Feinde, weil sie Freunde der Synagoge für ihre messianischen Gemeinden aus Juden und Nichtjuden abwerben. Sie erklären Letztere auch ohne Beschneidung für vollgültige Kinder Abrahams. Und sie beanspruchen für sich und ihre Gemeinden, aufgrund der geglaubten Begabung mit dem Heiligen Geist die wahren Erben und Deuter der jüdischen Bibel zu sein. Die Zeloten und andere Aufstandsgruppen versuchen im 1. Jüdisch-Römischen Krieg (66 –74) erfolglos, das Land von der römischen Herrschaft zu befreien. Im Jahr 70 wird Jerusalem erobert und geschleift. Der Tempel wird zerstört und große Teile der jüdischen Bevölkerung des Landes werden in die Sklaverei verkauft. Der neubeginn nach der zerstörung Die zweifache, lebendige Tora und die Institution der Synagoge ermöglichen nach dem Jahr 70 eine grundlegende Neugestaltung des Judentums. Sie schließt auch eine scharfe Grenzziehung gegenüber abweichenden Gruppen ein. Der erfolglose 2. Jüdisch-Römische Krieg unter dem messianisch ambitionierten Heerführer Bar Koseba (Bar Kochba) ist nur noch eine Episode (132–135). Beide Talmude werden bereichert um eine Vielzahl von Auslegungen der biblischen Bücher (Midraschim) und durch die Ausbildung einer vielfältigen Gebetstradition. In allen diesen Werken werden auf je eigene Weise das Gedenken an den Tempel, die Hoffnung auf seinen Wiederaufbau und die Erwartung der Rückkehr nach Zion, in das angestammte Land, wachgehalten. hen und Genade finden auf die zeit wann vns hülff nodt sein wirde. Zum Ebreern (An die Hebräer) am 5. (4.) Cap. 6 Mantel für eine Torarolle, Mähren, 18. Jahrhundert Die Abbildungen auf dem Umhang – die beiden Dekalogtafeln aus der Bundeslade, der Tisch (mit den zwölf Schaubroten, der Schüssel und der Kanne für das Trankopfer) und der siebenarmige Leuchter – bringen die enge Verbindung zwischen Tora und Tempel zum Ausdruck. Vergleiche 2. Mose 25. Gleich wie Moses in der wusten (Wüste) ein Schlang erhohet hat also mus auch des menschen Son erhohet werden, auf das alle die an (ihn glauben das ewige Leben haben. Johannes 3.) 8 Otto Dix, Ecce homo III, 1949 Ein Künder der Nähe des Gottesreiches, ein Exorzist des Bösen, ein Freund der Gescheiterten, ein Erzähler unvergesslicher Gleichnisse, ein Lehrer, der die Tora vereinfacht und radikalisiert, ein einsamer Beter, ein unbequemer Aufrührer im Tempelareal, von der eigenen Behörde ausgeliefert an den römischen Präfekten Pontius Pilatus, am Ende ein Märtyrer von Römerhand – so zeigen die Evangelien Jesus von Nazareth. Wie der ( Jesus) einen grässlichen, ganz grässlichen Tod stirbt. Da hängt man den als wunderschönen Knaben da dran. … Anstatt alles genau, ganz realistisch zu sehen, um das Wunder der Auferstehung noch viel größer zu machen. 7 Christus lehrend, Initiale in einer mittelalterlichen Handschrift Zu den Gruppen, die im 1. Jahrhundert n. d. Z. das Leben im Land Israel prägen, gehören Sadduzäer, Essener, Pharisäer, Zeloten und messianische Bewegungen wie diejenige Jesu von Nazareth. Die Sadduzäer vertreten die Belange des Tempels und der gesellschaftlichen Oberschicht. Die Essener suchen von ihrem Zentrum am Toten Meer aus die Gemeinde Israels zu erneuern. Die Zukunft hat zwei geografische Zentren, das Land Israel und vor allem die große babylonische Diaspora. Sie ist bis etwa zum Jahr 1000 der Mittelpunkt jüdischen Lebens außerhalb Israels. In beiden Zentren werden die großen Traditionswerke des Judentums geschaffen, der Jerusalemer und der umfangreichere Babylonische Talmud. 8 Unten: Marc Chagall, Rabbiner mit Torarolle, 1930 Als Gebetskleidung trägt er ein Käppchen (Kippa), einen Gebetsschal (Tallit) und Gebetsriemen (Tefillin) mit Kapseln an der Stirn und in der linken Armbeuge. Sie enthalten Pergamentstreifen mit hebräischen Texten aus den 5 Büchern Mose, u.a. aus dem Bekenntnis Höre Israel. J e s u s v o n na z a R e T h u n D s e in e B e w e g u n g Otto Dix, 1949 1 Der Minnesänger Süßkind von Trimberg (13. Jahrhundert) mit Judenhut in christlicher Gesellschaft Manessische Liederhandschrift, 14. Jahrhundert 2 Ein jüdischer Pfandleiher mit zwei Kunden und seiner Familie, Nürnberg, 1491 einstellungen entwicklungen In der Anfangszeit sind die christlichen Gemeinden gegenüber den jüdischen in der Minderzahl. Im 4. Jahrhundert wird das Christentum erst staatlich favorisiert, dann Staatsreligion. Zahlreiche Menschen strömen in die Kirche. Eine antijüdische Gesetzgebung beginnt. Der Kirchenvater Augustin begründet um diese Zeit die fortan im Abendland vorherrschende christliche Lehre über die Juden: Für die Ablehnung und vermeintliche Ermordung ihres Messias sind sie mit dem Verlust ihres Landes und ihres Staates, ihres Tempels und der Heiligen Stadt Jerusalem bestraft und zu bleibender Knechtschaft verurteilt. Durch ihre Zerstreuung in alle Welt und durch die Weitergabe der alten biblischen Schriften aber bezeugen sie zugleich Alter und Echtheit der christlichen Wahrheit. Erst am Ende der Tage wird sich ihnen der Gott Israels und Schöpfer der Welt wieder zuwenden. Ihre rechtliche Stellung als sogenannte Kammerknechte des Kaisers schützt sie und dient zugleich ihrer finanziellen Ausbeutung. Ihre Berufsausübung wird mehr und mehr auf Kleinhandel, Pfandleihe und Zinsgeschäft eingeschränkt. verleumdungen Drei verleumderische Beschuldigungen zielen darauf ab, die Vergehen an den Juden zu rechtfertigen: Bald kommt es zu Konflikten. Der Jerusalemer Stephanus wird Opfer einer Lynchjustiz, weil er sich gegen Tempel und Tora wendet. Die Verhaltensweisen der neuen Gemeinden zu ihrer Mutterreligion sind unterschiedlich. Missionskonflikte oder andere Rivalitäten führen zu scharfer polemischer, auch abwertender Rede. Christlicher Überheblichkeit Israel gegenüber sucht ein Paulus Einhalt zu gebieten. Vorherrschend ist eine wechselseitige Ablehnung, die den anderen nicht zu Gesicht kommen lässt. Selten sind kooperative Kontakte. J ü Dis c h e s le B e n im m iT T e l a lT e R Das Städtedreigestirn Speyer, Worms und Mainz sowie Trier und die Messestadt Köln sind im 10. und 11. Jahrhundert die Zentren jüdischen Lebens in Deutschland. Sie wachsen in dieser Zeit von 4–5.000 auf insgesamt 20–25.000 Einwohner an, die vor allem als Fernhändler, Kaufleute und Ärzte tätig sind. Dazu kommt eine Vielzahl von Berufen, die den besonderen Erfordernissen jüdischer Gemeinden Rechnung tragen. Die Gemeinden sind relativ autonom und werden nach außen durch einen Stadtlan oder Judenbischof vertreten. Vom 13. Jahrhundert an gehen in immer kürzeren Abständen Verfolgungswellen über die Gemeinden hin. Um 1500 ist die jüdische Minderheit aus fast allen Städten in Deutschland vertrieben. Religiöse Polemik und die Trennung von lästigen Gläubigern gehen vielfach Hand in Hand. • Die Ritualmordbeschuldigung unterstellt, Juden würden Christenkinder schlachten, um mit ihrem Blut die ungesäuerten Brote für das Passa- oder Pessachfest zu bereiten. 9 Bibelfenster im Chor des Münsters St. Vitus in Mönchengladbach, um 1265 (Ausschnitte) Die Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingstfest in Entsprechung zur Gabe der Tora an Mose 3 Die Auswahl aus einer längeren Bildfolge zeigt den Diebstahl der Hostienpartikel, ihr vermeintliches Durchstechen in der Synagoge und deren Umwandlung in eine Kirche nach der Hinrichtung des christlichen Diebes und der beschuldigten Juden. Flugblatt über eine angebliche Hostienschändung in Passau 1477, Nürnberg, 1495 Alle drei Anschuldigungen enden vielfach mit Vertreibung, Verbrennung und Beraubung der jüdischen Einwohnerschaft. 4 Massenverbrennung von Juden in Wien 1421 Hartmann Schedel, Weltchronik, Nürnberg, 1493 10 Der Leuchter mit den zwei Bäumen Miniatur zu der prophetischen Vision Sacharja 4 Cervera-Bibel, Spanien, 1300 • Die Behauptung des Hostienfrevels bezichtigt sie, sie würden das geweihte Brot, den Leib Christi, durchstechen und zum Bluten bringen. • Der Vorwurf der Brunnenvergiftung soll die verheerende Pest in den Jahren um 1350 erklären. kirchliche agitationen So rühme dich nicht gegenüber den (ausgerissenen) Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel (Israel) trägt dich (die Kirche). 5 Eine teuflische Gestalt verschließt einem Juden die Augen, sodass er nicht die auf Jesus Christus bezogene Verheißung in Jesaja 7,14 erkennt, eine Jungfrau bzw. eine junge Frau werde einen Sohn mit Namen Immanuel gebären. Matfres Ermengans de Beziers, Lo Breviari d’amor, Katalonien, 14. Jahrhundert (Ausschnitt) Römerbrief 11,18 11 Unten: Jacob Jordaens, Die vier Kirchenlehrer, um 1620 Zusammen mit Augustin (2. v. l.) verdeutlichen die beiden lateinischen Kirchenväter Hieronymus (1. v. l.) und Ambrosius (1. v. r.) die Spannweite der Einstellungen zum Judentum im 4. /5. Jahrhundert in der Westkirche: Hieronymus lernt in Bethlehem Hebräisch für seine Bibelausgabe (Vulgata). Ambrosius, einflussreicher Bischof von Mailand, bewirkt die Zerstörung einer Synagoge im Vorderen Orient. Der Vierte im Bild, der rechtlich gesinnte Papst Gregor I. (2. v. r.), gehört bereits dem frühen Mittelalter an. Für die Ostkirche mag der hier nicht abgebildete griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomus stehen: Als Mitglieder seiner Gemeinde in Antiochien lieber die jüdischen Feste als seine Gottesdienste besuchen, hält er als „Heilmittel“ acht Schmähpredigten gegen die Juden, in denen er sie aufs Schlimmste verteufelt. 6 Unten: Bibelfenster im Chor des Münsters St. Vitus in Mönchengladbach, ca. 1265 (Ausschnitt) Die Verschonung der Israeliten durch den Anblick der von Mose auf einen Stab gesteckten ehernen Schlange als Vorabbildung der Erlösung durch den Gekreuzigten Immer neue Schriften gegen die Juden, antijüdische kirchliche Schauspiele, die verächtliche Gleichsetzung von Judas und Juden, erniedrigende Reliefs an Kirchen sowie die bildlich und durch Skulpturen dargestellte angebliche Verblendung und Teufelskindschaft der Juden tun das Ihre, um Abneigung und Hass gegen sie als gefürchtete Minderheit zu schüren. Zwangstaufen von Juden und ihre erzwungenen Besuche christlicher Gottesdienste sind als Mittel gedacht, jüdische Gemeinden auf „geistlichem“ Weg aufzulösen. Die Bibel als Band Zahllos sind im Mittelalter die Beispiele der sogenannten typologischen Bibelauslegung: Ereignisse des Alten Testaments werden als Vorabbildungen (Typen) von Geschehnissen des Neuen Testaments gedeutet. Die jüdische Bibel verblasst zu einer Vorabschattung des Neuen Testaments. Gegen Ende des Mittelalters beginnt man die Juden als Sprachhelfer zurate zu ziehen und macht sich nach und nach Bibelauslegungen jüdischer Gelehrter zunutze. Selbst die gemeinsame Arbeit an einer illuminierten Bibelhandschrift ist bezeugt. Das Motiv „Kirche und Synagoge“ (lat. Ecclesia und Synagoga) nimmt die im Neuen Testament verbreitete Aussage auf, dass das jüdische Volk verstockt sei und deshalb seinen Messias nicht erkenne und annehme. Insbesondere die Deutung, dass seine Augen verhüllt seien, ist immer wieder aufgegriffen worden. V om Wort zum Bi ld zur tat a n fa n g u n D we n D e Einen gravierenden Einschnitt bedeutet der Erste Kreuzzug. Kreuzfahrer und mitziehende Horden richten an seinem Beginn 1096 im Rhein-Mosel-Gebiet verheerende Verwüstungen und Massaker in den jüdischen Gemeinden an. Begünstigt wird dies durch eine rigide kirchliche Gesetzgebung. Sie fördert die Ausgrenzung der Juden durch Judenhut und Kennzeichen an ihrer Kleidung ( Judenring). 4 E c c l Es i a u n d sy n ag o g a Die Synagoge wird im Lauf der Zeit mehr und mehr als Feindin des Gekreuzigten dargestellt, die erniedrigt und dem göttlichen Gericht preisgegeben ist. Doch erscheint sie auch als Schwester der Kirche mit einer gemeinsamen Zukunft. Verschwistert 1 1 Byzantinische Emailarbeit, frühes 10. Jahrhundert 8 Innenansicht der 1034 erbauten Synagoge von Worms nach einem alten Stich Raschi Im Lehrhaus in Worms studiert Mitte des 11. Jahrhunderts einer der Großen des mitteleuropäischen Judentums, Rabbi Schlomo ben Jizchak, abgekürzt Raschi (1040–1105). Ins nordfranzösische Troyes zurückgekehrt, erschließt er für zahllose kommende Generationen, Juden und auch Christen, die jüdische Bibel und den Babylonischen Talmud, das grundlegende nachbiblische Traditionswerk. Angehörige seiner Familie führen sein Kommentarwerk fort. 2 Homiliar des Beda von Verdun, Ende 12. Jahrhundert 9 Behandlung eines Erzbischofs durch einen jüdischen Arzt Johann Schobser, Plenarium, Augsburg, 1487 Vornehmlich in den Familien begehen die Juden ihre prägenden Feiertage, den wöchentlichen Schabbat und die jährlichen Feste, allen voran das Pessachfest. Besonders an diesen Tagen werden sie ihrer Geschichte, ihres Auftrags und der ihnen verheißenen Zukunft gewiss. kulturelle akzente Bemerkenswerte Leistungen erbringen die Juden in Deutschland namentlich auf dem Gebiet der Halacha, der lebendigen Gesetzesauslegung, mit der sie auf immer neue Situationen zu reagieren haben. Die Kirche triumphiert. Die Synagoge ist ihr unterworfen und dient ihr als Podest für ihre Selbstdarstellung. Verblendet und schön 3–5 3–5 Von links nach rechts: Kopf der Synagoge am Straßburger Münster, um 1220/1230 – an der Kathedrale von Reims, Frankreich, 13. Jahrhundert – am Bamberger Dom, um 1230 In der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts entsteht eine Reihe von Skulpturen, denen geläufige Kennzeichen beigegeben sind: Die Krone der Synagoge ist herabgerutscht, ihre Lanze zer­ brochen, ihre Gesetzestafeln sind herabgesunken und ihre Augen verbunden. Zugleich sind die Gestalten von außerge­ wöhnlicher Schönheit. Sie ist Ausdruck der Gewissheit, dass beide, Synagoge und Kirche, ungeachtet ihrer gegenwärtigen Geschiedenheit zusammengehören. Hoffnungsvoll 6 Im Uhrzeigersinn: 10 Kinderschule (Cheder) nach einem alten deutschen Holzschnitt 11 Diskussion zwischen jüdischen Gelehrten im Lehrhaus Deutschland, Mitte 15. Jahrhundert 6 Evangeliar Heinrichs des Löwen, Ende 12. Jahrhundert 12 Vorbeter mit Gemeindegliedern im Synagogengottesdienst Machsor Leipzig, Süddeutschland, 1. Hälfte 14. Jahrhundert 7 Siddur, Gebetbuch, Deutschland, um 1300 13 Der Sederabend am Pessachfest Darmstädter Haggada, 14./15. Jahrhundert (Ausschnitt) Diese beiden Eckmedaillons sind der untere Abschluss einer Miniatur über Maria Magdalena am Grab Jesu und über ihre Begegnung mit dem Auferstandenen. Sie zeigen Eccle­ sia als Braut Christi und Synagoga als deren ihm gleich liebe Schwester. Jede von beiden ist gekrönt und die Synagoge ohne die traditionellen erniedrigenden Kennzeichen dargestellt. Die Schriftbänder zitieren das Hohelied (3,1; 5,17). In vielen mittelalterlichen christlichen Kommentaren wurden die darin wahrgenommenen beiden Schwestern hoffnungsvoll auf eine kommende Einheit von Kirche und Synagoge gedeutet. Sich wehrend 7 Trotz aller Verfolgungen ist eine Reihe eindrücklicher illuminierter Bibelhandschriften erhalten. Auch entwickelt sich in einzelnen Kreisen mystisches Gedankengut. Mit dem Jiddischen prägt das mittelalterliche Judentum eine eigene Sprache aus. Auf diesem Bild hat der jüdische Künstler die Plätze ver­ tauscht. Synagoga mit Judenhut reicht der gekrönten, aber blinden Ecclesia die Hand unter dem Anfangswort von Hohelied 4,8: „Komm mit mir, meine Braut vom Libanon.“ 8 Allegorie des Messopfers aus dem Missale von Noyon, vor 1250 gegenwehr Mit einer überkommenen Schmähschrift gegen das Christentum und seinen Begründer (Toledot Jeschu), mit niveauvolleren aggressiven Werken und mit meist verschlüsselten Abgrenzungen in ihren Gottesdiensten sucht die jüdische Gemeinschaft die eigenen Gemeindeglieder gegen die Versuchung zu wappnen, sich der verhassten Gruppe der Abtrünnigen aus ihrer Mitte zuzugesellen. Zugleich reagiert sie damit auf die von christlicher Seite erfahrene Unmenschlichkeit. Die Synagoge wendet sich von dem Gekreuzigten ab. Aber sie ist gemalt wie die Kirche, ohne erniedrigende Kennzei­ chen. unterworfen und erniedrigt 2 familie, fest und feier Neben den Kinderschulen und den Lehrhäusern als Orten des Lernens für Jugendliche und Erwachsene sind die Synagogen als Orte des Gebets und vor allem die Familien tragende Säulen des Judentums. 14 Unten: Bildseite gegenüber dem Titelblatt der Schocken-Bibel, Deutschland, 14. Jahrhundert Um das hebräische Anfangswort der Bibel (Bereschit) gruppieren sich 46 Szenen aus 1.– 4. Mose. 9 Elsässische Historienbibel, Hagenau, 1. Hälfte 15. Jahrhundert Beschuldigt 8 Die verblendete Synagoge ersticht das Lamm, aus dessen Wunde das erlösende Blut in den Kelch der Ecclesia strömt. Die Lanze der Synagoge zerbricht aufgrund des ihr angelas­ teten Christusmordes. Verteufelt und … 9 Der Teufel sitzt der Synagoge im Nacken und stößt ihr die Krone vom Haupt. … verdammt 10 7 Unten: Die Rückkehr des Mose nach Ägypten (2. Mose 4) und die Offenbarung an ihn aus dem brennenden Dornbusch (2. Mose 3) sind nach den Vorbildern der Flucht Marias und Josefs nach Ägypten (Matthäus 2) und der Verkündigung an die Hirten (Lukas 2) gestaltet. Die Illuminationen belegen die Mitarbeit eines christlichen Künstlers an der jüdischen Handschrift. Die Goldene Haggada, Barcelona, ca. 1320 (Ausschnitt) 10 Liber Floridus des Lambert von St. Omer, um 1120 Christus krönt die Kirche und schiebt die Synagoge von sich. Deren Krone ist ihr genommen, ihre Lanze zerbrochen. Noch halb Christus zugewandt, geht sie dem Höllenrachen ent­ gegen. Erstochen 11 11 Kirchenfenster der Stadtpfarrkirche St. Johannis in Werben /Elbe, 15. Jahrhundert Ecclesia reitet auf einer symbolischen Darstellung der vier Evangelien. Sie trägt Siegesfahne und Kelch in den Händen und wird von einer Hand aus dem Himmel gekrönt. Synagoga reitet auf einem zusammenbrechenden Esel, in den Händen die zerbrochene Fahne und – als Zeichen des beendeten Opferdienstes – den Kopf eines Ziegenbocks. Ihre Krone fällt von ihrem Haupt und eine Hand aus dem Him­ mel durchsticht ihr Haupt mit einem Schwert. Auf manchen Bildern wachsen die krönende und die tötende Hand aus dem Querbalken des Kreuzes heraus. 5 Luthers schriften für und gegen die Juden 6 Luthers Judenfeindschaft – wa r u m ? Verbale oder handgreifliche Gewalt gegen Juden und jüdische Gemeinden haben stets Anlässe. Sie können eingebildet, übertrieben oder gezielt unterstellt sein. In der Regel haben sie mit der Realität wenig zu tun. Auch im Fall Luthers gibt es eine bemerkenswerte Kluft zwischen dem, was alles er den Juden zur Last legt, und den tatsächlichen Verhältnissen. von DeR eRkennT nis DeR wahRheiT zum zeRRBilD Luther hat als Professor vor allem Vorlesungen über das Alte Testament gehalten, das umstrittene Erbe von Juden und Christen. So finden sich Äußerungen über Juden vornehmlich in seinen Auslegungen alttestamentlicher Bücher. 1 Panorama der Stadt Wittenberg, aus dem Reisetagebuch des Pfalzgrafen Ottheinrich, 1536 Rechts im Bild die Stadtkirche, Luthers Predigtstätte, links das Schloss Nur zweimal hat er dem Thema besondere Schriften gewidmet, in der Frühzeit der Reformation und in seinen letzten Lebensjahren. 2 Lucas Cranach d. Ä., Martin Luther, um 1532 luthers entdeckung der Juden als menschen Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei – so überschreibt Luther 1523 eine Schrift, die rasch viele Auflagen erlebt. Eins ihrer Ziele ist es, Jesus als den im Alten Testament verheißenen Messias zu erweisen und so vielleicht Juden für das Evangelium zu gewinnen. Luther übt in seinem Traktat schonungslose Kritik an dem bisherigen Verhalten der Christen. Nicht als Menschen hätten sie die Juden behandelt, sondern wie Hunde, hätten törichte Lügen wie die Ritualmordbeschuldigung und „anderes Narrenwerk mehr“ über sie verbreitet, sie ausgegrenzt und isoliert. 3 Der Auferstandene mit mittelalterlichem Judenhut beim Mahl in Emmaus (Lukas 24) Miniatur aus dem Psalter Ludwigs des Heiligen, England, 1. Hälfte 13. Jahrhundert Stattdessen solle man ihnen Liebe erweisen, sie beruflich und gesellschaftlich integrieren und ihnen nachbarlich begegnen, um ihnen so den Weg zu ihrem Messias zu ebnen. verweigerung erbetener hilfe 4 Titelholzschnitt von Luthers projüdischer Schrift Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei, Wittenberg 1523 5 Titelholzschnitt der ersten antijüdischen Schrift Luthers Von den Juden und ihren Lügen, Wittenberg 1543 1537 bittet der Sprecher der Juden in Deutschland Luther um Hilfe für die aus dem Kurfürstentum Sachsen vertriebenen Juden. Doch der weist ihn brüsk zurück. Seine Forderung von Lebenserleichterungen sei missionarisch motiviert gewesen. Da sich an der Christenfeindschaft der Juden jedoch nichts geändert habe, sei mit ihm nicht zu rechnen. Die unveränderte Judenfeindschaft der Christen spielt in der Antwort des Reformators keine Rolle. zwangsmaßnahmen 1538 polemisiert Luther gegen angebliche erfolgreiche jüdische Versuche in Mähren, Christen zum Judentum zu bekehren. In einer jüdischen Gegenschrift angegriffen, gibt er 1543 drei antijüdische Schriften heraus. In der ersten, Von den Juden und ihren Lügen, wirft er den Juden vor, sie würden, wann immer sie könnten, Jesus, Maria und die Christen lästern, ferner die Christen ausbeuten, ihnen nach dem Leben trachten, Landesverrat begehen und vieles andere mehr. Im Gegenzug greift er zu rüden rednerischen Mitteln und ruft die Obrigkeit zu zerstörerischen Zwangsmaßnahmen gegen die Juden im Land auf. verteufelung und aufruf zur vertreibung 6 Unten: Antijüdischer Holzschnitt mit Verleumdung der Juden als Teufel, 1571 (Ausschnitt) Luther verteufelt die Juden in seiner Schrift ebenso hemmungslos wie hasserfüllt. Er spricht ihnen nicht nur das rechte Bibelverständnis ab, sondern das Menschsein überhaupt. Durch Anzünden ihrer Synagogen und ihrer Häuser, durch Wegnahme der Bibel und ihrer religiösen Bücher, durch Berufsverbot für ihre Rabbiner und Pfandleiher, durch Zwangsarbeiten für ihre Jugend, durch Reiseverbot und erniedrigende Unterbringung („wie die Tiere“) sollen sie gesellschaftlich, wirtschaftlich und religiös verelenden und dadurch bekehrungswillig gemacht werden. Andernfalls soll die Obrigkeit sie vertreiben: „Drum immer weg mit ihnen.“ Auch gibt Luther der Erwägung Raum, jene Gräuelmärchen könnten zutreffen, die er einst selbst für blanken Unsinn erklärt hatte. Und wenn sie es auch nicht tun, so unterstellt er, so haben sie doch den Willen dazu. Anschuldigungen, Verleumdungen und die Aufforderung zur Vertreibung halten sich bis an Luthers Lebensende durch. Es gibt kaum etwas in Luthers Zeit, was sich seiner herausragenden Schrift von 1523 vergleichen ließe. Gelegentlich sucht man dies zwar herunterzuspielen. Man verweist auf ihre missionarische Abzweckung oder behauptet, Luthers Theologie sei in ihrem Verhältnis zum Judentum stets gleich geblieben. Das trifft jedoch nur zu, wenn man das Cranach-Bild ohne Einschränkung für das Ganze der lutherschen Theologie nimmt. Dies ist es jedoch in mehrfacher Hinsicht nicht. Das JuD enTum zu l uTheRs zeiT Zur Zeit von Luthers antijüdischen Traktaten gibt es bereits seit 100 Jahren keine jüdische Gemeinde mehr in Wittenberg. Ebenso wohnen im Kurfürstentum Sachsen insgesamt nur wenige Juden. Weder die Existenz von Synagogen noch von anderen Institutionen jüdischen Lebens ist belegt. v o m lic h T z u R fin s T e R n is 1 Kirchenschiff der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg mit Blick in den Altarraum 7 Betende Juden, Deutschland, 1471 siedlungsbereiche und erwerbsquellen Würde man den missionarischen Zweck der Schrift von 1523 als Einschränkung ihrer ethischen Bedeutung verstehen, dann würde man Luther nach heutigen Kriterien beurteilen, anstatt ihn an seinen eigenen Ausführungen zu messen. Für die Situation der Juden in Deutschland ist die Ansiedlung einzelner Familien und kleiner Gemeinden auf dem Land charakteristisch. Größere Gemeinden in Städten wie Frankfurt am Main und Worms sind die Ausnahme. Erwerbsquellen der Juden bilden wie bereits zuvor vor allem das Kleinkreditwesen, die Pfandleihe eingeschlossen, der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, der Viehhandel und gelegentliche gewerbliche Tätigkeiten. 2 Lucas Cranach d. Ä., Epitaph-Flügelaltar der Stadtkirche in Wittenberg, 1547 Dargestellt sind die drei Sakramente Taufe (links), Abendmahl (Mitte, Empfang des Kelchs durch Luther als Junker Jörg) und Beichte (rechts). Ihre schwierige soziale und wirtschaftliche Situation schürt bei nicht wenigen messianische Erwartungen. Unten: Luther als Prediger des Gekreuzigten in der Predella des Flügelaltars Josel von Rosheim Herausragende Gestalt des Judentums ist Josel von Rosheim im Elsass. Vor allem auf den Reichstagen sucht und erhält er die Unterstützung Kaiser Karls V. 8 Eine Jüdin und ein Jude aus Worms in typischer Kleidung und mit Judenring 1530 erreicht Josel die Ausweisung des Hebräischlehrers Anton Margaritha aus Augsburg. Der Konvertit hatte die erste deutsche Übersetzung des jüdischen Gebetbuches und eine Darstellung jüdischer Riten und Bräuche mit zahlreichen Angriffen auf das Judentum verbunden. In den Vierzigerjahren erwirkt Josel von Kaiser Karl V. eine Verbesserung der Rechtslage der Juden. 1539 erreicht er auf dem Frankfurter Fürstentag bei Luthers Landesherrn eine teilweise Rücknahme von dessen Vertreibungsmandat von 1536. Unter dem Einfluss von Luthers Schriften erneuert Johann Friedrich es jedoch bereits 1543. 9 Protestschreiben Josels von Rosheim zugunsten der Juden von Dangolsheim 10 Titelblatt der 1530 in Augsburg erschienenen Schrift von Margaritha Ebenfalls auf der Frankfurter Versammlung gelingt dem Sprecher der Juden mithilfe von Philipp Melanchthon der Nachweis, dass die Verbrennung von 38 Juden in Berlin 1510 als Ahndung eines angeblichen Hostienfrevels ein bischöflich bewirkter Justizmord war. 3 Lucas Cranach d. J., Luther mit der Hebräischen Bibel, 1560 Aufgeschlagen ist 1. Chronik 17,17, ein Wort König Davids an Gott, das der Reformator in seiner Übersetzung auf Jesus Christus deutet: „Und du hast angesehen Mich, als in der Gestalt eines Menschen, der in der Höhe Gott der HErr ist.“ Die Übertragung ist in der heutigen Luther-Übersetzung revidiert. Luther hat seine Auslegung in seiner dritten antijüdischen Schrift (Von den letzten Worten Davids) begründet. konversionen und kontakte Konversionen zum Christentum sind für die jüdische Seite oft schmerzlich, so vor allem im Fall Johannes Pfefferkorns. Anfang des Jahrhunderts fordert er die Verbrennung des Talmuds, des großen jüdischen Traditionswerkes aus der Antike. Es gilt im Judentum als wegweisender Ausdruck des mündlichen Gesetzes neben der schriftlichen, biblischen Tora. Die Verbrennung wird durch den Juristen und Hebraisten Johannes Reuchlin aus Pforzheim verhindert. Gelegentlich kommt es zur Zeit Luthers zu – literarisch stilisierten – christlich-jüdischen Religionsgesprächen über Fragen der Auslegung der Hebräischen Bibel. Der bedeutendste jüdische Beitrag zum jüdisch-christlichen Verhältnis besteht in der Unterrichtung christlicher Theologen im Hebräischen. Allen voran ist Elia Levita aus Süddeutschland zu nennen. Nach langen Jahren in Italien arbeitet er eng mit dem führenden christlichen Hebraisten und Theologen Sebastian Münster in Basel zusammen. 15 Titelblatt der Bibelausgabe von Sebastian Münster, Basel, 1936 Zum Missfallen Luthers hat Münster vielfach von jüdischen Kommentaren Gebrauch gemacht. In seiner Anfangszeit hat Luther die traditionelle religiöse Feindschaft gegen die Juden übernommen, ja teilweise verschärft. Erst nach und nach macht er sich die biblische Hoffnung für das jüdische Volk, wie sie Augustin und andere teilten, zu eigen und zieht daraus positive Konsequenzen für das Verhalten zu den Juden. 11 Lucas Cranach d. Ä., Kaiser Karl V., 1550 12 Rechts: Lucas Cranach d. J., Das Abendmahl, St. Johanniskirche in Dessau, 1565 Vorn links kniet Kurfürst (später Herzog) Johann Friedrich, rechts neben ihm ist Judas mit typischen antijüdischen Merkmalen dargestellt, rechts neben dem Gastgeber Philipp Melanchthon. 13 Unten links: Johannes Pfefferkorn (1469–1524), zeitgenössischer Kupferstich 14 Unten rechts: Johannes Reuchlin (1455–1522) 4 Unten: Kanzel der Andreaskirche in Eisleben Von dieser Kanzel verlas Luther während seines letzten Aufenthalts in Eisleben kurz vor seinem Tod seine Vermahnung wider die Juden, in der er seine Forderungen von 1543 erneuerte. Von den Erkenntnissen Luthers in seiner Frühzeit ist bereits Mitte der Zwanzigerjahre und dann vor allem in den späten Schriften nichts geblieben. Wie ist seine Wendung von einer konstruktiven zu seiner zerstörerischen Einstellung zu den Juden zu erklären? von luther genannte gründe Luther selbst nennt verschiedene Gründe: den mangelnden Erfolg seiner Schrift, vermeintliche jüdische missionarische Aktivitäten in Mähren, die ihm angeblich erst jüngst bekannt gewordenen Lästerungen Jesu, Marias und der Christen, durch deren Duldung Christen sich mitschuldig machten, und nicht zuletzt eine für beide Seiten enttäuschende Begegnung mit zwei oder drei in Wittenberg durchreisenden Juden bereits Mitte der Zwanzigerjahre. Die Aufforderung, die jüdische Bevölkerung zu vertreiben, zielt möglicherweise darauf ab, die neu gebildeten evangelischen Landeskirchen durch Ausschluss aller abweichenden Gruppen zu stabilisieren. Allerdings ließen sich von hier aus nicht die weiteren antijüdischen Schriften von 1543 erklären, in denen es allein um die jüdische und christliche Schriftauslegung geht (Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi und Von den letzten Worten Davids). Das zentrum des problems Diese beiden weiteren Schriften verstärken den bereits mit dem Traktat Von den Juden und ihren Lügen erweckten Eindruck, dass für Luther eine andere Bedrohung ausschlaggebend war. Seine Leitschnur war von Anbeginn: Wenn man das Alte Testament ohne das Neue verstehen kann, dann ist Christus umsonst gestorben. Alles hing für ihn daran, dass der Nazarener sein Leben nicht vergeblich, sondern zur Erlösung der Menschheit hingegeben hatte und dass dies keine christliche Erfindung, sondern im Alten Testament angebahnt war. Die jüdischen Ausleger und ihre christlichen Anhänger beharrten demgegenüber auf dem einfachen Sinn der jüdischen Bibel ohne Bezug auf Jesus Christus als Messias. Im Gegensatz zu der von ihm vertretenen Wahrheit war diese Sicht für Luther Ausdruck der Lüge. Sie stellte die Grundlegung der Kirche im Alten Testament infrage und rechtfertigte für ihn die Anwendung von Gewalt in Glaubensdingen. In seiner Frühzeit hatte er dies, unverblendet durch Angst und Hass, entschieden abgelehnt. Die jüngst vertretene These, Gewaltanwendung in Glaubensdingen sei in Luthers Zeit und für Luther selber selbstverständlich gewesen, tut deshalb all jenen Christen unrecht, die wie der Reformator 1523 für ein menschliches Verhalten zu den Juden eingetreten sind oder bereits vor ihm manchmal über ein Jahrhundert hin ein tolerantes, friedliches Miteinander mit den Juden an ihrem Ort gelebt haben. Johannes reuchlin (1455–1522) – sympathisierender Humanist g R e n z e n – u n D a n s ä T z e ih R e R ü B eRw in Du n g ? Das Cranach-Bild vom Beginn der Ausstellung („Gesetz und Evangelium“ oder auch „Gesetz und Gnade“) ist in dieser oder jener Form für viele Ausgaben von Luthers wegweisender Übersetzung der Bibel als Titelbild gewählt worden. Daran lässt sich ablesen, wie sehr es als beispielhafte Zusammenfassung seiner Lehre galt. 5 Lucas Cranach d. Ä. (Werkstatt), Koloriertes Titelblatt zur Luther-Bibel, Wittenberg, 1541 Die lutherisch-reformatorische Darstellung der Größe „Gesetz“, wie sie in Cranachs Bild festgehalten ist, ist nicht nur im Blick auf das Volk Israel und auf jüdisches Verständnis des Gesetzes (der Tora) lückenhaft. Sie gibt auch Luthers Verständnis des Wortes Gottes als Gesetz oder Gebot nur begrenzt sachgemäß wieder. Der Reformator des Herzogtums Braunschweig­ Lüneburg und seine Frau Anna beherrschen Hebrä­ isch und entfalten in einem umfangreichen Dialogus – sie als Fragerin, er als Lehrer – Jesus Christus als den im Alten Testament verheißenen Messias. Von Celle aus sucht Rhegius missionarischen Kontakt zu den jüdischen Gemeinden in Hannover und Bra Sobald das Gesetz seine Funktion, den Sünder zu verklagen, ausgeübt und den Verzweifelten in die Arme der Barmherzigkeit Gottes getrieben hat, kann der Reformator die göttlichen Gebote völlig anders würdigen. Sie werden zur Weisung, die den Willen Gottes benennt und das Miteinander der Menschen verbindlich regelt. Die „Lehre der Lehren“, einen „Ausbund göttlicher Lehre“, nämlich „für das, was wir tun sollen, damit unser ganzes Leben Gott gefalle“, und „den höchsten Schatz, der uns von Gott gegeben ist“, hat Luther die Zehn Gebote deshalb nennen können. Ebenso hat er das Hebräische als Sprache des Alten Testaments in den höchsten Tönen gelobt. 6 Franz Timmermann, Gesetz und Evangelium, 1540 Der Cranach-Schüler Franz Timmermann hat sich an das Vorbild seines Meisters angelehnt, die Gestaltung des Themas „Gesetz und Evangelium“ jedoch zugespitzt. In seiner Fassung liegen auf der rechten Seite außer den Monstern Tod und Teufel auch die beiden Dekalogtafeln unter den Füßen des Auferstandenen. Auf den Tafeln in der linken Bildhälfte hat er, den Evangelien folgend, statt der Zehn Gebote deren Zusammenfassung durch das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe wiedergegeben. cranachs Treue zum Dekalog Cranach senior und junior sind demgegenüber texttreuer verfahren. Auf dem Weimarer Altarbild haben sie das Motivgeflecht von „Gesetz und Gnade“ aufgenommen und freier als sonst gestaltet. Den Text der Dekalogtafeln haben sie jedoch wortgetreu auf Hebräisch wiedergegeben – bis dahin, dass sie auch den Beginn der Zehn Gebote übernommen haben: „Ich bin der HErr, dein Gott, der dich herausgeführt hat (aus dem Land Ägypten, dem Sklavenhaus).“ (2. Mose 20,2) Luther hat diesen Beginn nicht in seine Katechismen aufgenommen, weil er nur Israel gelten würde. luthers schriftauslegung Ohne den Absolutheitsanspruch seines Bibelverständnisses mit seinen Folgen für die Darstellung der Juden lässt sich Luthers Deutung des Alten Testaments auch heute noch vielfach mit Gewinn lesen. Aus dem Innersten der eigenen Glaubensexistenz kommend ist sie zwar nicht historisch „richtig“, oft jedoch hilfreich, wegweisend und tröstlich. Unter diesem Vorzeichen bewegt sich Luther dann auch ganz unerwartet in guter Nachbarschaft mit jüdischen Auslegern, die auf ihre Weise Freunde einer lebendigen, mehrschichtigen Deutung der Bibel sind. Noch in die vorreformatorische Zeit Luthers gehört der bereits erwähnte Johannes Reuchlin. Als der getaufte Jude Johann Pfefferkorn, vom inqui­ sitorischen Dominikanerorden vor­ geschoben, 1507 fordert, die Bücher der Juden, allen voran den Talmud, zu konfiszieren und zu verbren­ nen, tritt Reuchlin am Ende erfolg­ reich für deren Erhaltung ein. Luther profitiert wie viele andere von der hebräischen Grammatik Reuchlins. In einem frühen gutachtlichen Brief äußert er sich zugunsten des angeklagten Humanisten. urbanus rhegius (1489–1541) – schützender reformator Die zehn gebote als „lehre der lehren“ Luthers Auslegung der Zehn Gebote in seinem Kleinen und Großen Katechismus sowie auch einzelne Traktate zeigen übereinstimmend: Das Bild eines schülers 8 Z E i t g E n o s s En l u t h Er s Unter den Zeitgenossen Luthers herrscht eine große Bandbreite von Einstellungen zum Reformator und zur Frage einer angemessenen christlichen Sicht auf das Judentum. Auf jüdischer Seite folgt auf hohe Erwartung herbe Enttäuschung, auf christlicher begegnen nebeneinander so unterschiedliche Positionen, wie sie Luther in seinen Schriften von 1523 und 1543 vertreten hat. 7 Lucas Cranach d. Ä. / d. J., Epitaph-Flügelaltar (Mittelteil) in der Stadtkirche St. Peter und Paul in Weimar, 1555 8 Unten: Luther mit dem pommerschen Herzogshaus auf dem Croÿ-Teppich von Peter Heymans, Greifswald, 1555 (Ausschnitt) Rechts des Kanzelkorbs mit den Symbolen der vier Evangelisten ist Mose mit den Dekalogtafeln zu sehen. Sie enthalten hier das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. 0Titel/Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Eine Bibel – zwei Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2Die Anfänge – Judentum und Alte Kirche 3Weltliche Macht, Kirche und jüdische Gemeinden im Mittelalter . . . . 4 Ecclesia und Synagoga (schmal) 5Luthers Schriften für und gegen die Juden 6Luthers Judenfeindschaft – warum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Die Sau an den Kirchen (schmal) 8Zeitgenossen Luthers (schmal) 9Kanzeln von Mose getragen (schmal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Die Zeit der lutherischen Orthodoxie 11 Pietismus und Aufklärung 12Jüdische Emanzipation und kirchlicher Antisemitismus . . . . . . . . . . . 13 Versagen der Kirche und Holocaust 14 Das Luther-Jahr 1933 (schmal) 15 Die Gegenwart seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Perspektiven 2 3 4 5 6 7 8 Zusatzinformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 (Textilbanner mit Hängevorrichtung b 50 cm x h 150 cm) • Impressum • Autoren • Bildnachweis Werbemittel • Flyer Ankündigung (Din lang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 • Flyer Veranstaltungen (Din lang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 • Plakat Ankündigung / Plakat Veranstaltungen (DinA Hochformat) . . . . . 13 Publikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 (Din A5 quer, 192 Seiten, Hardcover) Ausstellungstafeln RollUp 150 x 230 cm martin L u t he r und das Judentum Denn es ist eine große Gefahr, die vorigen Dinge zu vergessen und wieder in sie hineinzugeraten. Martin Luther in seiner Vorlesung über das 1. Buch Mose, 1535–1545 Martin Luther hat ein schwieriges Erbe hinterlassen. In der Anfangszeit der Reformation hat er dafür plädiert, die Juden menschlich zu behandeln. Später hat er sie unerträglich geschmäht und die Anwendung von Gewalt gegen sie gefordert. Auch sein übriges Schrifttum lässt keinen Raum für jüdisches Leben. Alles Licht fällt auf die Seite des Evangeliums, alles Dunkel auf die jüdische Seite, symbolisiert vom Gesetz ohne Gnade. Lucas Cranach senior und junior, ihre Werkstatt und andere Künstler haben diese Auffassung Luthers auf vielen Bildern umgesetzt. Von zwei Beispielen nimmt die Ausstellung ihren Ausgang. Durch die Aussagekraft von Cranachs Bildern und durch Luthers eigene Schriften ist dessen negative Sicht des Judentums durch die Jahrhunderte hin wirksam geworden. Das jüdische Selbstbild blieb bedeutungslos, obwohl Jesus, wie Luther anfangs betonte, „ein geborner Jude“ war. Auf den historisch angeordneten Tafeln erhalten jüdische und christliche Perspektiven Raum. Sie sind durch farbige Hintergrundflächen gekennzeichnet: christlich jüdisch Übereinstimmend mit der Zusammensetzung der Arbeitsgruppe ist auch der überwiegende Teil der Texte, die die jüdische Seite betreffen, von christlichen Mitgliedern verfasst. Erst nach dem Holocaust haben die evangelischen Kirchen begonnen, sich dem lastenden Erbe von Luthers Judenfeindschaft zu stellen. Hier reiht sich die Ausstellung ein. Sie wird von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und dem Touro College Berlin getragen und ist von einer Arbeitsgruppe beider Institutionen erarbeitet worden. r üc k b Li c k und Eine Ausstellung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Touro College Berlin Gefördert durch die aufb r uc h 3 Ausstellungstafeln RollUp 150 x 230 cm 1 2 di e anf änge – J u d e nt um und aLt e k i rc h e ei n e b i beL – z w e i L e k t ü r en Martin Luther steht in Traditionen, die bis an die Anfänge des Christentums zurückreichen. Im Rahmen seiner Auslegung der Bibel hat er sie teils in ihrer ursprünglichen Form, teils in der Gestalt aufgenommen, in der sie im Lauf der Kirchengeschichte ausgeprägt wurden. Jene Anfänge der Kirche aber sind nicht ohne ihre Verwurzelung in der biblisch-jüdischen Geschichte zu verstehen. Die wenigsten Menschen konnten im 16. Jahrhundert lesen und schreiben. So hat der Wittenberger Maler Lucas Cranach die Lehre Martin Luthers (1483–1546) und der Reformation auf einem leicht verständlichen und oft von ihm und anderen wiederholten Bild für alle zusammengefasst. Aus christlicher Sicht könnte man es überschreiben: Es wird offenbart Gottes Zorn vom Himmel über aller Menschen gottloses Wesen und Unrecht. (Röm. 1,18) Der Herr wird euch selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären. ( Jes. 7,14) D i e g a n z e B i Be l a u f e i n e m Bil D l ichT s TaT T Du n ke l Tem pel u n D To R a Jes u s v o n na za ReT h u n D Auf der linken Seite im Hintergrund werden Adam und Eva von der Schlange verführt. Sie übertreten das göttliche Gebot und werden von den Monstern Tod und Teufel in die Feuerhölle getrieben. Mose, begleitet von den Propheten, hält dem fliehenden Menschen das übertretene göttliche Gesetz entgegen, das den Sünder verklagt. Über allem aber thront Christus als Richter, der das Urteil spricht. In jüdischer Sicht ist das Lehrbild Cranachs lückenhaft. Von der Zuwendung des Schöpfers zu den Kindern Israel und dem Versprechen seiner bleibenden Treue findet sich kaum eine Spur. Vor allem lässt das Bild nichts von dem Wichtigsten erahnen: Das Gesetz, die von Mose auf dem Berg Sinai empfangene Tora, ist für Jüdinnen und Juden in erster Linie nicht Ankläger, sondern eine kostbare Gabe. Sie ist mit Dank und Treue zu beantworten, dem Evangelium vergleichbar. Auf dem Berg Sinai empfängt Mose außer den beiden Bundestafeln auch die Gesetze für den späteren Bau des Tempels und für die Anfertigung seiner Kultgeräte (2. Mose 25–31). Die Dekalogtafeln erhalten ihren Platz in der Bundeslade. Sie ist der Ort der unsichtbaren Gegenwart Gottes in seinem Volk und erhält später ihren Platz im Allerheiligsten des Tempels in Jerusalem. s ei n e B eweg u n g Auf der rechten Bildseite steht vorn der verlorene Mensch. Johannes der Täufer verweist ihn auf den gekreuzigten Christus. Ein Blutstrahl geht von dem Gekreuzigten aus, der den Menschen von seinen Sünden reinigt. Unter dem Kreuz aber entsteigt der auferstandene Christus dem Grab, unter seinen Füßen die besiegten beiden Monster. Im Hintergrund des Bildes wird die Vorgeschichte der Erlösung angedeutet: Maria empfängt das Jesuskind vom Himmel herab, den Hirten auf dem Felde wird die Weihnachtsbotschaft verkündigt und eine Erzählung aus dem Alten Testament deutet auf das erlösende Geschehen am Kreuz voraus. Sie sind allzumal Sünder und mangeln, dass sie sich Gottes nicht rühmen mögen (können). (Röm. 3,23) Die Sünde ist des Todes Durch das Gesetz kommt Spieß, aber das Gesetz ist Erkenntnis der Sünden. (Röm. 3,20) der Sünden Kraft. (1. Kor. 15,56) Das Gesetz und die und die Propheten gehen bis auf Das Gesetz richtet die Zeit des Johannes. Zorn an. (Röm. 4,15) (Mt. 11,13) Der Gerechte lebt seines Glaubens. (Röm. 1,17) Wir halten (dafür), dass ein Mensch gerecht werde durch den Glauben, ohne Werke des Gesetzes. (Röm. 3,28) Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. Johannes der Täufer. ( Joh. 1,29) In der (durch die) Heiligung des Geistes zum Gehorsam und zur Besprengung des Blutes (mit dem Blut) Jesu Christi. (1. Petr. 1,2) Der Tod ist verschlungen im Sieg. Tod, wo ist dein Spieß? Hölle, wo ist dein Sieg? Dank habe Gott, der uns den Sieg gibt durch Jesus Christus, unsern Herrn. (1. Kor. 15,54–55) 1 Oft sind den Lehrbildern am oberen und unteren Rand die Bibelstellen vor allem aus dem Neuen Testament beigegeben, auf die sich die einzelnen Teile des Bildes stützen. So ist es auch bei diesem Bild Gesetz und Evangelium aus der Werkstatt Lucas Cranachs, nach 1529 eine zusammenfassung der Theologie luthers Außer von Lucas Cranach (1472–1553) sind Lehrbilder dieser Art von seinem gleichnamigen Sohn (1515–1586), von seiner Werkstatt, von seinen Schülern und anderen Malern angefertigt worden. Meistens sind sie farbig und auf Holz gemalt. Gelegentlich sind die erklärenden Bibelverse wie auf dem nebenstehenden Bild lateinisch beigegeben. Dieses Bild stammt von Lucas Cranach senior oder junior. Es ist wie der obige Holzschnitt eine „gemalte Zusammenfassung der Theologie Luthers“ (Martin Treu). Es beschließt deshalb auch den biografischen Rundgang durch die Dauerausstellung des Lutherhauses in Wittenberg. 2 Unten: Lucas Cranach d. Ä. / d. J., Gesetz und Gnade, um 1550 Die Reichweite Die alttestamentliche Erzählung vom rettenden Anblick der ehernen Schlange (4. Mose 21; vergleiche Johannes 3) ist auf dem farbigen Tafelbild – anders als auf dem Holzschnitt – im Hintergrund der linken Bildhälfte angedeutet. Neben diesem Unterschied gibt es weitere. Die beherrschende Bildanlage aber bleibt auf fast allen Bildern gleich: Auf der rechten Hälfte ist die befreiende Botschaft der Reformation nachgezeichnet. Auf der linken Seite werden das Elend des Menschen und seine Zukunftslosigkeit ins Bild gesetzt. Symbol dafür ist die verdorrte Baumhälfte in der Mitte des Bildes. In die Düsternis der linken Bildhälfte gerät zusammen mit allen Menschen auch die jüdische Gemeinschaft. 3 Lucas Cranach d. Ä. / d. J., Epitaph-Flügelaltar für Herzog Johann Friedrich von Sachsen und seine Familie, 1555 (Ausschnitt, gesamtes Bild auf Tafel 6) Der Ausschnitt mit den Porträts von Lucas Cranach d. Ä. und Martin Luther ist dem Mittelteil des Altarbildes in der Stadtkirche St. Peter und Paul in Weimar entnommen. Das Bild wird beherrscht von einer Darstellung des Gekreuzigten, von dem ein sühnender Blutstrahl auf das Haupt des Malers niedergeht. Im hier nicht wiedergegebenen Hintergrund des Bildes sind weitere Motive des Themas „Gesetz und Gnade“ wiederholt. Auf diese Weise hat Cranach sich selber in die Aussage des von ihm so oft gemalten Motivgeflechts einbezogen. Das Blut Jesu Christi reiniget vnns (von) allen sunnden. In (der er)sten Epis(tel) Joan(nis) am I Ca(pitel): Darum so last vns hin zu tretten mit Freidigkeit zu dem Gnadenstul auff das wir Barmherezigkeit empfa- hen und Genade finden auf die zeit wann vns hülff nodt sein wirde. Zum Ebreern (An die Hebräer) am 5. (4.) Cap. Gleich wie Moses in der wusten (Wüste) ein Schlang erhohet hat also mus auch des menschen Son erhohet werden, auf das alle die an (ihn glauben das ewige Leben haben. Johannes 3.) erbe und auftrag Alter christlicher Tradition folgend hat Martin Luther die Kirche als alleinige Erbin und allein befähigte Auslegerin der Bibel gesehen. Er hat jüdisches Verständnis der Bibel, insbesondere des Gesetzes, an zahllosen Stellen attackiert. Gelegentlich hat er verständnisvolle Worte für die Lage der Juden. Auch finden sich manche bemerkenswerten Aussagen über das Gesetz. Ungeachtet dessen ist der Reformator vor Schmähworten gegen die jüdische Gemeinschaft und ihren Umgang mit dem Gesetz, vor verleumderischen Anschuldigungen und vor Aufrufen zu ihrer Vertreibung nicht zurückgeschreckt. 1 Mose gibt den Israeliten die Bundestafeln kund und legt sie in die Bundeslade. Weltchronologie, Niederlande, 15. Jahrhundert 4 Solomon Alexander Hart, Das Jubelfest über das Gesetz in der Synagoge von Livorno, 1850 Luthers düsteres Bild vom jüdischen Volk und seinem Gesetz hat die Kirchen lutherischer Prägung über Jahrhunderte hin mehr oder weniger bestimmt. Umso mehr gilt es, die Tora als Zentrum jüdischen Lebens auch mit jüdischen Augen sehen zu lernen. Ein Baum des Lebens ist sie Nach lutherischem Verständnis hat Israel am Berg Sinai die Zehn Gebote empfangen. Nach jüdischem Verständnis ist diese Gabe eingebettet in ein umfassenderes Geschehen. Nach der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten offenbart sich Gott seinem Volk und schließt mit ihm durch Mose einen Bund. Was Israel in diesem Bund zu tun hat, erfährt es wegweisend auf den beiden Bundes- oder Gesetzestafeln. Sie stehen stellvertretend für die ganze Tora, wie sie in den 5 Büchern Mose niedergelegt ist. 5 Juliana Heidenreich, Schall und Rauch am Berg Gottes, 2004 Auf Hebräisch ist – als mündliche Rede im Wolkendunkel der Offenbarung zerfließend – der Anfang der Bundestafeln zu lesen: „Ich bin der HErr, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhause. Du sollst nicht haben …“ (2. Mose 20,2). Rechts darunter folgt in Druckbuchstaben die Fortsetzung dieses Gebotes: „andere Götter neben mir …“. Auf der gegenüberliegenden Seite des Berges steht der Anfang von 2. Mose 19 (V. 1–10), der Bericht über die Vorbereitungen für die Offenbarung. Deren Licht erstrahlt bis zur Lagerstätte des Volkes hinab. 7 Unten: Beter mit Torarolle und Gebetsschal, Italien, um 1400 In einer weit zurückreichenden Tradition wird die persönliche Beziehung des einzelnen Beters zur Tora veranschaulicht, indem er mit einer Torarolle im Arm dargestellt wird, wie sie im Gottesdienst für die Vorlesung aus den 5 Büchern Mose benutzt wird. 3 Eine Schriftrolle vom Toten Meer mit einem der ältesten Bibelkommentare, dem Pescher Habakuk aus Höhle 1 von Qumran 4 Relief mit gefangenen Juden und eroberten Tempelgeräten auf dem Triumphbogen für Kaiser Vespasian und seinen Sohn Titus in Rom nach ihrem Sieg im 1. Jüdisch-Römischen Krieg (zeichnerische Rekonstruktion) Vornehmlich am Schabbat wird in einem festgelegten Ritus aus einer Torarolle mit den 5 Büchern vorgelesen. Im Rahmen dieses Ritus hebt der Vorbeter die geöffnete Rolle hoch empor und zeigt sie der Gemeinde, indem er verkündet: „Dies ist die Tora, die Mose vor die Kinder Israel gelegt hat, auf Befehl Gottes durch Mose. Ein Baum des Lebens ist sie denen, die an ihr festhalten …“ 6 Unten: Marc Chagall, Mose empfängt die Gesetzestafeln, 1931 Das Bild hebt den himmlischen Ursprung der Tora hervor. Die Strahlen auf dem Haupt des Mose, oft als Hörner dargestellt, sind ein Widerschein seiner Gottesbegegnung (vergleiche 2. Mose 34,29). 2 Der Zweite Tempel in seiner von Herodes erneuerten Gestalt mit dem Vorhof der Frauen im Vordergrund (Rekonstruktion) 5 Unten: Ein Blatt aus einer Handschrift des Babylonischen Talmuds, Frankreich, 1238 Grundlage der beiden zwischen 500 und 800 abgeschlossenen Talmude ist die um 200 zusammengestellte Mischna. Sie erfasst die bis dahin neben der Bibel ausgebildete Rechtstradition (= Halacha). Die beiden Werke enthalten außer der Mischna vor allem die nachfolgenden Diskussionen über deren Rechtsüberlieferungen. 8 Unten: Marc Chagall, Rabbiner mit Torarolle, 1930 Als Gebetskleidung trägt er ein Käppchen (Kippa), einen Gebetsschal (Tallit) und Gebetsriemen (Tefillin) mit Kapseln an der Stirn und in der linken Armbeuge. Sie enthalten Pergamentstreifen mit hebräischen Texten aus den 5 Büchern Mose, u.a. aus dem Bekenntnis Höre Israel. Nach der Zerstörung des Ersten Tempels (586 v. d. Z.) beginnt das Exil der Juden in Babylon und am Ende des 6. Jahrhunderts die Zeit des Zweiten Tempels. In politischen und gesellschaftlichen Konflikten bildet das Judentum im Land Israel neue Lebensformen aus. In den umliegenden Ländern entstehen blühende Diasporagemeinden. Ein Künder der Nähe des Gottesreiches, ein Exorzist des Bösen, ein Freund der Gescheiterten, ein Erzähler unvergesslicher Gleichnisse, ein Lehrer, der die Tora vereinfacht und radikalisiert, ein einsamer Beter, ein unbequemer Aufrührer im Tempelareal, von 7 Christus lehrend, Initiale in einer mittelder eigenen Behörde ausgeliefert alterlichen Handschrift an den römischen Präfekten Pontius Pilatus, am Ende ein Märtyrer von Römerhand – so zeigen die Evangelien Jesus von Nazareth. gruppen und Bewegungen konflikte Zu den Gruppen, die im 1. Jahrhundert n. d. Z. das Leben im Land Israel prägen, gehören Sadduzäer, Essener, Pharisäer, Zeloten und messianische Bewegungen wie diejenige Jesu von Nazareth. Die Sadduzäer vertreten die Belange des Tempels und der gesellschaftlichen Oberschicht. Die Essener suchen von ihrem Zentrum am Toten Meer aus die Gemeinde Israels zu erneuern. In der Gewissheit, dass er lebt und wiederkommen wird, entstehen nach seinem Tod Gemeinden Jesu im Land Israel und rund ums Mittelmeer. Sie verkündigen ihn als Messias und Gottessohn. Die Pharisäer, weithin Laien aus der Mittelschicht, bilden die Vorstellung von einer zweifachen Tora aus. Neben der schriftlichen sei Mose die ständig neu zu bestimmende und darum beweglichere mündliche Tora für die Gemeinde Israels übergeben worden. Der Ort ihrer Pflege wie auch die Stätte der Bibelauslegung ist die Synagoge. In der Diaspora machen sich die neuen Missionare Feinde, weil sie Freunde der Synagoge für ihre messianischen Gemeinden aus Juden und Nichtjuden abwerben. Sie erklären Letztere auch ohne Beschneidung für vollgültige Kinder Abrahams. Und sie beanspruchen für sich und ihre Gemeinden, aufgrund der geglaubten Begabung mit dem Heiligen Geist die wahren Erben und Deuter der jüdischen Bibel zu sein. Die Zeloten und andere Aufstandsgruppen versuchen im 1. Jüdisch-Römischen Krieg (66 –74) erfolglos, das Land von der römischen Herrschaft zu befreien. Im Jahr 70 wird Jerusalem erobert und geschleift. Der Tempel wird zerstört und große Teile der jüdischen Bevölkerung des Landes werden in die Sklaverei verkauft. Der neubeginn nach der zerstörung Die zweifache, lebendige Tora und die Institution der Synagoge ermöglichen nach dem Jahr 70 eine grundlegende Neugestaltung des Judentums. Sie schließt auch eine scharfe Grenzziehung gegenüber abweichenden Gruppen ein. Der erfolglose 2. Jüdisch-Römische Krieg unter dem messianisch ambitionierten Heerführer Bar Koseba (Bar Kochba) ist nur noch eine Episode (132–135). Die Zukunft hat zwei geografische Zentren, das Land Israel und vor allem die große babylonische Diaspora. Sie ist bis etwa zum Jahr 1000 der Mittelpunkt jüdischen Lebens außerhalb Israels. In beiden Zentren werden die großen Traditionswerke des Judentums geschaffen, der Jerusalemer und der umfangreichere Babylonische Talmud. Beide Talmude werden bereichert um eine Vielzahl von Auslegungen der biblischen Bücher (Midraschim) und durch die Ausbildung einer vielfältigen Gebetstradition. In allen diesen Werken werden auf je eigene Weise das Gedenken an den Tempel, die Hoffnung auf seinen Wiederaufbau und die Erwartung der Rückkehr nach Zion, in das angestammte Land, wachgehalten. 6 Mantel für eine Torarolle, Mähren, 18. Jahrhundert Die Abbildungen auf dem Umhang – die beiden Dekalogtafeln aus der Bundeslade, der Tisch (mit den zwölf Schaubroten, der Schüssel und der Kanne für das Trankopfer) und der siebenarmige Leuchter – bringen die enge Verbindung zwischen Tora und Tempel zum Ausdruck. Vergleiche 2. Mose 25. 8 Otto Dix, Ecce homo III, 1949 Wie der ( Jesus) einen grässlichen, ganz grässlichen Tod stirbt. Da hängt man den als wunderschönen Knaben da dran. … Anstatt alles genau, ganz realistisch zu sehen, um das Wunder der Auferstehung noch viel größer zu machen. Otto Dix, 1949 Bald kommt es zu Konflikten. Der Jerusalemer Stephanus wird Opfer einer Lynchjustiz, weil er sich gegen Tempel und Tora wendet. einstellungen Die Verhaltensweisen der neuen Gemeinden zu ihrer Mutterreligion sind unterschiedlich. Missionskonflikte oder andere Rivalitäten führen zu scharfer polemischer, auch abwertender Rede. Christlicher Überheblichkeit Israel gegenüber sucht ein Paulus Einhalt zu gebieten. Vorherrschend ist eine wechselseitige Ablehnung, die den anderen nicht zu Gesicht kommen lässt. Selten sind kooperative Kontakte. entwicklungen In der Anfangszeit sind die christlichen Gemeinden gegenüber den jüdischen in der Minderzahl. Im 4. Jahrhundert wird das Christentum erst staatlich favorisiert, dann Staatsreligion. Zahlreiche Menschen strömen in die Kirche. Eine antijüdische Gesetzgebung beginnt. Der Kirchenvater Augustin begründet um diese Zeit die fortan im Abendland vorherrschende christliche Lehre über die Juden: Für die Ablehnung und vermeintliche Ermordung ihres Messias sind sie mit dem Verlust ihres Landes und ihres Staates, ihres Tempels und der Heiligen Stadt Jerusalem bestraft und zu bleibender Knechtschaft verurteilt. Durch ihre Zerstreuung in alle Welt und durch die Weitergabe der alten biblischen Schriften aber bezeugen sie zugleich Alter und Echtheit der christlichen Wahrheit. Erst am Ende der Tage wird sich ihnen der Gott Israels und Schöpfer der Welt wieder zuwenden. 9 Bibelfenster im Chor des Münsters St. Vitus in Mönchengladbach, um 1265 (Ausschnitte) Die Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingstfest in Entsprechung zur Gabe der Tora an Mose 10 Der Leuchter mit den zwei Bäumen Miniatur zu der prophetischen Vision Sacharja 4 Cervera-Bibel, Spanien, 1300 So rühme dich nicht gegenüber den (ausgerissenen) Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel (Israel) trägt dich (die Kirche). Römerbrief 11,18 11 Unten: Jacob Jordaens, Die vier Kirchenlehrer, um 1620 Zusammen mit Augustin (2. v. l.) verdeutlichen die beiden lateinischen Kirchenväter Hieronymus (1. v. l.) und Ambrosius (1. v. r.) die Spannweite der Einstellungen zum Judentum im 4. /5. Jahrhundert in der Westkirche: Hieronymus lernt in Bethlehem Hebräisch für seine Bibelausgabe (Vulgata). Ambrosius, einflussreicher Bischof von Mailand, bewirkt die Zerstörung einer Synagoge im Vorderen Orient. Der Vierte im Bild, der rechtlich gesinnte Papst Gregor I. (2. v. r.), gehört bereits dem frühen Mittelalter an. Für die Ostkirche mag der hier nicht abgebildete griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomus stehen: Als Mitglieder seiner Gemeinde in Antiochien lieber die jüdischen Feste als seine Gottesdienste besuchen, hält er als „Heilmittel“ acht Schmähpredigten gegen die Juden, in denen er sie aufs Schlimmste verteufelt. 4 Ausstellungstafeln RollUp 150 x 230 cm / 80 x 230 cm 3 weLtLiche macht, kirche und Jüdische gemeinden im mitteLaLter 4 E c c l Es ia und synagoga Die 1000-jährige Zeit des christlichen Mittelalters (500–1500) ist für das Judentum in weiten Teilen Europas eine Epoche von anfänglichem Miteinander und erzwungenem späterem Niedergang. Zuerst heißt man die Juden aufgrund ihrer Fertigkeiten willkommen. Später betrachtet man sie als unliebsame Konkurrenten auf wirtschaftlichem und religiösem Gebiet und diskriminiert, verfolgt, vertreibt oder ermordet sie. Dennoch hat es auch in dunklen Zeiten Phasen eines friedlichen Miteinanders von Christen und Juden sowie kaiserlichen und päpstlich-bischöflichen Schutz jüdischer Gemeinden gegeben. Das Motiv „Kirche und Synagoge“ (lat. Ecclesia und Synagoga) nimmt die im Neuen Testament verbreitete Aussage auf, dass das jüdische Volk verstockt sei und deshalb seinen Messias nicht erkenne und annehme. Insbesondere die Deutung, dass seine Augen verhüllt seien, ist immer wieder aufgegriffen worden. J ü Di s c h e s l eB e n i m miT T e l a lTe R Vo m W o rt z u m Bil d z u r tat v o n D eR eR k en n T n i s De R D a s Ju Den Tu m zu lu Th eR s z ei T Einen gravierenden Einschnitt bedeutet der Erste Kreuzzug. Kreuzfahrer und mitziehende Horden richten an seinem Beginn 1096 im Rhein-Mosel-Gebiet verheerende Verwüstungen und Massaker in den jüdischen Gemeinden an. Das Städtedreigestirn Speyer, Worms und Mainz sowie Trier und die Messestadt Köln sind im 10. und 11. Jahrhundert die Zentren jüdischen Lebens in Deutschland. Sie wachsen in dieser Zeit von 4–5.000 auf insgesamt 20–25.000 Einwohner an, die vor allem als Fernhändler, Kaufleute und Ärzte tätig sind. Dazu kommt eine Vielzahl von Berufen, die den besonderen Erfordernissen jüdischer Gemeinden Rechnung tragen. Die Gemeinden sind relativ autonom und werden nach außen durch einen Stadtlan oder Judenbischof vertreten. Die Synagoge wird im Lauf der Zeit mehr und mehr als Feindin des Gekreuzigten dargestellt, die erniedrigt und dem göttlichen Gericht preisgegeben ist. Doch erscheint sie auch als Schwester der Kirche mit einer gemeinsamen Zukunft. wa h Rh ei T zu m zeR R B i lD Zur Zeit von Luthers antijüdischen Traktaten gibt es bereits seit 100 Jahren keine jüdische Gemeinde mehr in Wittenberg. Ebenso wohnen im Kurfürstentum Sachsen insgesamt nur wenige Juden. Weder die Existenz von Synagogen noch von anderen Institutionen jüdischen Lebens ist belegt. Begünstigt wird dies durch eine rigide kirchliche Gesetzgebung. Sie fördert die Ausgrenzung der Juden durch Judenhut und Kennzeichen an ihrer Kleidung ( Judenring). 2 Ein jüdischer Pfandleiher mit zwei Kunden und seiner Familie, Nürnberg, 1491 Ihre rechtliche Stellung als sogenannte Kammerknechte des Kaisers schützt sie und dient zugleich ihrer finanziellen Ausbeutung. Ihre Berufsausübung wird mehr und mehr auf Kleinhandel, Pfandleihe und Zinsgeschäft eingeschränkt. verleumdungen Drei verleumderische Beschuldigungen zielen darauf ab, die Vergehen an den Juden zu rechtfertigen: • Die Ritualmordbeschuldigung unterstellt, Juden würden Christenkinder schlachten, um mit ihrem Blut die ungesäuerten Brote für das Passa- oder Pessachfest zu bereiten. 3 Die Auswahl aus einer längeren Bildfolge zeigt den Diebstahl der Hostienpartikel, ihr vermeintliches Durchstechen in der Synagoge und deren Umwandlung in eine Kirche nach der Hinrichtung des christlichen Diebes und der beschuldigten Juden. Flugblatt über eine angebliche Hostienschändung in Passau 1477, Nürnberg, 1495 • Die Behauptung des Hostienfrevels bezichtigt sie, sie würden das geweihte Brot, den Leib Christi, durchstechen und zum Bluten bringen. • Der Vorwurf der Brunnenvergiftung soll die verheerende Pest in den Jahren um 1350 erklären. Alle drei Anschuldigungen enden vielfach mit Vertreibung, Verbrennung und Beraubung der jüdischen Einwohnerschaft. 4 Massenverbrennung von Juden in Wien 1421 Hartmann Schedel, Weltchronik, Nürnberg, 1493 kirchliche agitationen 5 Eine teuflische Gestalt verschließt einem Juden die Augen, sodass er nicht die auf Jesus Christus bezogene Verheißung in Jesaja 7,14 erkennt, eine Jungfrau bzw. eine junge Frau werde einen Sohn mit Namen Immanuel gebären. Matfres Ermengans de Beziers, Lo Breviari d’amor, Katalonien, 14. Jahrhundert (Ausschnitt) 6 Unten: Bibelfenster im Chor des Münsters St. Vitus in Mönchengladbach, ca. 1265 (Ausschnitt) Die Verschonung der Israeliten durch den Anblick der von Mose auf einen Stab gesteckten ehernen Schlange als Vorabbildung der Erlösung durch den Gekreuzigten Verbale oder handgreifliche Gewalt gegen Juden und jüdische Gemeinden haben stets Anlässe. Sie können eingebildet, übertrieben oder gezielt unterstellt sein. In der Regel haben sie mit der Realität wenig zu tun. Auch im Fall Luthers gibt es eine bemerkenswerte Kluft zwischen dem, was alles er den Juden zur Last legt, und den tatsächlichen Verhältnissen. a n fa n g u n D we n De Vom 13. Jahrhundert an gehen in immer kürzeren Abständen Verfolgungswellen über die Gemeinden hin. Um 1500 ist die jüdische Minderheit aus fast allen Städten in Deutschland vertrieben. Religiöse Polemik und die Trennung von lästigen Gläubigern gehen vielfach Hand in Hand. 1 Der Minnesänger Süßkind von Trimberg (13. Jahrhundert) mit Judenhut in christlicher Gesellschaft Manessische Liederhandschrift, 14. Jahrhundert 5 L ut h e rs sc h ri f t e n f ür und ge ge n di e J ude n Immer neue Schriften gegen die Juden, antijüdische kirchliche Schauspiele, die verächtliche Gleichsetzung von Judas und Juden, erniedrigende Reliefs an Kirchen sowie die bildlich und durch Skulpturen dargestellte angebliche Verblendung und Teufelskindschaft der Juden tun das Ihre, um Abneigung und Hass gegen sie als gefürchtete Minderheit zu schüren. Zwangstaufen von Juden und ihre erzwungenen Besuche christlicher Gottesdienste sind als Mittel gedacht, jüdische Gemeinden auf „geistlichem“ Weg aufzulösen. Die Bibel als Band Zahllos sind im Mittelalter die Beispiele der sogenannten typologischen Bibelauslegung: Ereignisse des Alten Testaments werden als Vorabbildungen (Typen) von Geschehnissen des Neuen Testaments gedeutet. Die jüdische Bibel verblasst zu einer Vorabschattung des Neuen Testaments. Gegen Ende des Mittelalters beginnt man die Juden als Sprachhelfer zurate zu ziehen und macht sich nach und nach Bibelauslegungen jüdischer Gelehrter zunutze. Selbst die gemeinsame Arbeit an einer illuminierten Bibelhandschrift ist bezeugt. Raschi Verschwistert 1 1 Byzantinische Emailarbeit, frühes 10. Jahrhundert 8 Innenansicht der 1034 erbauten Synagoge von Worms nach einem alten Stich Im Lehrhaus in Worms studiert Mitte des 11. Jahrhunderts einer der Großen des mitteleuropäischen Judentums, Rabbi Schlomo ben Jizchak, abgekürzt Raschi (1040–1105). Ins nordfranzösische Troyes zurückgekehrt, erschließt er für zahllose kommende Generationen, Juden und auch Christen, die jüdische Bibel und den Babylonischen Talmud, das grundlegende nachbiblische Traditionswerk. Angehörige seiner Familie führen sein Kommentarwerk fort. 2 Homiliar des Beda von Verdun, Ende 12. Jahrhundert 9 Behandlung eines Erzbischofs durch einen jüdischen Arzt Johann Schobser, Plenarium, Augsburg, 1487 Vornehmlich in den Familien begehen die Juden ihre prägenden Feiertage, den wöchentlichen Schabbat und die jährlichen Feste, allen voran das Pessachfest. Besonders an diesen Tagen werden sie ihrer Geschichte, ihres Auftrags und der ihnen verheißenen Zukunft gewiss. kulturelle akzente Bemerkenswerte Leistungen erbringen die Juden in Deutschland namentlich auf dem Gebiet der Halacha, der lebendigen Gesetzesauslegung, mit der sie auf immer neue Situationen zu reagieren haben. 2 Lucas Cranach d. Ä., Martin Luther, um 1532 3–5 Von links nach rechts: Kopf der Synagoge am Straßburger Münster, um 1220/1230 – an der Kathedrale von Reims, Frankreich, 13. Jahrhundert – am Bamberger Dom, um 1230 Hoffnungsvoll 6 Im Uhrzeigersinn: 10 Kinderschule (Cheder) nach einem alten deutschen Holzschnitt 11 Diskussion zwischen jüdischen Gelehrten im Lehrhaus Deutschland, Mitte 15. Jahrhundert 12 Vorbeter mit Gemeindegliedern im Synagogengottesdienst Machsor Leipzig, Süddeutschland, 1. Hälfte 14. Jahrhundert In der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts entsteht eine Reihe von Skulpturen, denen geläufige Kennzeichen beigegeben sind: Die Krone der Synagoge ist herabgerutscht, ihre Lanze zer­ brochen, ihre Gesetzestafeln sind herabgesunken und ihre Augen verbunden. Zugleich sind die Gestalten von außerge­ wöhnlicher Schönheit. Sie ist Ausdruck der Gewissheit, dass beide, Synagoge und Kirche, ungeachtet ihrer gegenwärtigen Geschiedenheit zusammengehören. 6 Evangeliar Heinrichs des Löwen, Ende 12. Jahrhundert 7 Siddur, Gebetbuch, Deutschland, um 1300 13 Der Sederabend am Pessachfest Darmstädter Haggada, 14./15. Jahrhundert (Ausschnitt) 8 Allegorie des Messopfers aus dem Missale von Noyon, vor 1250 14 Unten: Bildseite gegenüber dem Titelblatt der Schocken-Bibel, Deutschland, 14. Jahrhundert Um das hebräische Anfangswort der Bibel (Bereschit) gruppieren sich 46 Szenen aus 1.– 4. Mose. 9 Elsässische Historienbibel, Hagenau, 1. Hälfte 15. Jahrhundert Diese beiden Eckmedaillons sind der untere Abschluss einer Miniatur über Maria Magdalena am Grab Jesu und über ihre Begegnung mit dem Auferstandenen. Sie zeigen Eccle­ sia als Braut Christi und Synagoga als deren ihm gleich liebe Schwester. Jede von beiden ist gekrönt und die Synagoge ohne die traditionellen erniedrigenden Kennzeichen dargestellt. Die Schriftbänder zitieren das Hohelied (3,1; 5,17). In vielen mittelalterlichen christlichen Kommentaren wurden die darin wahrgenommenen beiden Schwestern hoffnungsvoll auf eine kommende Einheit von Kirche und Synagoge gedeutet. Luther übt in seinem Traktat schonungslose Kritik an dem bisherigen Verhalten der Christen. Nicht als Menschen hätten sie die Juden behandelt, sondern wie Hunde, hätten törichte Lügen wie die Ritualmordbeschuldigung und „anderes Narrenwerk mehr“ über sie verbreitet, sie ausgegrenzt und isoliert. 3 Der Auferstandene mit mittelalterlichem Judenhut beim Mahl in Emmaus (Lukas 24) Miniatur aus dem Psalter Ludwigs des Heiligen, England, 1. Hälfte 13. Jahrhundert Stattdessen solle man ihnen Liebe erweisen, sie beruflich und gesellschaftlich integrieren und ihnen nachbarlich begegnen, um ihnen so den Weg zu ihrem Messias zu ebnen. verweigerung erbetener hilfe 4 Titelholzschnitt von Luthers projüdischer Schrift Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei, Wittenberg 1523 5 Titelholzschnitt der ersten antijüdischen Schrift Luthers Von den Juden und ihren Lügen, Wittenberg 1543 Die unveränderte Judenfeindschaft der Christen spielt in der Antwort des Reformators keine Rolle. zwangsmaßnahmen Auf diesem Bild hat der jüdische Künstler die Plätze ver­ tauscht. Synagoga mit Judenhut reicht der gekrönten, aber blinden Ecclesia die Hand unter dem Anfangswort von Hohelied 4,8: „Komm mit mir, meine Braut vom Libanon.“ 1538 polemisiert Luther gegen angebliche erfolgreiche jüdische Versuche in Mähren, Christen zum Judentum zu bekehren. In einer jüdischen Gegenschrift angegriffen, gibt er 1543 drei antijüdische Schriften heraus. In der ersten, Von den Juden und ihren Lügen, wirft er den Juden vor, sie würden, wann immer sie könnten, Jesus, Maria und die Christen lästern, ferner die Christen ausbeuten, ihnen nach dem Leben trachten, Landesverrat begehen und vieles andere mehr. Beschuldigt 8 Die verblendete Synagoge ersticht das Lamm, aus dessen Wunde das erlösende Blut in den Kelch der Ecclesia strömt. Die Lanze der Synagoge zerbricht aufgrund des ihr angelas­ teten Christusmordes. Im Gegenzug greift er zu rüden rednerischen Mitteln und ruft die Obrigkeit zu zerstörerischen Zwangsmaßnahmen gegen die Juden im Land auf. Der Teufel sitzt der Synagoge im Nacken und stößt ihr die Krone vom Haupt. verteufelung und aufruf zur vertreibung … verdammt 10 Christus krönt die Kirche und schiebt die Synagoge von sich. Deren Krone ist ihr genommen, ihre Lanze zerbrochen. Noch halb Christus zugewandt, geht sie dem Höllenrachen ent­ gegen. Erstochen 11 11 Kirchenfenster der Stadtpfarrkirche St. Johannis in Werben /Elbe, 15. Jahrhundert 1537 bittet der Sprecher der Juden in Deutschland Luther um Hilfe für die aus dem Kurfürstentum Sachsen vertriebenen Juden. Doch der weist ihn brüsk zurück. Seine Forderung von Lebenserleichterungen sei missionarisch motiviert gewesen. Da sich an der Christenfeindschaft der Juden jedoch nichts geändert habe, sei mit ihm nicht zu rechnen. Sich wehrend 7 Verteufelt und … 9 10 Liber Floridus des Lambert von St. Omer, um 1120 luthers entdeckung der Juden als menschen Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei – so überschreibt Luther 1523 eine Schrift, die rasch viele Auflagen erlebt. Eins ihrer Ziele ist es, Jesus als den im Alten Testament verheißenen Messias zu erweisen und so vielleicht Juden für das Evangelium zu gewinnen. Verblendet und schön 3–5 gegenwehr 7 Unten: Die Rückkehr des Mose nach Ägypten (2. Mose 4) und die Offenbarung an ihn aus dem brennenden Dornbusch (2. Mose 3) sind nach den Vorbildern der Flucht Marias und Josefs nach Ägypten (Matthäus 2) und der Verkündigung an die Hirten (Lukas 2) gestaltet. Die Illuminationen belegen die Mitarbeit eines christlichen Künstlers an der jüdischen Handschrift. Die Goldene Haggada, Barcelona, ca. 1320 (Ausschnitt) Nur zweimal hat er dem Thema besondere Schriften gewidmet, in der Frühzeit der Reformation und in seinen letzten Lebensjahren. Die Kirche triumphiert. Die Synagoge ist ihr unterworfen und dient ihr als Podest für ihre Selbstdarstellung. Trotz aller Verfolgungen ist eine Reihe eindrücklicher illuminierter Bibelhandschriften erhalten. Auch entwickelt sich in einzelnen Kreisen mystisches Gedankengut. Mit dem Jiddischen prägt das mittelalterliche Judentum eine eigene Sprache aus. Mit einer überkommenen Schmähschrift gegen das Christentum und seinen Begründer (Toledot Jeschu), mit niveauvolleren aggressiven Werken und mit meist verschlüsselten Abgrenzungen in ihren Gottesdiensten sucht die jüdische Gemeinschaft die eigenen Gemeindeglieder gegen die Versuchung zu wappnen, sich der verhassten Gruppe der Abtrünnigen aus ihrer Mitte zuzugesellen. Zugleich reagiert sie damit auf die von christlicher Seite erfahrene Unmenschlichkeit. 1 Panorama der Stadt Wittenberg, aus dem Reisetagebuch des Pfalzgrafen Ottheinrich, 1536 Rechts im Bild die Stadtkirche, Luthers Predigtstätte, links das Schloss unterworfen und erniedrigt 2 familie, fest und feier Neben den Kinderschulen und den Lehrhäusern als Orten des Lernens für Jugendliche und Erwachsene sind die Synagogen als Orte des Gebets und vor allem die Familien tragende Säulen des Judentums. Die Synagoge wendet sich von dem Gekreuzigten ab. Aber sie ist gemalt wie die Kirche, ohne erniedrigende Kennzei­ chen. Luther hat als Professor vor allem Vorlesungen über das Alte Testament gehalten, das umstrittene Erbe von Juden und Christen. So finden sich Äußerungen über Juden vornehmlich in seinen Auslegungen alttestamentlicher Bücher. Ecclesia reitet auf einer symbolischen Darstellung der vier Evangelien. Sie trägt Siegesfahne und Kelch in den Händen und wird von einer Hand aus dem Himmel gekrönt. Synagoga reitet auf einem zusammenbrechenden Esel, in den Händen die zerbrochene Fahne und – als Zeichen des beendeten Opferdienstes – den Kopf eines Ziegenbocks. Ihre Krone fällt von ihrem Haupt und eine Hand aus dem Him­ mel durchsticht ihr Haupt mit einem Schwert. Auf manchen Bildern wachsen die krönende und die tötende Hand aus dem Querbalken des Kreuzes heraus. 6 Unten: Antijüdischer Holzschnitt mit Verleumdung der Juden als Teufel, 1571 (Ausschnitt) Luther verteufelt die Juden in seiner Schrift ebenso hemmungslos wie hasserfüllt. Er spricht ihnen nicht nur das rechte Bibelverständnis ab, sondern das Menschsein überhaupt. Durch Anzünden ihrer Synagogen und ihrer Häuser, durch Wegnahme der Bibel und ihrer religiösen Bücher, durch Berufsverbot für ihre Rabbiner und Pfandleiher, durch Zwangsarbeiten für ihre Jugend, durch Reiseverbot und erniedrigende Unterbringung („wie die Tiere“) sollen sie gesellschaftlich, wirtschaftlich und religiös verelenden und dadurch bekehrungswillig gemacht werden. Andernfalls soll die Obrigkeit sie vertreiben: „Drum immer weg mit ihnen.“ Auch gibt Luther der Erwägung Raum, jene Gräuelmärchen könnten zutreffen, die er einst selbst für blanken Unsinn erklärt hatte. Und wenn sie es auch nicht tun, so unterstellt er, so haben sie doch den Willen dazu. Anschuldigungen, Verleumdungen und die Aufforderung zur Vertreibung halten sich bis an Luthers Lebensende durch. 7 Betende Juden, Deutschland, 1471 siedlungsbereiche und erwerbsquellen Für die Situation der Juden in Deutschland ist die Ansiedlung einzelner Familien und kleiner Gemeinden auf dem Land charakteristisch. Größere Gemeinden in Städten wie Frankfurt am Main und Worms sind die Ausnahme. Erwerbsquellen der Juden bilden wie bereits zuvor vor allem das Kleinkreditwesen, die Pfandleihe eingeschlossen, der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, der Viehhandel und gelegentliche gewerbliche Tätigkeiten. Ihre schwierige soziale und wirtschaftliche Situation schürt bei nicht wenigen messianische Erwartungen. Josel von Rosheim Herausragende Gestalt des Judentums ist Josel von Rosheim im Elsass. Vor allem auf den Reichstagen sucht und erhält er die Unterstützung Kaiser Karls V. 8 Eine Jüdin und ein Jude aus Worms in typischer Kleidung und mit Judenring 1530 erreicht Josel die Ausweisung des Hebräischlehrers Anton Margaritha aus Augsburg. Der Konvertit hatte die erste deutsche Übersetzung des jüdischen Gebetbuches und eine Darstellung jüdischer Riten und Bräuche mit zahlreichen Angriffen auf das Judentum verbunden. In den Vierzigerjahren erwirkt Josel von Kaiser Karl V. eine Verbesserung der Rechtslage der Juden. 1539 erreicht er auf dem Frankfurter Fürstentag bei Luthers Landesherrn eine teilweise Rücknahme von dessen Vertreibungsmandat von 1536. Unter dem Einfluss von Luthers Schriften erneuert Johann Friedrich es jedoch bereits 1543. 9 Protestschreiben Josels von Rosheim zugunsten der Juden von Dangolsheim 10 Titelblatt der 1530 in Augsburg erschienenen Schrift von Margaritha Ebenfalls auf der Frankfurter Versammlung gelingt dem Sprecher der Juden mithilfe von Philipp Melanchthon der Nachweis, dass die Verbrennung von 38 Juden in Berlin 1510 als Ahndung eines angeblichen Hostienfrevels ein bischöflich bewirkter Justizmord war. konversionen und kontakte Konversionen zum Christentum sind für die jüdische Seite oft schmerzlich, so vor allem im Fall Johannes Pfefferkorns. Anfang des Jahrhunderts fordert er die Verbrennung des Talmuds, des großen jüdischen Traditionswerkes aus der Antike. Es gilt im Judentum als wegweisender Ausdruck des mündlichen Gesetzes neben der schriftlichen, biblischen Tora. Die Verbrennung wird durch den Juristen und Hebraisten Johannes Reuchlin aus Pforzheim verhindert. Gelegentlich kommt es zur Zeit Luthers zu – literarisch stilisierten – christlich-jüdischen Religionsgesprächen über Fragen der Auslegung der Hebräischen Bibel. Der bedeutendste jüdische Beitrag zum jüdisch-christlichen Verhältnis besteht in der Unterrichtung christlicher Theologen im Hebräischen. Allen voran ist Elia Levita aus Süddeutschland zu nennen. Nach langen Jahren in Italien arbeitet er eng mit dem führenden christlichen Hebraisten und Theologen Sebastian Münster in Basel zusammen. 15 Titelblatt der Bibelausgabe von Sebastian Münster, Basel, 1936 Zum Missfallen Luthers hat Münster vielfach von jüdischen Kommentaren Gebrauch gemacht. 11 Lucas Cranach d. Ä., Kaiser Karl V., 1550 12 Rechts: Lucas Cranach d. J., Das Abendmahl, St. Johanniskirche in Dessau, 1565 Vorn links kniet Kurfürst (später Herzog) Johann Friedrich, rechts neben ihm ist Judas mit typischen antijüdischen Merkmalen dargestellt, rechts neben dem Gastgeber Philipp Melanchthon. 13 Unten links: Johannes Pfefferkorn (1469–1524), zeitgenössischer Kupferstich 14 Unten rechts: Johannes Reuchlin (1455–1522) 5 Ausstellungstafeln RollUp 150 x 230 cm / 80 x 230 cm 6 Lu ther s Ju d enf ein d s c h a f t – wa r u m ? Es gibt kaum etwas in Luthers Zeit, was sich seiner herausragenden Schrift von 1523 vergleichen ließe. Gelegentlich sucht man dies zwar herunterzuspielen. Man verweist auf ihre missionarische Abzweckung oder behauptet, Luthers Theologie sei in ihrem Verhältnis zum Judentum stets gleich geblieben. Das trifft jedoch nur zu, wenn man das Cranach-Bild ohne Einschränkung für das Ganze der lutherschen Theologie nimmt. Dies ist es jedoch in mehrfacher Hinsicht nicht. 1 Kirchenschiff der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg mit Blick in den Altarraum v o m l i c h T z u R f i n s Te Rn i s g Re n z e n – u n D an säT z e ihRe R In seiner Anfangszeit hat Luther die traditionelle religiöse Feindschaft gegen die Juden übernommen, ja teilweise verschärft. Erst nach und nach macht er sich die biblische Hoffnung für das jüdische Volk, wie sie Augustin und andere teilten, zu eigen und zieht daraus positive Konsequenzen für das Verhalten zu den Juden. ü Be Rw in Du n g ? Würde man den missionarischen Zweck der Schrift von 1523 als Einschränkung ihrer ethischen Bedeutung verstehen, dann würde man Luther nach heutigen Kriterien beurteilen, anstatt ihn an seinen eigenen Ausführungen zu messen. 2 Lucas Cranach d. Ä., Epitaph-Flügelaltar der Stadtkirche in Wittenberg, 1547 Dargestellt sind die drei Sakramente Taufe (links), Abendmahl (Mitte, Empfang des Kelchs durch Luther als Junker Jörg) und Beichte (rechts). Unten: Luther als Prediger des Gekreuzigten in der Predella des Flügelaltars 3 Lucas Cranach d. J., Luther mit der Hebräischen Bibel, 1560 Aufgeschlagen ist 1. Chronik 17,17, ein Wort König Davids an Gott, das der Reformator in seiner Übersetzung auf Jesus Christus deutet: „Und du hast angesehen Mich, als in der Gestalt eines Menschen, der in der Höhe Gott der HErr ist.“ Die Übertragung ist in der heutigen Luther-Übersetzung revidiert. Luther hat seine Auslegung in seiner dritten antijüdischen Schrift (Von den letzten Worten Davids) begründet. 4 Unten: Kanzel der Andreaskirche in Eisleben Von dieser Kanzel verlas Luther während seines letzten Aufenthalts in Eisleben kurz vor seinem Tod seine Vermahnung wider die Juden, in der er seine Forderungen von 1543 erneuerte. Von den Erkenntnissen Luthers in seiner Frühzeit ist bereits Mitte der Zwanzigerjahre und dann vor allem in den späten Schriften nichts geblieben. Wie ist seine Wendung von einer konstruktiven zu seiner zerstörerischen Einstellung zu den Juden zu erklären? von luther genannte gründe Luther selbst nennt verschiedene Gründe: den mangelnden Erfolg seiner Schrift, vermeintliche jüdische missionarische Aktivitäten in Mähren, die ihm angeblich erst jüngst bekannt gewordenen Lästerungen Jesu, Marias und der Christen, durch deren Duldung Christen sich mitschuldig machten, und nicht zuletzt eine für beide Seiten enttäuschende Begegnung mit zwei oder drei in Wittenberg durchreisenden Juden bereits Mitte der Zwanzigerjahre. Die Aufforderung, die jüdische Bevölkerung zu vertreiben, zielt möglicherweise darauf ab, die neu gebildeten evangelischen Landeskirchen durch Ausschluss aller abweichenden Gruppen zu stabilisieren. Allerdings ließen sich von hier aus nicht die weiteren antijüdischen Schriften von 1543 erklären, in denen es allein um die jüdische und christliche Schriftauslegung geht (Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi und Von den letzten Worten Davids). Das zentrum des problems Diese beiden weiteren Schriften verstärken den bereits mit dem Traktat Von den Juden und ihren Lügen erweckten Eindruck, dass für Luther eine andere Bedrohung ausschlaggebend war. Seine Leitschnur war von Anbeginn: Wenn man das Alte Testament ohne das Neue verstehen kann, dann ist Christus umsonst gestorben. Alles hing für ihn daran, dass der Nazarener sein Leben nicht vergeblich, sondern zur Erlösung der Menschheit hingegeben hatte und dass dies keine christliche Erfindung, sondern im Alten Testament angebahnt war. Die jüdischen Ausleger und ihre christlichen Anhänger beharrten demgegenüber auf dem einfachen Sinn der jüdischen Bibel ohne Bezug auf Jesus Christus als Messias. Im Gegensatz zu der von ihm vertretenen Wahrheit war diese Sicht für Luther Ausdruck der Lüge. Sie stellte die Grundlegung der Kirche im Alten Testament infrage und rechtfertigte für ihn die Anwendung von Gewalt in Glaubensdingen. In seiner Frühzeit hatte er dies, unverblendet durch Angst und Hass, entschieden abgelehnt. Die jüngst vertretene These, Gewaltanwendung in Glaubensdingen sei in Luthers Zeit und für Luther selber selbstverständlich gewesen, tut deshalb all jenen Christen unrecht, die wie der Reformator 1523 für ein menschliches Verhalten zu den Juden eingetreten sind oder bereits vor ihm manchmal über ein Jahrhundert hin ein tolerantes, friedliches Miteinander mit den Juden an ihrem Ort gelebt haben. Das Cranach-Bild vom Beginn der Ausstellung („Gesetz und Evangelium“ oder auch „Gesetz und Gnade“) ist in dieser oder jener Form für viele Ausgaben von Luthers wegweisender Übersetzung der Bibel als Titelbild gewählt worden. Daran lässt sich ablesen, wie sehr es als beispielhafte Zusammenfassung seiner Lehre galt. 7 d iE s a u a n d En K ir c h E n 8 Z E i t gE nossE n l ut h E rs Das Schwein gehört zu den Tieren, die im Judentum tabu sind. Es gilt als unrein und wird von traditionstreuen Juden nicht gegessen. Umso verletzender war es, dass Christen im Mittelalter begannen, Juden mithilfe des Schweins als Bildmotiv zu schmähen und zu demütigen. Unter den Zeitgenossen Luthers herrscht eine große Bandbreite von Einstellungen zum Reformator und zur Frage einer angemessenen christlichen Sicht auf das Judentum. Auf jüdischer Seite folgt auf hohe Erwartung herbe Enttäuschung, auf christlicher begegnen nebeneinander so unterschiedliche Positionen, wie sie Luther in seinen Schriften von 1523 und 1543 vertreten hat. Vo r u n d n acH l u tH Er Zunächst auf Steinreliefs an einer großen Anzahl von Kir­ chen, dann auch im Druck wurden Juden gezeigt, die an den Zitzen einer Sau saugen, ihr in den Anus schauen und ande­ res mehr. In Wittenberg ist bis heute an der Stadtkirche, Luthers Predigtkirche, ein solches Relief zu sehen. 5 Lucas Cranach d. Ä. (Werkstatt), Koloriertes Titelblatt zur Luther-Bibel, Wittenberg, 1541 Später hat sich der neuzeitliche Antisemitismus dieses Bild­ motivs bedient, um gegen die Juden zu hetzen. 1 Das Relief an der Wittenberger Stadtkirche St. Marien, 14. Jahrhundert Die lutherisch-reformatorische Darstellung der Größe „Gesetz“, wie sie in Cranachs Bild festgehalten ist, ist nicht nur im Blick auf das Volk Israel und auf jüdisches Verständnis des Gesetzes (der Tora) lückenhaft. Sie gibt auch Luthers Verständnis des Wortes Gottes als Gesetz oder Gebot nur begrenzt sachgemäß wieder. luthers aneignung des Bildmotivs 2 Oben rechts: Holzschnitt zur Verhöhnung der jüdischen Religion, Süddeutschland, ca. 1470 Luther hat das Motiv der sogenannten Judensau in seiner zweiten antijüdischen Schrift von 1543 Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi ausgeschlachtet. Er schmäht die jüdische mystische Auslegung des Gottesnamens, des Tetra­ gramms Jhwh, indem er die Rabbiner als Ausleger ihrer Tra­ dition in den Schmutz zieht: 3 Rechts: Die sogenannte Frankfurter Judensau; Wiedergabe des Freskos am Alten Brückenturm in Frankfurt am Main von 1500 (1801 zerstört), Anfang 18. Jahrhundert (Ausschnitt) Die zehn gebote als „lehre der lehren“ Luthers Auslegung der Zehn Gebote in seinem Kleinen und Großen Katechismus sowie auch einzelne Traktate zeigen übereinstimmend: 4 Unten: Der Schriftzug Rabini Schem Ha Mphoras über dem Wittenberger Relief, 18. Jahrhundert Sobald das Gesetz seine Funktion, den Sünder zu verklagen, ausgeübt und den Verzweifelten in die Arme der Barmherzigkeit Gottes getrieben hat, kann der Reformator die göttlichen Gebote völlig anders würdigen. Sie werden zur Weisung, die den Willen Gottes benennt und das Miteinander der Menschen verbindlich regelt. Die „Lehre der Lehren“, einen „Ausbund göttlicher Lehre“, nämlich „für das, was wir tun sollen, damit unser ganzes Leben Gott gefalle“, und „den höchsten Schatz, der uns von Gott gegeben ist“, hat Luther die Zehn Gebote deshalb nennen können. Ebenso hat er das Hebräische als Sprache des Alten Testaments in den höchsten Tönen gelobt. Das Bild eines schülers In Wittenberg hat man mehr als 200 Jahre nach Luthers Tod über dem mittelalterlichen Relief die Überschrift „Rabini Schem Ha Mphoras“ hinzugefügt und so einen bleibenden Bezug zur Schrift Luthers hergestellt. das Wittenberger mahnmal 6 Franz Timmermann, Gesetz und Evangelium, 1540 1988 ist in den Boden unter dem Relief in Wittenberg eine von dem Bildhauer Wieland Schmiedel gestaltete Bronze­ platte mit einer Steinumrandung eingelassen worden. Ein Kreuz ist von zwei Inschriften umgeben, einer hebräischen und einer deutschen. Die deutsche Inschrift umschließt die gesamte Bronzeplatte, die hebräische ist jeweils auf der zwei­ ten und vierten Seite der Umrandung wiedergegeben. Die beiden Inschriften gehen auf den Schriftsteller Jürgen Ren­ nert zurück. Der Cranach-Schüler Franz Timmermann hat sich an das Vorbild seines Meisters angelehnt, die Gestaltung des Themas „Gesetz und Evangelium“ jedoch zugespitzt. In seiner Fassung liegen auf der rechten Seite außer den Monstern Tod und Teufel auch die beiden Dekalogtafeln unter den Füßen des Auferstandenen. Auf den Tafeln in der linken Bildhälfte hat er, den Evangelien folgend, statt der Zehn Gebote deren Zusammenfassung durch das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe wiedergegeben. Der Text der deutschen Inschrift lautet: cranachs Treue zum Dekalog Cranach senior und junior sind demgegenüber texttreuer verfahren. Auf dem Weimarer Altarbild haben sie das Motivgeflecht von „Gesetz und Gnade“ aufgenommen und freier als sonst gestaltet. Den Text der Dekalogtafeln haben sie jedoch wortgetreu auf Hebräisch wiedergegeben – bis dahin, dass sie auch den Beginn der Zehn Gebote übernommen haben: „Ich bin der HErr, dein Gott, der dich herausgeführt hat (aus dem Land Ägypten, dem Sklavenhaus).“ (2. Mose 20,2) Luther hat diesen Beginn nicht in seine Katechismen aufgenommen, weil er nur Israel gelten würde. luthers schriftauslegung Ohne den Absolutheitsanspruch seines Bibelverständnisses mit seinen Folgen für die Darstellung der Juden lässt sich Luthers Deutung des Alten Testaments auch heute noch vielfach mit Gewinn lesen. Aus dem Innersten der eigenen Glaubensexistenz kommend ist sie zwar nicht historisch „richtig“, oft jedoch hilfreich, wegweisend und tröstlich. Unter diesem Vorzeichen bewegt sich Luther dann auch ganz unerwartet in guter Nachbarschaft mit jüdischen Auslegern, die auf ihre Weise Freunde einer lebendigen, mehrschichtigen Deutung der Bibel sind. Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen, da liegen junge Ferkel und Juden unter, die saugen. Hinter der Sau steht ein Rabbi, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit der linken Hand zeucht (zieht) er den Pirzel (das Hinterteil) über sich, bückt und guckt mit großem Fleiß der Sau unter dem Pirzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfes (mühsam zu Lesendes) und Sonderliches lesen und ersehen. Daselbst her haben sie gewisslich ihr Schem Hamphoras … Denn also redet man bei den Deutschen von einem, der große Klugheit ohne Grund vorgibt: Wo hat er’s gelesen? Der Sau im – grob heraus – Hintern. 5 Wieland Schmiedel, Quetschung – Gegenzeichen zum Schmährelief an der Stadtkirche zu Wittenberg, 1988 6 Der Rotenburger Kirchenteppich, 1934/35, heute im Kreismuseum Rotenburg an der Fulda; der bebilderte Text ist das Vaterunser. 7 Unten: Detail des oberen Bereiches 7 Lucas Cranach d. Ä. / d. J., Epitaph-Flügelaltar (Mittelteil) in der Stadtkirche St. Peter und Paul in Weimar, 1555 8 Unten: Luther mit dem pommerschen Herzogshaus auf dem Croÿ-Teppich von Peter Heymans, Greifswald, 1555 (Ausschnitt) Rechts des Kanzelkorbs mit den Symbolen der vier Evangelisten ist Mose mit den Dekalogtafeln zu sehen. Sie enthalten hier das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem-HaMphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen. Der hebräische Text besteht aus dem Anfang von Psalm 130: Aus der Tiefe rufe ich, HErr, zu dir. Diesen Psalm hatten die Regensburger Juden einst an Luther geschickt, vermutlich als Notschrei angesichts ihrer bevorste­ henden Vertreibung aus der Stadt 1519. Mit dem erwähnten Kreuzeszeichen ist das Hakenkreuz ge­ meint. In der Zeit der Naziherrschaft sind jedoch christliches Kreuz und Hakenkreuz vielfach zu einer unheiligen Einheit zusammengefügt worden. Johannes reuchlin (1455–1522) – sympathisierender Humanist Noch in die vorreformatorische Zeit Luthers gehört der bereits erwähnte Johannes Reuchlin. Als der getaufte Jude Johann Pfefferkorn, vom inqui­ sitorischen Dominikanerorden vor­ geschoben, 1507 fordert, die Bücher der Juden, allen voran den Talmud, 1 Johannes Reuchlin mit von Hutten und Luther als Vorkämpfer und Hüter zu konfiszieren und zu verbren­ der christlichen Freiheit Agitatorischer Holzschnitt im Umkreis nen, tritt Reuchlin am Ende erfolg­ des Wormser Reichstags, 1521 reich für deren Erhaltung ein. Luther profitiert wie viele andere von der hebräischen Grammatik Reuchlins. In einem frühen gutachtlichen Brief äußert er sich zugunsten des angeklagten Humanisten. urbanus rhegius (1489–1541) – schützender reformator Der Reformator des Herzogtums Braunschweig­ Lüneburg und seine Frau Anna beherrschen Hebrä­ isch und entfalten in einem umfangreichen Dialogus – sie als Fragerin, er als Lehrer – Jesus Christus als den im Alten Testament verheißenen Messias. Von Celle aus sucht Rhegius missionarischen Kontakt zu den jüdischen Gemeinden in Hannover und Braun­ schweig. Ungeachtet heftiger Abfuhren hält er – anders als Luther – an seiner Gewissheit der retten­ den Treue Gottes zu seinem Volk fest. Unter Berufung auf das Evangelium setzt er sich, von seinen nega­ tiven Erfahrungen unbeirrt, nachhaltig für die von Vertreibung bedrohten Braunschweiger Juden ein. 2 Dieter F. Domes, Urbanus Rheghius Gedenkfenster Evangelische Friedenskirche Langenargen, 2001 martin Bucer (1491–1551) – anwalt von zwangsmaßnahmen Handels­ und Zinsnahmeverbot, Ausschluss von Ämtern, Schutz­ geldbestimmungen, Synagogenbau­ verbot, Talmudverbot, Anhörpflicht judenmissionarischer Predigten, kör­ perliche Arbeit wie Holz schlagen und 3 Martin Bucer im Alter Kloaken reinigen – dies sind die Maßnah­ von 53 Jahren, Schaumünze men, die der Straßburger Reformator Bucer des 16. Jahrhunderts dem protestantischen Landgrafen Philipp von Hessen als Bedingung dafür empfiehlt, dass er die Aufenthaltsgenehmi­ gung für die Juden seines Landes verlängert. Philipp antwor­ tet, dann könne man sie auch gleich vertreiben, stimmt aber am Ende einer noch immer rigiden Judenordnung zu. andreas osiander (1498–1552) – geheimer Verteidiger 1540 legen Juden aus der Nähe von Eichstätt, die eines Ritualmords beschuldigt werden, eine anonyme Schutzschrift vor, die allem Anschein nach der Nürnberger Reformator Osiander gut zehn Jahre zuvor in einem ähn­ lichen Fall verfasst hatte. Er erwies darin die Ritualmordbeschuldigung als judenhassendes Lügengespinst. Christliches Schweigen dazu war für ihn Mitschuld, Folter menschenfeind­ lich. Er erinnerte an die jüdische Scheu vor dem lebenstragenden Blut. Über jüdischen Glauben hätten „Mönche und Pfaffen“ nicht 4 Jörg Pencz, Andreas Osiander, 1544 zu gebieten. Das Bücherverbrennen sei gegen Gottes Gebot, Christen gelangten zum rechten Glaubensver­ ständnis durch die hebräische Sprache. Maßgeblich für die christliche Einstellung zu den Juden sei die von Paulus im Römerbrief gegebene Leitschnur. Auch Osiander ist nicht frei von judenfeindlichen Ausfällen. Ungeachtet dessen bleibt sein Gutachten eine Sternstunde der Reformation. Jüdische Stimmen Jüdische Äußerungen zu Martin Luther sind fast durchweg von der Frage bewegt, was Reformator und Reformation für die eigene Gemeinschaft austragen. Auf christlicher Seite ist eine Zukunft, die die Gegensätze der Gegenwart überwindet, allein als Christianisierung der Juden vorstellbar. Ebenso ist sie auf jüdischer Seite nur als Hinkehr der Christen zum Judentum denkbar. Von dieser Grundeinstellung abgesehen, äußern sich am präzisesten Rabbi Jechiel ben Rabbi Schmuel aus Pisa und Josel von Rosheim. Erste­ rer erkennt in Luthers Lehre der Rechtfertigung „allein durch den (gnädig gewähr­ ten) Glauben“ eine Gefähr­ dung der Lehre vom freien Willen. Josel von Rosheim aus dem gleichnamigen Ort im Elsass wiederum ist speku­ 5 Abbildung Josels von Rosheim, mit diskrimi­ lativen Erwartungen aufgrund nierenden Zügen dargestellt auf einem Flugblatt seiner Erfahrungen mit den des 16. Jahrhunderts tatsächlichen Verhältnissen in Deutschland abhold. Zu diesen Erfahrungen gehören nicht zuletzt seine Begegnungen mit Luther und Bucer. Freund­ schaftliche Beziehungen unterhält er zu dem Straßburger Reformator Wolfgang Capito. Verweigerte Begegnung – Josel von rosheim und luther 1536 vertreibt Kurfürst Johann Friedrich die Juden aus Sach­ sen. Von der sächsischen Landesgrenze aus bittet Josel von Rosheim Luther 1537 brieflich um Vermittlung; seine Schrift von 1523 hat Hoffnung auf Toleranz keimen lassen. Doch der Reformator weist ihn schroff ab, verweigert eine Begeg­ nung und die Weitergabe empfehlender Briefe an den Kur­ fürsten. Seine früher geforderten Erleichterungen für die Juden seien als Voraussetzung ihrer gnädigen Hinführung zum Messias gedacht gewesen. Nicht aber sollten sie dulden helfen, „dass Ihr Euer Blut und Fleisch, der Euch kein Leid getan hat, Jesum von Nazareth, verflucht und lästert, und (wenn Ihr könntet) all die Seinen um alles brächtet, was sie sind und was sie haben“. So möge sich Josel einen anderen Mittler suchen. Josels rückblick auf luther und Bucer Nach dem Erscheinen der Schrift Von den Juden und ihren Lügen bittet Josel von Rosheim den Rat der Stadt Straßburg, den dort geplanten Nachdruck dieses Traktats zu verhindern. Der Mob habe bereits begonnen, die vermeintliche Luther­ Parole auszugeben, man dürfe die Juden totschlagen. Der Rat entspricht schließlich seiner mehrfach wiederholten Bitte. Für Luther aber findet Josel von Rosheim in seinen Memoi­ ren nur die durch ein Sprachspiel gewonnene Deutung: „ein unreiner Mann“ – isch lo tahor. Ähnlich reagiert der Repräsentant der Juden auf Bucers Judenratschlag. Er sei „aus einem vergifteten Gemüt“ gekom­ men, schreibt er in einer Trostschrift an seine Brüder wider Buceri Büchlein, und habe nicht das Wohlgefallen Gottes. In seinen Memoiren erinnert er daran, dass er Bucer auf dem Fürstentag in Frankfurt 1539 angesichts der von ihm emp­ fohlenen Maßnahmen geantwortet habe: „Gott der Herr hat uns seit Abrahams Zeiten erhalten, er wird uns durch seine Gnade gewiss auch weiterhin vor euch erhalten.“ 6 Ausstellungstafeln RollUp 150 x 230 cm / 80 x 230 cm v o n M o s E g E t r a g En 10 d ie zeit d e r L u th e r is c h en O rth Od O x ie Pi e t i sm us und a uf k L ärung Auch in der Reformation gilt: Sehen kommt vor Sprechen. Als sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts selbst die Säulen und Pfeiler, die Kanzeln tragen, zu figürlichen Boten der evangelischen Verkündigung wandeln, ist der Kanzelträger, der am häufigsten wiederkehrt, Mose! Als tragender Bibelrepräsentant ist er unter rund 70 Prozent der evangelischen Kanzeln zu sehen. Das 17. Jahrhundert bringt die Blütezeit und das beginnende Ende der lutherischen Orthodoxie sowie den Anfang der Bewegung des Pietismus mit sich. Auf jüdischer Seite gesellen sich zum Leben der weit verstreuten Landjuden und der kleineren Gruppe erfolgreicher Kaufleute die Hofjuden, die aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen ebenso gefragt wie gefährdet sind. Auch wächst die Anzahl der städtischen Gemeinden. Die Gesamtzahl der Juden bewegt sich unter einem Prozent der Bevölkerung. 1714 wird in Berlin die erste Synagoge gebaut; Friedrich Wilhelm I. stiftet dazu einen Toravorhang. Doch kann die Entwicklung, die sich darin äußert, nicht darüber hinwegtäuschen, dass Juden in BrandenburgPreußen vor allem zum Wiederaufbau der Wirtschaft und als Steuerquelle willkommen waren. Schien es dem Landesherrn angezeigt, schränkte er ihre Rechte – bis hin zur Vertreibung – erneut ein. Gleichwohl führten Pietismus und Aufklärung zu einer Verbesserung der Stellung der Juden in der Gesellschaft. 9 K a nZEln Wa S G i B t Er z u S E H E n , z u l E S E n ? 1 Mose als Kanzelträger, St.­Severin­Kirche Otterndorf/Niederelbe, 1644 Das liegt im reformatorischen Sinn auf der Hand, besser in seinen Händen: die Tafeln des Gesetzes, des Zehnwortes vom Sinai, oft lesbar aufgeschrieben in Deutsch, auch in Hebrä­ isch oder Latein, manchmal drei Gebote auf der einen, sieben auf der anderen Tafel. Er wird oft begleitet von seinem Bruder Aaron, Johannes dem Täufer oder Engeln. Mose, der Kanzelträger – unwillkürlich denkt man an Atlas, den Globusträger, an Christophorus, den Christuskindträger ... p o l e mik u n D J ü Dische e xisT e n z Be ke hR u n g sw ü n sche in D eR f Rü he n n e u z e iT Das christliche Verhältnis zu den Juden bleibt in dieser Zeit der Tradition verhaftet. Es bewegt sich zwischen diffamierender Abgrenzung und der Erwartung der Bekehrung der Juden, die judenmissionarische Bestrebungen einschließt. Verschiedentlich lassen sich Ansätze zu einer Änderung des Verhältnisses erkennen. Wie kein anderes Werk erlauben die Erinnerungen der jüdischen Kauffrau Glikl Bas Judah Leib (1646/47–1724) einen tiefen Einblick in die Lebenswelt der deutschen Juden in der Frühen Neuzeit. Er lenkt den Blick auf das erste Gebot, worin das Herz der gesamten biblischen Verkündigung schlägt. Mose, der Ohren­ zeuge der göttlichen Offenbarung und Lehrer der Weisung vom Sinai, der „Grundweisung und Fels des Menschenan­ standes unter den Völkern“ (Thomas Mann), wird zum stets gegenwärtigen Ohrenzeugen der reformatorischen Predigt. Für die Bildhauer und Kanzelbauer des 16./17. Jahrhunderts und ihre Auftraggeber trägt und hält Mose die Prediger in ihren Kanzeln. Er vergegenwärtigt ein sprechendes Buch, sie aber erheben ihre Stimme! Wozu hält er sie an zu sprechen, wenn sie die reformatorische Botschaft verkündigen? 2 Kanzel, Dorfkirche Lübbenow, 1581 3 Unten: Kanzel, St.­Stephani­Kirche Helmstedt, nach 1596 Das Gesetz konfrontiert alle, die ihren Blick nicht abwenden vom aufgeschlagenen Buch, mit ihrem Leben vor Gott und den Menschen, ihrer Anmaßung, ihren Ängsten, ihrer Selbst­ sucht, ihrer Überheblichkeit. Es wird zum unbestechlich auf­ deckenden Spiegel des falschen Lebens. Und zugleich führt es zur Frage: Wer bin ich? Überführt zur Selbstaufklärung im Angesicht Gottes. Und wird zugleich das „Ewig­Kurz­ gefasste, das Bündig­Bindende, Gottes gedrängtes Sitten­ gesetz“, Weisung des Rechttuns und des „Menschenbeneh­ mens“ (Thomas Mann). Und führt zur Botschaft jener, die den Kanzelkorb über dem Kanzelträger zieren: die Evangelis­ ten und ihre Botschaft. Der Hamburger Senat hat seit Beginn des Jahrhunderts die Niederlassung jüdischer Kaufleute gefördert. Die Bürgerschaft sucht jedoch das Leben der wirtschaftlichen Konkurrenten nach Kräften einzuengen. Unterstützt wird sie von den lutherisch-orthodoxen Geistlichen, die sich in ihren Predigten für ihre Polemik auf Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen von 1543 berufen. 1 Siebenarmiger Leuchter, Kupferstich aus Nürnberg, 1649 Dieser Leuchter wahrer Religion geht auf das Reformationsgedenken 1617 zurück. Er feiert die Verabschiedung der Confessio Augustana von 1530 und den Augsburger Religionsfrieden von 1555. Der Leuchter aus dem Tempel Israels steht auf der Bibel, die von zwei Cherubim der Bundeslade getragen wird. Luther hält als Hinweis auf das Evangelium den grünenden Stab Aarons in seiner Rechten, sein Landesherr Johann der Beständige das Schwert und – als Hinweis auf das Gesetz – den Stab Moses. Das Bild lebt von der Aneignung alttestamentlicher Elemente. 2 Siebenarmiger Leuchter im Dom zu Braunschweig, 12. Jahrhundert Die Kirche hat sich seit der Antike als Nachfolgerin des Tempels in Jerusalem verstanden. So gehören gelegentlich auch siebenarmige Leuchter zu ihrem kultischen Inventar. 3 Fußbodenmosaik aus Nirim im Süden Israels, 6. Jahrhundert Der siebenarmige Leuchter ist eines der alten Symbole des Judentums und begegnet auf Mosaikböden und Reliefs der ersten Jahrhunderte. 4 Eine moderne Version steht vor dem israelischen Parlament in Jerusalem. Sie bezeugt die unverändert hohe Bedeutung dieses urjüdischen Symbols für das jüdische Volk. gutachten Theologischer fakultäten Anfang des Jahrhunderts (1611) antworten die Theologischen Fakultäten Jena und Frankfurt/Oder auf die Anfrage, ob Juden in einem christlichen Staat zu dulden seien, mit einem positiven Bescheid. Sie plädieren jedoch für ein Verbot öffentlicher Religionsausübung. Für ihre positive Stellungnahme berufen sie sich auf Luthers Schrift von 1523. Johann Buxtorf d. ä. (1564–1629) 1603 veröffentlicht der Baseler Professor für Hebräisch Johannes Buxtorf seine Arbeit Synagoga Iudaica: Das ist der Jueden Schul, die zur gefragten Orientierung über das Judentum wird. Sein Bestreben, von den Quellen her über Glauben, Sitten und Gebräuche der Juden zu informieren, wird durch die antijüdische Grundrichtung des Werkes begrenzt. Antijüdische Aussagen Luthers von 1543 eröffnen seine Darlegungen. 4 Unten: Mose als Kanzelträger, Kirche Großolbersdorf, 1647 6 Unten: Luther-Bibel aus Lüneburg, kolorierter Kupfertitel, 1664 Auch hier ist das Thema „Gesetz und Evangelium“ leitend. Der siegreiche Auferstandene im hellen Licht, den Tod unter seinen Füßen, nimmt die Decke von den Augen des Mose, der im dunklen Schatten sitzt. Auf den beiden Gesetzestafeln steht statt der Zehn Gebote die Drohung: „Verflucht sey, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllet, das er darnach thue“ (5. Mose 27, 26). 5 Johannes müller (1598–1672) 1644 veröffentlicht der Anführer der antijüdischen Hamburger Geistlichen, Johannes Müller, sein Werk Judaismus und Judenthumb. Darin informiert er über das Judentum, weist jüdische Einwände gegen das Christentum ab und plädiert für die Bekehrung der Juden. Theologisch liegt das Werk auf der antijüdischen Linie Luthers. Zwar erinnert Müller auch an dessen Aufruf von 1523, spricht sich jedoch zugleich für massive Einschränkungen jüdischen Lebens aus. eisenmengers Entdecktes Judenthum 1700 publiziert der spätere Professor für orientalische Sprachen Johannes Andreas Eisenmenger (1654–1704) ein zweibändiges antijüdisches Werk, das bis ins 20. Jahrhundert hinein „die trübe Quelle aller judenfeindlichen Schriften gewesen“ ist ( Jüdisches Lexikon). anfänge des pietismus Trotz der hier und da erkennbaren Ansätze zu einem anderen Verhältnis zu den Juden hat es auch im 17. Jahrhundert Ausweisungen von Juden aus Städten und Territorien gegeben, selbst in der Zeit des Pietismus. Doch haben die Erwartung einer heilvollen Zukunft für Israel und die Forderung eines glaubwürdigen Verhaltens zur jüdischen Gemeinschaft in dieser Bewegung zunehmend an Gewicht gewonnen. Im Jahre 1691 beginne ich dieses zu schreiben, aus vielen Sorgen und Nöten und Herzeleid, wie weiter folgen wird ... glückel von hameln Die Memoiren der Hamburger Kauffrau erzählen von jüdischem Leben in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Als Angehörige der jüdischen Oberschicht steht Glückel in familiären und wirtschaftlichen Beziehungen zu Juden in ganz Mitteleuropa. Wie kam mose zu Füßen der „mundboten Gottes“ (luther), zu diesem publikumswirksamen Platz? 11 Wir haben in Hamburg kein Bethaus gehabt und auch gar kein Wohnrecht. … Doch sind die Juden zusammengekommen in ihren Wohnungen zum Beten, so gut sie nebbich … gekonnt haben. Wenn solches die Räte der Stadt vielleicht schon gewusst haben, haben sie doch gern durch die Finger gesehen. Aber als es Geistliche gewahr worden sind, haben sie es nicht leiden wollen und uns nebbich verjagt, und wie das schüchterne Schaf haben wir müssen nach Altona ins Bethaus gehen. pi eT i s m u s ü B eR g ä n g e Die materiellen, kulturellen und seelischen Verwüstungen, die der Dreißigjährige Krieg angerichtet hatte, führten zu einer Schwächung der Kirche als Institution und zu einem Geltungsverlust ihrer Dogmatik. Der Pietismus kam auf, eine enthusiastische Auffassung des Glaubens und Kräftigung des Laienelements in der Gemeinde. Die Periode von 1650 bis 1815 ist als „die wohl ausgeglichenste in der deutsch-jüdischen Geschichte bezeichnet“ worden, in der „das friedliche Leben das Normale, der Konflikt die große Ausnahme“ war, auch wenn seine Strukturen nur überdeckt waren. In Anlehnung an den Römerbrief des Paulus und in Aufnahme der Schrift Luthers von 1523 entstand eine gegenüber den Juden freundlichere Haltung. So wird die Judenmission zu einem Hauptanliegen des Pietismus; an Toleranz – die Bereitschaft, das eigene Recht der anderen Religion gelten zu lassen – wird dabei noch nicht gedacht. 7 Bucheinband Die Memoiren der Glückel von Hameln; der Name „Glückel“ wurde 1896 von dem Herausgeber der ersten Ausgabe geprägt. Von Hause aus hieß sie Glikl Bas (= Tochter von) Judah Leib. 1 Philipp Jacob Spener (1635–1705) 8 Leopold Pilichowski, Bertha Pappenheim als Glikl, vor 1925 Im Jahr 1910 veröffentlichte die Sozialpädagogin Bertha Pappenheim das Memoirenbuch ihrer Vorfahrin Glikl „in gemeinverständlicher Sprache und Schriftzeichen“. 9 Der Prophet Nathan von Gaza salbt Sabbatai Zwi zum Messias; beide Männer mit dem den Juden aufgezwungenen christlichen Abzeichen des Judeseins. Die anfänge der mission unter den Juden und der erforschung des Judentums im pietismus Philipp Jakob Spener hatte 1666 im Ghetto Frankfurts mit der Judenmission begonnen. Sein Schüler August Hermann Francke, Gründer der Francke’schen Anstalten in Halle 1698, wurde zu einem ihrer bedeutenden Fürsprecher. Johann Heinrich Callenberg, dessen Nachfolger, gründete 1728 in Halle das erste „Institutum Iudaicum“, das sich der wissenschaftlichen Fundierung der Judenmission widmete und bis zum Ende des Jahrhunderts bestand. Die Theologische Fakultät in Halle und einzelne ihrer Professoren setzen sich in 22 Gutachten, die etwa zur Hälfte von Juden erbeten wurden, für deren Duldung und eine Zunahme ihrer religiösen Freiheit ein. Die Sehnsucht nach Erlösung erhält in der Zeit Sabbatai Zwis im Ostjudentum erheblichen Auftrieb durch die unermesslichen Leiden, die den Juden während des Kosakenaufstands unter Bogdan Chmielnitzki (ab 1648) zugefügt werden. Zahllose blühende jüdische Gemeinden fallen dem Wüten der Kosaken und der Soldateska in den Folgekriegen zum Opfer. Viele Überlebende suchen Zuflucht im Westen und bilden den Grundstock für zahlreiche jüdische Gemeinden auch in Deutschland. moses mendelssohn – Bürge des Judentums und mitte der aufklärung in preußen Im 18. Jahrhundert beginnt diese geschlossene Welt, sich zu öffnen. 1678 wurden in Frankfurt/Oder die ersten jüdischen Studenten zum Studium der Medizin zugelassen. Dieser Aufbruch erfasste vornehmlich die jüdische Oberschicht. Ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung verarmte im 18. Jahrhundert zunehmend. Ihren deutlichsten Ausdruck fand dies in der großen Anzahl der sogenannten Betteljuden. a u fk lä Ru n g Um die Mitte des 18. Jahrhunderts setzt die Aufklärung ein, die im Namen der Vernunft betriebene Emanzipation des Bürgertums von Monarchie und Kirche, den für die überlieferte Feudalgesellschaft konstitutiven Autoritäten. In zwei Sätzen definiert Immanuel Kant, der Analytiker der Vernunft, den Begriff der Aufklärung: Der falsche messias sabbatai zwi Im Jahr 1648 gibt sich der türkische Jude Sabbatai Zwi (1626–1676) in seiner Gemeinde in Smyrna als Messias zu erkennen. Nach Palästina verbannt, begegnet er seinem künftigen Sprachrohr, dem Propheten Nathan von Gaza. 1665 kehrt Sabbatai Zwi nach Smyrna zurück, in einer begeisterten Prozession bekennen sich die meisten Juden zu ihm als Messias. Eine messianische Aufbruchsstimmung erfasst die Gemeinden. Die türkischen Behörden aber verhaften ihn. Mit der Todesstrafe bedroht, tritt Sabbatai Zwi zum Islam über. Teile seiner Anhänger halten trotzdem an ihm fest. Glückel von Hameln, deren Schwiegervater bereits Haus und Hof verkauft hatte und über Jahre hin zum Aufbruch gen Osten bereit war, schließt ihren Bericht mit den Worten: „Aber es hat dem Höchsten noch nicht gefallen …“ Die jüdische Gemeinschaft war bis in die Anfangsphase dieser Zeit eine in sich geschlossene Welt. Sie wurde bestimmt durch ihre religiöse Tradition, durch eine gewisse Autonomie in den rechtlichen Angelegenheiten ihrer Gemeinden und durch die Autorität ihrer Rabbiner, die über Lehre und Leben entschieden. 11 Unten: Auszug aus Wien ins Heilige Land Eine satirische „Neue Zeitung“ auf die messianische Bewegung des Sabbatai Zwi, zeitgenössischer Kupferstich 1666; Bildinschrift: „Jüdische neue Zeitung vom Marsch aus Wien und anderen Orten der jetzigen zwölff Jüdischen Stämmen ... / weil sie aus der Christenheit sollen verbannisiret werden / zu dem Nathan ziehen wollen.“ Herr Friedländer wird Ihnen sagen, mit welcher Bewunderung der Scharfsinnigkeit, Feinheit und Klugheit ich Ihren Jerusalem gelesen habe. Ich halte dieses Buch für die Verkündigung einer grossen, obzwar langsam bevorstehenden und fortrückenden Reform, die nicht allein Ihre Nation, sondern auch andere treffen wird. Sie haben Ihre Religion mit einem solchen Grade von Gewissensfreiheit zu vereinigen gewusst, die man ihr gar nicht zugetraut hätte und dergleichen sich keine andere rühmen kann. Immanuel Kant an Moses Mendelssohn, Königsberg, den 16. August 1783 3 Unten: Christian Wilhelm Dohm, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, Erster Theil. Neue verbesserte Auflage, 1783 Dohm war Jurist, Diplomat und Schriftsteller, ab 1779 im preußischen Staatsdienst und Bewunderer Friedrichs des Großen. Oder ist es aus der Organisation bewiesen, dass eine Frau nicht denken und ihre Gedanken nicht ausdrücken kann? Wäre dies, so blieb es doch noch Pflicht, oder erlaubt, den Versuch immer von neuem zu machen. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. 2 Edikt König Friedrich Wilhelms I. von 1724 über die Vertreibung aller nicht zugelassenen Juden 10 Bildinschrift: Der Große betrieger und Falsche MESSIAS SABATAI – SEVI. König der Juden ANNO 1666 Die Sache der Aufklärung ist Freiheit des Menschen in Wirtschaft, Politik, Kultur und Religion. Folglich ist die Gleichberechtigung der Juden eines ihrer Ziele. Kant, dem wichtigsten Verfechter der Aufklärung auf der deutschen Seite, stand in Moses Mendelssohn deren bedeutendster Lehrer auf der jüdischen gegenüber. Freundschaft und Verehrung verbanden beide. anfang des 18. Jahrhunderts: Die welt beginnt, sich für die Juden zu öffnen Das Leben Moses Mendelssohns war ein einziges Plädoyer für die Verträglichkeit der jüdischen Religion mit der Vernunft. Dabei ist er von der Befolgung der Tora niemals abgewichen. Seine Schriften (u.a. Jerusalem – oder über religiöse Macht und Judentum, 1783, und Morgenstunden, 1785) durchzieht ein – von der Philosophie Spinozas inspiriertes – Bekenntnis zur Vernunft. Er verwandte große Mühe darauf, den Juden seiner Zeit die deutsche Sprache nahezubringen. Dazu hat er – bei hoher Anerkennung der Bibelübersetzung Luthers – die Tora, die Psalmen und das Hohelied übersetzt; auch trat er wirksam für seine Religionsgenossen ein; so half er 1777 mit einer Eingabe, die Vertreibung der Dresdner Juden zu verhindern. Die schrift des staatsbeamten christian wilhelm Dohm zur verbesserung der lage der Juden von 1781 Christian Wilhelm Dohm plädierte in seiner Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden von 1781 für eine Öffnung der Gesellschaft für die Juden in ihrer Mitte. Die Diskussion seiner Vorschläge, die er für die zweite Auflage aufnahm, zeigt die Grenzen der Aufklärung: Wie die christliche Judenmission von einst die Absage der Getauften an ihr Judentum gefordert hatte, so erwarteten die Aufklärer eine Assimilation, als wäre sie eine Reinigung – die Aufgabe all dessen, „was dem herkömmlichen Bild des Juden entsprach: seine jiddische Sprache, sein Äußeres, seine Geschäftspraktiken und auch seine orthodoxe Religionsauffassung“ (Arno Herzig). 4 Anna Dorothea Therbusch, Henriette Herz als Hebe, die griechische Göttin der Jugend, 1778 Henriette Herz (1764–1847) führte wie Rahel Varnhagen (1771–1833) einen in der Berliner Gesellschaft gefragten Salon. Das emanzipationsedikt von 1812 Das die Emanzipation der Juden vorschreibende Edikt des preußischen Königs von 1812 weckte die Hoffnung auf ein freieres Leben außerhalb der überlieferten, isolierenden Formen ihrer Religion und ihres sozialen Lebens. Sie gerieten in eine vielfältige Auseinandersetzung mit der modernen Kultur. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlor die jüdische Gemeinschaft in Berlin ein Zehntel ihrer Mitglieder an die evangelische Kirche, darunter einen Teil der Nachkommen Mendelssohns. Zugleich begann der aufflackernde Antisemitismus, den Sinn und das Gelingen ihrer Assimilation infrage zu stellen. Rahel Varnhagen 5 Moritz Oppenheim, Lavater und Lessing besuchen Moses Mendelssohn, 1856 Moses Mendelssohn wurde 1729 in Dessau geboren. Im Alter von 14 Jahren wandert er, seinem Lehrer David Fränkel folgend, nach Berlin aus. Dort studiert er in den ersten Jahren neben dem Talmud die Fundamente der europäischen Kultur und erlernt ihre wichtigsten Sprachen: Deutsch, Latein, Englisch und Französisch. 1753 entsteht seine Freundschaft mit Gotthold Ephraim Lessing. In Nathan der Weise, seinem letzten Werk, setzt dieser 1779 Mendelssohn ein Denkmal der Toleranz. 1783 wird Mendelssohn zum Ehrenmitglied der Berliner „Gesellschaft von Freunden der Aufklärung“ gewählt, der neben Lessing und Christian Wilhelm Dohm auch Beamte des Konsistoriums – darunter Johann Joachim Spalding – angehören. 7 Ausstellungstafeln RollUp 150 x 230 cm / 80 x 230 cm 12 J üd i s che ema n zi PatiO n u n d k irchL i cher a n ti s em it is m u s 13 V e r s a g en d e r k i rc h e u n d h O L Oc aust 14 das l ut h E r- J ah r 1933 Der Niedergang des protestantischen Deutschen Kaiserreiches durch eine militärische Niederlage im Weltkrieg und die anschließende Revolution betreffen den deutschen Kulturprotestantismus und das assimilierte deutsche Judentum gleichermaßen. Die Infragestellung von obrigkeitsstaatlichen Normen und Werten sowie die wirtschaftliche Situation belasten das ungewohnte demokratische System schwer. Zur Deutung ihres Machtantritts als nationale „Zeitenwende“ bemühen die Nationalsozialisten immer wieder die historischen Größen in der deutschen Geschichte, deren Werk es zu vollenden gelte. Derlei Zuschreibungen für mittelalterliche Reichsgröße (Heinrich I.), Grenzverteidigung (Prinz Eugen), preußische Pflichtauffassung (Friedrich der Große) oder Reichseinigung (Bismarck) finden im Luther­Jahr 1933 einen ersten Höhepunkt. Politisch gliedert sich dieser Zeitraum in drei Epochen: die Zeit vom Sieg Napoleons über Preußen bis zur Gründung des Deutschen Reiches (1806–1871), die Zeit des Kaiserreiches (1871–1918) und die kurze Phase der Weimarer Republik (1919–1933). Erst mit ihr ist die immer wieder verzögerte volle bürgerliche Gleichberechtigung der jüdischen Deutschen erreicht. wa c h s e n De R an T i s e m i Ti s m u s T Ra Di Ti o n u n D wa n Dl u n g Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bildet sich in den evangelischen Kirchen eine eigenständige Form des Antisemitismus heraus. Religiös motivierte Judenfeindschaft, konservativständische Leitbilder und ein aggressiver Nationalismus verbinden sich zu einer Ideologie, die Pfarrerschaft und Kirchenmitglieder nachhaltig prägt. Nur wenige evangelische Theologen stellen sich dem entgegen. In der ersten Epoche des 19. Jahrhunderts entwickelt sich das jüdische Leben vor allem in den städtischen Zentren in reicher, auch konfliktreicher Vielfalt. Dies gilt besonders von der Neugestaltung des Verhältnisses zur religiösen Tradition. ernst moritz arndt (1769–1850) Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt. Das Edikt vom 11. März 1812 gewährt den in Preußen lebenden Juden Niederlassungs-, Handels- und Gewerbefreiheit, nicht jedoch den Zugang zum Staatsdienst oder zum Offizierskorps. Die Religionszugehörigkeit entscheidet weiterhin über Status und bürgerliche Rechte. Prominente Befürworter der nationalen Einigung wie der Theologe Ernst Moritz Arndt lehnen die Gleichberechtigung der Juden ab, weil diese ein „Fremdkörper“ im „Germanentum“ seien. Mit der gescheiterten Revolution des Jahres 1848 zerschlagen sich die Hoffnungen auf die vollständige Gleichstellung der Juden. 1 Auszüge aus dem Edikt vom 11. März 1812 adolf stoecker (1835–1909) – der erste erfolgreiche antisemitische politiker 2 Adolf Stoecker 3 Karikatur Wer Hass sät aus: Die Reform. Ein Volksblatt, 1881 Alle Einwanderer gehen zuletzt in dem Volke auf, unter welchem sie wohnen; die Juden nicht. Dem germanischen Wesen setzen sie ihr ungebrochenes Semithentum, dem Christentum ihren starren Gesetzescultus oder ihre Christusfeindschaft entgegen. Adolf Stoecker, Das moderne Judentum in Deutschland, 1880 4 Antisemiten-Katechismus, 1887 Das von Theodor Fritsch (1852–1933) herausgegebene Buch ruft zum „heiligen Krieg“ gegen den „bösen Geist“ des Judentums und für die „höchsten Güter der arischen Menschheit“ auf. Nach der Reichsgründung 1871 verschärft sich der Antisemitismus in Deutschland. Die christlich-religiösen Vorurteile werden aufgenommen und ersetzt. An die Stelle des Ritualmordvorwurfs tritt das Bild vom jüdischen „Mammonismus“ und der jüdischen „Blutsaugerei“, an die Stelle des Vorwurfs des „Gottesmordes“ das Bild vom „dämonischen“, alles zersetzenden Juden. Die „Lösung“ der sogenannten Judenfrage könne, so lautet das politische Credo, nur im „Verschwinden“ des Judentums entweder durch völlige Assimilation oder durch Entrechtung und Vertreibung liegen. Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker macht den Antisemitismus kirchen- und politikfähig. Die von Stoecker geschaffene Verbindung aus ständisch-konservativen Vorstellungen, antidemokratischen Einstellungen und Antisemitismus hat (bis weit über das Jahr 1933 hinaus) einen prägenden Einfluss auf Kirche und Theologie. Die „Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung“, die bedeutendste Zeitung des deutschen Luthertums, verbreitet antisemitische Einstellungen in Pfarrerschaft und Kirchenkreisen. Einer der wenigen evangelischen Theologen, die sich Stoecker entgegenstellen, ist der unter Juden hoch angesehene Gründer des Berliner Institutum Judaicum, Hermann Leberecht Strack. Der erstarkende rassistisch-völkische Antisemitismus macht sich Luthers antijüdische Schriften zunutze. otto Dibelius (1880–1967) Man kann nicht verkennen, dass bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt. 5 Otto Dibelius, 1928 6 Deckblatt von Eduard Lamparter, Evangelische Kirche und Judentum – ein Beitrag zu christlichem Verständnis von Judentum und Antisemitismus, 1928 Ich habe mich immer … als Antisemiten gewußt. Wie viele evangelische Geistliche bekannte sich Otto Dibelius, von 1925–1933 Generalsuperintendent der Kurmark und damit einer der führenden Geistlichen in Preußen, in den 1920er-Jahren zum Antisemitismus. eduard lamparter (1860–1945) Das Judentum steht als eine kultur- und religionsgeschichtliche Erscheinung vor uns, die mit Ehrfurcht erfüllt. Der Stuttgarter Pfarrer Eduard Lamparter, Mitglied im „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, ist einer der wenigen protestantischen Geistlichen, die den Anspruch des zeitgenössischen Judentums anerkennen, ein gleichberechtigter Teil der deutschen Gesellschaft zu sein; dabei beruft er sich auf Luthers Schrift von 1523. 1 Simplicissimus, Oktober 1917 Ich wünschte / daß alle Deutsche so gesinnt wären / daß sie sich kein Flecklein noch Dörflein plündern ließen / noch wegführen ließen / sondern wenn es zu solchem Ernste und Noth käme / daß sich wehrte / was sich wehren könnte / Jung und Alt / Mann und Weib / Knecht und Magd. Die Reformbewegung Zunächst in Seesen am Harz, dann vor allem in Berlin beginnen Reformwillige mit einer Neugestaltung des Gottesdienstes. Sie wählen das Deutsche als vorherrschende Gottesdienstsprache und lehnen sich auch sonst eng an protestantische Formen an (z. B. Orgel und Chorgesang). Sie suchen das Judentum wissenschaftlich zu durchdringen und die Ergebnisse gemeindenah zu vermitteln. 7 Das 1907 bezogene Gebäude der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, Tucholskystraße 14 Von links nach rechts: 9 Israel Jacobson (1769–1828), Begründer der Reformbewegung, 10 Leopold Zunz (1794–1886), wissenschaftlicher Kopf der Reformbewegung, Gemälde von Oppenheim, 11 Abraham Geiger (1810–1874), Rabbiner an der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße und Gründer der Berliner Lehranstalt (Hochschule) Der deutsche Kulturprotestantismus feiert Hitlers Kanzler­ schaft im Januar 1933 als euphorisches Erlebnis. Das 450. Geburtsjahr Martin Luthers bietet willkommenen Anlass, den Reformator als „deutschen Revolutionär“ zu präsentieren, dessen Lebenswerk durch Hitler vollendet werde. hitler als Reichskanzler 13 Jüdisch-Theologisches Seminar in Breslau 14 Links: Zacharias Frankel (1801–1875), Gründer des Breslauer Seminars (1854) 15 Unten: Heinrich Graetz (1817–1891), Dozent am Breslauer Seminar und Verfasser der ersten wissenschaftlich fundierten, umfassenden Geschichte der Juden 2 Auswirkungen der „Nürnberger Rassegesetze“ vom September 1935, dargestellt in einem Jugendbuch 3 Rechts: Jugendlicher mit dem Davidstern der Münchener Synagoge Ohel Jakob nach dem Pogrom vom 9./10. November 1938 4 Unten: Das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ in Eisenach herausragende lehrer Leo Baeck stellt sich Anfang des Jahrhunderts der verzerrenden Darstellung des Judentums in Adolf von Harnacks auflagenstarkem Wesen des Christentums (1900) entgegen. 17 Ludwig Meidner, Leo Baeck (1872–1956), 1931 Religiöse und politische Diskussionen um die Wirkungsmacht des Reformators im deutschen Judentum finden kaum Partner zum interreligiösen Dialog. Im Gegenteil erfahren die deutschen Juden Luther als ein Instrument im antisemitischen Angriff einer krisengeschüttelten Gesellschaft. Dieser Angriff radikalisiert sich nach Hitlers Machtantritt von der Ausgrenzung bis hin zur gewaltsamen Deportation in den Tod. Der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ verurteilt die Rolle der evangelischen Kirche deutlich. Abseits vom Interesse am „theologischen Luther“ wirkt der „nationale Luther“ nach 1918 für völkische Verbände als antidemokratische und rassenantisemitische Legitimationsfigur. Um ihn aus der Geisteswelt des 16. Jahrhunderts zu isolieren und mit völkisch-germanischen Ideen zu vereinen, bezichtigt man die protestantische Kirche der Reformationsverfälschung. 12 Esriel Hildesheimer (1820–1899), Gründer des Orthodoxen Rabbinerseminars in Berlin (1873) Am Tag des Reformationsjubiläums 1817 prägt der jüdische Herzogliche Direktor der Israelitischen Schulen in Dessau den Schülern mit Dank die Bedeutung Martin Luthers trotz seiner Judenfeindschaft ein. Durch seine Übersetzung auch der Hebräischen Bibel habe er Christen außer mit den Pflichten der Menschenliebe auch mit den Religionslehren des Judentums näher bekannt gemacht. Martin Buber und Franz Rosenzweig gründen in Frankfurt am Main das Jüdische Lehrhaus, das sich einer intensiven jüdischen Erwachsenenbildung widmet. Beide schaffen die nach ihnen benannte, die hebräische Sprache in die deutsche hineindenkende Bibelübersetzung. lu tH Er – Pr o JEk ti o n En u n D h o lo c a u s T Überblickt man die deutsche protestantisch geprägte moderne Gesellschaft in Demokratie und Diktatur, so zeigt sich die Dominanz einer nationalpolitischen Luther-Deutung, die den judenfeindlichen Äußerungen des Reformators hohe Aufmerksamkeit schenkt und keinen Willen zur gleichberechtigten Debatte mit dem deutschen Judentum aufbringt. Die nach dem 1. Weltkrieg einsetzende Luther-Renaissance verändert nicht die protestantische Sicht auf die Juden. Luthers frühe theologische Äußerungen über das Judentum liefern keine Begründung für eine gleichberechtigte Debatte; seine judenfeindlichen Spätschriften hingegen gelten bei antisemitischen Theologen als wichtige Erkenntnisse der protestantischen Leitinstanz. anteilnahme Rabbinerkonferenzen treten in Erklärungen den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anwachsenden Verleumdungen entgegen. Üble Nachreden verstummen auch im Ersten Weltkrieg nicht. Eine Untersuchung ergibt, dass der Anteil an jüdischen Kriegsteilnehmern prozentual höher ist als der christlicher. Das Ergebnis wird – trotz Drängens von maßgeblicher jüdischer Seite – unter Verschluss gehalten. ve Rwei g eRT e D eB aTTe in p e Rman e n T e n kRise n z e iT e n luther-Renaissance und luther-missbrauch orthodoxe und konservative verleumdungen und gegenwehr l u The R -De u T u n g e n Mit dem Machtantritt Hitlers wird der Antisemitismus zur Staatsraison. Luthers Judenfeindlichkeit dient unwidersprochen als ein historisches Element in der Legitimierung der widersprüchlichen rassistischen Ideologie. Die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden endet schließlich im Massenmord. 8 Rechts: Emile de Cauwer, Die 1866 eingeweihte Neue Synagoge, 1865 1872 gründet die Reformbewegung in Berlin eine renommierte „Lehranstalt (später Hochschule) für die Wissenschaft des Judentums“. Sie hat unter ihrem letzten Leiter, Leo Baeck, bis zur Schließung durch die Nazis im Juli 1942 Bestand. Die Reformbewegung trifft auf den erbitterten Widerstand des traditionsbewussten, orthodoxen Judentums. Zwischen beiden Gruppen bildet sich eine dritte, zwischen Wissenschaft und Traditionsbindung vermittelnde Richtung. Beide Gruppierungen gründen Ausbildungsstätten von internationalem Rang, das orthodoxe Judentum in Berlin, das konservative in Breslau. Hitlers Kanzlerschaft wird von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Protestanten begrüßt. Aus ihrer Perspektive eint Hitler die Nation durch Führerschaft und er markiert die Feinde: Judentum und Bolschewismus. Obwohl es nicht gelingt, eine einheitliche protestantische Reichskirche auf antisemitischer Basis zu errichten, können Theologen bis auf eine verschwindend kleine Minderheit den Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft mittragen. Die „Nürnberger Rassegesetze“ von 1935 und der Pogrom 1938 ragen aus den exekutiven und Gewaltmaßnahmen heraus, doch sie erzeugen kein spürbares Umdenken mehr. Vereinzelte Proteste verhallen. Mit der Gründung eines „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ 1939 in Eisenach institutionalisieren die NS-Theologen ihre „judenfreien“ Interpretationen als Wissenschaft. luther als legitimation der verfolgung 16 Titelseite des Werkes, mit dem Leo Baeck auf Harnacks Vorlesungen von 1900 antwortete 8 5 Unten: Buchwerbung nach dem Novemberpogrom: Luther fordert Synagogen-Brand! Die Nationalkirche 7, 4. Dezember 1938 In Presse und Publizistik dominieren ohnehin die vulgäranti semitischen Stimmen, wie etwa in Julius Streichers „Stürmer“. Doch die „Nationalkirche“, das Monatsblatt der Deutschen Christen, ist ebenso deutlich. Nach dem Novemberpogrom 1938 fordert sie offensiv die „Entjudung des deutschen Lebens“ und wirbt für ein Buch mit dem Slogan: „Luther fordert Synagogen-Brand!“. Mit der Kennzeichnung der deutschen Juden und dem Beginn der Deportationen im Herbst 1941 verschwinden die Bezugnahmen auf Martin Luther. Landesbischof Theophil Wurm versucht 1942 zugunsten der evangelischen „Nichtarier“ zu intervenieren, anerkennt jedoch das Recht des Staates auf eine rassistische Gesetzgebung. Als er 1943 schriftlich zweimal auf das unvergleichliche Verbrechen hinweist, ist die Mehrheit der Juden Europas bereits ermordet. Der NS­Bürgermeister Coburgs sagt im Frühjahr 1933: „Wie Martin Luther in Wittenberg seine weltgeschichtliche Tat der Reformation des Glaubens ausgeführt hat, so ist Adolf Hitler gleichsam ein neuer Luther in der politisch­nationalen Zusammenfassung ganz Deutschlands.“ 6 Max Liebermann, Hermann Cohen, ca. 1912 Das deutsche Judentum und martin luther Und der preußische Kultusminister Rust bekennt: „Ich denke, die Stunde ist vorüber, wo man Luther und Hitler nicht in einem Atemzug nennen durfte. Sie gehören zusammen.“ Anfangs des 20. Jahrhunderts reflektieren bedeutende jüdische Gelehrte über den Platz des jüdischen Glaubens in Deutschland und streiten offensiv für ein selbstbewusstes deutsches Judentum. Der Rabbinatskandidat Reinhold Lewin analysiert 1911 Luthers Antijudaismus wissenschaftlich und erhält große Zustimmung. Als Luther im Ersten Weltkrieg zur Symbolgestalt kämpferischer Einheit wird, bemerkt der Philosoph Hermann Cohen, der Reformator sei „an unserer Bibel, an der Übersetzung der Propheten und der Psalmen zu seiner Höhe emporgewachsen“. Der Theologe Samuel Krauss hingegen beharrt auf Luthers Fehlern, die ihn in eine Reihe mit den schlimmsten historischen Judenfeinden stellten, obwohl seine Leistungen zur freien Entfaltung des menschlichen Geistes zu würdigen seien. Leo Baeck warnt vor den Folgen der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, weil die Kirche dem Staat dienstbar gemacht werde. theologen 7/8 Samuel Krauss, Luther und die Juden, Der Jude. Eine Monatsschrift, 1917/18 1 Der „Tag von Potsdam“ als Versöhnung von protestantischem Staatsverständnis und Nationalsozialismus Preuß resümiert: „Man hat gesagt, das deutsche Volk habe dreimal geliebt: Karl den Großen, Luther und Friedrich den Großen. Wir dürfen nun getrost unseren Volkskanzler hin­ zufügen. Und das ist wohl die lieblichste Parallele zwischen Luther und Hitler.“ luther – gegen antisemitische vereinnahmung Diese Debatten werden seit Ende des Ersten Weltkriegs in einer zunehmend antisemitischen Atmosphäre geführt. Der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ bekämpfen die Vereinnahmung Luthers für pseudorassistische Legitimationen mit seriösen Mitteln öffentlicher Aufklärung. Doch mit dem Machtantritt der Nazis 1933 gibt es keine Partner mehr, um das protestantisch-jüdische Verhältnis unter den Deutschen zu debattieren. Letzte öffentliche Wortmeldungen stammen von Ludwig Feuchtwanger, der 1933 zu Luthers 450. Geburtstag mutig feststellt: „Die Judenschriften für den Tagesgebrauch zu verwenden, bedeutet Verkennung, ja Mißbrauch der Äußerungen Martin Luthers, der sein Leben lang sich den Stimmungen der Masse entgegenstemmte und eher sich die Zunge abbiß als den Tagesgötzen zu opfern.“ Und dennoch widmet sich etwa Willy Cohn dem Thema. Der Breslauer Historiker veranstaltet bis 1938 wiederholt Fortbildungen zum Thema „Luther und die Juden“. Nach ihrer Deportation am 25. November 1941 sterben er, seine Frau und zwei Töchter vier Tage später im Kugelhagel des Einsatzkommandos 3 der Einsatzgruppe A im besetzten litauischen Kaunas. Reinhold Lewin, zuletzt Rabbiner in Breslau, wird mit seiner Frau und zwei Töchtern am 4. März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die „Endlösung der Judenfrage“ durch Massenmord kostet weit mehr als fünf Millionen Juden das Leben. Leo Baeck, der das Ghetto Theresienstadt überlebte, bekennt 1945: „Die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.“ Während des Reformationsfestes in Chemnitz 1933 erinnert Landesbischof Coch, diese Stadt sei einstmals „rot“ gewesen; jetzt sei sie „national und christlich“. Dies nicht zuletzt, weil Luther durch Hitler wieder lebendig geworden sei. Was der eine begann und nicht vollenden konnte, würde nun erfüllt: ein in sich geeinigtes Volk, das auch zu einer Glaubensge­ meinschaft verschmelze. 10 Der Pass des Autors Feuchtwanger: Zwangsvorname „Israel“ und eingestempeltes rotes „J“ Hitler 9 Ludwig Feuchtwanger, Luthers Kampf gegen die Juden, Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, 1933 2 Postkarte zum Luther­Tag in Nordhausen am 10. November 1933 3 Unten: Festumzug zur Luther­Woche am 20. August 1933 Als Fünfter von rechts in der ersten Reihe steht der deutschchristliche Reichsbischof Ludwig Müller. verfolgung und massenmord Vor dem Hintergrund des Meinungsterrors, allgegenwärtiger Straßengewalt und legislativer Ausgrenzung auf allen Gebieten menschlichen Zusammenlebens sind wissenschaftliche Debatten zum deutsch-jüdischen Verhältnis ab 1933 von der grausamen Realität überholt worden. Doch nicht nur NS­Funktionäre verkünden Hitler als zwei­ ten Luther. Der Professor für Kirchengeschichte Hans Preuß vergleicht beider Lebensweg und will eine Fülle an Paralle­ len entdecken. Beide seien zunächst unbekannte, einsame Streiter für Deutschland im Angesicht eines übermächtig scheinenden Gegners gewesen, beide hätten in erzwungener Abgeschiedenheit maßgebliche Werke geschrieben, beide die Juden als Feinde erkannt. 11 Willy Cohn während einer Palästina-Reise, März 1937 Quelle: Prof. Dr. Dr. h. c. Norbert Conrads 12 Unten: Eintrag in Willy Cohns Tagebuch am 24. März 1936 über einen LutherVortrag (rechts oben) Quelle: CAHJP Jerusalem, P. 88 Der neue Reichskanzler tut im Luther­Jahr nichts, um seine Zustimmung zur hymnischen Gleichsetzung mit dem Refor­ mator zu untermauern. Hitler fehlt bei allen Luther­Wochen und zentralen Reformationsveranstaltungen. Doch ab 1923 hatte er wiederholt auf die Traditionslinie großer Deutscher verwiesen, an die es anzuknüpfen gelte. Nach seinem Prozess in München und der Haft in Lands­ berg 1924 begann Hitler, sich selbst als den Auserwählten zu sehen, der die Linie Luther – Friedrich der Große – Bis­ marck und Richard Wagner fortzuführen in der Lage sei. 1924 erschien eine kleine Schrift des völkischen Schriftstel­ lers Dietrich Eckart, in der er seine Dialoge mit Hitler in wörtlicher Rede wiedergab. Folgt man Eckart, so qualifizierte der Parteiführer Martin Luther als einen der größten Deut­ schen, der erst ganz am Schluss seines Lebens das Juden­ tum und nicht den Katholizismus als Feind der Deutschen erkannt hatte. Während des Krieges äußert sich Hitler gelegentlich nächtli­ cher Gesprächsrunden zu Luther, wenn er etwa am 4. Januar 1942 behauptet, seine Einführung des „Deutschen Grußes“ sei von Luthers Ankunft beim Reichstag zu Worms inspiriert gewesen. Ausstellungstafeln RollUp 150 x 230 cm 15 16 d i e g eg en wa rt s e it 1945 Pe rsP e k t i V e n Stuttgarter Schuldbekenntnis – Nürnberger Prozesse – Gründung des Staates Israel 1948 – erneute Bildung kleiner jüdischer Gemeinden in West und Ost – deren Bereitschaft zu einem Neuanfang – Eichmann- und Auschwitz-Prozess – Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel – Erklärung „Nostra Aetate“ des 2. Vatikanischen Konzils – vermehrte Israel-Kontakte der jüngeren Generation – Umwandlung des „Judensonntags“ in den „Israelsonntag“ – spätes Erschrecken über den verübten Massenmord in Deutschland – bröckelnde gesellschaftliche Solidarität mit Israel – Erstarken antisemitischer Strömungen – deutsche Wiedervereinigung – nachfolgende Neubildung und Anwachsen jüdischer Gemeinden (ca. 100.000 Mitglieder = 0,125 % der Bevölkerung) s c h u l DeR k e n n Tn i s w ie De Rau f B au s c h m eRz u n D z u wen D u n g eR k lä Ru n g en , eRwa RTu n g en , u n D n e u a n fa n g Mai 1945: Einige Tausend Juden erleben in Berlin die Befreiung. Befreit werden auch die jüdischen Häftlinge der Zwangsarbeiter- und Konzentrationslager. Nach Pogromen in Polen kommen 1946 weitere 100.000 jüdische Flüchtlinge. Diese „Displaced Persons“ warten in zahlreichen Camps auf Einreisepapiere, um nach Übersee oder Palästina auszuwandern. Doch ein Teil von ihnen wird in Deutschland ansässig und trägt zum Wiederaufbau eines jüdischen Gemeindelebens bei. Das Mittelalter hat in vielerlei Formen, auf Bildern und durch Skulpturen, die Gestalt des Schmerzensmannes ausgeprägt. Sie zeigt nicht den triumphierenden Christus, sondern den, der leidet und mitleidet. en TTä u s c h u n g en Die Spannweite kirchlichen Verhaltens zur jüdischen Gemeinschaft reicht in dieser Zeit von ersten Schuldbekenntnissen bis zur Aufnahme kirchlicher Selbstverpflichtungen gegenüber dem Judentum in die Grundordnungen der evangelischen Landeskirchen. anfänge 1 Die vom Koordinierungsrat seit 1968 jährlich verliehene Medaille mit den Bildnissen von Martin Buber und Franz Rosenzweig In dem Stuttgarter Schuldbekenntnis des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD, später EKD) vom 28. Oktober 1945 findet der Völkermord an den Juden keine ausdrückliche Erwähnung. 1950 kommt es auf der Synode der EKiD in Berlin-Weißensee zu einer Erklärung, die Schulderkenntnis und das Bekenntnis zur bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes verbindet. 1949 wird der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gegründet, dem bis heute 82 Gesellschaften angehören. 1950 initiiert er nach einem Schweizer Vorbild die Schwalbacher Thesen als Leitlinien für die Behandlung des Judentums in Predigt und Unterricht. schritte Seit 1961 trägt die AG Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag wesentlich zur Verständigungsarbeit bei. Zu ihren Trägern gehören Christinnen und Christen, die sich in der NS-Zeit helfend bewährt hatten. Die 1958 ins Leben gerufene Aktion Sühnezeichen leistet praktische Versöhnungsarbeit in Europa, Israel und Übersee. 2 Naftali Bezem, Gedenkfenster für die Synagoge in der evangelischen Salvatorkirche zu Duisburg, 1981 Zwei leuchtende Sabbatkerzen über dem Löwen von Juda überstrahlen als Hoffnungszeichen das Flammenmeer der Pogromnacht vom 9./10. November 1938. In den Flammen im Fensterbogen ist der Anfang des hebräischen Totengebets (Kaddisch) wiedergegeben. Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. 3 Dieser kirchenkritische Satz aus dem Ölbaumgleichnis des Paulus (Römerbief 11,18) ist zum Leitfaden für die Neugestaltung des christlich-jüdischen Verhältnisses geworden. Die EKD äußert sich in drei Studien zum Thema „Christen und Juden“ (1975–2000). Sie bewegen sich von den Optionen Mission und Dialog zu einer Absage an organisierte Judenmission. Auch nehmen sie differenziert zur Politik Israels im Nahostkonflikt Stellung und bekräftigen das Existenzrecht des Staates. 1978 erfolgt die Gründung eines Studienjahres für Studierende der evangelischen Theologie in Jerusalem (bisher über 700 Absolvent/inn/en), das nach und nach von der EKD finanziell getragen wird. Ab 1980 (Rheinland) verabschieden die evangelischen Landeskirchen Orientierungen für ein neues Verhalten gegenüber der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Israel. luther-gedenken Erst in den 90er-Jahren kommt es zu distanzierenden landeskirchlichen Stellungnahmen zu Luthers Judenfeindschaft. Die Gliedkirchen der EKD verankern ihre Verpflichtung gegenüber der jüdischen Gemeinschaft in den Präambeln ihrer Verfassungen. Theologische Grundlage ist der Römerbrief, Kap. 9–11. Theologie und Realität Zahllose Arbeitskreise, kleine Gruppen und Einzelne, Juden und Christen, Laien und Pfarrer/innen in West und Ost suchen auf vielfältige Weise nach Formen eines neuen Miteinanders von Christen und Juden. 4 Unten: Projekttag am Evangelischen Ratsgymnasium in Erfurt zum Jahresthema „Prüfet alles, das Gute behaltet“ anlässlich der Woche der Brüderlichkeit 2005 Teil dieser Arbeit ist die Ausbildung einer evangelischen Lehre in und außerhalb der Theologischen Fakultäten, die im Gespräch mit der Bibel und in der Begegnung mit Jüdinnen und Juden Gestalt findet und nicht verfeindet, sondern zu versöhnen trachtet. Eine gründliche pflichtmäßige wissenschaftliche Beschäftigung aller Theologiestudierenden mit dem Judentum und Fragen des christlich-jüdischen Verhältnisses harrt noch immer der Realisierung. Du sollst den Feiertag heiligen Nach ihren geschichtlichen Erfahrungen als Minderheit, vor allem nach dem Völkermord an ihrer Gemeinschaft in der NS-Zeit, suchen Jüdinnen und Juden als Erstes Bündnisse für ihr Überleben. Christinnen und Christen haben die Aufgabe, auf der gemeinsamen biblischen Basis verlässliche Partner der jüdischen Gemeinschaft zu sein. Die biblisch und geschichtlich begründete Aufgabe, Vertrauen zu schaffen und zu bewähren, ist unbefristet. In Frankfurt am Main wird 1950 der Zentralrat der Juden in Deutschland als Dachverband der jüdischen Gemeinden gegründet, 1951 die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) neu belebt. Das Gemeindeleben stabilisiert sich, Synagogen und Gemeindezentren werden restauriert oder neu errichtet. Zunehmend kommen Rückwanderer, auch aus Israel. In der zweiten Hälfte der 1970er wandern mehrere Tausend Juden nach Deutschland ein, die zuvor aus der Sowjetunion nach Israel ausgereist waren. alte und neue Judenfeindschaft Die abgebildete Plastik steht im Dom zu Braunschweig. Ihr Bild ist hier – in zeitbezogener Deutung – gleich einem Resümee des Verhältnisses von Christen zu Juden aufgenommen: Christus über seine Kirche trauernd – über die, die in ihr Unrecht taten, und damit auch über die, die durch sie Unrecht erlitten. Der grüne Stein mag über seine ursprüngliche Bedeutung hinaus ein Zeichen der Hoffnung sein – der Hoffnung auf ein dauerhaft anderes Verhältnis der Kirche zur Synagoge als in der Vergangenheit, Martin Luther an herausgehobener Stelle eingeschlossen. 5 Kundgebung am Berliner Lustgarten zum „Tag der Opfer des Faschismus“ im September 1946 6 Schmierereien am Eingang der Kölner Synagoge: Am späten Heiligabend 1959 besudelten zwei 25-Jährige das frisch eingeweihte Gotteshaus der jüdischen Gemeinde unter anderem mit Hakenkreuzen. Sie lösten damit einen wochenlang andauernden Skandal aus, der als „Schmierwelle“ in die Geschichtsbücher einging. 1 Christus in der Rast, Dom St. Blasii zu Braunschweig, ca. 1460 In dem begonnenen Prozess einer langsamen Verwandlung ihres Verhältnisses hin zu einem verlässlichen Miteinander ziehen Christen ihre Kraft aus dem Evangelium, Juden aus der Tora, dem biblischen Wort, wie es schriftlich und mündlich ausgebildet worden ist. Auch weite Teile der außerparlamentarischen Linken verlieren ihre Empathie für Israel. Unter dem Stichwort des „Antizionismus“ kommt es zu Übergriffen auf jüdische Einrichtungen in Deutschland, zur Solidarisierung mit palästinensischen Terrororganisationen und sogar zur Beteiligung an Gewalttaten. 7 Rabbiner Yitzhak Ehrenberg bei einer Trauzeremonie in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin 2 Marc Chagall, Die weiße Kreuzigung, 1938 Chagall zeigt den Nazarener, einen Gebetsschal um die Hüften, als Märtyrer inmitten seines verfolgten und fliehenden Volkes. 3 Unten: Ben Shahn, Widderhorn und Menora, 1958 Der hebräische Text enthält Maleachi 2,10: Auch nach der Wiedervereinigung wird die jüdische Gemeinschaft immer wieder durch antijüdische Anfeindungen verunsichert, die nun teilweise von Angehörigen der muslimischen Minderheit ausgehen. Schockiert reagieren die Juden auf die öffentliche Debatte um ein Verbot der Beschneidung (Brit Mila). Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht alle ein Gott geschaffen? Warum verachten wir dann einer den andern und entheiligen den Bund mit unsern Vätern? Im Evangelium ist eine unlösliche Beziehung auf die Tora mitgesetzt, auf ihre Zusage und auf ihre Gebote, wie sie im Zehnwort vom Sinai oder im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe zusammengefasst sind. Die Tora im jüdischen Verständnis schließt keinen unlöslichen Bezug auf das Evangelium von Jesus Christus ein. Und doch hat sich in den letzten beiden Jahrhunderten in nennenswerten Teilen des Judentums das Bild Jesu von Nazareth verändert. Aus dem Abtrünnigen ist eine Gestalt der eigenen jüdischen Geschichte geworden. Am eindrücklichsten ist dies auf Bildern Marc Chagalls geschehen, auch wenn sie in dieser Zuspitzung nicht für das Judentum als Ganzes stehen. freiheitswort statt drückender last Bis in die jüngere Zeit, ja teilweise bis in die Gegenwart, ist die Tora, verstanden als „Gesetz“, im Gefolge Luthers in erster Linie als negative Größe gesehen. Im Spiegel der Zehn Gebote konfrontiert sie den Menschen mit seinen Übertretungen. Erst nachdem er seine Zuflucht beim Evangelium genommen hat, kann Luther auch das Gesetz als Weisung für das Zusammenleben würdigen. vielfalt jüdischen lebens Bis Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wandern über 200.000 Juden („Kontingentflüchtlinge“) aus den Nachfolgestaaten der UdSSR nach Deutschland ein. Auch in kleinen Städten und entlegenen Regionen entstehen wieder jüdische Gemeinden. Mit der steigenden Attraktivität Deutschlands als Einwanderungsland lassen sich Juden aus den europäischen Nachbarländern und aus Übersee zeitweilig oder dauerhaft in Deutschland nieder – oft, ohne einer jüdischen Gemeinde beizutreten. Besonders Berlin wird zu einem Anziehungspunkt für junge Israelis. Die einzelnen religiösen Richtungen des Judentums – Chassidismus, Orthodoxie, konservatives, liberales und progressives Judentum – bilden neue Institutionen, Synagogen, Akademien und soziale Einrichtungen. Jüdisches Leben in Deutschland wird bunter und vielfältiger. prophet statt abtrünniger Die Hoffnung auf eine andere Zukunft schließt ein, dass das, was Juden und Christen an Gutem verbindet, stärker ist als das geschehene Unrecht, das zwischen ihnen steht. Als 1959/60 eine antisemitische Schmierwelle beginnt, solidarisieren sich viele Tausende Menschen und protestieren gegen Antisemitismus und Neonazismus. Der Jerusalemer Eichmann- und der Frankfurter Auschwitzprozess rufen das Leid der NS-Verfolgten in Erinnerung. Doch gegen Ende der 1960er kippt die Stimmung in der deutschen Bevölkerung erneut. Die NPD erzielte Wahlerfolge und fordert die Einstellung von Wiedergutmachungsleistungen. Im Judentum ist die Tora von vornherein als Gabe und als verbindliche Weisung für das Volk Israel nach seiner Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten verstanden worden. In diesem Sinn ist es ein Freiheitswort und eine Quelle der Kraft. 8 Arkady Fried, Bibliothekar im Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße 9 Rechts oben: Feier der Religionsmündigkeit eines Jungen (Bar Mizwa) mit Kantorin Avital Gerstetter 10 Rechts: Kinder in der Jüdischen Gemeinde beim Anzünden des ersten Lichtes des Chanukkaleuchters am Lichterfest 11 Unten: Blick auf die Rückseite des erhaltenen Teils der Neuen Synagoge in Berlin 4 Lucas Cranach d. Ä., Martin Luther, um 1526 Durch die Begegnung mit Jüdinnen und Juden und durch eine kritische Sicht auf die eigene Geschichte haben Christinnen und Christen in den letzten Jahrzehnten ein reicheres Verständnis des Gesetzes gewonnen. Es könnte helfen, sowohl dem Evangelium treu zu bleiben als auch das Judentum als eine Größe eigener Art zu würdigen und zu schätzen. Martin Luther, Kleiner Katechismus, 1. Hauptstück: Die Zehn Gebote, Auslegung des achten Gebots, 1529/1995: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren. 1523 bekennt Martin Luther, die Juden seien von Christen nicht wie Menschen behandelt worden. Er plädiert für ein von Nächstenliebe bestimmtes Verhalten zu ihnen als Voraussetzung für ihre Annahme Jesu als Messias. 1666 beklagt der im Frankfurter Ghetto missionierende Philipp Jakob Spener, Leitgestalt des Pietismus, die Misshandlung und Schmähung der Juden durch Christen. Er benennt deren Lieblosigkeit als einen Hinderungsgrund für die Bekehrung der Juden. 1823 hält die Berliner judenmissionarische „Gesellschaft zur Beförderung des Christenthums unter den Juden“ in ihrer Grundverfassung fest, Unduldsamkeit, Hass und Verfolgungsgeist hätten die Juden vom Christentum zurückgestoßen. 5 Rechts: Samuel Bak, Du sollst nicht, 1977 Von der ersten Tafel des Dekalogs ist nur „Ich bin der Ewige“ erhalten, die Verbotstafel ist unversehrt, beginnend mit „Du sollst nicht morden“. 6 Unten links: Innenansicht des Jüdischen Museums Berlin mit der Installation Schalechet (Gefallenes Laub) von Menashe Kadishman 7 Unten rechts: David Bomberg, Ezechiels Vision auf dem Totenfeld, 1912 Zahllos sind kirchliche Bekenntnisse zu christlicher Mitschuld an Erniedrigung, Entrechtung und mörderischer Verfolgung der Juden in der NS-Zeit. Erneute Erklärungen für ein neues und anderes Miteinander ohne die traditionellen antijüdischen Vorurteile begleiten sie. illusion und wahrheit Die Annahme, ein wirklich christliches Verhalten würde die Christianisierung von Juden zur Folge haben, ist eine der großen kirchlichen Illusionen. Sie verkennt, dass das Judentum ein Wert an sich ist, über dessen Echtheit und Stabilität nicht dadurch entschieden wird, ob Christen ihren eigenen Normen gemäß leben.Wohl aber sind die zitierten und andere Schuldbekenntnisse eine sachgerechte Beschreibung dessen, wie sich Christen immer wieder zu Juden verhalten haben – ungeachtet auch anderer Zeiten. Die existenzfrage Für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ergibt sich nach allem die für sie existenzielle Grundfrage: Können wir euch jetzt und dauerhaft vertrauen? Die Antwort darauf kann nur praktischer Art sein und in einer verlässlichen Solidarität bestehen, die gleichermaßen die jüdischen Gemeinden in Deutschland und die Existenz des Staates Israel umschließt. miteinander Als 1930 die Synagoge in dem Spreewaldstädtchen Lübben durch Blitzschlag in Brand geriet, strömte der ganze Ort zusammen, um beim Löschen zu helfen. Bei der Einweihung des Neubaus zwei Jahre später waren wieder alle dabei, auch der Pfarrer. Sechs Jahre später, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, wurde die Synagoge wie viele andere in Brand gesteckt. Damals eilte niemand herbei, um zu löschen. Wenn künftig auch bei Gewalttaten gegen jüdische Bürger das ganze Dorf zusammenströmt, um zu helfen, hat die Vertrauensfrage ihre Antwort und das Religionsgespräch ein festes Fundament gefunden. 8 Die neue Synagoge in Mainz, 2010 9 In der Erinnerungsstätte Yad Vashem in Jerusalem 10 Unten: Ausdruck eines neuen Miteinanders ist die Zustimmung der Evangelischen Kirche BerlinBrandenburg-schlesische Oberlausitz zur Umwandlung der Cottbuser Schlosskirche in eine Synagoge. 11 Repräsentanten der Gemeinde mit einer Tora(rolle), der Braut Israels, unter einem Traubaldachin auf dem Weg zur neuen Synagoge Bei einem dieser Gespräche sind 1984 klare Leitlinien für das künftige Verhältnis von Juden und Lutheranern formuliert worden: Die jüdischen Teilnehmer begrüßen das Engagement der lutherischen Partner, die lebendige Realität des Judentums aus der Sicht des jüdischen Selbstverständnisses zu achten, und ihr Versprechen, dass luthersche Schriften nie wieder benutzt werden, um Hass gegen das Judentum zu lehren und das jüdische Volk zu verleumden. Damit beginnt ein neues Kapitel in der Beziehung zwischen Juden und Lutheranern, das in Lehre, Predigt und Gottesdienst und im gemeinsamen Bemühen um soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Frieden Ausdruck finden sollte. 9 Zusatzinformationen auf Textilbannern Drei Stück, jeweils 50 x 150 cm mit Hängevorrichtung martin L uther und das Judentum I m pr e s s u m dan K dI e au to r en H era u sg eber Für ihre Unterstützung bei der Bildrecherche, für die Überlassung von Bildrechten und für Hinweise verschiedener Art danken wir besonders: Die unterste Zeile weist jeweils auf das Kapitel und dessen jüdischen Evangelische Kirche BerlinBrandenburg-schlesische Oberlausitz Pfarrer Dr. Bernd Krebs (v.i.S.d.P.) Georgenkirchstr. 69, 10249 Berlin Tel. (030) 24344 121 [email protected] a rbeI tsg ru ppe Hartmut Bomhoff (bis 2013) Peter Klein Bernd Krebs Bettina Kubanek Matthias Loerbroks (bis 2014) Sara Nachama Peter von der Osten-Sacken Helmut Ruppel Ingrid Schmidt Lorenz Wilkens Benjamin Andriske / Cottbus Jasper Althaus / Berlin Inka Arroyo Antezana / Jerusalem Jael Botsch-Fitterling / Berlin Marga Bremer / Mönchengladbach Prof. Dr. Dr. h.c. Norbert Conrads / Leonberg Dr. Friedrich Duensing / Bremen Françoise Elkouby / Strasbourg Dieter Fitterling / Berlin Dr. Olaf Glöckner / Potsdam Dr. Ruth Gross-Pisarek / Berlin Matanyah Hecht / Jerusalem Pfarrer Edmund van Kann / Berlin Prof. Dr. Lutz Heusinger / Marburg Prof. Dr. Herbert Jochum / Saarbrücken Marjy und Skip Jones / Alexandria, USA Ursula Kruppa / Bamberg Ina Kuhnt / Bad Nauheim Pfarrerin Hanna Lehming / Hamburg Pfarrer Rolf Lüpke / Berlin Dr. Heinrich Nuhn / Rotenburg (Fulda) Prof. Dr. Heimo Reinitzer / Hamburg Jürgen Rennert / Putlitz-Nettelbeck Prof. Dr. Berndt Schaller / Göttingen Prof. Dr. Joachim Schlör / Southampton Wieland Schmiedel / Crivitz Rudolf W. Sirsch / Bad Nauheim Dr. Hans-Walter Stork / Hamburg Dr. Martin Treu / Wittenberg g esta ltu n g Bettina Kubanek beg l eItu n g du rcH dI e a u sstel l u n g Touro College Berlin Rektorin Sara Nachama Campus Am Rupenhorn 5 14055 Berlin Tel. (030) 300 686 0 [email protected] Ko n zeptIo n u n d red a KtI o n Peter von der Osten-Sacken bI ld recH ercH e Clemens Bethge Babette Kaiserkern Ko rreKto rat Dirk Michel Ingrid Schmidt bI eten a n : Helmut Ruppel Tel. 030 831 38 13 [email protected] Ingrid Schmidt Tel. 030 851 19 08 [email protected] Gideon Botsch, Dr. phil., Politikwissenschaftler, Privatdozent an der Universität Potsdam und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Potsdam, Forschungsschwerpunkt Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a.: Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute, Darmstadt 2012; Von der Judenfeindschaft zum Antisemitismus. Ein historischer Überblick, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 28–30/2014 v. 7. Juli 2014, S. 10–17. — Kapitel 15 Peter Klein, Dr. phil., Historiker, Professor für Holocaust History am Touro College Berlin. Forschungsschwerpunkte: die Verfolgungsgeschichte der deutschen Juden, die deutsche Besatzungspolitik in Osteuropa und Ghettoforschung. Letzte Veröffentlichungen: Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, Weimar/Köln/Wien 2013; Alltagsleben und soziale Selbstverwaltung in den Ghettos von Riga und Theresienstadt, in: Joachim Tauber u.a. (Hg.), Lebenswelt Ghetto, Lüneburg 2013, S. 106–116. — Kapitel 13, 14 Bernd KreBs, Dr. theol., Pfarrer, Studium der ev. Theologie und der Sozialpädagogik. Seit 1976 Pfarrdienst in Berlin-Neukölln. 1991 Promotion mit einer Arbeit über den Protestantismus in Polen und die deutsch-polnischen kirchlichen Beziehungen nach dem 1. Weltkrieg. 1995–1997 Stipendiat der VW-Stiftung (Forschungsprojekt: Ev. Christen in Polen und in Deutschland unter zwei Diktaturen. Leitung: Martin Greschat). Ab 1998 Pfarrer der Ev.-reformierten Bethlehemsgemeinde Berlin. 2001–2003 sowie 2008–2013 Reformierter Moderator der EKBO. Seit 2014 Beauftragter der EKBO für das Reformationsjubiläum und den Kirchentag 2017. — Kapitel 12 sara nachama, Gründerin und Rektorin des Touro College Berlin und Vizepräsidentin des Touro College and University System New York. Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem. Stellvertretendes Vorstandsmitglied und Kulturdezernentin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Präsidiumsmitglied des Berliner Diplomatenclubs beim Auswärtigen Amt, Mitglied im Kuratorium des Jüdischen Krankenhauses, der Jury zur Verleihung des Deutsch-Jüdischen Geschichtspreises der Obermayer Foundation und Mitglied des Vorstandes der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin. — initiatorin und Beraterin bIldn acHw e Is oder christlichen Teil. Peter von der osten-sacKen, Dr. theol., Dres. phil. h.c. des Hebrew Union College Los Angeles und der Freien Universität Berlin, Prof. em. für Neues Testament und Christlich-Jüdische Studien an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1974–2007 Leiter des Instituts Kirche und Judentum der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg (Berlin West), später der EKBO. Arbeiten zu den Schriftrollen vom Toten Meer, zu Paulus, Luther, zu verschiedenen Bereichen des christlich-jüdischen Verhältnisses und zum jüdischen und christlichen Gottesdienst. Zusammen mit dem Institut Träger der Buber-Rosenzweig-Medaille 2005. — Kapitel 1–7, 16 , 10, 15 helmut ruPPel, Pfarrer und Studienleiter i.R., 1973–2005 Leiter der Erweiterten Fachausbildung im Katechetischen Dienst der EKBO. Presse- und Rundfunktätigkeit. Veröffentlichungen zur Kirchengeschichte, zur Religionspädagogik („Gerechtigkeit lernen“, Religion 7/8) und zum jüdisch-christlichen Dialog, zuletzt: „Schoa. Schweigen ist unmöglich. Erinnern, Lernen, Gedenken“, beide gemeinsam mit Ingrid Schmidt. Seit 2007 Redaktion der „Predigthilfen“ von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. — Kapitel 8, 9 inGrid schmidt, M. A., Religionslehrerin i. R. und Dozentin in der kirchlichen Erwachsenenbildung. Publikationen zur feministischen Theologie, Religionspädagogik („Gerechtigkeit lernen“, Religion 7/8) und zum jüdisch-christlichen Dialog, zuletzt: „Was Christen vom Judentum lernen können“, beide gemeinsam mit Helmut Ruppel. Seit 2007 Redaktion der „Predigthilfen“ von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. — Kapitel 10 lorenz WilKens, Dr. phil., Pfarrer i. R. und Privatdozent an der FU Berlin. Studium der ev. Theologie und der Philosophie. 1982–1988 Dozent am Institut für katechetischen Dienst der Ev. Kirche in Berlin Brandenburg (Berlin West), ab 1989 Gemeindepfarrer, Religionslehrer, Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe zur Erforschung von Kirchenkampf und Zwangsarbeit und im Landeskirchlichen Archiv. 1993 Habilitation an der FU. 2006 Ruhestand, danach weiterhin Lehrtätigkeit als Privatdozent an der FU und in der kirchlichen Erwachsenenbildung sowie Predigtdienst. Aufsätze und Bücher. — Kapitel 11 Wir haben uns bemüht, mit allen Inhabern der Rechte an den reproduzierten Bildvorlagen Kontakt aufzunehmen. Gleichwohl konnten nicht alle Rechteinhaber ausfindig gemacht werden. Für etwaige Versäumnisse bitten wir um Nachsicht und darum, uns bestehende Ansprüche mitzuteilen. Im Folgenden bezeichnet die erste Zahl die Tafel, die zweite das Bild, also: 1.4 = Tafel 1, Bild 4. Ein ausführliches Abbildungsverzeichnis findet sich unter: www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/Abbildungsverzeichnis.pdf Akademische Kunstsammlung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Kustodie: 6.8 Jasper Althaus: 16.9 Archives départementales du Bas-Rhin, section C 78: 5.9 (Foto: Françoise Elkouby) Babenberg Verlag: 5.2 Bayerische Staatsbibliothek: 2.5 Beltz Verlag: 10.7 Clemens W. Bethge: 16.10 Biblioteca Apostolica Vaticana: 8.4 Bildarchiv Abraham Pisarek / akg-images: 13.6 Bildarchiv Foto Marburg: 4.5 (Foto: Walter Hege), 6.3 (Foto: Carl Teufel / Benno Filser) The Bodleian Libraries, The University of Oxford: 2.7, 3.11, 5.7 bpk / Staatsbibliothek zu Berlin: 10.5, 12.7 (Abraham Pisarek), 14.1 The British Library Board: 3/7 Bundesarchiv: 14.3 (Foto: Georg Pahl) CAHJP: 13.12 Collection of Museum of Art, Ein Harod, Israel: 2.6 Corpus Vitrearum Deutschland/Freiburg: 2.9 (Foto: Andrea Gössel) CVMA Deutschland Potsdam/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: 4.11 (Foto: Peer Hunsicker) Danièle Cohn: 13.11 Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit: 15.1, 15.4 Diether F. Domes: 8.2 E-corpus: 3.5 Ev.-Luth. Kirchengemeinde Weimar: 1.3 (Foto: Constantin Beyer) Ev. Kirchengemeinde Zum Heilsbronnen Berlin: 12.5 Ev. Stadtkirchengemeinde Wittenberg: 6.1 Raymond Faure: 6.4 Edgar Feuchtwanger: 13.10 Dr. Ruth Gross-Pisarek: 15.5 Gütersloher Verlagshaus: 1.5 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 6.5, 10.6 Holyland Tourism [1992] LTD: 2.2 Houghton Library, Harvard University: 4.8 Jüdisches Museum Berlin: 10.8, 16.6 (Foto: Jens Ziehe) Kunstsammlungen der Veste Coburg: 10.11 kunstverlag-peda.de: 10.2, 16.1 Hans-Wulf Kunze: 7.5 Leopold Muller Memorial Library, Foyle-Montefiore Collection: 11.3 Erich Lessing: 10.3 Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main: 12.17 National Library of Portugal: 2.10 @UK / niederlausitz-aktuell.de: 16.11 Dr. Heinrich Nuhn: 7/6, 7.7 Burkhard Peter: 15.8 picture alliance / ASSOCIATED PRESS: 15.6 Pucker Gallery: 16.5 Heimo Reinitzer: 9.2, 9.3 ro18ger / pixelio.de: 15.3 Margrit Schmidt: 15.7, 15.9, 15.10 Skip Jones: 7.1, 7.4 SLUB Dresden: 4.9 St. Vitus Mönchengladbach: 3.6 (Foto: Firma Oidtmann) Staatliche Münzsammlung München: 8.3 (Foto: Nicolai Kästner) Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: 4.7, 12.3 StadtA NDH: 14.2 Stiftung Forschungsstelle Glasmalerei des 20. Jh. e.V.: 15.2 Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt: 1.2 Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum: 15.11 (Foto: Margit Billeb) SZ Photo: 13.3 Tate, London: 16.7 Trustees of the British Museum: 1.1 UB Würzburg: 5.1 Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt: 3.13, 5.8 Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg: 10.1 Universitätsbibliothek Leiden: 5.3 Universitätsbibliothek Leipzig: 3.12 Universiteitsbibliotheek Gent: 4.10 VG Bild-Kunst, Bonn: 1.6, 1.8, 2.8, 16.2, 16.3 Wartburg-Stiftung Eisenach: 5.11 (Foto: Cranach Digital Archive) Wikiart: 2.11 Wikimedia Commons: 1.4, 2.3, 3.1, 3.3, 3.4, 3.14, 4.6, 5.5, 5.10, 5.12, 6.2, 6.6 , 6.7, 8.1, 9.1; 9.4, 10.4, 11.1, 11.4, 11.5, 12.4, 12.8, 12.10, 12.11, 12.12, 12.13, 12.15, 16.4, 16.8 gef ö rd ert d u rcH dI e m I t f reu n d l IcH e r un terstü tzu n g d u rcH dI e rückbLick rückbLick und aufbruch 10 Werbemittel Flyer Din lang / Veranstaltungsflyer mARtin luth e R und dAs Ju de nt um Rückbli ck und AufbR uc h 16. Oktober bis 18. Dezember 2015 martin luther und das Judentum – Rückblick und Aufbruch Ausstellung in der Sophienkirche Große Hamburger Straße 29 / 30, 10115 Berlin Täglich von 11 bis 18 Uhr Weitere Termine nach Vereinbarung: Kirchengemeinde am Weinberg Telefon (030) 30 87 92-0 und [email protected] r ü c k b Li c k u n d a u fb r u c h Martin Luther hat ein schwieriges Erbe hinterlassen. In der Anfangszeit der Reformation hat er dafür plädiert, die Juden menschlich zu behandeln. Später hat er sie unerträglich ge­ schmäht und die Anwendung von Gewalt gegen sie gefordert. Auch sein übriges Schrifttum lässt keinen Raum für jüdi­ sches Leben. Alles Licht fällt auf die Seite des Evangeliums, alles Dunkel auf die jüdische Seite, symbolisiert vom Gesetz ohne Gnade. Lucas Cranach und seine Schule haben diese Auffassung Luthers auf vielen Bildern umgesetzt. Durch Wort und Bild ist seine negative Sicht der Juden durch die Jahrhunderte hin wirksam geworden. Das jüdische Selbstbild blieb bedeutungs­ los, obwohl Jesus, wie Luther anfangs betonte, „ein geborner Jude“ war. Erst nach dem Holocaust haben die evangelischen Kirchen begonnen, sich dem lastenden Erbe von Luthers Judenfeind­ schaft zu stellen. Hier reiht sich die Ausstellung ein. Sie wird von der Evangelischen Kirche Berlin­Brandenburg­schlesische Oberlausitz und dem Touro College Berlin getragen. Auf ihren Tafeln erhalten jüdische und christliche Perspektiven Raum. Titelbild: Ausschnitt aus dem Weimarer Altarbild von Lucas Cranach (sen./jun.) mit dem Motiv Gesetz und Evangelium (Stadtkirche St. Peter und Paul, 1555) Gefördert durch die Eine Ausstellung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Touro College Berlin martin Luther und das J u d e n t u m Mit freundlicher Unterstützung durch die Vo rtr a g s r eihe zu r au s s teL L u n g Je we ils M ontags 16. November 2015, 19.30 Uhr Univ.-Prof. Dr. Rainer Kampling Freie Universität Berlin „aus dr uc k de s glaub e ns , … e inge b ung de s He ilige n g e is t e s , … wort de r göt t lic He n waHr He it “ Das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zum Judentum nach dem II. Vatikanischen Konzil 23. November 2015, 19.30 Uhr Prof. Dr. Andrea Strübind Carl von Ossietzky Universität Oldenburg „s e Hns uc Ht nac H Z ion“ – ins t r uM e nta lis ie rt e He ils ge s c Hic Ht e Das Verhältnis von Juden und Christen in freikirchlicher Perspektive 30. November 2015, 19.30 Uhr Prof. Dr. Peter von der Osten-Sacken Prof. em. Humboldt-Universität zu Berlin und ehemaliger Leiter des Instituts Kirche und Judentum e r s t e s c Hr it t e Das christlich-jüdische Verhältnis im Spiegel der Geschichte des Instituts Kirche und Judentum in Berlin 7. Dezember 2015, 19.30 Uhr Prof. Dr. Stefan Schreiner Eberhard Karls Universität Tübingen Von de r Ve r ge gnung* Z ur b e ge gnung Eine Erinnerung an christlich-jüdische Gespräche in der DDR * Den Begriff der Vergegnung hat Martin Buber geprägt. 11 Werbemittel Plakat im DinA Format / Plakat Veranstaltungen martin Luther un d das Judentum martin Luther u n d das Judentum V o rt r a g s r e i h e Je we i ls M ontA gs 16. November 2015, 19.30 Uhr Univ.-Prof. Dr. Rainer Kampling Freie Universität Berlin „Au sDru ck Des g lAu ben s, … ein gebun g Des h eiligen geistes, … wo rt Der g öttlichen wAhrheit“ Das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zum Judentum nach dem II. Vatikanischen Konzil Ausstellung in der Sophienkirche begleitung Durch Die Ausstellung bieten An: Helmut Ruppel Tel. 030 831 38 13 [email protected] Ingrid Schmidt Tel. 030 851 19 08 [email protected] 23. November 2015, 19.30 Uhr Prof. Dr. Andrea Strübind Carl von Ossietzky Universität Oldenburg „s ehn sucht n Ach Zion “ – instruMen tA lisierte heilsgeschichte rüc kb Lick u n d 16. Oktober bis 18. Dezember 2015 Täglich 11 bis 18 Uhr Das Verhältnis von Juden und Christen in freikirchlicher Perspektive aufbruch 30. November 2015, 19.30 Uhr Prof. Dr. Peter von der Osten-Sacken Prof. em. Humboldt-Universität zu Berlin und ehemaliger Leiter des Instituts Kirche und Judentum erste schritte Das christlich-jüdische Verhältnis im Spiegel der Geschichte des Instituts Kirche und Judentum in Berlin Große Hamburger Str. 29 / 30 10115 Berlin Mitte 7. Dezember 2015, 19.30 Uhr Prof. Dr. Stefan Schreiner Eberhards Karl Universität Tübingen Vo n Der Vergegn un g* Zur b eg eg nu ng Eine Ausstellung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Touro College Berlin Eine Erinnerung an christlich-jüdische Gespräche in der DDR * Den Begriff der Vergegnung hat Martin Buber geprägt. Gefördert durch die Mit freundlicher Unterstützung der Gefördert durch die 12 Die ganze Bibel auf einem Bild Auf der linken Seite im Hintergrund werden Adam und Eva von der Schlange verführt. Sie übertreten das göttliche Gebot und werden von den Monstern Tod und Teufel in die Feuerhölle getrieben. Mose, begleitet von den Propheten, hält dem fliehenden Menschen das übertretene göttliche Gesetz entgegen, das den Sünder verklagt. Über allem aber thront Christus als Richter, der das Urteil spricht. UND DAS JU DE NT UM 1 Rechts: Oft sind den Lehrbildern am oberen und unteren Rand die Bibelstellen vor allem aus dem Neuen Testament beigegeben, auf die sich die einzelnen Teile des Bildes stützen. So ist es auch bei diesem Bild Gesetz und Evangelium aus der Werkstatt Lucas Cranachs, nach 1529: R ÜC KBLICK UND Es wird offenbart Gottes Zorn vom Himmel über aller Menschen gottloses Wesen und Unrecht. (Röm. 1,18) AUFBRUCH Sie sind allzumal Sünder und mangeln, dass sie sich Gottes nicht rühmen mögen (können). (Röm. 3,23) 40 Die Sünde ist des Todes Spieß, aber das Gesetz ist der Sünden Kraft. (1. Kor. 15,56) Das Gesetz richtet Zorn an. (Röm. 4,15) Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünden. (Röm. 3,20) Das Gesetz und die und die Propheten gehen bis auf die Zeit des Johannes. (Mt. 11,13) Auf der rechten Bildseite steht vorne der verlorene Mensch. Johannes der Täufer verweist ihn auf den gekreuzigten Christus. Ein Blutstrahl geht von dem Gekreuzigten aus, der den Menschen von seinen Sünden reinigt. Unter dem Kreuz aber entsteigt der auferstandene Christus dem Grabe, unter seinen Füßen die besiegten beiden Monster. Im Hintergrund des Bildes wird die Vorgeschichte der Erlösung angedeutet: Maria empfängt das Jesus-Kind vom Himmel herab, den Hirten auf dem Felde wird die Weihnachtsbotschaft verkündigt, und eine Erzählung aus dem Alten Testament deutet auf das erlösende Geschehen am Kreuz voraus. 11 1 eine bibeL – zwei Lektüren 10 Der Herr wird euch selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären. ( Jes. 7,14) Der Gerechte lebt seines Glaubens. (Röm. 1,17) Wir halten (dafür), dass ein Mensch gerecht werde durch den Glauben, ohne Werke des Gesetzes. (Röm. 3,28) Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. Johannes der Täufer. ( Joh. 1,29) In der (durch die) Heiligung des Geistes zum Gehorsam und zur Besprengung des Blutes (mit dem Blut) Jesu Christi. (1. Petr. 1,2) Der Tod ist verschlungen im Sieg. Tod, wo ist dein Spieß? Hölle, wo ist dein Sieg? Dank habe Gott, der uns den Sieg gibt durch Jesus Christus, unsern Herrn. (1. Kor. 15,54–55) Die Bibel als Band Zahllos sind im Mittelalter die Beispiele der sogenannten typologischen Bibelauslegung: Ereignisse des Alten Testaments werden als Vorabbildungen (Typen) von Geschehnissen des Neuen Testaments gedeutet. Die jüdische Bibel verblasst zu einer Vorabschattung des Neuen Testaments. Gegen Ende des Mittelalters beginnt man die Juden als Sprachhelfer zurate zu ziehen und macht sich nach und nach Bibelauslegungen jüdischer Gelehrter zunutze. Selbst die gemeinsame Arbeit an einer illuminierten Bibelhandschrift ist bezeugt. 41 7 Die Rückkehr des Mose nach Ägypten (2. Mose 4) und die Offenbarung an ihn aus dem brennenden Dornbusch (2. Mose 3) sind nach den Vorbildern der Flucht Marias und Josefs nach Ägypten (Matthäus 2) und der Verkündigung an die Hirten (Lukas 2) gestaltet. Die Illuminationen belegen die Mitarbeit eines christlichen Künstlers an der jüdischen Handschrift. Die Goldene Haggada, Barcelona, ca. 1320 (Ausschnitt) E r k lär ungEn, E rwart ungEn , E nt t äus c hungEn 168 5 Samuel Bak, Du sollst nicht, 1977 Von der ersten Tafel des Dekalogs ist nur „Ich bin der Ewige“ erhalten, die Verbotstafel ist unversehrt, beginnend mit „Du sollst nicht morden“. 1523 bekennt Martin Luther, die Juden seien von Christen nicht wie Menschen behandelt worden. Er plädiert für ein von Nächstenliebe bestimmtes Verhalten zu ihnen als Voraussetzung für ihre Annahme Jesu als Messias. 1666 beklagt der im Frankfurter Ghetto missionierende Philipp Jakob Spener, Leitgestalt des Pietismus, die Misshandlung und Schmähung der Juden durch Christen. Er benennt deren Lieblosigkeit als einen Hinderungsgrund für die Bekehrung der Juden. 1823 hält die Berliner judenmissionarische „Gesellschaft zur Beförderung des Christenthums unter den Juden“ in ihrer Grundverfassung fest, Unduldsamkeit, Hass und Verfolgungsgeist hätten die Juden vom Christentum zurückgestoßen. Zahllos sind kirchliche Bekenntnisse zu christlicher Mitschuld an Erniedrigung, Entrechtung und mörderischer Verfolgung der Juden in der NS-Zeit. Erneute Erklärungen für ein neues und anderes Miteinander ohne die traditionellen antijüdischen Vorurteile begleiten sie. 3 weLtLiche macht, kirche und Jüdische gemeinden im mitteLaLter 183 169 6 Innenansicht des Jüdischen Museums Berlin mit der Installation Schalechet (Gefallenes Laub) von Menashe Kadishman 7 David Bomberg, Ezechiels Vision auf dem Totenfeld, 1912 PersPektiven MARTIN LU T H E R 16 MART I N L UT H E R UN D D A S J U D E N T U M Publikation 192 Seiten, durchgehend farbig, Hardcover, 210 x 148 mm 13