Transnationale Anthropologie und lokale

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Transnationale Anthropologie und lokale Konzeptionen der Welt:
Paradoxien im Umgang mit kultureller Differenz
Antrittsvorlesung 20.05.2009
Prof. Dr. Ernst Halbmayer
[Begrüßung]
„Transnationale Anthropologie und lokale Konzeptionen der Welt.“ Mit diesem Titel ist ein
Spannungsfeld innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie benannt, ein Spannungsfeld
zwischen Prozessen der Globalisierung und den transnationalen Flüssen von Personen,
Waren, Geld, Ideen und Bildern einerseits und den lokalen, zum Teil irritierend anderen und
widerspenstigen Entwürfen der Welt andererseits, die sich einfachen Erklärungen oft
verschließen und westliche Konzepte des Seins, der Person, aber auch dessen, was Sozialität
konstituiert, transzendieren.
Die Erforschung der lokalen kulturellen Konzeptionen und Praktiken ist in der allgemeinen
Wahrnehmung häufiger mit den Tätigkeitsbereichen von Ethnologen verknüpft, aus diesem
Grund möchte ich zuerst einen kurzen Blick auf die transnationale Anthropologie und die
Phänomene der Globalisierung werfen, welche, wie ich zeigen möchte, auch den
Gegenstandsbereich des Faches und das Verhältnis von Kultur und Raum transformiert haben.
Anschließend werde ich jene Zugänge zur Welt skizzieren, die versuchen, ausgehend von der
Analyse indigener Kosmologien und dem lokalen Verständnis der Welt, grundlegende Fragen
neu zu stellen und die indigenen Axiome gleichberechtigt neben die zentralen
Unterscheidungen des westlichen Denkens zu stellen.
Im dritten Teil werde ich Möglichkeiten einer Anthropologie der Natur – jenseits der
klassischen Kulturökologie (z.B. Steward 1946-63; Meggers 1971) und der in Amazonien
wichtigen symbolischen Anthropologie (Descola 1996) – skizzieren und die beiden sich
gegenüberstehenden Diskurse miteinander in Beziehung setzen. Ich werde für eine
Untersuchung von Globalisierungsprozessen auf regionaler und lokaler Ebene plädieren,
welche es erlaubt, die existierenden kulturellen bzw. ontologischen Differenzen
anzuerkennen.
Die Transnationale Anthropologie und die Anthropologie der Globalisierung fanden ihre
breite Resonanz auch aus einer spezifisch historischen Situation heraus. Politisch war diese
durch das Ende des kalten Krieges und den Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung
1
geprägt. Innerhalb des Faches schien die klassische Beschäftigung mit indigenen Gruppen
kaum zukunftsträchtig und durch den sogenannten symbolic und literary turn (z.B. Geertz
1990) der achtziger Jahre und die postmoderne Kritik (z.B. Marcus und Fischer 1986) hatte
das Fach eine ausgeprägte selbstreferenzielle und selbstreflektive Wendung erfahren. Man
konnte fast den Eindruck gewinnen, dass die Eigenzustände der Disziplin weit mehr Resonanz
erzeugten als die Phänomene der Welt. Für eine empirische Wissenschaft bedeutet ein solcher
Zustand nicht nur einen Reflexionsgewinn, sondern auch eine veritable Krise.
Globalisierung besetzte als Konzept die Stelle des Vakuums, welches dieser politische
Umbruch und die theoretische Selbstdekonstruktion hinterließen. In der Kultur- und
Sozialanthropologie – ein Begriffspaar, das ich zur Bezeichnung der Disziplin jenen all zu
sehr an Volk und Ethnos orientierten Fachbezeichnungen Völkerkunde und Ethnologie
vorziehe – wurde die Auseinandersetzung mit Globalisierung zur Grundlage zentraler
theoretischer
Weiterentwicklungen
und
Neupositionierungen.
Das
spezifische
an
Globalisierungstheorien im Kontext der Kultur- und Sozialanthropologie war und ist ihr
Fokus auf kulturelle Globalisierung. Die zentrale Frage ist: „Was passiert mit kulturellen
Differenzen und Identitäten, wenn „worlds apart“ – wie George Marcus (1995) formuliert –
zusammengebracht werden? Welche neuen anderen kulturellen Differenzierungen produziert
die globale kulturelle Ökonomie (Appadurai 1996: 27ff) oder die globale Ökumene (Hannerz
1992: 217ff)? Welche transnationalen Beziehungen, kulturellen Flüsse und transnationalen
Landschaften in Form von Ethno-, Media-, Ideo- u. Finanzscapes (Appadurai 1996)
entstehen?“ Es standen innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie also nicht primär die
ökonomischen oder technischen Aspekte der Globalisierung, nicht primär der Nationalstaat
und seine schwindende Rolle, und auch nicht die Vereinheitlichung und McDonaldisierung
der Welt oder das Entstehen einer Weltgesellschaft (Luhmann 1997, Stichweh 2000) im
Zentrum der Debatte.
Die Beschäftigung mit der Aus- und Verbreitung sozio-kultureller Phänomene war innerhalb
der
Disziplin
keineswegs
neu.
Diffusionistische
Positionen
hatten
gerade
im
deutschsprachigen Raum lange Zeit eine äußerst gewichtige, wenn auch im Rückblick nicht
unbedingt immer ruhmreiche Stellung. Ich denke hier – da ich ja aus Wien komme – z.B. an
die alte Wiener Schule der Kulturkreislehre.
Nun ging es aber nicht um die Verbreitung, Wanderung und Ausbreitung von
außereuropäischen, insbesondere schriftlosen Kulturen und ihrer Kulturelemente. Vielmehr
wurden vor dem Hintergrund der Weltsystemtheorie (z.B. Wallerstein 1974) und den
anthropologischen Reaktionen darauf, etwa Eric Wolfs „Europa und die Völker ohne
2
Geschichte“ (1991), die Folgen der europäischen Expansion und ihre Auswirkungen auf
lokale Gesellschaften neu untersucht. Es wurden die ökonomischen und kulturellen Flüsse in
den Blick genommen, theoretisiert und vor diesem Hintergrund hat Ulf Hannerz eine
Makroanthropologie eingefordert, bei der transnationale Beziehungen im Zentrum stehen
(1987; 1992). Ähnlich wie in der Soziologie, wo die Gleichsetzung von Gesellschaft und
Nation als Containermodell kritisiert wurde (Beck 1998), hat die Kultur-
und
Sozialanthropologie ein homogenes abgeschlossenes Konzept von Kultur hinterfragt und
verworfen. Ein solches hatte lange Zeit als Folie und Referenzrahmen für die Beschreibung
der Anderen gedient. Globalisierung stellte jedoch die räumliche Verankerung und
Festschreibung von Kultur in Frage. Die vermeintliche Einheit von Raum, Kultur und Volk
wurde kritisiert und als ein Konstrukt identifiziert, an dessen Etablierung die Disziplin
maßgeblich mitgewirkt hatte (Gupta und Ferguson 1997).
Kultur als zu dechiffrierendes, semiotisches System oder als zu interpretierender Text (C.
Geertz 1987) – so Gupta und Fergusson (1997) – setzt ein integriertes System geteilter
Bedeutungen voraus. Ein solch integriertes System könne jedoch in Zeiten kultureller DeTerritorialisierung, von Massenmigrationen, von transnationalen Kulturen, etc. nicht mehr
vorausgesetzt werden. Deshalb müssten die verflochtenen Prozesse des „place making“ und
„people making“ erforscht werden und alle Assoziationen von Raum, Mensch, Kultur als zu
erklärende soziale und historische Kreationen verstanden werden (ebd.).
Aus dieser Perspektive sollen nicht autonome lokale Kulturen der homogenisierenden
Bewegung der kulturellen Globalisierung entgegengesetzt werden. Es werden vielmehr Wege
gesucht,
in
denen
dominante
kulturelle
Formen
innerhalb
eines
Feldes
von
Machtbeziehungen, welche die Lokalitäten mit der weiten Welt verbinden, aufgenommen,
genutzt, transformiert und angeeignet werden. Auch das Lokale kann dann nicht mehr als
gegeben hingenommen werden ohne zu fragen, wie die Wahrnehmung, Reproduktion und
Transformation von Lokalität und Gemeinschaft diskursiv und historisch konstituiert ist.
Innerhalb der Disziplin wurde die Orientierung an transnationalen Beziehungen und
Globalisierung – wenn auch nicht unbedingt in der Gupta`schen Ausprägung – zu einem
neuen Paradigma und die Moderne mit ihren globalen Vernetzungen sowie die
Transformation des Lokalen durch globale Einflüsse rückten ins Zentrum des Faches, welches
bisher für die Beschäftigung mit nicht-industrialisierten und sogenannten „primitiven“
Kulturen bekannt war.
Gleichzeitig
kann
aber
nicht
übersehen
werden,
dass
viel
der
ursprünglichen
Globalisierungseuphorie und den damit verbundenen Hoffnungen der 90er Jahre einer
3
kritischeren Einschätzung gewichen ist. Spätestens seit 9/11 und den folgenden Kriegen
scheint deutlich geworden zu sein, dass Globalisierung keine Vereinheitlichung von Ideen,
Auffassungen und Zielvorstellungen herbeiführt, sondern auch neue Radikalisierungen und
Konfliktlinien produzieren kann. Die aktuelle ökonomische Krise scheint endgültig die
Grundlagen der Hoffnungen der 90er Jahren in Frage zu stellen. Nicht zufällig findet man
etwa in den letzten Ausgaben renomierter Zeitschriften wie z.B. die Zeit Titel und Aussagen
wie „Die Globalisierung geht rückwärts“ (Bota, et al 2009) oder „Warum Entglobalisierung
gut sein kann“ (Joffe 2009).
Trotz der Fokussierung auf die zunehmende Vernetzung und Intensivierung globaler Ströme
sind viele Errungenschaften der Globalisierung ein Minderheitenprogramm geblieben. Nach
dem aktuellen Human Development Index1 (2007/08:274 ff.) wird deutlich, dass selbst nach
einer 20 jährigen boomenden Entwicklung des Internets 86% der Weltbevölkerung über 15
keine Internetnutzer sind. In Ländern Lateinamerikas mit einem hohen Anteil an
Internetnutzer (Brasilien, Argentinien, Chile) liegt der Anteil zwischen 17 und 19,5%. Die
Schlusslichter der Internetnutzer in Lateinamerika bilden hingegen – neben dem Sonderfall
Kuba – Nicaragua, Paraguay, Ecuador und Bolivien mit Raten von 1,7-5,2% der
Bevölkerung, während in Island 86,9% der Bevölkerung über 15 das Netz nutzen.
Ähnliche Unterschiede zeigen Zahlen des Zugang zu und des Besitzes von Telefonen oder
Handys, oder jene in Bezug auf die internationale Mobilität2 (vgl. auch Halbmayer, Mader
2004). Letztere zeigen, dass der Großteil der Weltbevölkerung immer noch lokal bzw.
bestenfalls regional verankert ist. Auch wenn diese Lokalitäten ständigen Veränderungen
unterworfen und – in unterschiedlichem Ausmaß – von globalen Einflüssen durchdrungen
sind, scheint die "Generalisierte Bedingung der Heimatlosigkeit", die Gupta und Ferguson
unter Bezug auf Edward Said (1979) als allgemeine Kondition der Welt konstatieren, vor
diesem Hintergrund wenig fundiert.
Wenn man heute die Klassiker der anthropologischen Globalisierungsliteratur liest, ich denke
hier z.B. an Beiträge von Ulf Hannerz (1987, 1992, 1996) oder Arjun Appadurai (1996), dann
wird folgendes deutlich:
- Einerseits eine allzu einseitige Fokussierung auf globale Flüsse,
- Eine oftmalige Ausblendung der Themen Macht und Ungleichheit,
1
Human Development Report 2007/08: http://hdr.undp.org/en/media/HDR_20072008_EN_Complete.pdf
Wie die Zahlen zur Mobilität zeigen, sind von 100 Personen 1998 in Lateinamerika und der Karibik 5,7 ins
Ausland gereist, in Afrika südlich der Sahara nur 1,5, während es in den USA 28 und in Europa 40 waren.
2
4
- Eine daraus resultierende, einseitige Betonung der globalen Integration bzw. Inklusion im
Gegensatz zu den zahlreichen Exklusionsbereichen, aber auch den neuen Essentialisierungen,
ethnischen Konflikten und Nationalismen, die sich z.B. gleichzeitig auf dem Balkan, in
Osteuropa und im Kaukasus entwickelten,
- Eine Abwendung von der mikroanthropologisch fundierten Frage nach Bedeutung und der
Analyse lokaler Weltbilder und Handlungspraktiken.
- Dennoch haben diese Arbeiten wichtige theoretische Neupositionierungen in Bezug auf das
Konzept
der
Kultur
und
deren
Verortung
angeregt
und
führte
die
Betonung
makroanthropologischer, transnationaler Beziehungen zu einem Wandel der Disziplin, sowohl
des Gegenstandesbereiches wie der Methoden. Die Frage der Ökologie, der Umwelt hat
jedoch – obwohl es sich wahrlich um ein globales Problem handelt – bis jetzt, soweit ich sehe,
im globalisierungstheoretischen anthropologischen Diskurs keine zentrale Rolle gespielt.
Lassen sie mich den Wandel des Gegenstandsbereiches für ausgewählte Phänomenbereiche
der Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas veranschaulichen – jenes Regionalgebiet,
das insbesondere mit der Marburger Völkerkunde verknüpft ist und für das der Standort
Marburg ganz besonders ausgewiesen und anerkannt ist.
So hat die Karibik eine neue Stellung vor dem Hintergrund sich wandelnder,
anthropologischer Interessen erfahren. Von einer lange vernachlässigten Region mit
niedrigem Prestige, die nicht anders genug war und nur uninteressante, hybride kulturelle
Formationen hervorbrachte, wurde sie zu einem bevorzugten Forschungsgebiet.
Kreolisierung, Mestizisierung, religiöser Synkretismus und hybride, kulturelle Formen
werden heute nicht mehr als „uninteressant“ oder als nicht genug „anders oder rein“
verstanden, sondern vielmehr als Ausdruck kultureller Innovation und Kreativität, aber auch –
im Sinne Homi Bhabhas (2000) – als widerständige subversive Formen betrachtet, die das
koloniale System von Innen heraus unterlaufen und aushebeln. Insbesondere die Karibik, wo
die indigene Bevölkerung fast völlig verschwunden ist, wird in dieser Perspektive zum – nicht
unumstrittenen (Palmié 2006) – Labor und Vorreiter, zu einem „Master Symbol“, wie Aisha
Kahn (2001) meint, für eine globalisierte Welt und gleichzeitig zu einer „open frontier“
(Trouillot 1992), insbesondere der postkolonialen Theoriebildung.
Aber nicht nur die Wahrnehmung der Karibik und der kreolisierten Populärkultur hat sich
verändert, sondern auch die Betrachtung der indigenen Gruppen. In der transnationalen
Anthropologie wurde die Beschäftigung mit indigenen Gruppen zu einer wenig attraktiven,
einem theoretisch weitgehend uninteressanten Ausdruck der klassischen Anthropologie, die
5
sich mit primitiven, nicht industrialisierten Gesellschaften und Kulturen beschäftigt.
Anthropology at home, das Fremde vor der eigenen Haustür, oder die Untersuchung
sogenannter „Nicht-Orte“ (Augé 1995) wie Flughäfen, wurden zu weit attraktiveren Themen
als eine Feldforschung in Papua Neuguinea oder Amazonien, die zunehmend im Verdacht
standen, Exotismen zu reproduzieren und Othering zu betreiben. Ja, es besteht durchaus die
realistische Gefahr, dass schon die Beschreibung der Schwierigkeiten und Anstrengungen
einen solchen Feldforschungsort zu erreichen, nicht als Teil der Beschreibung eines
Forschungsunternehmens verstanden, sondern auf eine literarische Strategie reduziert wird,
welche zu nichts anderem dient, als die Authentizität des Dort-seins dem Leser zu vermitteln
und die Distanz zwischen diesem und dem fremden Anderen möglichst groß werden zu
lassen, d.h. Othering zu betreiben und einem Exotismus zu huldigen. Dass die Distanz
wirklich groß sein könnte und es auch darum gehen könnte, kulturelle Differenz und das
Recht auf kulturelle Differenz anzuerkennen, kommt dieser Kritik, der solche Erfahrungen
und Anstrengungen oft fremd sind, selten in den Sinn.
Was rückt in den Blickpunkt, wenn man translokale Flüsse und Vernetzungen ins Zentrum
der Aufmerksamkeit stellt? Was heißt dies für den empirischen Nachvollzug der
Transformation auch indigener Kulturen? Und was bedeutet es, wenn diese Transformationen
nicht immer nur zu stärkerer Vernetzung und intensivierten translokalen Beziehungen führen,
sondern auch mit Genozid und Komplexitätsverlust, Fragmentierung und Atomisierung
einhergehen, Prozesse, die letztendlich jene kleinen Gesellschaften etabliert haben, die
schließlich im 20. Jhd. als ursprünglich beschrieben wurden?
In der Amazonischen Anthropologie wurden lange – insbesondere aus der kulturökologischen
wie der strukturalistischen Perspektive, aber auch in der strukturfunktionalistischen
Auffassung – die indigenen Kulturen ahistorisch, als Völker ohne Geschichte, konzipiert. Erst
die modernistische Umwälzung und Transformation von Menschen und Natur schien
Geschichte zu etablieren.
In der klassischen kulturökologischen Perspektive war Amazonien etwa ein counterfeit
paradise (Meggers 1971): ursprünglich, rau, mit äußerst beschränkten Ressourcen
ausgestattet, was den Boden, das Wild, Protein, die domestizierbaren Tiere betrifft. Dieses
falsche, ressourcenarme, nur scheinbare Paradies limitierte – so die damals dominante
Auffassung des Umweltdeterminismus – die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung,
erlaubte eine nur geringe Bevölkerungsdichte, führte zu kleinen Siedlungsstrukturen,
verhinderte die Ausbildung sozialer Differenzierung und Hierarchie. In dieser Konzeption
waren diese Umweltbedingungen direkt für die kleinen indigenen Gruppen verantwortlich, die
6
man aus dem 18., 19. und 20. Jhd kannte. In dem resultierenden Bild der Indigenen waren
diese ökologisch gut angepasste Vertreter einer oft präkolumbianisch gedachten „Vorzeit“,
die es geschafft hatten in Rückzugsgebieten und den Tiefen der Amazonischen Wälder zu
überleben.
Andere Positionen, wie z.B. der Strukturalismus, verstanden die indigenen Kulturen des
Tieflandes ebenfalls als ahistorische, kalte, geschichtslose Gesellschaften. Damit stand die
Beschäftigung mit Amazonien auch disziplinär jener mit dem geschichtsträchtigen Hochland
Südamerikas,
den
andinen
und
mesoamerikanischen
Hochkulturen,
der
sich
die
Altamerikanistik widmet, diametral gegenüber. Dieses klassische Bild ahistorischer indigener
Kulturen wurde jedoch durch den historical turn in der Amazonischen Anthropologie in Frage
gestellt, der ja in Deutschland – etwa in Bonn – frühe Vorläufer hatte. In Bezug auf die
Ökologie wird diesem Bild heute eine historische Ökologie (Balée 1998, 2006)
gegenübergestellt, die nicht von einer einseitigen Umweltdeterminierung der Kulturen
ausgeht, sondern zeigt, wie auch indigene Kulturen die Umwelt transformieren, dass solche
Transformationen z.B. zur Erhöhung von Biodiversität führen können und historische
Umwelttransformationen neben archäologischen Erkenntnissen zur Rekonstruktion der
Amazonischen Kulturgeschichte beitragen können.
Archäologische, kultur- und ethnohistorische Befunde machen deutlich, dass im Vergleich zu
den im 20 Jhd. dokumentierten Gruppen zu präkolumbianischer Zeit komplexere
Gesellschaften existierten, die heute in anthropogenen Savannen, manipulierten Flussläufen,
massiven Erdmonumenten und anthropogenen Tierra Prieta, d.h. Schwarzerdevorkommen,
nachweisbar sind (Roosevelt 1987, 1994; Cleary 2001; Raffles und Winkler Prins 2003; Balée
1998).
Erst die Zerstörung dieses indigenen Reichtums etablierte eine scheinbar ursprüngliche Natur
entlang entvölkerter amazonischer Flussläufe und kleine, weit verstreute Siedlungen, wie wir
sie etwa aus den Reisebeschreibungen von Spix und Martius (1823) kennen, und die sich so
sehr von den Beschreibungen des 16. Jhd von Francisco Orellana (1542, Carvajal 1992),
Pedro de Ursua und Lope de Aguirre (1561 – Vázquez 1987) unterscheiden, dass letztere
lange Zeit für völlig unzuverlässig gehalten wurden.
Weiter haben Konquista und Kolonialismus nicht nur komplexere Gesellschaften zum
Verschwinden gebracht, sondern früher periphere Gruppen konnten eine temporäre lokale
Dominanz und Machtstellung erreichen. Die Konquista und der Kolonialismus produzierten
also nicht ausschließlich Verlierer, Genozid und Ethnozid der indianischen Bevölkerung,
7
sondern boten für einzelne Gruppen auch neue Chancen der Entwicklung. So zeigen etwa die
ethnohistorischen Arbeiten Neil Whiteheads (1988), wie die traditionellen Handels- und
Beziehungsnetzwerke durch den europäischen Einfluss transformiert wurden und vormals
marginale Gruppen, wie die Kariña, zu dominantem Einfluss in der Region kamen.
Als weiteres, aber nicht singuläres Beispiel für die Vielfalt lokaler Entwicklungen möchte ich
die Akuriyo nennen (vergl. Halbmayer 2007). 1968 wurde im Grenzgebiet von Französisch
Guiana und Surinam eine Gruppe nomadisierender Jäger und Sammler kontaktiert, eben die
Akuriyo. Die Entdeckung dieses „primitiven steinzeitlichen Stammes“ (Geijskes 1970: 279;
siehe auch Boer 1970; Schoen 1969) war eine Sensation in einer Region, in der alle anderen
indianischen Gruppen Brandrodungsfeldbau betrieben, feste Dörfer hatten und die meisten
Gruppen seit Mitte der 1950er Jahre zumindest punktuell missioniert wurden (z.B. Trio,
Waiwai, Wayana).
Wie sich auf Grund von Oraltraditionen und Archivforschungen herausstellte, hatten die
Akuriyo aber noch im 17. und 18. Jhd. wie alle anderen Indigenen der Region Landwirtschaft
betrieben. Dabei hatten sie mit lokalen Maroons, d.h. geflohenen schwarzafrikanischen
Sklaven, die im Landesinneren eigene Gesellschaften bildeten, Handelsbeziehungen
unterhalten, um Eisenwerkzeuge zu erweben. Diese Handelsbeziehungen kamen zu einem
Ende, als vom Amazonas aus Gruppen nach Norden zu wandern begannen, die sich selbst von
den eindringenden Europäern zurückzogen. Als Reaktion auf die dadurch resultierenden
Konflikte, Kriege und Hexereianschuldigungen, denen vermutlich die Ausbreitung von
Krankheiten zu Grunde lag, haben sich die Akuriyo von den Flüssen in den Wald
zurückgezogen. Dies brachte ihre Handelskontakte zum Erliegen. Als Konsequenz begannen
die Akuriyo nicht etwa wieder mit Steinwerkzeugen den Wald zu roden, sondern gaben die
Landwirtschaft auf und wurden zu nomadisierenden Jägern und Sammlern (Halbmayer 2007).
Weit davon entfernt, primitive, steinzeitliche Jäger und Sammler zu sein, sind die Akuriyo
also ein indirektes Produkt der europäischen Expansion, der Durchdringung der Region mit
Eisenwerkzeugen, der Etablierung von Handelskontakten zwischen indigenen Gruppen und
entflohenen schwarzen Sklaven (Maroons), sowie der zunehmenden Erschließung des
Amazonas und seiner Nebenflüsse und den resultierenden Migrationen.
An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass weiterhin nicht-kontaktierte Gruppen im Amazonas
existieren und die brasilianische Indianerbehörde FUNAI eine eigene Abteilung für nichtkontaktierte Gruppen unterhält3. Sie hat über 60 Regionen identifiziert, wo Aktivitäten solcher
3
http://pib.socioambiental.org/pt/c/no-brasil-atual/quem-sao/isolados:-historico
8
Gruppen nachweisbar sind4. Diese Gesellschaften sind aber keine präkolumbianischen
Survivals, sondern, wie an Hand der Akuriyo gezeigt wurde, aller Wahrscheinlichkeit nach
ein Resultat der Auseinandersetzung mit der Konquista, dem Kolonialismus und den
Transformationen, die durch das Eindringen der Europäer auch in entfernten Regionen
ausgelöst wurden.
Vielmehr existierten und existieren vielfältige multilinguale Formen indigener Sozialität bis
heute (vgl. Halbmayer 2007). Die den Kontinent durchziehende translokale Netzwerke
formieren sich klassischerweise insbesondere rund um Handel, Heirat, Rituale und
schamanische Dienstleistungen, kommen heute aber auch in Form nationaler und
transnationaler indigener Organisationen zum Ausdruck. Translokale Beziehungen und
ausgeprägte Netzwerke sind also keine moderne Innovation, archäologisch lassen sie sich
auch für das präkolumbianische Südamerika nachweisen.
Im Gegensatz zu diesen aktuellen Erkenntnissen steht das traditionelle Bild ahistorischer und
abgeschlossener, indigener Einheiten. Aus dieser Perspektive konnte erst die modernistische
Umwälzung von Natur und indigenen Gesellschaften Geschichte etablieren, eine Geschichte
der Zerstörung und des Pessimismus der traurigen Tropen (Lévi-Strauss 1978), in deren Folge
die Indigenen zu Opfern des Fortschritts, der Missionierung und der Moderne wurden und an
deren Ende nur zwei Optionen zu stehen schienen: Extinktion oder Assimilation (Ribeiro
1967: 90, 1970).
Wenn man aber den unglaublichen Wandel vom Pessimismus der traurigen Tropen, der
alarmierenden Bestandsaufnahme zur Situation der Indios in Lateinamerika Anfang der
Siebziger Jahre (Dostal 1972; Münzel 1973, 1974) mit heute vergleicht, so werden deutliche
Unterschiede
sichtbar.
Aktuelle
Diskurse
zu
Südamerika
in
den
Kultur-
und
Sozialwissenschaften thematisieren heute die erfolgreichen indigenen Bewegungen, die in
vielen Ländern zu einem signifikanten politischen Faktor geworden sind (Warren et al. 2002,
Jackson et al. 2005, Langer 2003), die Lateinamerikanischen Nationen, welche sich heute
offiziell als pluriethnisch definieren (Van Cott 2004), das rasche demographische Wachstum
der indigenen Gruppen in Amazonien (McSweeney 2005), die Erfolge, wenn es darum geht,
Landrechte und kulturelle Autonomie zu garantieren (z.B. Stocks 2005, Diaz Polaco 1997,
Van Cott 2001, Kuppe 2004), ja sogar Prozesse der Re-indigenisierung5. Indigene Gruppen
wurden selbst zu globalen Akteuren, haben eine internationale indigene Bewegung geschaffen
4
5
http://pib.socioambiental.org/pt/c/no-brasil-atual/quem-sao/onde-estao-os-isolados
http://pib.socioambiental.org/en/c/no-brasil-atual/quem-sao/Indios-emergentes
9
und sich Raum innerhalb des internationalen politischen Systems erarbeitet (Brysk 2000,
Mühlebach 2001, Martin 2003).
Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die Situation der Indigenen von einer bedrohten,
rechtlosen, scheinbar dem Untergang geweihten Minderheit, auf die straflos Menschenjagden
veranstaltet werden konnten, zu einem Teil der anerkannten, kulturellen Vielfalt mit
garantierten Rechten gewandelt und heute werden die Indigenen – wie immer man eine solche
Entwicklung auch einschätzt – unter den Begrifflichkeiten des Ethnosocialismo oder des
Socialismo Indigena sogar zur ideologischen Grundlage neuer Staatsmodelle, z.B. in Ländern
wie Bolivien, Venezuela oder Ekuador.
Lassen Sie mich kurz resümieren: wir sehen also, wie die transnationale Anthropologie
einerseits die Beschäftigung mit der Karibik und kreolisierten, hybriden Phänomenen ins
Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, und eine „world in creolisation“, wie Hannerz (1987)
formulierte, zu ihrem Aufgabenbereich macht. Andererseits wurde die Beschäftigung mit
indigenen Gruppen zu einer wenig attraktiven, zu einem theoretisch weitgehend
uninteressanten Ausdruck einer aus dieser Perspektive veralteten und zu überwindenden
Anthropologie. Eine solche Position schreibt jedoch angesichts der theoretischen, wie
politischen Entwicklungen – ungerechtfertigter Weise, wie ich meine – die sonst kritisierten
Konzeptionen von ahistorischer, abgeschlossener und homogener Kultur im Bereich der
Indigenen fort und betreibt somit eine Exklusion des klassischen Gegenstandes der Disziplin.
Gleichzeitig darf aber auch nicht übersehen werden, dass indigene Gruppen auf eine
spezifische Art und Weise mit ihren Territorien und ihrer Umwelt in Beziehung stehen, die sie
von benachbarten Siedlergemeinschaften unterscheidet, und dass im politischen Diskurs die
modernen Indigenen Führungspersönlichkeiten durchaus die Wirkung essentialisierender
Argumentationsstrategien erkannt haben und gelernt haben, sich als Vertreter und Hüter
millenaristischen Traditionen darzustellen und zu inszenieren, ihr Wissen und ihre
Verbundenheit mit dem Territorium ins Zentrum zu stellen und sie strategisch einzusetzen,
wenn es gilt, Ansprüche geltend zu machen und durchzusetzen.
Damit komme ich zur Frage der lokalen Bedeutungen, der indigenen Weltbilder und
Kosmologien, die ich an Hand ausgewählter Carib-sprechender Gruppen, eine der großen
Sprachfamilien Amazoniens, veranschaulichen will. Was kann man in der gebotenen Kürze
zu den erwähnten, irritierend anderen und widerspenstigen Entwürfen der Welt, mit denen wir
hier bis heute konfrontiert sind, sagen? Was sind Konzepte des Seins, der Person, aber auch
von Sozialität, die diesen zu Grunde liegen?
10
Im Allgemeinen gehen die Carib-Sprecher von der Existenz geschichteter, koexistierender,
miteinander verbundener Welten aus. Eine oder mehrere Himmelswelten, eine oder mehrere
Unterwelten mit den jeweils entsprechenden Wesenheiten, eine Wasserwelt. Die Yekauna
unterscheiden acht Himmelswelten und drei Unterwelten. Diese Welten sind auch in diese
sichtbare Welt eingeschrieben und der unsichtbare Teil dieser Landschaft ist durch Übergänge
miteinander verbunden.
Abb. 1: Die Welt und die acht Himmel nach einer Zeichnung von Pedro Matakuni (12 Jahre)
(aus Barandiarán 1979: 137)
Diese Grunddifferenzierung der Welt in ko-existierende Welten reproduziert sich auch häufig
in den Personen, in Form multipler Seelenvorstellungen, aber auch in der Unterteilung des
Körpers. Die Yekuana sind das beste Beispiel für multiple Akato „Seelendoppel“ der Person.
Sie unterscheiden sechs Akato Seelen, von denen nur zwei im Körper lokalisiert sind, nämlich
die Herz Seele (ayewana akano akato) und die Augenseele (ayenudu akano akato), welche
nach dem Tod in den Himmel zurückkehren und für das Träumen verantwortlich sind.
11
Daneben gibt es noch Seelen im Mond (nuna awono akato), in der Sonne (shi awono akato),
im Wasser und auf der Erde (Guss 1989).
Abb. 2: Der Yekuana Kosmos, gezeichnet von Dawasehuwa (aus Civrieux 1985: 57)
Diese verschiedenen spirituellen Aspekte der Person reproduzieren Teile der kosmologischen
Struktur und setzen Menschen mit verschiedenen Ebenen des Kosmos in Verbindung.
Selbiges kann durch die Unterteilung des Körpers in Torso, Kopf und Extremitäten
ausgedrückt werden, welche mit verschiedenen Ebenen der Welt in Beziehung stehen und
auch im Tod unterschiedliche eschatologische Schicksale haben können, wie Teixeira-Pinto
etwa für die Arara zeigt (Teixeira Pinto 1997).
12
Abb. 3: Die ursprüngliche Kosmographie der Arara (aus Teixeira Pinto 1997:134)
imnu- Himmel, epi-Erde (Himmelshaut), wapara-Wasserwelt
Abb. 4: Die Bestimmung der Teile des Körpers (aus Teixeira Pinto 1993: 60)
Heute ist die Existenz von über den Menschen hinausgehenden sozialen Beziehungen in
Amazonien
eines
der
großen
Themen
der
Reflexion
und
Debatten.
Die
Austauschbeziehungen, die zwischen den Menschen stattfinden, sind in diesem Verständnis
immer nur ein spezifischer Ausdruck von den über den Menschen hinausgehenden
Beziehungen, z.B. mit den Toten, Feinden, Tieren, spirituellen Wesenheiten, die ebenso als
Personen konzipiert sind und sich selbst als Menschen sehen. Was bedeutet dies alles für
zentrale Begrifflichkeiten, wie Mensch, Person, Gesellschaft, Natur und Kommunikation?
Auch wenn die Existenz dieser über die Menschen hinausgehenden Beziehungen allgemein
akzeptiert ist, ebenso, dass amazonische Kosmologien nicht auf unserer Unterscheidung von
13
Kultur und Natur beruhen, so werden ihr Status und die ihr zugrunde liegenden Werte
kontrovers diskutiert. Personen werden heute auch im indigenen Amazonien als Dividuen –
ein Ausdruck Marilyn Stratherns (1988), der im Gegensatz zu den unteilbaren Individuen
steht – konzipiert. Allerdings nicht als intrinsische Personen, die Geschlechterbeziehungen
und Tauschverhältnisse zwischen Männern und Frauen wie in Melanesien reproduzieren,
sondern – wie Vilaça es im Gegensatz zum Strathernschen Dividuum formulierte – in
Amazonia „we are faced with dividuals conveived as human and non-human“ (2005: 453).
Wie kann man sich solche menschlich/nicht-menschliche Personen vorstellen?
Personen können die kosmologische Differenzierung reproduzieren. Darüber hinaus spielen
bei der Formation bzw. der Fabrikation der Personen auch permanente Prozesse der
Hinzufügung bzw. des Verlustes eine zentrale Rolle. Diese sind einerseits notwendige
Vorraussetzungen für die Formation menschlicher Personen, andererseits gilt es aber auch,
nicht erwünschte Verluste oder Hinzufügungen zu vermeiden. Dies kommt in spezifischen
Tabus und den Vorstellungen, die Zeugung, Geburt, Initiation oder Tod begleiten, zum
Ausdruck. Solche Personen unterhalten also unterschiedliche Beziehungen zu den Ebenen des
Kosmos und der Tier- und Pflanzenwelt sowie den spirituellen Wesenheiten. Je nach Situation
ist es notwendig, solche Kontakte und Beziehungen bewusst herzustellen und zu unterhalten
oder
aber
ebenso
bewusst
zu
unterbinden.
Dies
gilt
nicht
nur
für
zentrale
Lebensabschnittsphasen, sondern auch in Bezug auf Krankheit und den alltäglichen Umgang
mit dem, was wir Natur nennen (Halbmayer 2007).
Lassen Sie mich versuchen, diese Konzeptionen, insbesondere der Umwelt, an Hand eines
Bildes zu vermitteln. Es handelt sich um ein Bild des venezolanischen Künstlers Antonio
Briceño, dessen Bilder letztes Jahr im Iberoamerikanischen Institut in Berlin ausgestellt
waren. Briceño erschafft mit seinen digitalen Bildkonstruktionen künstlerische Formen und
Visualisierungen von indianischer Kultur, Natur und Landschaft, indem er bis zu sechs
einzelne Fotographien digital zusammensetzt. Ich werde ein Werk Briceños aus einem
größeren Zyklus als Ausgangspunkt nehmen, um den angesprochenen Zusammenhang von
Kultur, Natur und Landschaft zu thematisieren.
Der Zyklus Götter Amerikas besteht aus Portraits markanter indigener Personen vor dem
Hintergrund imposanter Landschaften und Naturphänomene, Berge, Wüsten, Wolken, Wälder
(www.antioniobriceno.com). Die Bedeutung der Darstellung lässt sich aber erst durch das im
Bild selbst Unsichtbare, den Titel erahnen. Diese Titel weisen die dargestellten Personen
einerseits als Götter, Schöpfer, Besitzer, Geister oder Verwandte (Brüder, Schwestern, Mütter
oder Väter) der Naturphänomene aus und andererseits wird der indigene Name dieser Götter,
14
Kulturheroen und spirituellen Wesenheiten genannt. Es handelt sich also um Visualisierungen
zentraler mythischer Figuren aus den Kosmologien und Schöpfungsgeschichten der
jeweiligen indianischen Kulturen. Es sind sowohl abwesende Götter und Kulturheroen, die in
mythischer Vorzeit aktiv waren, heute aber in diese Welt nicht mehr intervenieren, als auch
Besitzer, HerrInnen von Tieren, Pflanzen, Orten oder gefährliche Geister, die Teil der
heutigen Welt sind und in der Auseinandersetzung mit dem, was wir Natur nennen, eine
zentrale Rolle spielen.
Auf dem Bild, welches ich ausgewählt habe, sieht man den Oberkörper und den Kopf eines
jungen Pemon Indianers vor der Savannenlandschaft der Gran Sabana im Süden Venezuelas
mit einigen für sie typischen Tafelbergen. Das Bild Briceños trägt den Titel Makunaima,
Lehrling des Schamanen.
Abb5: Antonio Briceño Makunaima Aprendiz de Chamán, 2003 Cibachrome
Vor dem Hintergrund der Mythen und der Kosmologie der Pemón, die schon von Theodor
Koch-Grünberg – dessen Nachlass sich ja am Marburger Institut befindet – so eindrucksvoll
dokumentiert wurde, eröffnet sich die Möglichkeit, in diesem Bild mehr zu sehen als bloß
Grassavanne, Tafelberge und einen Menschen. Denn dieses mythische Wissen und die in ihm
verankerten Grundannahmen des Seins konstituieren die Bedeutung der Welt und in diesem
Fall des Werkes mit. Sie legen fest, was man sieht, auf ihnen basieren die großteils
unbewussten Grundannahmen über die Wirklichkeit. Der westliche Betrachter mit seinem
naturalistischen Weltbild, der davon ausgeht, dass Natur existiert, da ist und es sich um einen
Bereich handelt, der ohne das Zutun des Menschen eigenen Ordnungen, natürlichen
Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten folgt, kann nicht anders als bei der Betrachtung in
einem solchen Bild imposante Natur und exotische fremde Kultur zu sehen.
15
Makunaima und seine Geschwister sind die Kinder aus einer Verbindung der Sonne und
einem Wasserwesen. Makunaima ist der tricksterhafte Kulturheroe, mächtiger wenn auch
weitgehend amoralischer Transformer und idealtypischer Schamane, ein ganzer Mythenepos
berichtet von seinen z.T. absurden Taten.
Diese Geschwister erschaffen bzw. erlangen das Feuer, die Jagd, Fischfang, die
Landwirtschaft und die Utensilien und Früchte, die dafür notwendig sind. Sie werden dabei
gefressen und verschlungen, verhungern fast, lösen eine Flut aus, ein Bruder – noch ein Kind
– betrügt den anderen mit seiner Frau, der Ältere zaubert Häuser von der Ebene auf die Berge
und retour, einer ist bereits in Stücke zerschnitten im Topf über dem Feuer, um gekocht zu
werden und wird wiederbelebt (vergl. z.B. Koch-Grünberg 1916).
U.a. fällen die Kulturheroen den zu Beginn existierenden riesigen Lebensbaum, von dem alle
Früchte stammen und lösen dadurch eine Flut aus. Koch-Grünberg schreibt:
„Der Baum brach ab. Er fiel auf den Baum elu-yég und auf den Baum Yuluwazāluíma- yeg.
Makunaima schlug auch diese Bäume um. [Die Stümpfe bilden heute die Gebirge elū-tepe
und Yuluwazāluimá-tepe. Der Stumpf des Baumes Wazāká bildet heute den Roroíma. Alle
diese Gebirge haben dieselbe Gestalt und sind sehr hoch.] Die Bäume fielen alle auf die
andere Seite. Deshalb gibt es dort noch heute viele Bananen, Mais, Baumwolle und viele
Früchte, die nicht gepflanzt sind, sondern im Walde wild wachsen.
Der Baum Wazāká fiel über den Caróni, und so liegt er noch heute. [Heute ist er ein Felsen,
der den Caróni durchquert. Er bildet den hohen Fall Wazāká-melu, an dem die Boote
ausgeladen und über Land geschleppt werden müssen.]“ (Koch-Grünberg 1916: 35)
Es gibt noch heute viele Bananenhaine im Wald, die niemand gepflanzt hat … Sie gehören
den Mauarí (Bergdämonen). Alle Gebirge dort sind ihre Häuser. So sagen die Zauberärzte,
die allein die Mauari sehen und mit ihnen sprechen können. Der stehengebliebene
Baumstumpf (yei-píape) ist der Roroima. Als Ma'nápe den Baum umgeschlagen hatte,
drang viel Wasser daraus hervor, und es kamen viele Fische heraus...“ (Koch- Grünberg
1916: 38).
Soweit Koch-Grünberg.
Vor dem Hintergrund dieses Wissens sieht man also nicht nur Savannenlandschaft und
Tafelberge,
•
Man sieht die Folgen der Taten Makunaimas,
•
Man sieht die Reste der Weltenbäume, die die Erde mit dem Himmel verbanden,
16
•
Man hat eine Erklärung für Wasserfälle und Besonderheiten der Fauna und Flora.
•
Die Ausführungen referieren, wenn auch nur implizit, auf eine Konzeption der Welt,
die aus mehreren koexistenten und miteinander verbundenen Welten besteht. Dieser
Welt, einer Himmelswelt, welche von Wasser umgeben sind, dem Meer und dem
Himmelswasser, wobei der Himmelsbaum, die Himmelsstütze, eine Verbindung
darstellte, in dessen Inneren Wasser und Fische zirkulieren.
•
Und man sieht die Häuser der Mawari, der Geister, die in den Bergen leben. In diesen
Bergen befinden sich unzählige Zimmer und in jedem lebt eine Mawari Familie. „Die
Pemones vergleichen diese Siedlungen mit Urbanisationen. Die Eingänge sind
Öffnungen in der Erde und unter dem Wasser, wie Löcher oder Höhlen (…)“ (Butt
Colson und Armellada 1990: 20).
Es erschließt sich eine Landschaft, die als materieller und visueller Beweis der Mythen
fungiert und ihre Existenz den Resultaten mythischer Taten verdankt. Wir haben mit dieser
Landschaft ein Kommunikations- und Erinnerungsmedium vor uns, in welches Mythen,
Geschichte und soziale Beziehungen eingeschrieben sind – um mit Jan und Aldeia Assmann
(1992, 1999) zu sprechen: wir haben es mit einer Form des kulturellen Gedächtnisses zu tun.
Der Junge steht also vor den Wohnungen der Geister, vor der Verbindung zum Himmel, vor
den Resten des Baums der Fruchtbarkeit und wird als Makunaima, Schüler des Schamanen,
bezeichnet.
Es ist die von Philippe Descola (1996) so genannte symbolische Ökologie, die nach den
symbolischen Ökonomien des Austausches fragt, der Reziprozität, des Schutzes und der
Predation zwischen Menschen und Nicht-Menschen und dem westlichen Naturalismus
Ontologien entgegenstellt, die nicht auf unserer Trennung von Natur/Kultur basieren (Descola
1996, 2005). In diesem Zusammenhang werden der neue Animismus, der Totemismus, der
Analogismus und natürlich der indianische Perspektivimus und Multinaturalismus
international kontrovers diskutiert (Viveiros de Castro 1998, 2004).
Gibt es nun Möglichkeiten, das Spannungsfeld zwischen Prozessen der Globalisierung und
den transnationalen Flüssen von Personen, Waren, Geld, Ideen und Bildern einerseits und den
trotz aller Globalisierung lokalen und irritierend anderen und widerspenstigen Entwürfen der
Welt andererseits gewinnbringend zu verbinden? Ich denke man kann zumindest die
Eckpunkte eines empirischen Programms skizzieren.
In meinen Forschungen bin ich nicht nur mit Äußerungen und Manifestationen indigener
Weltbilder konfrontiert, die sich auf die kosmologischen Konzeptionen und die spirituelle
17
Dimension derselben beziehen. Vielmehr darf der Aufwand, die Energie, welche indigene
Gruppen investieren, um die westliche Welt – in ihren Augen – zu sozialisieren und sich
anzueignen, nicht unterschätzt werden. Dabei sind sie mit verschiedensten Akteuren
konfrontiert. Lassen sie mich dies veranschaulichen:
Im Januar 2001 waren Nupe, ein Yukpa, meine Frau und ich nach mehreren Wochen in
abgelegenen Dörfern in den Bergen der Sierra de Perijá nahe der venezolanisch/
kolumbianischen Grenze zu Fuß ins Tal zur Missionsstation unterwegs. Auf dem Weg begann
Nupe über neue Personen und Ereignisse in dieser abgelegenen Region zu sprechen, nämlich
der Präsenz der kolumbianischen Guerilla. Er beschrieb wie folgt die offensichtlich
merkwürdigen Besonderheiten dieser für ihn neuen Menschen: sie gehen, so sagte er, in der
Nacht durch den Wald und nicht wie normale Menschen untertags auf den Wegen. Sie sind
schwer bewaffnet und – seltsam genug – dies gelte auch für die Frauen, die sich wie Männer
verhalten; sie nennen sich compa, sagte er, ohne dass er zu wissen schien, dass es sich dabei
um die Abkürzung von compañero handelt. Die Yukpa von Kanowapa, einem benachbarten
Dorf, hatten sie aufgefordert, ihnen Essen zu geben. Sie nahmen alle Hühner mit, die sie Nupe
zufolge roh aßen.
In seinem Diskurs stellte er diese Eindringlinge als seltsame Menschen dar. Menschen, die
keinen normalen menschlichen Aktivitäten während des Tages und der Nacht nachgehen, die
kein angemessenes soziales Verhalten beim Besuch eines Dorfes an den Tag legen, die keine
Gemeinsamkeit über den gemeinsamen Konsum von Nahrung mit den Gastgebern herstellen,
die Haustiere aus dem Schutz des Dorfes in den undomestizierten Wald mitnehmen, wo sie,
offensichtlich der Kochkunst nicht mächtig, da auch ohne die dafür notwendigen
Geschlechterrollen, diese roh verzehren. Diese Leute waren in Nupes Vorstellung also weder
Teil der Yukpa noch verhielten sie sich wie gewöhnliche nicht-indigene watia.
Neben den Guerilleros kam eine große Anzahl von kolumbianischen Flüchtlingen zwischen
2000 und 2005 über die Berge in Richtung Venezuela mit ein paar Habseligkeiten und
manchmal sogar ein oder zwei Kühen. Auch die nationalen Ebenen spielen einen nicht
unerheblichen Einfluss auf die aktuelle Situation vor Ort. Die vom "Plan Colombia"
unterstützte Offensive des kolumbianischen Präsidenten Uribe gegen Drogen und die Guerilla
hatte im Jahr 2003 einen Höhepunkt erreicht. Paramilitärs führten zu diesem Zeitpunkt im
kolumbianischen César großangelegte Säuberungen durch, die in den Erzählungen der lokalen
kolumbianischen Bevölkerung extrem präsent sind. Ausgerüstet mit vorbereiteten Listen
umstellten sie Dörfer, durchsuchten Häuser, zwangen jene Leute, von denen sie annahmen,
dass sie mit der Guerilla kooperierten, im besten Fall dazu, das Dorf zu verlassen oder töteten
18
sie sofort. Es kam zu zahlreichen Massakern und diese Zeit wird in César im wahrlich an
traumatischen Ereignissen nicht armen jahrzehntelang vom Bürgerkrieg geschüttelten Land
als „lo peor“, die schlimmste bezeichnet. In den Bergen hatten sich in der Mitte des Yukpa
Gebietes auf der venezolanischen Seite der Grenze Guerillastützpunkte etabliert. In diesen
Lagern war die Guerilla außerhalb des Einflussbereiches der kolumbianischen Regierung, auf
vergleichsweise sicherem Gebiet. Es war ein Angriff auf eines dieser Lager – nicht in
Venezuela, sondern in Ecuador – in der FARC Führer Raul Reyes und 16 weitere Personen
am 1. März 2008 durch das kolumbianische Militär getötet wurden. Dies führte zu der größten
diplomatischen Krise zwischen Venezuela, Ecuador und Kolumbien der letzten Jahrzehnte.
Der venezolanische Präsident Hugo Chávez Frías ließ verlautbaren, dass ein ähnlicher Angriff
auf venezolanischem Gebiet ein Kriegsgrund wäre und mobilisierte Truppen entlang der
Grenze. Die internationale Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien ist heute auch eine
zwischen zentralen politischen Positionen und nationalen Ideologien, an der sich
gegensätzliche Vorstellungen von Freiheit und Terrorismus ebenso scheiden wie
Positionierungen und Loyalitäten innerhalb des politischen Weltsystems.
Aber auch die Grenze zwischen indigenen und nicht-indigenen Interessens- und
Einflussgebieten ist eine Zone des Konflikts. Es war Aristide, der Kazique der neu
geschaffenen Gemeinschaft Guaicaipuro, der mich einlud, sein Dorf auf dem Gebiet einer
ehemaligen Hazienda zu besuchen. Er zeigte mir die Reste ihrer Häuser, die von bezahlten
Schergen der Großgrundbesitzer niedergebrannt worden waren. Sie schlugen die Yukpa,
drängten sie auf Lastwagen, transportierten sie aus der Hazienda und warnten sie
zurückzukommen. Im Juni 2008 eskalierten die Konflikte rund um neue Besetzungen. Das
Militär intervenierte zur "Vermeidung von Blutvergießen" zwischen Großgrundbesitzern und
Yukpa. Venezolanische Medien, Zeitungen, Nachrichtenagenturen und NGO's berichteten
über diesen Konflikt in denen unterschiedlichste Auffassungen von Recht, Eigentum, der
Revolution und der Rolle des Staates, der Großgrundbesitzer und der Indigenen
aufeinanderprallten.
Die Yukpa waren im Laufe des 20. Jahrhunderts durch die Ausbreitung der Rinderfarmen,
aber auch durch Öl- und Kohleausbeutung, aus dem fruchtbaren Tiefland in die Berge
gedrängt worden. Diese Entwicklung wurde zwischen 1950 und 1990 verlangsamt auf Grund
der physischen Bedingungen der noch – vergleichsweise uninteressanten – verfügbaren
Flächen, der Errichtung der Mission und der Einrichtung von Gebieten unter besonderer
Verwaltung wie einem Nationalpark und einer indigenen Schutzzone. Aber erst seit 2001
hatte sich dieser Prozess nicht nur verlangsamt, sondern begann sich umzukehren: zahlreiche
19
Yukpa leben nun auch in den urbanen Zentren wie Machiques, Maracaibo und es begannen
gezielte Invasionen von Haziendas und die Rekuperation von Grundstücken, die für viele
Jahrzehnte in der Hand der Großgrundbesitzer gewesen waren. Den Rahmen dafür bildeten
nach der bolivarianischen Revolution und der Verabschiedung der neuen Verfassung die
neuen staatlichen Rahmenbedingungen und die neu definierte Rolle der Indigenen.
Es ist jetzt hier nicht der Ort, eine Analyse dieser Ereignisse zu präsentieren. Vielmehr will
ich danach fragen, wie diese heterogenen Akteure: Staat, Großgrundbesitzer, Missionen,
Schutzzonen und die damit verbundenen Handelnden: Guerilleros, Flüchtlinge, NGO`s,
Medien etc. und indigenen Organisationen sich mit den skizzierten Prozessen des Place
makings in Beziehung setzen lassen. Lässt sich dadurch eine Position finden, welche die
Tendenz unterläuft, bei der Darstellung der Anderen Othering und Exotisierung zu betreiben
und gleichzeitig vermeidet, die Anderen unter unsere Konzepte zu subsumieren und zu
nostrifizieren? Kann diesen Paradoxien im Zuge der Darstellung kultureller Differenz und
unterschiedlicher Weltbilder eine ausgewogenere und kontrollierte Verankerung jenseits von
Nostrifizierung oder Exotisierung entgegensetzt werden?
Als Ausgangspunkt kann die These fungieren, dass Kultur als ein integriertes System von
Bedeutungen in Zeiten kultureller De-Territorialisierung nicht mehr gegeben ist, d.h. sich
auch lokal heterogene Kulturen gegenüberstehen, die trotz Austausch und Kontakt durch kein
integriertes Bedeutungssystem inkludiert sind.
Dass die Assoziationen von Raum, Mensch, Kultur zu erklärende soziale und historische
Kreationen sind, kann als zweite These dienen. Worin bestehen aber die Assoziationen von
Raum, Mensch und Kultur? Wie kann dieses Verhältnis operationalisiert werden? Eine
mögliche Antwort darauf ist:
- erstens gilt es, die lokale Konzeption, die Bedeutung dessen, was wir Natur bzw. natürliche
Umwelt bzw. Welt nennen, zu erfassen.
- zweitens gilt es, die Austauschverhältisse, Beziehungen, Transformationen und
Aneignungsformen dieser Umwelt – die je nach Weltbild, wie ich versucht hatte zu zeigen,
nicht rein materieller Art sein müssen – zu bestimmen und
- drittens gilt es, nach der sozialen Organisationsform dieses Austausches und der
Aneignungsformen zu fragen.
Es ist davon auszugehen, dass diese drei Dimensionen nicht völlig individuell variieren,
sondern dass es sich dabei in ihren Basisprinzipien um gruppenspezifische kollektive
Konzeptionen und Praktiken handelt. Ich möchte argumentieren, dass das Zusammenspiel
20
dieser drei Dimensionen Topoi, Räume bzw. Orte konstituiert. Gebiete bzw. Örtlichkeiten im
anthropologischen Sinn: als Produkt dieser Konzeptionen und Beziehungen zur Umwelt, wie
der sozialen Organisationsformen, die ihnen zu Gunde liegen.
Bei diesen Topoi handelt es sich nicht primär um physische Territorien. Nur auf ihre
politische, ökonomische und geographische Dimension hin spezifiziert, könnte man auch von
Territorien sprechen, in Bezug auf ihre kulturell/symbolische Dimension hingegen von
Landschaft. Eine solche Konzeption von Topos umfasst nicht nur die ökonomisch-politischen,
sondern auch die symbolischen und affektiven Beziehungen, die eine Gruppe mit dem Gebiet
unterhält und die Formen der Identität, welche zwischen einem Gebiet und einer sozialen
Gruppe existieren.
Auf
diese
Art
und
Weise
konzipiert
wird
deutlich,
dass
unterschiedliche
Bevölkerungsgruppen das gleiche physische Territorium verschieden konzeptionieren und
divergierende Beziehungen zu diesem unterhalten können. Daraus resultieren unterschiedliche
Topoi. Solche anthropologischen Topoi können sich überlagern, stehen einerseits in
Konkurrenz, andererseits wandeln sie sich durch diese Konkurrenz und ihre Beziehungen
untereinander. So können neue Technologien Eingang finden oder neue Produkte extrahiert
werden, seien es Holz, Kautschuk, Paranüsse für body shop oder fair trade Guarana für den
nächsten Energy Drink, und die Beziehungsformen und Bedürfnisse verändern. Neue
Konzeptionen können sich durchsetzten, z.B. die Idee des Umweltschutzes, der nationalen
Integrität oder der Sicherheit oder das Recht auf indigene Landtitel. Plantagenwirtschaft,
Rinderfarmen oder Ayahuasca-Tourismus konstituieren in diesem Sinne ebenso neue Topoi,
wie die Förderung von Bodenschätzen, Erdöl, Kohle oder Zinn. Man sieht, dass die
Überlagerung, die Konfrontation solcher Topoi nicht nur zu Wandel und Transformation
führt, sondern dass diesen heterogenen Topoi ein Konfliktpotential inhärent ist, das sich auf
lokaler und regionaler Ebene konstituiert.
Gleichzeitig entstehen Macht- und Beziehungsfelder, welche sich lokal gegenüberstehen, aber
bei weiten nicht lokal oder regional beschränkt sind. Viele der Akteure und ihre Topoi stehen
direkt mit nicht lokalen und regionalen Ebenen in Verbindung, sind Teil übergeordneter
Netzwerke und Organisationsformen, die die Basisprinzipien ihrer Topoi auch an anderen
Orten etablieren. Dies gilt für Firmen, ebenso wie für Missionare, NGO´s oder Staaten.
Akteure können direkte Beziehungen zu solchen höher gelagerten Ebenen unterhalten, lokale
und regionale aber auch nationale Ebenen überspringen, und direkte Verbindungen zu
translokalen Ebenen aufbauen. Dies ist nicht neu: Jesuitische Dörfer im 17. und 18. Jhd.,
21
standen etwa in direkter Beziehung zum global agierenden Jesuitenorden und umgingen
weitgehend die koloniale Administration. Katholische Missionen in Venezuela im 20. Jhd.
errichteten einen Staat im Staat, selbiges gilt heute für fundmentalistische US-Amerikanische
Missionen im Hinterland Amazoniens, welche oft direktere Kontakte mit ihren
Hauptquartieren in den USA als mit der jeweiligen regionalen oder nationalen Regierung
unterhalten. Die Kautschuksammelterritorien des späten 19. Jhds. waren über die
Kautschukbarone direkt mit dem internationalen Markt in London verbunden und umgingen
zumeist die nationale Kontrolle. Selbiges ist heute oft bei transnationalen Firmen z.B. bei
Erdölförderungsprojekten der Fall und gilt natürlich ganz besonders für den internationalen
Drogenhandel. In allen Fällen existieren Beziehungen vorbei an staatlicher Kontrolle. Sie
konstituieren
aber
bestimmte
lokale
und
territoriale
Konstellationen,
denen
Machtbeziehungen, Interessen und Widerstandspotentiale inhärent sind.
Diese Prozesse führen und führten in Amazonien zu keiner einheitlich linear fortschreitenden
colonial frontier. Vielmehr gestaltet sich diese vor dem Hintergrund spezifischer Topoi und
neuer Akteure immer wieder neu, führen zu neuen Prozessen des Place makings und
produzieren auch unterschiedliche Menschen und indigene Formationen, die es zu analysieren
gilt.
Eine solche Perspektive führt zu einer lokalen und regionalen Verankerung der
Globalisierungsprozesse,
erlaubt
es,
regionale
Dynamiken
und
Transformationen
nachzuzeichnen und die jeweiligen heterogenen Zugriffe auf die natürliche Umwelt zu
analysieren. Sie geht von der lokalen Situation und den sich hier konstituierenden
Konfliktlinien aus und stellt nicht global flows ins Zentrum, sondern bestimmt die empirische
Relevanz derselben ausgehend von den Vernetzungen der lokal relevanten Akteure und ihren
Konzeptionen der Welt. Eine solche Perspektive ermöglicht sowohl regionale und lokale
ethnographische Analysen im globalen Kontext wie auch komparative Vergleiche entlang
unterschiedlicher Regionen. Zum Beispiel: Was unterscheidet die Situation der Yukpa in
Venezuela und Kolumbien? Oder diese von der Situation indigener Gruppen in Chiapas oder
der Ogoni im Nigerdelta? Was bedeutet es für das Verständnis Amazoniens, wenn nicht nur
die Indigenen, sondern auch die Plantagenwirtschaft, Erdölfirmen, Siedlergruppen oder
Naturschutzprojekte erfolgreich sind? Man kann vergleichend nach Strategien des place
makings einzelner Akteure, der Erdölfirmen, des Staates, der Missionare, der Touristen über
einzelne regionale Felder hinweg fragen. Eine solche Strategie würde uns wegführen von
einem allzu einfachen „wir und die Anderen“, weg vom Problem des Othering (Fabian 1983,
Spivak 1985) und der Nostrifizierung (Stagl 1985; Mathes 1992) und der Trennung der Welt
22
in the West and the Rest. Es würde spezifische kulturelle Artikulationen und Weltbilder nicht
in einem Gegensatz zu einer generalisierten Moderne oder den westlichen Vorstellungen
stellen, sondern im regionalen Kontext verankern, kulturelle Unterschiede anerkennen und die
daraus resultierenden Dynamiken und Konfliktlinien erforschen und vergleichend
gegenüberstellen.
Ich hoffe, hier an der Universität Marburg auch in enger Zusammenarbeit mit den anderen
Fächern des Fachbereiches ein solches Forschungsprogramm entwickeln und ausbauen zu
können, durch die Arbeiten unseres Fachgebiets die Relevanz und Aktualität einer Kulturund Sozialanthropologie zu veranschaulichen und damit in letzter Konsequenz auch zeigen zu
können, das die Völkerkunde – wie sie in Marburg immer noch heißt – mehr ist als ein kleines
Orchideenfach, das man sich in Zeiten enger Budgets – um es Wienerisch zu formulieren –
„halt imma noch leistet“.
Ich danke für ihre Aufmerksamkeit!
23
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