Transnationale Anthropologie und lokale Konzeptionen der Welt: Paradoxien im Umgang mit kultureller Differenz Antrittsvorlesung 20.05.2009 Prof. Dr. Ernst Halbmayer [Begrüßung] „Transnationale Anthropologie und lokale Konzeptionen der Welt.“ Mit diesem Titel ist ein Spannungsfeld innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie benannt, ein Spannungsfeld zwischen Prozessen der Globalisierung und den transnationalen Flüssen von Personen, Waren, Geld, Ideen und Bildern einerseits und den lokalen, zum Teil irritierend anderen und widerspenstigen Entwürfen der Welt andererseits, die sich einfachen Erklärungen oft verschließen und westliche Konzepte des Seins, der Person, aber auch dessen, was Sozialität konstituiert, transzendieren. Die Erforschung der lokalen kulturellen Konzeptionen und Praktiken ist in der allgemeinen Wahrnehmung häufiger mit den Tätigkeitsbereichen von Ethnologen verknüpft, aus diesem Grund möchte ich zuerst einen kurzen Blick auf die transnationale Anthropologie und die Phänomene der Globalisierung werfen, welche, wie ich zeigen möchte, auch den Gegenstandsbereich des Faches und das Verhältnis von Kultur und Raum transformiert haben. Anschließend werde ich jene Zugänge zur Welt skizzieren, die versuchen, ausgehend von der Analyse indigener Kosmologien und dem lokalen Verständnis der Welt, grundlegende Fragen neu zu stellen und die indigenen Axiome gleichberechtigt neben die zentralen Unterscheidungen des westlichen Denkens zu stellen. Im dritten Teil werde ich Möglichkeiten einer Anthropologie der Natur – jenseits der klassischen Kulturökologie (z.B. Steward 1946-63; Meggers 1971) und der in Amazonien wichtigen symbolischen Anthropologie (Descola 1996) – skizzieren und die beiden sich gegenüberstehenden Diskurse miteinander in Beziehung setzen. Ich werde für eine Untersuchung von Globalisierungsprozessen auf regionaler und lokaler Ebene plädieren, welche es erlaubt, die existierenden kulturellen bzw. ontologischen Differenzen anzuerkennen. Die Transnationale Anthropologie und die Anthropologie der Globalisierung fanden ihre breite Resonanz auch aus einer spezifisch historischen Situation heraus. Politisch war diese durch das Ende des kalten Krieges und den Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung 1 geprägt. Innerhalb des Faches schien die klassische Beschäftigung mit indigenen Gruppen kaum zukunftsträchtig und durch den sogenannten symbolic und literary turn (z.B. Geertz 1990) der achtziger Jahre und die postmoderne Kritik (z.B. Marcus und Fischer 1986) hatte das Fach eine ausgeprägte selbstreferenzielle und selbstreflektive Wendung erfahren. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass die Eigenzustände der Disziplin weit mehr Resonanz erzeugten als die Phänomene der Welt. Für eine empirische Wissenschaft bedeutet ein solcher Zustand nicht nur einen Reflexionsgewinn, sondern auch eine veritable Krise. Globalisierung besetzte als Konzept die Stelle des Vakuums, welches dieser politische Umbruch und die theoretische Selbstdekonstruktion hinterließen. In der Kultur- und Sozialanthropologie – ein Begriffspaar, das ich zur Bezeichnung der Disziplin jenen all zu sehr an Volk und Ethnos orientierten Fachbezeichnungen Völkerkunde und Ethnologie vorziehe – wurde die Auseinandersetzung mit Globalisierung zur Grundlage zentraler theoretischer Weiterentwicklungen und Neupositionierungen. Das spezifische an Globalisierungstheorien im Kontext der Kultur- und Sozialanthropologie war und ist ihr Fokus auf kulturelle Globalisierung. Die zentrale Frage ist: „Was passiert mit kulturellen Differenzen und Identitäten, wenn „worlds apart“ – wie George Marcus (1995) formuliert – zusammengebracht werden? Welche neuen anderen kulturellen Differenzierungen produziert die globale kulturelle Ökonomie (Appadurai 1996: 27ff) oder die globale Ökumene (Hannerz 1992: 217ff)? Welche transnationalen Beziehungen, kulturellen Flüsse und transnationalen Landschaften in Form von Ethno-, Media-, Ideo- u. Finanzscapes (Appadurai 1996) entstehen?“ Es standen innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie also nicht primär die ökonomischen oder technischen Aspekte der Globalisierung, nicht primär der Nationalstaat und seine schwindende Rolle, und auch nicht die Vereinheitlichung und McDonaldisierung der Welt oder das Entstehen einer Weltgesellschaft (Luhmann 1997, Stichweh 2000) im Zentrum der Debatte. Die Beschäftigung mit der Aus- und Verbreitung sozio-kultureller Phänomene war innerhalb der Disziplin keineswegs neu. Diffusionistische Positionen hatten gerade im deutschsprachigen Raum lange Zeit eine äußerst gewichtige, wenn auch im Rückblick nicht unbedingt immer ruhmreiche Stellung. Ich denke hier – da ich ja aus Wien komme – z.B. an die alte Wiener Schule der Kulturkreislehre. Nun ging es aber nicht um die Verbreitung, Wanderung und Ausbreitung von außereuropäischen, insbesondere schriftlosen Kulturen und ihrer Kulturelemente. Vielmehr wurden vor dem Hintergrund der Weltsystemtheorie (z.B. Wallerstein 1974) und den anthropologischen Reaktionen darauf, etwa Eric Wolfs „Europa und die Völker ohne 2 Geschichte“ (1991), die Folgen der europäischen Expansion und ihre Auswirkungen auf lokale Gesellschaften neu untersucht. Es wurden die ökonomischen und kulturellen Flüsse in den Blick genommen, theoretisiert und vor diesem Hintergrund hat Ulf Hannerz eine Makroanthropologie eingefordert, bei der transnationale Beziehungen im Zentrum stehen (1987; 1992). Ähnlich wie in der Soziologie, wo die Gleichsetzung von Gesellschaft und Nation als Containermodell kritisiert wurde (Beck 1998), hat die Kultur- und Sozialanthropologie ein homogenes abgeschlossenes Konzept von Kultur hinterfragt und verworfen. Ein solches hatte lange Zeit als Folie und Referenzrahmen für die Beschreibung der Anderen gedient. Globalisierung stellte jedoch die räumliche Verankerung und Festschreibung von Kultur in Frage. Die vermeintliche Einheit von Raum, Kultur und Volk wurde kritisiert und als ein Konstrukt identifiziert, an dessen Etablierung die Disziplin maßgeblich mitgewirkt hatte (Gupta und Ferguson 1997). Kultur als zu dechiffrierendes, semiotisches System oder als zu interpretierender Text (C. Geertz 1987) – so Gupta und Fergusson (1997) – setzt ein integriertes System geteilter Bedeutungen voraus. Ein solch integriertes System könne jedoch in Zeiten kultureller DeTerritorialisierung, von Massenmigrationen, von transnationalen Kulturen, etc. nicht mehr vorausgesetzt werden. Deshalb müssten die verflochtenen Prozesse des „place making“ und „people making“ erforscht werden und alle Assoziationen von Raum, Mensch, Kultur als zu erklärende soziale und historische Kreationen verstanden werden (ebd.). Aus dieser Perspektive sollen nicht autonome lokale Kulturen der homogenisierenden Bewegung der kulturellen Globalisierung entgegengesetzt werden. Es werden vielmehr Wege gesucht, in denen dominante kulturelle Formen innerhalb eines Feldes von Machtbeziehungen, welche die Lokalitäten mit der weiten Welt verbinden, aufgenommen, genutzt, transformiert und angeeignet werden. Auch das Lokale kann dann nicht mehr als gegeben hingenommen werden ohne zu fragen, wie die Wahrnehmung, Reproduktion und Transformation von Lokalität und Gemeinschaft diskursiv und historisch konstituiert ist. Innerhalb der Disziplin wurde die Orientierung an transnationalen Beziehungen und Globalisierung – wenn auch nicht unbedingt in der Gupta`schen Ausprägung – zu einem neuen Paradigma und die Moderne mit ihren globalen Vernetzungen sowie die Transformation des Lokalen durch globale Einflüsse rückten ins Zentrum des Faches, welches bisher für die Beschäftigung mit nicht-industrialisierten und sogenannten „primitiven“ Kulturen bekannt war. Gleichzeitig kann aber nicht übersehen werden, dass viel der ursprünglichen Globalisierungseuphorie und den damit verbundenen Hoffnungen der 90er Jahre einer 3 kritischeren Einschätzung gewichen ist. Spätestens seit 9/11 und den folgenden Kriegen scheint deutlich geworden zu sein, dass Globalisierung keine Vereinheitlichung von Ideen, Auffassungen und Zielvorstellungen herbeiführt, sondern auch neue Radikalisierungen und Konfliktlinien produzieren kann. Die aktuelle ökonomische Krise scheint endgültig die Grundlagen der Hoffnungen der 90er Jahren in Frage zu stellen. Nicht zufällig findet man etwa in den letzten Ausgaben renomierter Zeitschriften wie z.B. die Zeit Titel und Aussagen wie „Die Globalisierung geht rückwärts“ (Bota, et al 2009) oder „Warum Entglobalisierung gut sein kann“ (Joffe 2009). Trotz der Fokussierung auf die zunehmende Vernetzung und Intensivierung globaler Ströme sind viele Errungenschaften der Globalisierung ein Minderheitenprogramm geblieben. Nach dem aktuellen Human Development Index1 (2007/08:274 ff.) wird deutlich, dass selbst nach einer 20 jährigen boomenden Entwicklung des Internets 86% der Weltbevölkerung über 15 keine Internetnutzer sind. In Ländern Lateinamerikas mit einem hohen Anteil an Internetnutzer (Brasilien, Argentinien, Chile) liegt der Anteil zwischen 17 und 19,5%. Die Schlusslichter der Internetnutzer in Lateinamerika bilden hingegen – neben dem Sonderfall Kuba – Nicaragua, Paraguay, Ecuador und Bolivien mit Raten von 1,7-5,2% der Bevölkerung, während in Island 86,9% der Bevölkerung über 15 das Netz nutzen. Ähnliche Unterschiede zeigen Zahlen des Zugang zu und des Besitzes von Telefonen oder Handys, oder jene in Bezug auf die internationale Mobilität2 (vgl. auch Halbmayer, Mader 2004). Letztere zeigen, dass der Großteil der Weltbevölkerung immer noch lokal bzw. bestenfalls regional verankert ist. Auch wenn diese Lokalitäten ständigen Veränderungen unterworfen und – in unterschiedlichem Ausmaß – von globalen Einflüssen durchdrungen sind, scheint die "Generalisierte Bedingung der Heimatlosigkeit", die Gupta und Ferguson unter Bezug auf Edward Said (1979) als allgemeine Kondition der Welt konstatieren, vor diesem Hintergrund wenig fundiert. Wenn man heute die Klassiker der anthropologischen Globalisierungsliteratur liest, ich denke hier z.B. an Beiträge von Ulf Hannerz (1987, 1992, 1996) oder Arjun Appadurai (1996), dann wird folgendes deutlich: - Einerseits eine allzu einseitige Fokussierung auf globale Flüsse, - Eine oftmalige Ausblendung der Themen Macht und Ungleichheit, 1 Human Development Report 2007/08: http://hdr.undp.org/en/media/HDR_20072008_EN_Complete.pdf Wie die Zahlen zur Mobilität zeigen, sind von 100 Personen 1998 in Lateinamerika und der Karibik 5,7 ins Ausland gereist, in Afrika südlich der Sahara nur 1,5, während es in den USA 28 und in Europa 40 waren. 2 4 - Eine daraus resultierende, einseitige Betonung der globalen Integration bzw. Inklusion im Gegensatz zu den zahlreichen Exklusionsbereichen, aber auch den neuen Essentialisierungen, ethnischen Konflikten und Nationalismen, die sich z.B. gleichzeitig auf dem Balkan, in Osteuropa und im Kaukasus entwickelten, - Eine Abwendung von der mikroanthropologisch fundierten Frage nach Bedeutung und der Analyse lokaler Weltbilder und Handlungspraktiken. - Dennoch haben diese Arbeiten wichtige theoretische Neupositionierungen in Bezug auf das Konzept der Kultur und deren Verortung angeregt und führte die Betonung makroanthropologischer, transnationaler Beziehungen zu einem Wandel der Disziplin, sowohl des Gegenstandesbereiches wie der Methoden. Die Frage der Ökologie, der Umwelt hat jedoch – obwohl es sich wahrlich um ein globales Problem handelt – bis jetzt, soweit ich sehe, im globalisierungstheoretischen anthropologischen Diskurs keine zentrale Rolle gespielt. Lassen sie mich den Wandel des Gegenstandsbereiches für ausgewählte Phänomenbereiche der Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas veranschaulichen – jenes Regionalgebiet, das insbesondere mit der Marburger Völkerkunde verknüpft ist und für das der Standort Marburg ganz besonders ausgewiesen und anerkannt ist. So hat die Karibik eine neue Stellung vor dem Hintergrund sich wandelnder, anthropologischer Interessen erfahren. Von einer lange vernachlässigten Region mit niedrigem Prestige, die nicht anders genug war und nur uninteressante, hybride kulturelle Formationen hervorbrachte, wurde sie zu einem bevorzugten Forschungsgebiet. Kreolisierung, Mestizisierung, religiöser Synkretismus und hybride, kulturelle Formen werden heute nicht mehr als „uninteressant“ oder als nicht genug „anders oder rein“ verstanden, sondern vielmehr als Ausdruck kultureller Innovation und Kreativität, aber auch – im Sinne Homi Bhabhas (2000) – als widerständige subversive Formen betrachtet, die das koloniale System von Innen heraus unterlaufen und aushebeln. Insbesondere die Karibik, wo die indigene Bevölkerung fast völlig verschwunden ist, wird in dieser Perspektive zum – nicht unumstrittenen (Palmié 2006) – Labor und Vorreiter, zu einem „Master Symbol“, wie Aisha Kahn (2001) meint, für eine globalisierte Welt und gleichzeitig zu einer „open frontier“ (Trouillot 1992), insbesondere der postkolonialen Theoriebildung. Aber nicht nur die Wahrnehmung der Karibik und der kreolisierten Populärkultur hat sich verändert, sondern auch die Betrachtung der indigenen Gruppen. In der transnationalen Anthropologie wurde die Beschäftigung mit indigenen Gruppen zu einer wenig attraktiven, einem theoretisch weitgehend uninteressanten Ausdruck der klassischen Anthropologie, die 5 sich mit primitiven, nicht industrialisierten Gesellschaften und Kulturen beschäftigt. Anthropology at home, das Fremde vor der eigenen Haustür, oder die Untersuchung sogenannter „Nicht-Orte“ (Augé 1995) wie Flughäfen, wurden zu weit attraktiveren Themen als eine Feldforschung in Papua Neuguinea oder Amazonien, die zunehmend im Verdacht standen, Exotismen zu reproduzieren und Othering zu betreiben. Ja, es besteht durchaus die realistische Gefahr, dass schon die Beschreibung der Schwierigkeiten und Anstrengungen einen solchen Feldforschungsort zu erreichen, nicht als Teil der Beschreibung eines Forschungsunternehmens verstanden, sondern auf eine literarische Strategie reduziert wird, welche zu nichts anderem dient, als die Authentizität des Dort-seins dem Leser zu vermitteln und die Distanz zwischen diesem und dem fremden Anderen möglichst groß werden zu lassen, d.h. Othering zu betreiben und einem Exotismus zu huldigen. Dass die Distanz wirklich groß sein könnte und es auch darum gehen könnte, kulturelle Differenz und das Recht auf kulturelle Differenz anzuerkennen, kommt dieser Kritik, der solche Erfahrungen und Anstrengungen oft fremd sind, selten in den Sinn. Was rückt in den Blickpunkt, wenn man translokale Flüsse und Vernetzungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt? Was heißt dies für den empirischen Nachvollzug der Transformation auch indigener Kulturen? Und was bedeutet es, wenn diese Transformationen nicht immer nur zu stärkerer Vernetzung und intensivierten translokalen Beziehungen führen, sondern auch mit Genozid und Komplexitätsverlust, Fragmentierung und Atomisierung einhergehen, Prozesse, die letztendlich jene kleinen Gesellschaften etabliert haben, die schließlich im 20. Jhd. als ursprünglich beschrieben wurden? In der Amazonischen Anthropologie wurden lange – insbesondere aus der kulturökologischen wie der strukturalistischen Perspektive, aber auch in der strukturfunktionalistischen Auffassung – die indigenen Kulturen ahistorisch, als Völker ohne Geschichte, konzipiert. Erst die modernistische Umwälzung und Transformation von Menschen und Natur schien Geschichte zu etablieren. In der klassischen kulturökologischen Perspektive war Amazonien etwa ein counterfeit paradise (Meggers 1971): ursprünglich, rau, mit äußerst beschränkten Ressourcen ausgestattet, was den Boden, das Wild, Protein, die domestizierbaren Tiere betrifft. Dieses falsche, ressourcenarme, nur scheinbare Paradies limitierte – so die damals dominante Auffassung des Umweltdeterminismus – die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung, erlaubte eine nur geringe Bevölkerungsdichte, führte zu kleinen Siedlungsstrukturen, verhinderte die Ausbildung sozialer Differenzierung und Hierarchie. In dieser Konzeption waren diese Umweltbedingungen direkt für die kleinen indigenen Gruppen verantwortlich, die 6 man aus dem 18., 19. und 20. Jhd kannte. In dem resultierenden Bild der Indigenen waren diese ökologisch gut angepasste Vertreter einer oft präkolumbianisch gedachten „Vorzeit“, die es geschafft hatten in Rückzugsgebieten und den Tiefen der Amazonischen Wälder zu überleben. Andere Positionen, wie z.B. der Strukturalismus, verstanden die indigenen Kulturen des Tieflandes ebenfalls als ahistorische, kalte, geschichtslose Gesellschaften. Damit stand die Beschäftigung mit Amazonien auch disziplinär jener mit dem geschichtsträchtigen Hochland Südamerikas, den andinen und mesoamerikanischen Hochkulturen, der sich die Altamerikanistik widmet, diametral gegenüber. Dieses klassische Bild ahistorischer indigener Kulturen wurde jedoch durch den historical turn in der Amazonischen Anthropologie in Frage gestellt, der ja in Deutschland – etwa in Bonn – frühe Vorläufer hatte. In Bezug auf die Ökologie wird diesem Bild heute eine historische Ökologie (Balée 1998, 2006) gegenübergestellt, die nicht von einer einseitigen Umweltdeterminierung der Kulturen ausgeht, sondern zeigt, wie auch indigene Kulturen die Umwelt transformieren, dass solche Transformationen z.B. zur Erhöhung von Biodiversität führen können und historische Umwelttransformationen neben archäologischen Erkenntnissen zur Rekonstruktion der Amazonischen Kulturgeschichte beitragen können. Archäologische, kultur- und ethnohistorische Befunde machen deutlich, dass im Vergleich zu den im 20 Jhd. dokumentierten Gruppen zu präkolumbianischer Zeit komplexere Gesellschaften existierten, die heute in anthropogenen Savannen, manipulierten Flussläufen, massiven Erdmonumenten und anthropogenen Tierra Prieta, d.h. Schwarzerdevorkommen, nachweisbar sind (Roosevelt 1987, 1994; Cleary 2001; Raffles und Winkler Prins 2003; Balée 1998). Erst die Zerstörung dieses indigenen Reichtums etablierte eine scheinbar ursprüngliche Natur entlang entvölkerter amazonischer Flussläufe und kleine, weit verstreute Siedlungen, wie wir sie etwa aus den Reisebeschreibungen von Spix und Martius (1823) kennen, und die sich so sehr von den Beschreibungen des 16. Jhd von Francisco Orellana (1542, Carvajal 1992), Pedro de Ursua und Lope de Aguirre (1561 – Vázquez 1987) unterscheiden, dass letztere lange Zeit für völlig unzuverlässig gehalten wurden. Weiter haben Konquista und Kolonialismus nicht nur komplexere Gesellschaften zum Verschwinden gebracht, sondern früher periphere Gruppen konnten eine temporäre lokale Dominanz und Machtstellung erreichen. Die Konquista und der Kolonialismus produzierten also nicht ausschließlich Verlierer, Genozid und Ethnozid der indianischen Bevölkerung, 7 sondern boten für einzelne Gruppen auch neue Chancen der Entwicklung. So zeigen etwa die ethnohistorischen Arbeiten Neil Whiteheads (1988), wie die traditionellen Handels- und Beziehungsnetzwerke durch den europäischen Einfluss transformiert wurden und vormals marginale Gruppen, wie die Kariña, zu dominantem Einfluss in der Region kamen. Als weiteres, aber nicht singuläres Beispiel für die Vielfalt lokaler Entwicklungen möchte ich die Akuriyo nennen (vergl. Halbmayer 2007). 1968 wurde im Grenzgebiet von Französisch Guiana und Surinam eine Gruppe nomadisierender Jäger und Sammler kontaktiert, eben die Akuriyo. Die Entdeckung dieses „primitiven steinzeitlichen Stammes“ (Geijskes 1970: 279; siehe auch Boer 1970; Schoen 1969) war eine Sensation in einer Region, in der alle anderen indianischen Gruppen Brandrodungsfeldbau betrieben, feste Dörfer hatten und die meisten Gruppen seit Mitte der 1950er Jahre zumindest punktuell missioniert wurden (z.B. Trio, Waiwai, Wayana). Wie sich auf Grund von Oraltraditionen und Archivforschungen herausstellte, hatten die Akuriyo aber noch im 17. und 18. Jhd. wie alle anderen Indigenen der Region Landwirtschaft betrieben. Dabei hatten sie mit lokalen Maroons, d.h. geflohenen schwarzafrikanischen Sklaven, die im Landesinneren eigene Gesellschaften bildeten, Handelsbeziehungen unterhalten, um Eisenwerkzeuge zu erweben. Diese Handelsbeziehungen kamen zu einem Ende, als vom Amazonas aus Gruppen nach Norden zu wandern begannen, die sich selbst von den eindringenden Europäern zurückzogen. Als Reaktion auf die dadurch resultierenden Konflikte, Kriege und Hexereianschuldigungen, denen vermutlich die Ausbreitung von Krankheiten zu Grunde lag, haben sich die Akuriyo von den Flüssen in den Wald zurückgezogen. Dies brachte ihre Handelskontakte zum Erliegen. Als Konsequenz begannen die Akuriyo nicht etwa wieder mit Steinwerkzeugen den Wald zu roden, sondern gaben die Landwirtschaft auf und wurden zu nomadisierenden Jägern und Sammlern (Halbmayer 2007). Weit davon entfernt, primitive, steinzeitliche Jäger und Sammler zu sein, sind die Akuriyo also ein indirektes Produkt der europäischen Expansion, der Durchdringung der Region mit Eisenwerkzeugen, der Etablierung von Handelskontakten zwischen indigenen Gruppen und entflohenen schwarzen Sklaven (Maroons), sowie der zunehmenden Erschließung des Amazonas und seiner Nebenflüsse und den resultierenden Migrationen. An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass weiterhin nicht-kontaktierte Gruppen im Amazonas existieren und die brasilianische Indianerbehörde FUNAI eine eigene Abteilung für nichtkontaktierte Gruppen unterhält3. Sie hat über 60 Regionen identifiziert, wo Aktivitäten solcher 3 http://pib.socioambiental.org/pt/c/no-brasil-atual/quem-sao/isolados:-historico 8 Gruppen nachweisbar sind4. Diese Gesellschaften sind aber keine präkolumbianischen Survivals, sondern, wie an Hand der Akuriyo gezeigt wurde, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Resultat der Auseinandersetzung mit der Konquista, dem Kolonialismus und den Transformationen, die durch das Eindringen der Europäer auch in entfernten Regionen ausgelöst wurden. Vielmehr existierten und existieren vielfältige multilinguale Formen indigener Sozialität bis heute (vgl. Halbmayer 2007). Die den Kontinent durchziehende translokale Netzwerke formieren sich klassischerweise insbesondere rund um Handel, Heirat, Rituale und schamanische Dienstleistungen, kommen heute aber auch in Form nationaler und transnationaler indigener Organisationen zum Ausdruck. Translokale Beziehungen und ausgeprägte Netzwerke sind also keine moderne Innovation, archäologisch lassen sie sich auch für das präkolumbianische Südamerika nachweisen. Im Gegensatz zu diesen aktuellen Erkenntnissen steht das traditionelle Bild ahistorischer und abgeschlossener, indigener Einheiten. Aus dieser Perspektive konnte erst die modernistische Umwälzung von Natur und indigenen Gesellschaften Geschichte etablieren, eine Geschichte der Zerstörung und des Pessimismus der traurigen Tropen (Lévi-Strauss 1978), in deren Folge die Indigenen zu Opfern des Fortschritts, der Missionierung und der Moderne wurden und an deren Ende nur zwei Optionen zu stehen schienen: Extinktion oder Assimilation (Ribeiro 1967: 90, 1970). Wenn man aber den unglaublichen Wandel vom Pessimismus der traurigen Tropen, der alarmierenden Bestandsaufnahme zur Situation der Indios in Lateinamerika Anfang der Siebziger Jahre (Dostal 1972; Münzel 1973, 1974) mit heute vergleicht, so werden deutliche Unterschiede sichtbar. Aktuelle Diskurse zu Südamerika in den Kultur- und Sozialwissenschaften thematisieren heute die erfolgreichen indigenen Bewegungen, die in vielen Ländern zu einem signifikanten politischen Faktor geworden sind (Warren et al. 2002, Jackson et al. 2005, Langer 2003), die Lateinamerikanischen Nationen, welche sich heute offiziell als pluriethnisch definieren (Van Cott 2004), das rasche demographische Wachstum der indigenen Gruppen in Amazonien (McSweeney 2005), die Erfolge, wenn es darum geht, Landrechte und kulturelle Autonomie zu garantieren (z.B. Stocks 2005, Diaz Polaco 1997, Van Cott 2001, Kuppe 2004), ja sogar Prozesse der Re-indigenisierung5. Indigene Gruppen wurden selbst zu globalen Akteuren, haben eine internationale indigene Bewegung geschaffen 4 5 http://pib.socioambiental.org/pt/c/no-brasil-atual/quem-sao/onde-estao-os-isolados http://pib.socioambiental.org/en/c/no-brasil-atual/quem-sao/Indios-emergentes 9 und sich Raum innerhalb des internationalen politischen Systems erarbeitet (Brysk 2000, Mühlebach 2001, Martin 2003). Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die Situation der Indigenen von einer bedrohten, rechtlosen, scheinbar dem Untergang geweihten Minderheit, auf die straflos Menschenjagden veranstaltet werden konnten, zu einem Teil der anerkannten, kulturellen Vielfalt mit garantierten Rechten gewandelt und heute werden die Indigenen – wie immer man eine solche Entwicklung auch einschätzt – unter den Begrifflichkeiten des Ethnosocialismo oder des Socialismo Indigena sogar zur ideologischen Grundlage neuer Staatsmodelle, z.B. in Ländern wie Bolivien, Venezuela oder Ekuador. Lassen Sie mich kurz resümieren: wir sehen also, wie die transnationale Anthropologie einerseits die Beschäftigung mit der Karibik und kreolisierten, hybriden Phänomenen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, und eine „world in creolisation“, wie Hannerz (1987) formulierte, zu ihrem Aufgabenbereich macht. Andererseits wurde die Beschäftigung mit indigenen Gruppen zu einer wenig attraktiven, zu einem theoretisch weitgehend uninteressanten Ausdruck einer aus dieser Perspektive veralteten und zu überwindenden Anthropologie. Eine solche Position schreibt jedoch angesichts der theoretischen, wie politischen Entwicklungen – ungerechtfertigter Weise, wie ich meine – die sonst kritisierten Konzeptionen von ahistorischer, abgeschlossener und homogener Kultur im Bereich der Indigenen fort und betreibt somit eine Exklusion des klassischen Gegenstandes der Disziplin. Gleichzeitig darf aber auch nicht übersehen werden, dass indigene Gruppen auf eine spezifische Art und Weise mit ihren Territorien und ihrer Umwelt in Beziehung stehen, die sie von benachbarten Siedlergemeinschaften unterscheidet, und dass im politischen Diskurs die modernen Indigenen Führungspersönlichkeiten durchaus die Wirkung essentialisierender Argumentationsstrategien erkannt haben und gelernt haben, sich als Vertreter und Hüter millenaristischen Traditionen darzustellen und zu inszenieren, ihr Wissen und ihre Verbundenheit mit dem Territorium ins Zentrum zu stellen und sie strategisch einzusetzen, wenn es gilt, Ansprüche geltend zu machen und durchzusetzen. Damit komme ich zur Frage der lokalen Bedeutungen, der indigenen Weltbilder und Kosmologien, die ich an Hand ausgewählter Carib-sprechender Gruppen, eine der großen Sprachfamilien Amazoniens, veranschaulichen will. Was kann man in der gebotenen Kürze zu den erwähnten, irritierend anderen und widerspenstigen Entwürfen der Welt, mit denen wir hier bis heute konfrontiert sind, sagen? Was sind Konzepte des Seins, der Person, aber auch von Sozialität, die diesen zu Grunde liegen? 10 Im Allgemeinen gehen die Carib-Sprecher von der Existenz geschichteter, koexistierender, miteinander verbundener Welten aus. Eine oder mehrere Himmelswelten, eine oder mehrere Unterwelten mit den jeweils entsprechenden Wesenheiten, eine Wasserwelt. Die Yekauna unterscheiden acht Himmelswelten und drei Unterwelten. Diese Welten sind auch in diese sichtbare Welt eingeschrieben und der unsichtbare Teil dieser Landschaft ist durch Übergänge miteinander verbunden. Abb. 1: Die Welt und die acht Himmel nach einer Zeichnung von Pedro Matakuni (12 Jahre) (aus Barandiarán 1979: 137) Diese Grunddifferenzierung der Welt in ko-existierende Welten reproduziert sich auch häufig in den Personen, in Form multipler Seelenvorstellungen, aber auch in der Unterteilung des Körpers. Die Yekuana sind das beste Beispiel für multiple Akato „Seelendoppel“ der Person. Sie unterscheiden sechs Akato Seelen, von denen nur zwei im Körper lokalisiert sind, nämlich die Herz Seele (ayewana akano akato) und die Augenseele (ayenudu akano akato), welche nach dem Tod in den Himmel zurückkehren und für das Träumen verantwortlich sind. 11 Daneben gibt es noch Seelen im Mond (nuna awono akato), in der Sonne (shi awono akato), im Wasser und auf der Erde (Guss 1989). Abb. 2: Der Yekuana Kosmos, gezeichnet von Dawasehuwa (aus Civrieux 1985: 57) Diese verschiedenen spirituellen Aspekte der Person reproduzieren Teile der kosmologischen Struktur und setzen Menschen mit verschiedenen Ebenen des Kosmos in Verbindung. Selbiges kann durch die Unterteilung des Körpers in Torso, Kopf und Extremitäten ausgedrückt werden, welche mit verschiedenen Ebenen der Welt in Beziehung stehen und auch im Tod unterschiedliche eschatologische Schicksale haben können, wie Teixeira-Pinto etwa für die Arara zeigt (Teixeira Pinto 1997). 12 Abb. 3: Die ursprüngliche Kosmographie der Arara (aus Teixeira Pinto 1997:134) imnu- Himmel, epi-Erde (Himmelshaut), wapara-Wasserwelt Abb. 4: Die Bestimmung der Teile des Körpers (aus Teixeira Pinto 1993: 60) Heute ist die Existenz von über den Menschen hinausgehenden sozialen Beziehungen in Amazonien eines der großen Themen der Reflexion und Debatten. Die Austauschbeziehungen, die zwischen den Menschen stattfinden, sind in diesem Verständnis immer nur ein spezifischer Ausdruck von den über den Menschen hinausgehenden Beziehungen, z.B. mit den Toten, Feinden, Tieren, spirituellen Wesenheiten, die ebenso als Personen konzipiert sind und sich selbst als Menschen sehen. Was bedeutet dies alles für zentrale Begrifflichkeiten, wie Mensch, Person, Gesellschaft, Natur und Kommunikation? Auch wenn die Existenz dieser über die Menschen hinausgehenden Beziehungen allgemein akzeptiert ist, ebenso, dass amazonische Kosmologien nicht auf unserer Unterscheidung von 13 Kultur und Natur beruhen, so werden ihr Status und die ihr zugrunde liegenden Werte kontrovers diskutiert. Personen werden heute auch im indigenen Amazonien als Dividuen – ein Ausdruck Marilyn Stratherns (1988), der im Gegensatz zu den unteilbaren Individuen steht – konzipiert. Allerdings nicht als intrinsische Personen, die Geschlechterbeziehungen und Tauschverhältnisse zwischen Männern und Frauen wie in Melanesien reproduzieren, sondern – wie Vilaça es im Gegensatz zum Strathernschen Dividuum formulierte – in Amazonia „we are faced with dividuals conveived as human and non-human“ (2005: 453). Wie kann man sich solche menschlich/nicht-menschliche Personen vorstellen? Personen können die kosmologische Differenzierung reproduzieren. Darüber hinaus spielen bei der Formation bzw. der Fabrikation der Personen auch permanente Prozesse der Hinzufügung bzw. des Verlustes eine zentrale Rolle. Diese sind einerseits notwendige Vorraussetzungen für die Formation menschlicher Personen, andererseits gilt es aber auch, nicht erwünschte Verluste oder Hinzufügungen zu vermeiden. Dies kommt in spezifischen Tabus und den Vorstellungen, die Zeugung, Geburt, Initiation oder Tod begleiten, zum Ausdruck. Solche Personen unterhalten also unterschiedliche Beziehungen zu den Ebenen des Kosmos und der Tier- und Pflanzenwelt sowie den spirituellen Wesenheiten. Je nach Situation ist es notwendig, solche Kontakte und Beziehungen bewusst herzustellen und zu unterhalten oder aber ebenso bewusst zu unterbinden. Dies gilt nicht nur für zentrale Lebensabschnittsphasen, sondern auch in Bezug auf Krankheit und den alltäglichen Umgang mit dem, was wir Natur nennen (Halbmayer 2007). Lassen Sie mich versuchen, diese Konzeptionen, insbesondere der Umwelt, an Hand eines Bildes zu vermitteln. Es handelt sich um ein Bild des venezolanischen Künstlers Antonio Briceño, dessen Bilder letztes Jahr im Iberoamerikanischen Institut in Berlin ausgestellt waren. Briceño erschafft mit seinen digitalen Bildkonstruktionen künstlerische Formen und Visualisierungen von indianischer Kultur, Natur und Landschaft, indem er bis zu sechs einzelne Fotographien digital zusammensetzt. Ich werde ein Werk Briceños aus einem größeren Zyklus als Ausgangspunkt nehmen, um den angesprochenen Zusammenhang von Kultur, Natur und Landschaft zu thematisieren. Der Zyklus Götter Amerikas besteht aus Portraits markanter indigener Personen vor dem Hintergrund imposanter Landschaften und Naturphänomene, Berge, Wüsten, Wolken, Wälder (www.antioniobriceno.com). Die Bedeutung der Darstellung lässt sich aber erst durch das im Bild selbst Unsichtbare, den Titel erahnen. Diese Titel weisen die dargestellten Personen einerseits als Götter, Schöpfer, Besitzer, Geister oder Verwandte (Brüder, Schwestern, Mütter oder Väter) der Naturphänomene aus und andererseits wird der indigene Name dieser Götter, 14 Kulturheroen und spirituellen Wesenheiten genannt. Es handelt sich also um Visualisierungen zentraler mythischer Figuren aus den Kosmologien und Schöpfungsgeschichten der jeweiligen indianischen Kulturen. Es sind sowohl abwesende Götter und Kulturheroen, die in mythischer Vorzeit aktiv waren, heute aber in diese Welt nicht mehr intervenieren, als auch Besitzer, HerrInnen von Tieren, Pflanzen, Orten oder gefährliche Geister, die Teil der heutigen Welt sind und in der Auseinandersetzung mit dem, was wir Natur nennen, eine zentrale Rolle spielen. Auf dem Bild, welches ich ausgewählt habe, sieht man den Oberkörper und den Kopf eines jungen Pemon Indianers vor der Savannenlandschaft der Gran Sabana im Süden Venezuelas mit einigen für sie typischen Tafelbergen. Das Bild Briceños trägt den Titel Makunaima, Lehrling des Schamanen. Abb5: Antonio Briceño Makunaima Aprendiz de Chamán, 2003 Cibachrome Vor dem Hintergrund der Mythen und der Kosmologie der Pemón, die schon von Theodor Koch-Grünberg – dessen Nachlass sich ja am Marburger Institut befindet – so eindrucksvoll dokumentiert wurde, eröffnet sich die Möglichkeit, in diesem Bild mehr zu sehen als bloß Grassavanne, Tafelberge und einen Menschen. Denn dieses mythische Wissen und die in ihm verankerten Grundannahmen des Seins konstituieren die Bedeutung der Welt und in diesem Fall des Werkes mit. Sie legen fest, was man sieht, auf ihnen basieren die großteils unbewussten Grundannahmen über die Wirklichkeit. Der westliche Betrachter mit seinem naturalistischen Weltbild, der davon ausgeht, dass Natur existiert, da ist und es sich um einen Bereich handelt, der ohne das Zutun des Menschen eigenen Ordnungen, natürlichen Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten folgt, kann nicht anders als bei der Betrachtung in einem solchen Bild imposante Natur und exotische fremde Kultur zu sehen. 15 Makunaima und seine Geschwister sind die Kinder aus einer Verbindung der Sonne und einem Wasserwesen. Makunaima ist der tricksterhafte Kulturheroe, mächtiger wenn auch weitgehend amoralischer Transformer und idealtypischer Schamane, ein ganzer Mythenepos berichtet von seinen z.T. absurden Taten. Diese Geschwister erschaffen bzw. erlangen das Feuer, die Jagd, Fischfang, die Landwirtschaft und die Utensilien und Früchte, die dafür notwendig sind. Sie werden dabei gefressen und verschlungen, verhungern fast, lösen eine Flut aus, ein Bruder – noch ein Kind – betrügt den anderen mit seiner Frau, der Ältere zaubert Häuser von der Ebene auf die Berge und retour, einer ist bereits in Stücke zerschnitten im Topf über dem Feuer, um gekocht zu werden und wird wiederbelebt (vergl. z.B. Koch-Grünberg 1916). U.a. fällen die Kulturheroen den zu Beginn existierenden riesigen Lebensbaum, von dem alle Früchte stammen und lösen dadurch eine Flut aus. Koch-Grünberg schreibt: „Der Baum brach ab. Er fiel auf den Baum elu-yég und auf den Baum Yuluwazāluíma- yeg. Makunaima schlug auch diese Bäume um. [Die Stümpfe bilden heute die Gebirge elū-tepe und Yuluwazāluimá-tepe. Der Stumpf des Baumes Wazāká bildet heute den Roroíma. Alle diese Gebirge haben dieselbe Gestalt und sind sehr hoch.] Die Bäume fielen alle auf die andere Seite. Deshalb gibt es dort noch heute viele Bananen, Mais, Baumwolle und viele Früchte, die nicht gepflanzt sind, sondern im Walde wild wachsen. Der Baum Wazāká fiel über den Caróni, und so liegt er noch heute. [Heute ist er ein Felsen, der den Caróni durchquert. Er bildet den hohen Fall Wazāká-melu, an dem die Boote ausgeladen und über Land geschleppt werden müssen.]“ (Koch-Grünberg 1916: 35) Es gibt noch heute viele Bananenhaine im Wald, die niemand gepflanzt hat … Sie gehören den Mauarí (Bergdämonen). Alle Gebirge dort sind ihre Häuser. So sagen die Zauberärzte, die allein die Mauari sehen und mit ihnen sprechen können. Der stehengebliebene Baumstumpf (yei-píape) ist der Roroima. Als Ma'nápe den Baum umgeschlagen hatte, drang viel Wasser daraus hervor, und es kamen viele Fische heraus...“ (Koch- Grünberg 1916: 38). Soweit Koch-Grünberg. Vor dem Hintergrund dieses Wissens sieht man also nicht nur Savannenlandschaft und Tafelberge, • Man sieht die Folgen der Taten Makunaimas, • Man sieht die Reste der Weltenbäume, die die Erde mit dem Himmel verbanden, 16 • Man hat eine Erklärung für Wasserfälle und Besonderheiten der Fauna und Flora. • Die Ausführungen referieren, wenn auch nur implizit, auf eine Konzeption der Welt, die aus mehreren koexistenten und miteinander verbundenen Welten besteht. Dieser Welt, einer Himmelswelt, welche von Wasser umgeben sind, dem Meer und dem Himmelswasser, wobei der Himmelsbaum, die Himmelsstütze, eine Verbindung darstellte, in dessen Inneren Wasser und Fische zirkulieren. • Und man sieht die Häuser der Mawari, der Geister, die in den Bergen leben. In diesen Bergen befinden sich unzählige Zimmer und in jedem lebt eine Mawari Familie. „Die Pemones vergleichen diese Siedlungen mit Urbanisationen. Die Eingänge sind Öffnungen in der Erde und unter dem Wasser, wie Löcher oder Höhlen (…)“ (Butt Colson und Armellada 1990: 20). Es erschließt sich eine Landschaft, die als materieller und visueller Beweis der Mythen fungiert und ihre Existenz den Resultaten mythischer Taten verdankt. Wir haben mit dieser Landschaft ein Kommunikations- und Erinnerungsmedium vor uns, in welches Mythen, Geschichte und soziale Beziehungen eingeschrieben sind – um mit Jan und Aldeia Assmann (1992, 1999) zu sprechen: wir haben es mit einer Form des kulturellen Gedächtnisses zu tun. Der Junge steht also vor den Wohnungen der Geister, vor der Verbindung zum Himmel, vor den Resten des Baums der Fruchtbarkeit und wird als Makunaima, Schüler des Schamanen, bezeichnet. Es ist die von Philippe Descola (1996) so genannte symbolische Ökologie, die nach den symbolischen Ökonomien des Austausches fragt, der Reziprozität, des Schutzes und der Predation zwischen Menschen und Nicht-Menschen und dem westlichen Naturalismus Ontologien entgegenstellt, die nicht auf unserer Trennung von Natur/Kultur basieren (Descola 1996, 2005). In diesem Zusammenhang werden der neue Animismus, der Totemismus, der Analogismus und natürlich der indianische Perspektivimus und Multinaturalismus international kontrovers diskutiert (Viveiros de Castro 1998, 2004). Gibt es nun Möglichkeiten, das Spannungsfeld zwischen Prozessen der Globalisierung und den transnationalen Flüssen von Personen, Waren, Geld, Ideen und Bildern einerseits und den trotz aller Globalisierung lokalen und irritierend anderen und widerspenstigen Entwürfen der Welt andererseits gewinnbringend zu verbinden? Ich denke man kann zumindest die Eckpunkte eines empirischen Programms skizzieren. In meinen Forschungen bin ich nicht nur mit Äußerungen und Manifestationen indigener Weltbilder konfrontiert, die sich auf die kosmologischen Konzeptionen und die spirituelle 17 Dimension derselben beziehen. Vielmehr darf der Aufwand, die Energie, welche indigene Gruppen investieren, um die westliche Welt – in ihren Augen – zu sozialisieren und sich anzueignen, nicht unterschätzt werden. Dabei sind sie mit verschiedensten Akteuren konfrontiert. Lassen sie mich dies veranschaulichen: Im Januar 2001 waren Nupe, ein Yukpa, meine Frau und ich nach mehreren Wochen in abgelegenen Dörfern in den Bergen der Sierra de Perijá nahe der venezolanisch/ kolumbianischen Grenze zu Fuß ins Tal zur Missionsstation unterwegs. Auf dem Weg begann Nupe über neue Personen und Ereignisse in dieser abgelegenen Region zu sprechen, nämlich der Präsenz der kolumbianischen Guerilla. Er beschrieb wie folgt die offensichtlich merkwürdigen Besonderheiten dieser für ihn neuen Menschen: sie gehen, so sagte er, in der Nacht durch den Wald und nicht wie normale Menschen untertags auf den Wegen. Sie sind schwer bewaffnet und – seltsam genug – dies gelte auch für die Frauen, die sich wie Männer verhalten; sie nennen sich compa, sagte er, ohne dass er zu wissen schien, dass es sich dabei um die Abkürzung von compañero handelt. Die Yukpa von Kanowapa, einem benachbarten Dorf, hatten sie aufgefordert, ihnen Essen zu geben. Sie nahmen alle Hühner mit, die sie Nupe zufolge roh aßen. In seinem Diskurs stellte er diese Eindringlinge als seltsame Menschen dar. Menschen, die keinen normalen menschlichen Aktivitäten während des Tages und der Nacht nachgehen, die kein angemessenes soziales Verhalten beim Besuch eines Dorfes an den Tag legen, die keine Gemeinsamkeit über den gemeinsamen Konsum von Nahrung mit den Gastgebern herstellen, die Haustiere aus dem Schutz des Dorfes in den undomestizierten Wald mitnehmen, wo sie, offensichtlich der Kochkunst nicht mächtig, da auch ohne die dafür notwendigen Geschlechterrollen, diese roh verzehren. Diese Leute waren in Nupes Vorstellung also weder Teil der Yukpa noch verhielten sie sich wie gewöhnliche nicht-indigene watia. Neben den Guerilleros kam eine große Anzahl von kolumbianischen Flüchtlingen zwischen 2000 und 2005 über die Berge in Richtung Venezuela mit ein paar Habseligkeiten und manchmal sogar ein oder zwei Kühen. Auch die nationalen Ebenen spielen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die aktuelle Situation vor Ort. Die vom "Plan Colombia" unterstützte Offensive des kolumbianischen Präsidenten Uribe gegen Drogen und die Guerilla hatte im Jahr 2003 einen Höhepunkt erreicht. Paramilitärs führten zu diesem Zeitpunkt im kolumbianischen César großangelegte Säuberungen durch, die in den Erzählungen der lokalen kolumbianischen Bevölkerung extrem präsent sind. Ausgerüstet mit vorbereiteten Listen umstellten sie Dörfer, durchsuchten Häuser, zwangen jene Leute, von denen sie annahmen, dass sie mit der Guerilla kooperierten, im besten Fall dazu, das Dorf zu verlassen oder töteten 18 sie sofort. Es kam zu zahlreichen Massakern und diese Zeit wird in César im wahrlich an traumatischen Ereignissen nicht armen jahrzehntelang vom Bürgerkrieg geschüttelten Land als „lo peor“, die schlimmste bezeichnet. In den Bergen hatten sich in der Mitte des Yukpa Gebietes auf der venezolanischen Seite der Grenze Guerillastützpunkte etabliert. In diesen Lagern war die Guerilla außerhalb des Einflussbereiches der kolumbianischen Regierung, auf vergleichsweise sicherem Gebiet. Es war ein Angriff auf eines dieser Lager – nicht in Venezuela, sondern in Ecuador – in der FARC Führer Raul Reyes und 16 weitere Personen am 1. März 2008 durch das kolumbianische Militär getötet wurden. Dies führte zu der größten diplomatischen Krise zwischen Venezuela, Ecuador und Kolumbien der letzten Jahrzehnte. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez Frías ließ verlautbaren, dass ein ähnlicher Angriff auf venezolanischem Gebiet ein Kriegsgrund wäre und mobilisierte Truppen entlang der Grenze. Die internationale Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien ist heute auch eine zwischen zentralen politischen Positionen und nationalen Ideologien, an der sich gegensätzliche Vorstellungen von Freiheit und Terrorismus ebenso scheiden wie Positionierungen und Loyalitäten innerhalb des politischen Weltsystems. Aber auch die Grenze zwischen indigenen und nicht-indigenen Interessens- und Einflussgebieten ist eine Zone des Konflikts. Es war Aristide, der Kazique der neu geschaffenen Gemeinschaft Guaicaipuro, der mich einlud, sein Dorf auf dem Gebiet einer ehemaligen Hazienda zu besuchen. Er zeigte mir die Reste ihrer Häuser, die von bezahlten Schergen der Großgrundbesitzer niedergebrannt worden waren. Sie schlugen die Yukpa, drängten sie auf Lastwagen, transportierten sie aus der Hazienda und warnten sie zurückzukommen. Im Juni 2008 eskalierten die Konflikte rund um neue Besetzungen. Das Militär intervenierte zur "Vermeidung von Blutvergießen" zwischen Großgrundbesitzern und Yukpa. Venezolanische Medien, Zeitungen, Nachrichtenagenturen und NGO's berichteten über diesen Konflikt in denen unterschiedlichste Auffassungen von Recht, Eigentum, der Revolution und der Rolle des Staates, der Großgrundbesitzer und der Indigenen aufeinanderprallten. Die Yukpa waren im Laufe des 20. Jahrhunderts durch die Ausbreitung der Rinderfarmen, aber auch durch Öl- und Kohleausbeutung, aus dem fruchtbaren Tiefland in die Berge gedrängt worden. Diese Entwicklung wurde zwischen 1950 und 1990 verlangsamt auf Grund der physischen Bedingungen der noch – vergleichsweise uninteressanten – verfügbaren Flächen, der Errichtung der Mission und der Einrichtung von Gebieten unter besonderer Verwaltung wie einem Nationalpark und einer indigenen Schutzzone. Aber erst seit 2001 hatte sich dieser Prozess nicht nur verlangsamt, sondern begann sich umzukehren: zahlreiche 19 Yukpa leben nun auch in den urbanen Zentren wie Machiques, Maracaibo und es begannen gezielte Invasionen von Haziendas und die Rekuperation von Grundstücken, die für viele Jahrzehnte in der Hand der Großgrundbesitzer gewesen waren. Den Rahmen dafür bildeten nach der bolivarianischen Revolution und der Verabschiedung der neuen Verfassung die neuen staatlichen Rahmenbedingungen und die neu definierte Rolle der Indigenen. Es ist jetzt hier nicht der Ort, eine Analyse dieser Ereignisse zu präsentieren. Vielmehr will ich danach fragen, wie diese heterogenen Akteure: Staat, Großgrundbesitzer, Missionen, Schutzzonen und die damit verbundenen Handelnden: Guerilleros, Flüchtlinge, NGO`s, Medien etc. und indigenen Organisationen sich mit den skizzierten Prozessen des Place makings in Beziehung setzen lassen. Lässt sich dadurch eine Position finden, welche die Tendenz unterläuft, bei der Darstellung der Anderen Othering und Exotisierung zu betreiben und gleichzeitig vermeidet, die Anderen unter unsere Konzepte zu subsumieren und zu nostrifizieren? Kann diesen Paradoxien im Zuge der Darstellung kultureller Differenz und unterschiedlicher Weltbilder eine ausgewogenere und kontrollierte Verankerung jenseits von Nostrifizierung oder Exotisierung entgegensetzt werden? Als Ausgangspunkt kann die These fungieren, dass Kultur als ein integriertes System von Bedeutungen in Zeiten kultureller De-Territorialisierung nicht mehr gegeben ist, d.h. sich auch lokal heterogene Kulturen gegenüberstehen, die trotz Austausch und Kontakt durch kein integriertes Bedeutungssystem inkludiert sind. Dass die Assoziationen von Raum, Mensch, Kultur zu erklärende soziale und historische Kreationen sind, kann als zweite These dienen. Worin bestehen aber die Assoziationen von Raum, Mensch und Kultur? Wie kann dieses Verhältnis operationalisiert werden? Eine mögliche Antwort darauf ist: - erstens gilt es, die lokale Konzeption, die Bedeutung dessen, was wir Natur bzw. natürliche Umwelt bzw. Welt nennen, zu erfassen. - zweitens gilt es, die Austauschverhältisse, Beziehungen, Transformationen und Aneignungsformen dieser Umwelt – die je nach Weltbild, wie ich versucht hatte zu zeigen, nicht rein materieller Art sein müssen – zu bestimmen und - drittens gilt es, nach der sozialen Organisationsform dieses Austausches und der Aneignungsformen zu fragen. Es ist davon auszugehen, dass diese drei Dimensionen nicht völlig individuell variieren, sondern dass es sich dabei in ihren Basisprinzipien um gruppenspezifische kollektive Konzeptionen und Praktiken handelt. Ich möchte argumentieren, dass das Zusammenspiel 20 dieser drei Dimensionen Topoi, Räume bzw. Orte konstituiert. Gebiete bzw. Örtlichkeiten im anthropologischen Sinn: als Produkt dieser Konzeptionen und Beziehungen zur Umwelt, wie der sozialen Organisationsformen, die ihnen zu Gunde liegen. Bei diesen Topoi handelt es sich nicht primär um physische Territorien. Nur auf ihre politische, ökonomische und geographische Dimension hin spezifiziert, könnte man auch von Territorien sprechen, in Bezug auf ihre kulturell/symbolische Dimension hingegen von Landschaft. Eine solche Konzeption von Topos umfasst nicht nur die ökonomisch-politischen, sondern auch die symbolischen und affektiven Beziehungen, die eine Gruppe mit dem Gebiet unterhält und die Formen der Identität, welche zwischen einem Gebiet und einer sozialen Gruppe existieren. Auf diese Art und Weise konzipiert wird deutlich, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen das gleiche physische Territorium verschieden konzeptionieren und divergierende Beziehungen zu diesem unterhalten können. Daraus resultieren unterschiedliche Topoi. Solche anthropologischen Topoi können sich überlagern, stehen einerseits in Konkurrenz, andererseits wandeln sie sich durch diese Konkurrenz und ihre Beziehungen untereinander. So können neue Technologien Eingang finden oder neue Produkte extrahiert werden, seien es Holz, Kautschuk, Paranüsse für body shop oder fair trade Guarana für den nächsten Energy Drink, und die Beziehungsformen und Bedürfnisse verändern. Neue Konzeptionen können sich durchsetzten, z.B. die Idee des Umweltschutzes, der nationalen Integrität oder der Sicherheit oder das Recht auf indigene Landtitel. Plantagenwirtschaft, Rinderfarmen oder Ayahuasca-Tourismus konstituieren in diesem Sinne ebenso neue Topoi, wie die Förderung von Bodenschätzen, Erdöl, Kohle oder Zinn. Man sieht, dass die Überlagerung, die Konfrontation solcher Topoi nicht nur zu Wandel und Transformation führt, sondern dass diesen heterogenen Topoi ein Konfliktpotential inhärent ist, das sich auf lokaler und regionaler Ebene konstituiert. Gleichzeitig entstehen Macht- und Beziehungsfelder, welche sich lokal gegenüberstehen, aber bei weiten nicht lokal oder regional beschränkt sind. Viele der Akteure und ihre Topoi stehen direkt mit nicht lokalen und regionalen Ebenen in Verbindung, sind Teil übergeordneter Netzwerke und Organisationsformen, die die Basisprinzipien ihrer Topoi auch an anderen Orten etablieren. Dies gilt für Firmen, ebenso wie für Missionare, NGO´s oder Staaten. Akteure können direkte Beziehungen zu solchen höher gelagerten Ebenen unterhalten, lokale und regionale aber auch nationale Ebenen überspringen, und direkte Verbindungen zu translokalen Ebenen aufbauen. Dies ist nicht neu: Jesuitische Dörfer im 17. und 18. Jhd., 21 standen etwa in direkter Beziehung zum global agierenden Jesuitenorden und umgingen weitgehend die koloniale Administration. Katholische Missionen in Venezuela im 20. Jhd. errichteten einen Staat im Staat, selbiges gilt heute für fundmentalistische US-Amerikanische Missionen im Hinterland Amazoniens, welche oft direktere Kontakte mit ihren Hauptquartieren in den USA als mit der jeweiligen regionalen oder nationalen Regierung unterhalten. Die Kautschuksammelterritorien des späten 19. Jhds. waren über die Kautschukbarone direkt mit dem internationalen Markt in London verbunden und umgingen zumeist die nationale Kontrolle. Selbiges ist heute oft bei transnationalen Firmen z.B. bei Erdölförderungsprojekten der Fall und gilt natürlich ganz besonders für den internationalen Drogenhandel. In allen Fällen existieren Beziehungen vorbei an staatlicher Kontrolle. Sie konstituieren aber bestimmte lokale und territoriale Konstellationen, denen Machtbeziehungen, Interessen und Widerstandspotentiale inhärent sind. Diese Prozesse führen und führten in Amazonien zu keiner einheitlich linear fortschreitenden colonial frontier. Vielmehr gestaltet sich diese vor dem Hintergrund spezifischer Topoi und neuer Akteure immer wieder neu, führen zu neuen Prozessen des Place makings und produzieren auch unterschiedliche Menschen und indigene Formationen, die es zu analysieren gilt. Eine solche Perspektive führt zu einer lokalen und regionalen Verankerung der Globalisierungsprozesse, erlaubt es, regionale Dynamiken und Transformationen nachzuzeichnen und die jeweiligen heterogenen Zugriffe auf die natürliche Umwelt zu analysieren. Sie geht von der lokalen Situation und den sich hier konstituierenden Konfliktlinien aus und stellt nicht global flows ins Zentrum, sondern bestimmt die empirische Relevanz derselben ausgehend von den Vernetzungen der lokal relevanten Akteure und ihren Konzeptionen der Welt. Eine solche Perspektive ermöglicht sowohl regionale und lokale ethnographische Analysen im globalen Kontext wie auch komparative Vergleiche entlang unterschiedlicher Regionen. Zum Beispiel: Was unterscheidet die Situation der Yukpa in Venezuela und Kolumbien? Oder diese von der Situation indigener Gruppen in Chiapas oder der Ogoni im Nigerdelta? Was bedeutet es für das Verständnis Amazoniens, wenn nicht nur die Indigenen, sondern auch die Plantagenwirtschaft, Erdölfirmen, Siedlergruppen oder Naturschutzprojekte erfolgreich sind? Man kann vergleichend nach Strategien des place makings einzelner Akteure, der Erdölfirmen, des Staates, der Missionare, der Touristen über einzelne regionale Felder hinweg fragen. Eine solche Strategie würde uns wegführen von einem allzu einfachen „wir und die Anderen“, weg vom Problem des Othering (Fabian 1983, Spivak 1985) und der Nostrifizierung (Stagl 1985; Mathes 1992) und der Trennung der Welt 22 in the West and the Rest. Es würde spezifische kulturelle Artikulationen und Weltbilder nicht in einem Gegensatz zu einer generalisierten Moderne oder den westlichen Vorstellungen stellen, sondern im regionalen Kontext verankern, kulturelle Unterschiede anerkennen und die daraus resultierenden Dynamiken und Konfliktlinien erforschen und vergleichend gegenüberstellen. Ich hoffe, hier an der Universität Marburg auch in enger Zusammenarbeit mit den anderen Fächern des Fachbereiches ein solches Forschungsprogramm entwickeln und ausbauen zu können, durch die Arbeiten unseres Fachgebiets die Relevanz und Aktualität einer Kulturund Sozialanthropologie zu veranschaulichen und damit in letzter Konsequenz auch zeigen zu können, das die Völkerkunde – wie sie in Marburg immer noch heißt – mehr ist als ein kleines Orchideenfach, das man sich in Zeiten enger Budgets – um es Wienerisch zu formulieren – „halt imma noch leistet“. Ich danke für ihre Aufmerksamkeit! 23 Literatur Appadurai, Arjun. Modernity at Large. 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