Elektronischer Sonderdruck für Die demographische Entwicklung in

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Der Urologe
Organ der Deutschen Gesellschaft für Urologie
Organ des Berufsverbandes der Deutschen Urologen
Elektronischer Sonderdruck für
A.W. Schneider
Ein Service von Springer Medizin
Urologe 2014 · 53:1136–1145 · DOI 10.1007/s00120-014-3544-y
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
A.W. Schneider · J. Fichtner
Die demographische Entwicklung in Deutschland
Herausforderung und Chance für die Urologie
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auch soziale und wissenschaftliche Netzwerke und
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www.DerUrologe.de
Leitthema
Urologe 2014 · 53:1136–1145
DOI 10.1007/s00120-014-3544-y
Online publiziert: 25. Juli 2014
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
Redaktion
A. Schroeder, Neumünster
J. Fichtner, Oberhausen
W. Bühmann, Wenningstedt/Sylt
A.W. Schneider1 · J. Fichtner2
1 Krankenhaus Salzhausen
2 Klinik für Urologie, Johanniterkrankenhaus Oberhausen
Die demographische
Entwicklung in Deutschland
Herausforderung und Chance für die Urologie
Nicht erst seit dem Demographiegipfel der Bundeskanzlerin im Oktober 2012 ist die demographische Entwicklung in Deutschland als politische, wirtschaftliche und medizinische Herausforderung identifiziert
worden. Die seit mehr als zwei Jahrzehnten geführte Diskussion um die
Anpassung der Rentenversorgung,
die Debatte um die Pflegeversicherung sowie der Diskurs um die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland spiegeln
längst die sich mehr und mehr abzeichnende Veränderung der Altersstruktur in Deutschland wider. Neben
vielen Auswirkungen auf Wirtschaft,
staatliche Infrastruktur, Arbeitswelt
und Immobilienpreise als finanziellem Rückgrat vieler Fonds zur Sicherung der Rente im Alter etc. werden
auch die Auswirkungen auf das Gesundheitswesen und dessen zukünftige Entwicklung allseits diskutiert.
Nicht ganz so bekannt ist die Tatsache,
dass das Fachgebiet Urologie innerhalb
des nächsten Jahrzehnts im Vergleich zu
allen anderen Fachdisziplinen am deutlichsten von der veränderten Altersstruktur in Deutschland und der damit einhergehenden steigenden Leistungsanforderung betroffen ist.
Die Ursachen und Auswirkungen der
demographischen Entwicklung auf das
Fachgebiet Urologie soll Gegenstand der
folgenden Ausführungen sein.
1136 | Der Urologe 8 · 2014
Altersverteilung in Deutschland
Die Analyse des statistischen Bundesamtes ist eindeutig: Obgleich die gesamte Einwohnerzahl der BRD bis zum Jahre 2040 mit leichten Schwankungen
­zwischen 78–82 Mio. Einwohnern annähernd konstant bleibt, ändert sich die Alterszusammensetzung der Bevölkerung
dramatisch. Aus der „normalen“ Alterspyramide einer gesunden Bevölkerung, wie
sie in Deutschland bis 1910 galt und heute
noch die Altersstruktur mancher Schwellenländer richtig beschreibt, ist eine durch
verschiedene Einflüsse der vergangenen
Jahrzehnte auf das Leben in Deutschland
veränderte Altersverteilung entstanden
(. Abb. 1).
»
Die Alterszusammensetzung
der Bevölkerung verändert
sich bis 2040 dramatisch
Befanden sich im Jahre 1980 nur
12,2 Mio. Menschen im Alter über 65 Jahre, so ist deren Anteil im Jahre 2014 bereits auf 17,3 Mio. angestiegen. Vorausberechnungen zeigen weiter, dass der Anteil
an über 65-jährigen Männern und Frauen in Deutschland 2020 bereits 18,7 Mio.,
2030 schon 22,3 Mio. betragen und 2040
auf knapp 24 Mio. angestiegen sein wird
(. Abb. 2). Parallel zu dieser Entwicklung der absoluten Zunahme der Gesamtzahl der älteren Menschen in Deutschland
steigt auch die Lebenserwartung ungebrochen weiter (. Abb. 3).
Altersverteilung urologischer
Patientinnen und Patienten
Bereits im Jahre 2001 veröffentlichte das
Zentralinstitut für die Kassenärztliche
Vereinigung in Deutschland (ZI) eine
Analyse zur Leistungsausdehnung im
Fachgebiet Urologie im ambulanten Bereich. Der zentralen Abrechnungserfassung war aufgefallen, dass zwischen 1993
und 1998 die Zahl der Abrechnungsfälle
um >44% angestiegen war; im Vergleich
dazu war in den anderen Fachgruppen
nur eine Steigerung von durchschnittlich
23% zu verzeichnen. Bereits damals war
als Ursache für die beobachtete Leistungsausdehnung der Anstieg der älteren Bevölkerung und der mit ihr verbundenen
typischen urologischen Erkrankungen als
Ursache ausgemacht worden (. Abb. 4).
Den Zusammenhang zwischen urologischem Leistungsbedarf der Patienten
in Abhängigkeit vom Lebensalter konnte
das gleiche Institut anhand einer aktuellen
Analyse der bundesweiten AbrechnungsDr. A.W. Schneider ist Vorsitzender des Arbeitskreises urologischer Belegärzte im BDU, Vorsitzender der Onkologiekommission der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen, Mitglied
im Vorstand der AUO.
Prof. Dr. J. Fichtner ist Chefarzt der Klinik für Urologie, Johanniter Krankenhaus Oberhausen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie
2013/2014.
Leitthema
100
25,00
90
Anzahl in Millionen
20,00
80
70
60
Männer
50
15,00
10,00
5,00
Frauen
40
0,00
30
1980
1990
2000
2010
2020
2030
2040
Jahr
20
Abb. 2 8 Demographische Daten der BRD gemäß dem statistischen Bundesamt: Altersentwicklung der Bevölkerung über 65 Jahre (Stand 2012).
(Nach Statistisches Bundesamt https://www.destatis.de/DE/Startseite.html)
10
0
600
300
300
Tausend
600
Tausend
Abb. 1 9 Demographische Daten der BRD gemäß dem statistischen Bundesamt: Altersverteilung im Jahre 2014 (Stand 2009). (Nach Statistisches
Bundesamt https://www.destatis.de/DE/Startseite.html)
daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erneut eindringlich dokumentieren. Die neue Untersuchung zeigt, dass
der (urologische) Leistungsbedarf eines
über 60-jährigen Patienten das 6-Fache
gegenüber dem eines unter 60-jährigen
Patienten beträgt. Dies liegt weit über den
Leistungsanforderungen aller anderen
Fachgebiete (. Abb. 5).
85
80
Lebenserwartung bei Geburt
75
70
65
Entwicklung des
Versorgungsbedarfs bis 2025
60
55
Deutschland
Westdeutschland
50
Ostdeutschland
Welt
45
1970
1960
1980
1990
2000
2010
Jahr
Abb. 3 8 Demographische Daten der BRD gemäß dem statistischen Bundesamt: Lebenserwartung
in Deutschland (Stand 2012). (Nach Statistisches Bundesamt https://www.destatis.de/DE/Startseite.
html)
Anteile in % (1993=100)
160
140
alle Arztgruppen
120
100
80
1993*
1138 | Urologen
1994*
Der Urologe 8 · 2014
1995*
1996
1997
1998
Abb. 4 9 GKV-Abrechnungsfälle von Urologen in freier Praxis. gesamtes Bundesgebiet (Anteile in %
[1993=100]). (*Abrechnungsfälle der neuen
Bundesländer hochgerechnet auf der Datenbasis 1996). (Nach [1])
Legt man die bisherige Leistungsentwicklung bei der urologischen Versorgung im
vertragsärztlichen Bereich für eine Prognose zugrunde, so zeigt diese in deutlicher
Weise, mit welchem Leistungsaufkommen innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre zu rechnen ist. Das ZI prognostiziert
in der bereits zitierten Studie für die Urologie eine allein demographisch bedingte Steigerung des Versorgungsbedarfs bis
2025 von nahezu 20% (. Abb. 6a). Damit zeigt die Urologie mit Abstand den
höchsten Leistungszugewinn im Vergleich zu allen anderen Facharztgruppen.
Insbesondere aufgrund der ausgeprägten Zunahme der älteren Bevölkerung im
ländlichen Umland von Ballungsräumen
nimmt dort der urologische Versorgungsbedarf besonders stark zu (. Abb. 6b).
Zusammenfassung · Abstract
Tab. 1 3-Monats-Kosten für Tumorthera-
peutika beim Prostatakarzinom gemäß der
Apothekenpreise (Stand März 2014)
Medikament
Vantas®
Leupro-Sandoz®
Eligart®
Trenantone®
Profact Depot®
Pamorelin La®
Zoladex®
Bicalutamid® 150 mg
Firmagon®
Zometa®
Xgefa®
Taxotere®
Xtandi®
Zytiga®
Xofigo®
Jevtana®
Preis (EUR)
389,36
389,75
461,04
486,58
509,89
509,89
512,12
627,65
734,64
1.105,41
1.297,92
8.760,70
13.843,41
16.351,20
19.593,00
20.752,00
Demographie und Uroonkologie
Die Analyse des Robert-Koch-Instituts
zur Tumorerkrankungsrate in Deutschland aus dem Jahre 2013 dokumentiert
eindrucksvoll den wachsenden Anteil an
Tumorerkrankungen im Fachgebiet Urologie (. Abb. 7).
Danach stammen 23,61% (20,88%
ohne­ non-invasive Tumoren und Carcinoma in situ der Harnblase) aller Tumoren aus dem Fachgebiet Urologie. Unter
Berücksichtigung der klassischen Altersverteilung beim Prostatakarzinom, Blasenkarzinom und Nierenzellkarzinom erklärt sich rasch die zunehmende Bedeutung des Fachgebiets Urologie bei der Diagnostik und Therapie dieser Tumoren des
Alters.
Exemplarisch sei hier die demographische Entwicklung des Prostatakarzinoms aufgezeigt: So stieg die Anzahl der
Prostatakarzinomneuerkrankungen seit
2002 von knapp 50.000 auf ca. 70.000 im
Jahre 2014; für 2020 rechnet man mit ca.
84.000 Neuerkrankungen, begründet allein durch die demographische Entwicklung (. Abb. 8). Eine ähnliche Entwicklungstendenz darf bei der Diagnostik und
Therapie von Neuerkrankungen beim
Blasentumor, Nierenzellkarzinom sowie
den anderen urologischen Tumoren erwartet werden.
1140 | Der Urologe 8 · 2014
Urologe 2014 · 53:1136–1145 DOI 10.1007/s00120-014-3544-y
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
A.W. Schneider · J. Fichtner
Die demographische Entwicklung in Deutschland.
Herausforderung und Chance für die Urologie
Zusammenfassung
Die Urologie ist mehr als alle anderen Fachgebiete von dem demographischen Wandel in Deutschland betroffen. Trotz einer relativ stabilen Gesamteinwohnerzahl kommt
es bis 2040 – allein durch die demographische Entwicklung der Bevölkerung – zu einer
absoluten und relevanten Zunahme urologischer Krankheitsbilder. Das gilt besonders
auch für die Zunahme der onkologischen Versorgungsaufgaben, gerade im Bereich des
urologischen Fachgebiets. Schon jetzt weisen
die aktuellen Zahlen der Tumorentwicklung
in Deutschland (RKI 2014) den urologischonkologischen Anteil an allen Tumorerkrankungen mit mehr als 23% bei steigender Tendenz aus. Dieser signifikanten Leistungsausweitung gegenüber steht die Altersentwicklung bei den Fachärzten. Sie führt insgesamt,
speziell aber aufgrund der signifikant überalterten Fachärzteschaft in der Urologie zu
einer erheblichen Verknappung von Fachärzten im urologischen Versorgungsbereich. Verschärft wird dieser Mangel urologischer personeller Ressourcen durch die Ansprüche der
Generation Y an eine ausgeglichene „work-life-balance“ sowie die damit verknüpfte Feminisierung des Arztberufs. Hier bedarf es intelligenter Strategien des Erhalts und der Steigerung der Attraktivität unseres Fachgebiets
sowie der Allokation begrenzter personeller
und ökonomischer Ressourcen.
Schlüsselwörter
Demographischer Wandel · Krankheitsbilder,
urologische · Tumorerkrankungen · „Work-lifebalance“ · Versorgungsbedarf
The demographic development in Germany.
Challenge and chances for urology
Abstract
Urology is affected by the demographic development in Germany more than any other medical discipline. Despite a relatively stable total population, by the year 2040 there
will be an absolute and relevant increase in
urological diseases caused only by the demographic development in the population. This
is particularly true for the increase in oncological treatment just in the field of the discipline of urology. Even now the current numbers for tumor development in Germany (RKI
2014) in the urological oncology segment of
all tumor diseases show an increasing trend
with more than 23 %. This significant increase
in performance is in contrast to the age development of the specialists in this discipline.
Bedeutung der Urologie  
in Kenntnis der Gesamtzahl
an der vertragsärztlichen
Versorgung teilnehmender Ärzte
Die aktuelle Ärztestatistik zeigt, dass von
derzeit 141.038 Ärztinnen und Ärzten lediglich 3111 Urologen in der Niederlassung tätig sind (Bundesarztregister der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung,
Stand 31.12.2012). Betrachtet man die bei
den Ärztekammern registrierten Ärztinnen und Ärzte nach Gebiet und Facharzt-
In total but especially due to the significantly over-aged specialist medical profession in
urology, this leads to a substantial bottleneck
of specialists in the discipline of urology. This
deficiency of personnel resources in urology
is aggravated by the requirements of Generation Y for a well-adjusted work-life balance
and the associated feminization of the medical profession. This requires intelligent strategies for
Keywords
Demographic change · Symptoms,
urological · Tumor diseases · Work life
balance · Treatment needs
bezeichnung – dies schließt die in Krankenhäusern tätigen Fachärzte mit ein, so
sind von 348.695 Kolleginnen und Kollegen lediglich 5388 (1,5%) Urologen (Gesundheitsberichterstattung des Bundes
2012). Das Verhältnis zwischen berufsausübenden Urologinnen und Urologen und
dem hohen Anteil urologischer Tumoren
an der Gesamtzahl onkologischer Erkrankungen dokumentiert dabei eindrucksvoll
die schon jetzt große Bedeutung unserer
Fachgruppe.
3,5
Index alle Fachgruppen
Index Urologie
3,0
2,5
2,0
1,5
1,0
0,5
0,0
0 bis 5
6 bis 12 13 bis 17 18 bis 24 25 bis 34 35 bis 44 45 bis 54 55 bis 59 60 bis 64 65 bis 69 70 bis 74 75 bis 79 80 bis 84 85 bis 89 90 bis 94 95 bis 124
Alter in Jahren
Abb. 5 8 Index des Leistungsbedarfs nach Altersgruppen. (Nach [2])
Urologen
Augenärzte
Internisten
Hausärzte
Orthopäden
Nervenärzte
Radiologen
Hautärzte
Anästhesisten
Chirurgen
HNO-Ärzte
Frauenärzte
Psyhotherapeuten
Kinderärzte
a
–15% –10%
Kernstädte
verdichtetes Umland
Ländliches Umland
Ländlicher Raum
–5%
0%
5%
10%
15%
20%
25%
b
0%
5%
10%
15%
20%
25%
Abb. 6 8 Entwicklung des Versorgungsbedarfs bis 2025: a Demographisch bedingte Entwicklung des fachgruppenspezifischen Versorgungsbedarfs b Demographisch bedingte Entwicklung des urologischen Versorgungsbedarfs nach Regions­
typen. (Nach [2])
Die demographische Entwicklung  
der Ärzteschaft
Die demographische Entwicklung in
Deutschland spiegelt sich erwartungsgemäß auch in der Altersentwicklung der
Ärztinnen und Ärzte in Deutschland wider. Betrachtet man das Alter der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, so zeigt
sich auch hier eine kontinuierliche Zu-
nahme. Mit einem derzeitigen Altersdurchschnitt von ca. 54 Jahren stehen in
den nächsten 10 bis 15 Jahren mehr als
die Hälfte aller Kolleginnen und Kollegen vor der Aufgabe ihrer ärztlichen Tätigkeit (. Abb. 9). Wie zu erwarten, findet sich eine ähnliche Altersverteilung
auch bei den Urologen in Klinik und Praxis (. Abb. 10).
Anhand dieser Zahlen ist mittelfristig
von einem Rückgang der Gesamtzahl an
beruflich tätigen Urologinnen und Urologen auszugehen, zumal trotz des absehbaren Ärztemangels die Zahl der Studienabgänger in der Humanmedizin in den letzten Jahrzehnten konstant geblieben ist
(. Abb. 11).
Der Urologe 8 · 2014 | 1141
Leitthema
Männer
Prostata
Lunge
Darm
26,1
31,3
13,9
12,7
13,4
7,6
Harnblase
Malignes Melanom der Haut
Mundhöhle und Rachen
Magen
Niere
Non-Hodgkin-Lymphome
Bauchspeicheldrüse
Leukämien
Leber
Speiseröhre
zentrales Nervensystem
Hoden
Multiples Myelom
36
90,000
80,000
30
24
18
12
Frauen
6
4,5
5,1
3,8
4,3
3,7
3,6
3,6
3,5
3,5
3,4
3,4
3,0
3,2
2,5
2,6
2,2
2,3
2,1
1,9
1,9
1,5
1,8
1,5
1,5
Brustdrüse
Darm
Lunge
Gebärmutterkörper
Malignes Melanom der Haut
Bauchspeicheldrüse
Eierstöcke
Non-Hodgkin-Lymphome
Magen
Niere
Leukämien
Gebärmutterhals
Schilddrüse
Harnblase
Mundhöhle und Rachen
Vulva
0 0
6
12
18
24
PCA
70,000
60,000
50,000
40,000
30,000
20,000
10,000
0
2002
2006
2010
Weitere Einflüsse auf die
demographische Entwicklung
„Generation Y“ und die
Feminisierung der Medizin
Nach einschneidenden Veränderungen
des Arbeitsschutzgesetzes durch höchstrichterliche Entscheidungen durch den
europäischen Gerichtshof in den Jahren
2000 und 2003 mussten die bis dato geltenden Arbeitszeiten für angestellte Ärzte in den Kliniken rapide gekürzt werden.
Neben weiteren Einflüssen führte diese
Entwicklung zu einer neuen Bewertung
der „work-life-balance“ auch bei Ärzten,
v. a. in der sog. Generation Y. Der Trend
zur Reduzierung der dem Arbeitgeber
zur Verfügung gestellten „Jahresarbeitszeit“ zeigt deutliche Auswirkungen, die
bis heute in vielen Kliniken nicht ausgeglichen werden können (. Abb. 12). Die-
1142 | Der Urologe 8 · 2014
2014
2020
Abb. 8 9 Neuerkrankungen PCA
in Deutschland 2002
bis 2010. (RobertKoch-Institut, Krebs
in Deutschland 2013)
weiteren Entwicklung
2014 und 2020 geschätzt. (Nach [3])
se zusätzliche Verknappung der Ärztearbeitszeiten am Patienten verschärft die
bereits geschilderte Situation weiter.
War die Humanmedizin früher eine
männliche Domäne insbesondere in den
operativen Disziplinen wie der Urologie,
so sind heute mehr als zwei Drittel aller
Studienanfänger weiblich; ein Trend, der
bereits heute zu ca. 25% in den urologischen Kliniken tätigen Assistenzärztinnen
geführt hat. Diese positive Entwicklung
bedingt zum einen, einen größeren Anteil
von in Teilzeit beschäftigten Ärztinnen
und Ärzten, verschärft zum anderen allerdings dadurch den bereits ­bestehenden
Ärztemangel, der durch die demographische Entwicklung eines ansteigenden Versorgungsbedarfs weiter potenziert wird.
Der Urologie als Fachgebiet mit sowohl exzellenten Möglichkeiten der beruflichen Tätigkeit in Klinik und Nieder-
30
36
Abb. 7 9 Prozentualer Anteil der häufigsten Tumorlokalisationen an allen Krebsneuerkrankungen
2010 Robert-Koch-Institut,
Krebs in Deutschland 2013.
(Nach [3])
lassung bieten sich besondere Chancen
der Motivation junger Kolleginnen und
Kollegen für unser Fachgebiet, die durch
bereits existierende Intiativen von Berufsverband und Fachgesellschaft in die Wege
geleitet worden sind und in Zukunft weiter intensiviert werden müssen.
Die demographische Entwicklung
Indikationsstellung und
Ressourcenallokation am Beispiel
des Prostatakarzinoms
Die für die Zukunft projizierte starke Zunahme der Patienten mit einem diagnostizierten Prostatakarzinom bei gleichzeitigen Innovationen und Erweiterungen
der operativen, strahlentherapeutischen
sowie medikamentösen Behandlungsoptionen dieses Tumors bedingen eine differenzierte Indikationsstellung sowohl
unter medizinischen als auch ökonomischen Aspekten der Ressourcenallokation. Im Bereich der Therapie des lokalbegrenzten Niedrigrisikoprostatakarzinoms
stellt die Inklusion der Active Surveillance
ein Beispiel eines differenzierten Therapieansatzes dar. Wissenschaftliche Aktivitäten wie die laufende PREFERE-Studie
werden hier wichtige Erkenntnisse zur
Wertigkeit der verschiedenen Therapieoptionen liefern.
Im Bereich der medikamentösen
Therapie des metastasierten sowie kastrationsresistentem Prostatakarzinoms
(CRPC) stellt das in der 2014 aktualisierten S3-Leitlinie Prostatakarzinom inklu-
Leitthema
Vertragsärzte
Krankenhausärzte
55
50
48,72
Alter
46,56
50,45
50,14
49,48
50,75
50,92
51,12
51,35
51,61
51,92
52,25
52,80
52,54
47,58
45
40
38,05
38,66
39,42
39,92
1998
2000
40,40
40,58
40,72
40,90
40,95
41,02
41,06
41,10
41,12
41,14
41,25
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
35
30
1993
1995
2002
Jahr
2,000
18500
1,800
18000
1,600
17500
1,400
Studienabschlüsse
Anzahl Urologen
Abb. 9 8 Altersverteilung der Ärzte in Deutschland: Vertragsärzte und Krankenhausärzte allgemein. ­
(Nach http://www.bundesaerztekammer.de; http://www.kbv.de/html)
1,200
1,000
800
600
16500
16000
15500
15000
400
14500
200
0
17000
14000
<35
35–39
40–49
50–59
60–65
>66
1993
Abb. 10 8 Altersverteilung der Ärzte in Deutschland: Altersverteilung bei
Urologen (BÄK und KBV 2014).  
(Nach http://www.bundesaerztekammer.de; http://www.kbv.de/html)
1144 | Der Urologe 8 · 2014
2000
2005
2010
2011
2012
Jahr
Altersgruppen
dierte „Geriatrische Assessment“ als multidimensionales Instrument ein weiteres
Beispiel der individuellen Entscheidungsfindung und Nutzen/Nebenwirkungsabwägung vor Therapiebeginn dar. Auch
hier spielen neben primär medizinischen
Aspekten ökonomische Überlegungen
zum Einsatz der hochpreisigen Medikamente eine Rolle (. Tab. 1).
1995
Abb. 11 8 Altersverteilung der Ärzte in Deutschland: Studienabschlüsse
Humanmedizin 1993–2012 Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2014.
(Nach http://www.bundesaerztekammer.de; http://www.kbv.de/html)
Aus der aktuellen Analyse des RobertKoch-Instituts 2013 zur Tumorhäufigkeit
in Deutschland öffnen sich für die Zukunft weitere medizinische und ökonomische Problemfelder: Das Prostatakarzinom steht mit einer 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit von 90% an zweiter
Stelle und suggeriert damit die vermeintlich problemlose Beherrschung dieses Tu-
mors. Trotz der scheinbar guten Überlebensdaten für das Prostatakarzinom starb
2010 aber jeder 6. bis 7. Patient nach komplikationsbehaftetem Krankheitsverlauf;
12.676 Patienten fanden nach Diagnostik und Therapie typischer Komplikationen wie Anämie, Metastasierung, Frakturen, lokale Obstruktionen, Lymphödeme,
2.000
1.956
Stunden
1.900
1.800
1.797
West-Deutschland
1.739
1.700
1.659
1.600
1.541
1.500
Gesamt-Deutschland
1.447
1.400
1.381 1.370 1.362 1.361
1.300
0
1970
1.362 1.358
Vorausberechung
1975
1980
1985
1991
1995
2000 2001 2002 2003 2004 2005
Jahr
Abb. 12 8 Jahresarbeitszeit je Erwerbstätigen (Statistisches Bundesamt). (Nach Statistisches Bundesamt. https://www.destatis.de/DE/Startseite.html)
Schmerzen, Harnstau bis zur Urämie etc.
den Tod.
Ohne dass hier bislang exakte Zahlen
vorliegen, lässt sich jedoch postulieren,
dass diese Patienten vor ihrem tumorbedingten Tod umfangreich medikamentös
therapiert wurden, wobei ein Teil der neuen, hochpreisigen Medikamente zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zur Verfügung standen.
Unter der eher konservativen Annahme, innerhalb der letzten 2 Behandlungsjahre würden für die palliative Therapie
eines CRPC-PCA-Patienten 150.000 € an
(medikamentösen) Behandlungskosten
anfallen, wären dann für die ca. 20.000
betroffenen Männer Behandlungskosten von >3 Mrd. € erreicht. In Anbetracht
von derzeit 30 Mrd. € verfügbaren jährlichen Gesamtkosten für die Arzneimittelversorgung aller GKV-Versicherten eine
nicht darstellbare Entwicklung.
Es ist daher zu vermuten, dass die
aufgezeigte demographische Entwicklung zu einer massiven Erhöhung der
Behandlungskosten insbesondere beim
fortgeschrittenen kastrationsrefraktären
Patienten­ führen wird. Auch dies ist eine
bemerkenswerte Herausforderung der demographischen Entwicklung in der Urologie, die jenseits möglicher politischer
Eingriffe proaktiv auch innerhalb des
Fachgebiets adressiert werden muss.
Demographie und
Pflegebedürftigkeit
Bereits heute werden in Deutschland
2,5 Mio. Pflegebedürftige versorgt, davon
30% in vollstationären Heimunterbringungen, diese Zahlen werden sich in den
kommenden 40 Jahren auf >5 Mio. Pflegebedürftige verdoppeln.
Bei 40% der Heimbewohner besteht
eine Harninkontinenz, bei den bettlägerigen Patienten liegt der Anteil sogar bei
80%; ein signifikanter Teil der Patienten
ist aus pflegerischen Gründen mit einem
Dauerkatheter versorgt und befindet sich
in einem Dauerzustand urologischer
­Betreuung. Neben Initiativen zur Optimierung der Möglichkeiten einer häuslichen Versorgung werden personelle­
Herausforderungen der urologischen
­Versorgung dieser Patientengruppe zu bewältigen sein, u. a. mit dem Ziel der Reduktion von Dauerkathetereinlagen und
Inklusion anderer Berufsgruppen in die
Versorgungsrealität.
Fazit für die Praxis
FDie hier dargestellten Auswirkungen
des demographischen Wandels an
das Fachgebiet Urologie stellen nicht
nur die Kliniken, sondern auch und
gerade die niedergelassenen Kolle­
ginnen und Kollegen vor große Pro­
bleme. So wird es nicht nur durch die
„Leistungsverdichtung“ bei der Dia­
gnostik und Therapie der zunehmend
älteren und damit multimorbiden Pa­
tientenklientel, sondern aufgrund
der zu erwartenden Abnahme an jun­
gen Kolleginnen und Kollegen, die zu
einer Niederlassung bereit sein wer­
den, zwangsläufig auch zur Mangel­
ware „Urologe“ kommen.
FDiese Herausforderungen an unser
Fachgebiet sind nur zu meistern,
wenn neue Organisationsstrukturen
entwickelt werden, die den Umgang
mit den knapper werdenden Ressour­
cen optimieren; die ambulante spe­
zialfachärztliche Versorgung (ASV),
die Bildung von urologischen Ver­
sorgungszentren durch Zusammen­
schlüssen von urologischen Einzelpra­
xen sowie der Ausbau des Belegarzt­
wesens zur urologischen Versorgung
ländlicher Strukturen außerhalb der
Ballungszentren seien als Beispiele
genannt.
FDer Berufsverband Deutscher Urolo­
gen sowie die Deutsche Gesellschaft
für Urologie sind sich gemeinsam der
außerordentlichen Bedeutung be­
wusst und begleiten intensiv die neu­
en Konzepte bei ihrer Planung und
Umsetzung.
Korrespondenzadresse
Dr. A.W. Schneider
Krankenhaus Salzhausen,
Bahnhofstraße 5, 21376 Salzhausen
[email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. A.W. Schneider und J. Fichtner
geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen
oder Tieren.
Literatur
1. KBV (2001) Zentralinstitut für die kassenärztliche
Versorgung in der BRD. KBV, Köln. http://www.ziberlin.de
2. Stillfried D von, Czihal T, Leibner M, ZI der KBV
(2012) Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, Berlin. http://www.zi-berlin.de
3. Robert Koch Institut (2013) Krebs in Deutschland
2013. RKI, Berlin. http://www.rki.de
Der Urologe 8 · 2014 | 1145
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