2.6 Kreise und Parallelen

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91
2.6
Kreise und Parallelen
Wir haben Euklids Axiomensystem repariert“, aber wenn wir nun in seinem Stile
”
weitermachen wollen, dann brauchen wir immer noch ein Axiom über das Schneiden
von Kreisen. Am Ende des vorigen Abschnittes haben wir im Stile Hilberts versucht,
ohne Kreise auszukommen, aber manchmal geht das nicht.
Man muss bei Euklid schon etwas genauer hinsehen. Da gibt es nämlich
Proposition 22:
Aus drei gegebenen Strecken a, b, c mit
a + b > c,
a+c>b
und
b+c>a
kann ein Dreieck mit den Seiten a, b, c konstruiert werden.
Die Beweisidee ist die folgende:
Man ordnet die Strecken in der Reihenfolge b, c, a auf einer Geraden an, so dass
Punkte D, A, B, E entstehen.
Dann zeichnet man den Kreis K1 um A mit Radius b = DA und den Kreis K2 um
B mit Radius a = BE. Wählt man einen Schnittpunkt C der beiden Kreise aus,
so ist 4ABC das gesuchte Dreieck.
K1
C
s
D
s
s
A
B
K2
s
E
Für Euklid ist der Satz kein Problem, die Methode der zwei Kreise hat er ja schon
häufig angewandt. Bei Hilbert sucht man den Satz als Folgerung aus den Inzidenz-,
Anordnungs- und Kongruenz-Axiomen vergeblich. Im Gegensatz zu Euklid liefert
er nämlich keine Konstruktionsbeschreibungen, sondern Existenzsätze und Kongruenzaussagen.
Das Kreis-Axiom (S.1): Sind K1 , K2 Kreise um die Punkte A bzw. B und
enthält K2 sowohl einen Punkt aus dem Inneren als auch einen aus dem Äußeren
von K1 , so gibt es auf beiden Seiten von AB je einen Schnittpunkt der beiden
Kreise.
Damit kann man einen Satz über das Schnittverhalten von Kreis und Gerade beweisen, den Euklid schon beim Beweis der Existenz eines Lotes brauchte:
92
2 Synthetische Geometrie
Satz: Sei K ein Kreis um den Punkt O, A ein Punkt im Innern von K und l eine
Gerade durch A. Dann schneidet l den Kreis in zwei Punkten (auf verschiedenen
Seiten von A).
Beweis: (wurde nicht in der Vorlesung ausgeführt)
Die Aussage ist trivial, wenn O auf l liegt. Also können wir o.B.d.A. annehmen,
dass O 6∈ l ist. Dann sei g das Lot von O auf l mit Fußpunkt B. Weiter sei C der
b BC, so dass l die Mittelsenkrechte zu OC
Punkt auf g mit O − B − C und OB =
ist. Da das Dreieck OBA bei B rechtwinklig ist, ist OB < OA und damit kleiner
als der Radius von K, also B im Innern des Kreises K gelegen.
Die Gerade g schneidet K in zwei Punkten D und D0 , es gelte D0 − O − D und
*
*
D ∈ OB. Wählen wir E ∈ OB mit B − C − E und CE =
b OD, so liegt E auf dem
0
b OD, also E
Kreis K um C mit Radius OD. Wegen O − C − E ist OE > CE =
im Äußeren von K gelegen.
l
K
s
K0
P
A
s
D0
O
s
E0
B D
C
g
E
P0
Der Kreis K0 schneidet g in E und in einem Punkt E 0 , mit E 0 − C − E. Wegen
BC =
b OB < OD = E 0 C ist E 0 − B − C.
Es gibt zwei Möglichkeiten. Ist O −E 0 −B, so ist E 0 O < OB < OD. Ist E 0 −O −B,
so ist E 0 O < E 0 B < E 0 C =
b OD. In beiden Fällen folgt, dass E 0 im Innern von K
liegt.
Aus dem Kreisaxiom folgt nun, dass sich K und K0 auf beiden Seiten von g je in
einem Punkt treffen. Sei P der Schnittpunkt, der auf der gleichen Seite von g wie A
liegt. Dann ist OP =
b CP . Außerdem ist OB =
b BC. Nach dem SSS-Kongruenzsatz
ist dann OBP =
b BCP , also ∠OBP =
b ∠CBP . Da es sich um Nebenwinkel handelt,
sind sie rechte Winkel, und das bedeutet, dass BP = l ist, also P ∈ l.
Der Punkt P 0 mit P − B − P 0 und P B =
b BP 0 ist offensichtlich der zweite Schnittpunkt der Kreise (denn aus Symmetriegründen sind auch die Strecken OP 0 =
b CP 0
0
jeweils Radien), und auch er liegt auf l. Somit ist l ∩ K ⊃ {P, P }, mit P − A − P 0 .
Einen weiteren Schnittpunkt S kann es nicht geben, denn dann würde man ein
gleichschenkliges Dreieck OP S mit ungleichen Basiswinkeln erhalten.
2.6
Kreise und Parallelen
93
Man kann nun beweisen, dass das Kreis-Axiom im pythagoräischen Modell M4
nicht erfüllt ist! Weil in Ep = Pyth(Q) × Pyth(Q) alle Inzidenz-, Anordnungsund Bewegungsaxiome erfüllt sind, liegt mit M4 ein fast perfektes Modell für die
Euklidische Ebene vor. Aber für die Existenz beliebiger Schnittpunkte von Kreisen
besitzt der Körper Pyth(Q) zu wenig Elemente.
Dazu betrachten wir allgemeine Wurzel-Ausdrücke der Form
s
r q
√
q = qn ( qn−1 ( . . . q1 ( α) . . .)),
mit rationalen Funktionen q1 , . . . , qn−1 , qn und einer Zahl α ∈ Q. Tauscht man eine
oder mehrere der Wurzeln gegen ihr Negatives, so erhält man einen sogenannten
konjugierten Ausdruck zu q.
Ist das Argument jeder Wurzel von der Form 1+ω 2 (wobei ω wieder ein zusammengesetzter Ausdruck sein kann), so sind der ursprüngliche Ausdruck und alle dazu
konjugierten Ausdrücke reelle Zahlen. Sind die Argumente der Wurzeln dagegen
von beliebiger Form, so können auch nicht-reelle komplexe Zahlen entstehen.
q √
Ein Beispiel ist etwa der reelle Ausdruck 2( 2 − 1). Der dazu konjugierte Ausq
q √
√
druck − 2(− 2 − 1) = − i · 2( 2 + 1) ist tatsächlich rein imaginär. Das beq √
deutet, dass 2( 2 − 1) nicht pythagoräisch sein kann!
Ist a irgendeine pythagoräische Zahl, so liegen die Punkte O := (0, 0), P := (a, 0)
und Q := (a + 1, 0) in der pythagoräischen Ebene Ep . Da die Bewegungen in diesem
Modell zugleich isometrische Abbildungen von R2 auf sich sind, kann man sagen:
Zwei Strecken sind genau dann kongruent, wenn sie die gleiche euklidische Länge
, 0), und der
haben. Der Mittelpunkt der Strecke OQ ist also der Punkt M := ( a+1
2
Kreis um M mit Radius OM ist die Menge
K := {(x, y) ∈ Ep | (x −
a+1 2
a+1 2
) + y2 = (
) }.
2
2
√
a
O s
s
a
s
MP
s
Q
1
Schneidet man K mit der Geraden g := {(x, y) ∈ Ep | x = a}, so erhält
√ man Punkte
a−1 2
2
(x, y) mit x = a und y 2 = ( a+1
)
−
(
)
=
a,
also
X
:=
(a,
±
a). Nach dem
±
2
2
√
Kreisaxiom wäre jeder solche Punkt
konstruierbar,
aber
im
Falle
a
=
2(
2 − 1)
√
haben wir schon gesehen, dass a nicht pythagoräisch ist.
Es liegt nahe, wie man den Mangel beheben kann:
94
2 Synthetische Geometrie
Definition
Ein Element x ∈ R heißt euklidisch, wenn es eine Folge von quadratischen
Körpererweiterungen
Q ⊂ K1 ⊂ K2 ⊂ . . . ⊂ Kn
√
der Form Ki = Ki−1 ( αi ) mit αi ∈ Ki−1 und αi > 0 gibt, so dass x in Kn liegt.
Eine euklidische Zahl gewinnt man also aus rationalen Zahlen, indem man endlich
√
oft die Operationen +, −, ·, : und anwendet.
Mit Eu(Q) sei hier die Menge aller euklidischen Zahlen bezeichnet.
Ein angeordneter Körper, in dem mit jedem positiven Element auch dessen Quadratwurzel enthalten ist, heißt euklidisch. Eu(Q) ist der kleinste euklidische
Körper, der in R enthalten ist.
Ein Modell M5 gewinnen wir, indem wir als Ebene die kartesische Ebene der
euklidischen Zahlen benutzen: Ee := Eu(Q) × Eu(Q). Es ist klar, dass auch hier die
Inzidenz-, Anordnungs- und Bewegungsaxiome gelten. Und da mit jeder positiven
euklidischen Zahl auch deren Wurzel wieder euklidisch ist, sind die Schnittpunkte
von Kreisen immer konstruierbar, d.h., es gilt das Kreisaxiom.
Die euklidische Ebene ist das Modell für die Geometrie, in der alle Konstruktionen
allein mit Zirkel und Lineal ausgeführt werden. Und das ist die Geometrie, die
Euklid betrieben hat. In dieser Ebene gibt es noch viele Lücken, insbesondere ist
die Zahl π keine euklidische Zahl. Deshalb konnte den Alten auch die Quadratur
des Kreises nicht gelingen.
Es sieht eigentlich so aus, als wäre man damit am Ende, nur das Parallelen-Axiom
steht noch aus. Um so überraschender ist, dass noch ein weiteres Axiom fehlt.
Satz: Zu zwei Punkten P 6= Q und einer natürlichen Zahl n kann man stets
*
Punkte Q0 , Q1 , . . . , Qn ∈ P Q finden, so dass gilt:
1. Q0 = P , Q1 = Q und Qi Qi+1 =
b P Q für i = 1, . . . , n − 1.
2. Qi−1 − Qi − Qi+1 für 1 ≤ i ≤ n − 1.
s
s
Der Beweis ist trivial.
s
s
Q3
Q2
Q = Q1
P = Q0
In der Situation des obigen Satzes sagt man: Der Punkt Qn wird durch n-maliges
Antragen der Strecke P Q erreicht. An Stelle der Strecke Q0 Qn schreibt man auch
n · P Q.
2.6
Kreise und Parallelen
95
Ist zu der Strecke P Q noch eine weitere Strecke AB > P Q gegeben, so erwartet
man, dass n · P Q > AB ist, wenn man nur n groß genug wählt. Eigenartigerweise
lässt sich das aus den bisherigen Axiomen nicht beweisen. Man muss es fordern:
Das Archimedes-Axiom (S.2):
ein n ∈ N mit n · P Q > AB.
Zu zwei Strecken P Q < AB gibt es stets
Man nennt die Axiome (S.1) und (S.2) auch die Stetigkeitsaxiome, aus Gründen,
die weiter unten erläutert werden.
Das Axiom (S.2) taucht bei Euklid nicht explizit auf. In der Proportionenlehre
betrachtet er allerdings nur Verhältnisse von solchen Strecken AB und P Q, die das
Archimedes-Axiom erfüllen.
In der euklidischen Ebene gilt (S.2), so einfach ist die Frage nach der Unabhängigkeit also nicht zu entscheiden. Aber es gibt sogenannte nicht-archimedische
Körper, und in den damit modellierten Ebenen kann es passieren, dass alle bisherigen Axiome der Geometrie gelten, nicht aber (S.2).
Als erstes möchte man natürlich mal einen nicht-archimedischen Körper sehen.
Das ist relativ leicht. Es sei R(t) := {R = f /g : f, g Polynome, g 6= 0} der Körper
der rationalen Funktionen“. Das ist tatsächlich ein Körper, aber eigentlich kein
”
angeordneter Körper. Die Ordnung muss erst geschaffen werden, und das geht so:
Die Elemente von P := {R ∈ R(t) : ∃ c ∈ R, so dass R(t) > 0 für t > c ist }
nennt man positiv. Das ist sinnvoll, denn Zähler und Nenner einer rationalen
Funktion R(t) besitzen als Polynome nur endlich viele Nullstellen. Das bedeutet,
dass R außerhalb eines geeigneten Intervalls eine stetige Funktion ohne Nullstellen
ist, also entweder durchgehend positiv oder durchgehend negativ. Damit gilt:
• Ist R ∈ R(t), so ist entweder R = 0 oder R > 0 oder −R > 0.
• Sind R, Q ∈ R(t), R > 0 und Q > 0, so ist auch R + Q > 0 und R · Q > 0.
Damit wird R(t) zu einem angeordneten Körper. Ein solcher Körper (der mit der
1 auch alle natürlichen Zahlen und damit sogar Q enthält) heißt archimedisch
angeordnet, wenn es zu jedem Element x eine natürliche Zahl n mit n > x gibt.
Im Falle des Körpers R(t) gilt: Ist n ∈ N, so ist rn (t) := t−n positiv (denn für t > n
ist rn (t) > 0). Weil rn (t) = r0 (t) − n mit r0 (t) := t ist, folgt: r0 (t) > n für jede
natürliche Zahl n. Man nennt solche Elemente auch unendlich groß“. Entsprechend
”
sind Elemente wie q0 (t) := 1/t unendlich klein“, weil sie positiv und dabei kleiner
”
als jede positive reelle Zahl sind. Der Körper R(t) ist nicht archimedisch angeordnet.
Man muss ihn sich ungefähr folgendermaßen vorstellen:
unendlich kleine Elemente
s
positive reelle Zahlen
0
unendlich große Elemente
96
2 Synthetische Geometrie
Leider kann man in R(t) nicht so ohne weiteres Wurzeln ziehen. Man kann sich
aber folgendermaßen behelfen:
R(t) lässt sich in eine Obermenge Cb einbetten, die alle fehlenden Wurzeln enthält.
Wie im Falle der euklidischen Zahlen kann man dann auch hier aus R(t) durch
sukzessive Adjunktion von Wurzeln einen größeren angeordneten Körper Ω(t) zurechtbasteln, in dem jedes positive Element eine Wurzel besitzt. Natürlich ist auch
Ω(t) nicht-archimedisch geordnet. (Details dazu finden sich im Anhang zu diesem
Abschnitt).
Als Modell M6 führen wir nun die nicht-archimedische Ebene“ Ω(t) × Ω(t) ein,
”
die Geraden werden wie üblich definiert. In diesem Modell sind alle Inzidenz-,
Anordnungs- und Bewegungsaxiome erfüllt, sowie das Kreisaxiom. Alle bisher bewiesenen Sätze gelten, aber nicht das Axiom (S.2). Damit ist dieses unabhängig
von den vorherigen Axiomen.
Man braucht das Archimedische Axiom zum Beispiel für die Einführung eines
Längenbegriffs.
Die Kongruenz von Strecken liefert eine Äquivalenzrelation. Die allen Elementen
einer Äquivalenzklasse gemeinsame Eigenschaft ist das, was wir uns anschaulich
unter einer Länge“ vorstellen. Deshalb wollen wir eine solche Äquivalenzklasse
”
auch als Länge bezeichnen. Λ sei die Menge aller Längen.
Die Äquivalenzklasse einer Strecke AB bezeichnen wir mit [AB]. Ist CD eine weitere Strecke, so kann man einen Punkt E mit A − B − E finden, so dass [BE] = [CD]
ist. Wir schreiben dann: [AE] = [AB] + [CD].
Die Definition ist unabhängig von den Repräsentanten, und offensichtlich ist die
Addition auf Λ kommutativ und assoziativ. Weiter gibt es zwischen den Elementen
von Λ eine <-Beziehung mit folgenden Eigenschaften:
1. Für je zwei Elemente a, b ∈ Λ ist entweder a < b oder a = b oder b < a.
2. Ist a < b und b < c, so ist auch a < c.
3. Ist a < b, so ist auch a + c < b + c, für jedes c ∈ Λ.
Unter diesen Umständen ist Λ ist eine angeordnete kommutative Halbgruppe.
Definition
Eine Längenfunktion ist eine Funktion λ : Λ → R+ mit folgenden Eigenschaften:
1. λ(a + b) = λ(a) + λ(b).
2. Es gibt ein e ∈ Λ mit λ(e) = 1.
Jede Strecke AB mit λ([AB]) = 1 wird als Einheitsstrecke (bezüglich λ )
bezeichnet.
2.6
Kreise und Parallelen
97
Satz: Ist λ eine Längenfunktion, so gilt:
1. Ist a < b, so ist auch λ(a) < λ(b).
2. Ist (an ) eine Folge von Längen, die man derart durch Strecken ABn repräsentieren kann, dass Bn+1 jeweils der Mittelpunkt von ABn ist, so ist
1
λ(an+1 ) = λ(an )
2
und
lim λ(an ) = 0.
n→∞
3. Die Einheitslänge e ist eindeutig bestimmt, d.h. je zwei Einheitsstrecken für
λ sind zueinander kongruent.
Beweis:
1) Seien a, b ∈ Λ mit a < b. Dann gibt es ein c mit a+c = b, also λ(a)+λ(c) = λ(b).
Da λ(c) > 0 ist, ist λ(a) < λ(b).
2) Es ist an+1 + an+1 = an . Daraus folgt: 2 · λ(an+1 ) = λ(an ), oder λ(an+ ) = 12 λ(an ).
Sukzessive folgt: λ(an ) =
1
2n−1
λ(a1 ), und im Grenzwert strebt λ(an ) gegen 0.
3) Seien e, e0 zwei Längen mit λ(e) = λ(e0 ) = 1. Wäre e 6= e0 , etwa e < e0 , so müsste
λ(e) < λ(e0 ) sein.
Eine Längenfunktion ist also ein Homomorphismus λ : Λ → R+ zwischen angeordneten Halbgruppen.
Satz: Zu jeder beliebigen Strecke P Q gibt es eine eindeutig bestimmte Längenfunktion λ, so dass P Q eine Einheitsstrecke für λ ist.
Beweis: (Idee) Sei a ∈ Λ eine Länge, repräsentiert durch eine Strecke AB, sowie
e die Länge von P Q.
Nach Archimedes gibt es ein N ∈ N, so dass entweder N · e = a oder N · e < a <
(N + 1) · e.
Im ersten Fall setzen wir λ(a) := N und sind fertig.
*
Im zweiten Fall gibt es Punkte X, Y auf AB mit A − X − B und X − B − Y gibt,
so dass λ([AX]) = N und λ([AY ]) = N + 1 ist.
A
r
r
r
e
2e
r
r
r
X = Ne
B
s
r
Y
Dann wird sukzessive die Strecke XY halbiert. Liegt B beim i-ten Schritt genau
auf dem oder rechts vom Mittelpunkt, setzen wir εi := 1 und machen mit dem
98
2 Synthetische Geometrie
rechten Teilintervall weiter, andernfalls setzen wir εi := 0 und machen mit dem
linken Teilintervall weiter.
Endet das Verfahren nach n Schritten (so dass der linke Randpunkt des n-ten
n
X
εi
Teilintervalls = B ist), so setzen wir λ(a) := N +
und sind fertig.
i
2
i=1
Andernfalls setzen wir
λ(a) = N +
∞
X
εi
i=1
2i
.
Da es nicht passieren kann, dass εn = 1 für alle n ≥ 1 gilt, und da alle εn in {0, 1}
liegen, folgt:
∞
∞
X
1
εn X 1 n
−
1
=
<
(
)
− 1 = 1.
n
2
2
1
−
1/2
n=1
n=0
Die Reihe ist konvergent und hat einen Wert < 1.
Die Additivität von λ kann man nachrechnen, ebenso die Monotonie.
Im Modell M5 liegt es nahe, OE mit O := (0, 0) und E := (1, 0) als Einheitsstrecke
zu wählen. Die dazu konstruierte Längenfunktion liefert die gewöhnliche euklidische
Länge. Natürlich erhält man nur Zahlen, die in Eu(Q) liegen.
Die Messung von Winkeln ist etwas schwieriger, darauf können wir hier nicht eingehen.
In der modernen Literatur wird an Stelle des Kreisaxioms (S.1) meist ein anderes
Axiom benutzt, zum Beispiel das Cantor-Axiom:
Das Cantor-Axiom (C): Es sei eine Gerade g und eine Folge von Strecken
si = Ai Bi ⊂ g gegeben, so dass jeweils si+1 ⊂ si ist und zu jeder Strecke P Q
ein n ∈ N mit An Bn < P Q existiert. Dann gibt es einen Punkt X ∈ g mit
X ∈ si für alle i.
Archimedes-Axiom und Cantor-Axiom zusammen sind äquivalent zum DedekindAxiom:
Das Dedekind-Axiom (D): Die Menge der Punkte einer Geraden g sei in zwei
nicht-leere Teilmengen M und N zerlegt, so dass kein Punkt von M zwischen
zwei Punkten von N und kein Punkt von N zwischen zwei Punkten von M
liegt.
Dann gibt es genau einen Punkt Z ∈ g, so dass für X ∈ M und Y ∈ N gilt:
Entweder ist Z = X oder Z = Y oder es gilt X − Z − Y .
2.6
Kreise und Parallelen
99
Die Dedekind-Eigenschaft sorgt dafür, dass jede positive reelle Zahl als Streckenlänge vorkommt. Also ist das Axiom (D) von den bisherigen Axiomen unabhängig. Ein passendes Modell ist die reelle Ebene R2 . Man kann die Axiome
(S.1) und (S.2) aus (D) herleiten. Beim Archimedes-Axiom ist das klar, beim KreisAxiom ist das nicht ganz so einfach. Wenn das Parallelenaxiom zur Verfügung
stände, könnte man Koordinaten einführen und direkt im R2 arbeiten. Dann geht
es einfacher, man muss nur ein quadratisches Gleichungssystem lösen.
Für Euklid und seine Zirkel-und-Lineal-Geometrie reichen die Axiome (S.1) und
(S.2) aus. Das Dedekind-Axiom (D) ist eng mit den reellen Zahlen verknüpft und
passt deshalb nicht so recht in die Antike Welt, es gehört in die Mathematik nach
Cantor, in der mengentheoretische Begriffsbildungen keine Probleme mehr bereiten.
Wir wollen hier vorerst noch beim Standpunkt Euklids bleiben und das DedekindAxiom erst benutzen, wenn dies unumgänglich ist.
Unter der neutralen Geometrie versteht man die Sammlung aller derjenigen
Resultate, die ohne Parallelenaxiom bewiesen werden können. Wir vervollständigen
diesen Vorrat noch durch einige weitere Sätze und gehen dann zur euklidischen
”
Geometrie“ über, die das Parallelenaxiom benutzt.
Satz (Euklids Proposition 20, Dreiecks-Ungleichung“):
”
In einem Dreieck sind zwei beliebige Seiten zusammen größer als die dritte Seite.
Beweis:
Wir wollen zeigen, dass im Dreieck ABC gilt: AB + BC > AC.
C
D
A
B
Sei D mit A−B −D so gewählt, dass BD =
b BC ist. Im Dreieck ADC ist ∠ACD >
∠BCD =
b ∠ADC, also AD > AC (weil dem größeren Winkel gemäß Proposition 19
die größere Seite gegenüberliegt). Es ist aber [AD] = [AB] + [BD] = [AB] + [BC].
Man erinnere sich an Euklids Proposition 22:
Sind drei Strecken a, b, c mit a + b > c, a + c > b und b + c > a gegeben, so kann
man ein Dreieck mit den Seiten a, b, c konstruieren.
Nun ist noch klarer geworden, wozu die Voraussetzungen nötig waren.
Mehrfach wurde schon gesagt, dass Euklid nicht nur Kongruenzsätze beweist, sondern auch die zugehörigen Konstruktionsbeschreibungen angibt. Fassen wir zusammen:
100
2 Synthetische Geometrie
(1) Im Falle SWS ist nicht viel zu sagen, man verbindet einfach die freien Enden
der beiden gegebenen Seiten miteinander.
(2) Über den Fall SSS wurde schon gerade schon gesprochen, mit Zirkel und Lineal
(also mit Hilfe des Kreisaxioms) ist die Konstruktion möglich.
(3) Euklids Proposition 26 hat die WSW- und die WWS-Kongruenz zum Thema:
WSW
WWS
Offen ist noch die Frage der Konstruierbarkeit im Falle WSW!
Um den fehlenden dritten Punkt des Dreiecks zu erhalten, muss man lediglich den
Schnittpunkt der freien Schenkel der beiden Winkel aufsuchen. Doch woher weiß
man, dass ein solcher Schnittpunkt existiert? Man weiß es eben nicht! Genau hierfür
braucht man Euklids Postulat V. Das sichert die Existenz des Schnittpunktes (unter
den gegebenen Bedingungen) und damit die Konstruierbarkeit des Dreiecks. (Im
Fall WWS treten die gleichen Probleme auf).
β
α
Tatsächlich beginnt Euklid mit Proposition 27 seine Theorie der Parallelen, und in
Proposition 29 benutzt er zum ersten Mal sein Postulat V.
In Kapitel 1 wurde für den Fall, dass eine Gerade h zwei parallele Geraden g1
und g2 trifft, die Bezeichnung F-Winkel, E-Winkel und Z-Winkel eingeführt. Diese
Bezeichnungen kann man auch verwenden, wenn g1 und g2 nicht parallel sind.
F-Winkel
E-Winkel
Wir sagen, in der gegebenen Situation gilt
Z-Winkel
2.6
Kreise und Parallelen
eine Bedingung (F),
eine Bedingung (E),
eine Bedingung (Z),
101
falls zwei Stufenwinkel gleich sind,
falls zwei Ergänzungswinkel zus. zwei Rechte ergeben,
falls zwei Wechselwinkel gleich sind.
Lemma:
Gilt eine Bedingung (F), (E) oder (Z), so gelten auch alle anderen.
Beweis:
Einfache Übungsaufgabe.
Satz (Euklids Proposition 27 und 28, benötigt nicht Postulat V):
Wird die Gerade h von zwei Geraden g1 , g2 in zwei verschiedenen Punkten getroffen und gilt eine Bedingung (F), (E) oder (Z), so sind g1 und g2 parallel.
Beweis: Es seien E und F die Schnittpunkte von h mit g1 bzw. g2 . Wir nehmen
an, g1 und g2 seien nicht parallel. Dann müssen sie sich auf einer Seite von h treffen,
G sei der Schnittpunkt. Wir wählen noch einen Punkt A auf g1 mit A − E − G.
F
A
g2
g1
E
G
Nach dem Lemma können wir voraussetzen, dass die Wechselwinkel ∠AEF und
∠EF G gleich sind. Aber ∠AEF ist Außenwinkel zum Dreieck EGF , und ∠EF G
ein nicht anliegender Innenwinkel. Das ist ein Widerspruch!
Satz (Euklids Proposition 31, benötigt nicht Postulat V):
Ist eine Gerade g und ein nicht auf g gelegener Punkt P gegeben, so kann man
durch P eine Gerade g 0 ziehen, die parallel zu g ist.
Beweis: Wir wählen auf g drei verschiedene Punkte A, X, B mit A − X − B. An
die Strecke XP tragen wir bei P einen Winkel ∠XP E =
b ∠BXP an und setzen
g 0 := EP .
E
P
r
r
g0
r
r
r
A
X
B
g
102
2 Synthetische Geometrie
Die Geraden g, g 0 treffen dann h := XP in zwei verschiedenen Punkten und haben
gleiche Wechselwinkel. Nach dem vorigen Satz müssen sie parallel sein.
Man beachte: Der Beweis liefert ein Konstruktionsverfahren, aber nicht die Eindeutigkeit der Parallelen zu g durch P . Es kann nicht – wie in der projektiven
Geometrie – passieren, dass eine Gerade überhaupt keine Parallele besitzt. Es ist
aber nicht ausgeschlossen, dass durch P mehrere Parallelen zu g gezogen werden
können.
Das Euklidische Parallelenaxiom (E-P): Wenn eine Gerade h von zwei
verschiedenen Geraden g1 , g2 in zwei verschiedenen Punkten getroffen wird und
dabei auf einer Seite von h Ergänzungswinkel entstehen, die zusammen kleiner
als zwei Rechte sind, so schneiden sich g1 und g2 auf dieser Seite von h.
Wie oben schon bemerkt, ist es nun möglich, ein Dreieck aus einer Seite und den
beiden anliegenden Winkeln zu konstruieren.
Satz (Euklids Proposition 29, benutzt (E-P)):
Trifft eine Gerade zwei verschiedene Parallelen, so gelten die Bedingungen (F),
(E) und (Z).
Beweis: Die Schnittpunkte der Geraden h mit den Parallelen g1 , g2 seien mit E
und F bezeichnet. Außerdem seien Punkte A, B ∈ g1 und C, D ∈ g2 gewählt, mit
A − E − B und C − F − D.
E
A
B
α
β
γ
δ
C
D
F
Es genügt zu zeigen, dass α =
b δ ist. Angenommen, das wäre nicht der Fall, es wäre
etwa α > δ.
Dann ist δ + β < α + β, und letztere ergeben als Nebenwinkel zusammen zwei
Rechte. Also sind die Voraussetzungen des Parallelenaxioms erfüllt, g1 = AB und
g2 = CD müssen sich auf der Seite von h, auf der B und D liegen, treffen. Das ist
ein Widerspruch zur Parallelität.
Dies ist in der Tat der erste Satz bei Euklid, der mit Hilfe des Parallelenaxioms
bewiesen wird.
2.6
Kreise und Parallelen
103
Satz (Euklids Proposition 30, benutzt Prop. 29, also Postulat V):
Sind zwei Geraden parallel zu einer dritten Geraden, so sind sie auch untereinander parallel.
Der rein technische Beweis wird hier weggelassen.
Die Parallelität ist also eine Äquivalenzrelation, wenn Gleichheit auch als Parallelität gilt.
Besonders wichtig ist natürlich der folgende Satz:
Satz (Euklids Proposition 32):
Bei jedem Dreieck gilt:
1. Jeder Außenwinkel ist gleich der Summe der beiden gegenüberliegenden Innenwinkel.
2. Die Summe der drei Innenwinkel ergibt zwei Rechte.
Der Beweis geht genauso, wie er in Kapitel 1 vorgeführt wurde. Natürlich benutzt
er das Parallelenaxiom.
Der Begriff des Dreiecks soll nun etwas verallgemeinert werden. Es seien Punkte A0 , A1 , A2 , . . . , An gegeben. si := Ai−1 Ai seien die Verbindungsstrecken aufeinander folgender Punkte, für i = 1, . . . , n. Dann nennt man die Vereinigung
Σ = s1 ∪ . . . ∪ sn einen Streckenzug. Man schreibt auch A0 A1 A2 . . . An an Stelle
von Σ.
Σ heißt geschlossen, wenn An = A0 ist.
Σ heißt einfach, wenn gilt:
a) Jeder innere Punkt einer Strecke gehört nur zu dieser Strecke.
b) Jeder der Punkte Ai gehört zu höchstens zwei Strecken.
Ein Polygon ist ein einfacher geschlossener Streckenzug. Die Strecken si nennt man
die Seiten des Polygons, die Punkte Ai die Ecken des Polygons. Ein Polygon mit
den Ecken A0 , A1 , . . . , An−1 , An = A0 wird auch als n-Eck bezeichnet.
Ein Polygon Σ trennt die Ebene in zwei Bereiche, die Menge I(Σ) der inneren“
”
Punkte und die Menge A(Σ) der äußeren“ Punkte von Σ.
”
Man kann die Punkte X ∈ E \ Σ folgendermaßen mit Hilfe der von X ausgehenden
Strahlen unterscheiden:1
1
Ich habe in der Vorlesung versucht, eine einfachere Definition für ein Polygongebiet zu finden.
Leider klappte das nicht so, wie ich dachte.
104
2 Synthetische Geometrie
*
• X liegt in A(Σ), wenn es entweder einen von X ausgehenden Strahl s mit
*
s ∩ Σ = ∅ gibt oder einen von X ausgehenden Strahl, der eine gerade Anzahl
von Seiten von Σ in je einem inneren Punkt trifft.
• X liegt in I(Σ), falls X nicht in A(Σ) liegt. Das bedeutet: Jeder von X
*
ausgehende Strahl s trifft das Polygon Σ, und wenn er endlich viele Seiten
von Σ in je einem inneren Punkt trifft, dann ist deren Anzahl ungerade.
Σ
s
s
s
I(Σ)
s
A(Σ)
Man nennt I(Σ) ein Polygongebiet.
Bei Dreiecken erhält man die bekannten Begriffe, und auch bei Vierecken verhält
sich alles so, wie man es erwartet. Man nennt ein Viereck ABCD konvex, wenn
I(ABCD) eine konvexe Menge ist, wenn sie also mit je zwei Punkten auch deren
Verbindungsstrecke enthält. Die Strecken AC und BD nennt man die Diagonalen
des Vierecks ABCD. Wir setzen stets voraus, dass keine drei Ecken kollinear sind.
Man kann zeigen:
• Ein Viereck ist genau dann konvex, wenn jede Seite ganz in einer durch die
gegenüberliegende Seite bestimmten Halbebene liegt.
• Sind in einem Viereck zwei gegenüberliegende Seiten parallel, so ist das Viereck konvex.
D
C
B
kein Viereck
nicht-konvexes Viereck
A
konvexes Viereck
Definition
Ein Parallelogramm ist ein Viereck, in dem gegenüberliegende Seiten parallel
sind.
Ein Rechteck ist ein Viereck mit 4 rechten Winkeln.
Ein Quadrat ist ein Rechteck, in dem alle Seiten gleich lang sind.
2.6
Kreise und Parallelen
105
Offensichtlich ist jedes Parallelogramm konvex.
Nun muss man über Flächen sprechen. Ausgangspunkt ist die Tatsäche, dass man
jedes Polygongebiet in endlich viele Dreiecksgebiete zerlegen kann (auch wenn es
schwierig ist, das allgemein zu beweisen).
Definition
Zwei Polygongebiete heißen zerlegungsgleich, wenn sie in endlich viele paarweise kongruente Dreiecksgebiete zerlegt werden können.
Zwei Polygongebiete heißen ergänzungsgleich, wenn man sie durch endlich
viele paarweise zerlegungsgleiche Polygongebiete zu zerlegungsgleichen Polygongebieten ergänzen kann.
Hier sind zwei Beispiele:
zerlegungsgleiche Figuren
ergänzungsgleiche Figuren
Man kann zeigen, dass beide Bedingungen Äquivalenzrelationen auf der Menge der
Polygongebiete definieren.
Satz (Euklids Proposition 34):
In einem Parallelogramm sind die gegenüberliegenden Seiten gleich lang, und die
Diagonale halbiert die Fläche.
Beweis: Ist ABCD das Parallelogramm, so folgt leicht mit Z-Winkeln und WSW,
dass die Dreiecke ABC und CDA kongruent sind. Insbesondere sind dann auch die
gegenüberliegenden Seiten gleich lang.
Bei der Aussage über die Fläche stutzt man, denn es wurde noch nicht definiert,
was unter der Fläche“ zu verstehen ist, und Euklids Original-Definition ist besten”
falls die Einführung eines primitiven Terms. Aber offensichtlich verwendet Euklid
das Prinzip der Zerlegungs- oder Ergänzungsgleichheit. Da die Dreiecke ABC und
CDA kongruent sind, ist die Fläche des Parallelogramms doppelt so groß wie die
der einzelnen Dreiecke.
Deutlicher wird das Prinzip beim folgenden Satz:
106
2 Synthetische Geometrie
Satz (Euklids Proposition 35): Es seien zwei Parallelogramme ABCD und
ABEF zwischen den Parallelen AB und CD = EF gegeben, mit gleicher Grundlinie AB. Dann haben sie die gleiche Fläche.
Beweis: Man muss eigentlich verschiedene Fälle untersuchen. Wir betrachten nur
den Fall F − E − D und E − D − C.
F
E
D
C
G
A
B
Euklid argumentiert folgendermaßen: Da ADF und BCE kongruent sind, haben sie
die gleiche Fläche. Subtrahiert man von beiden die Dreiecksfläche GDE, so erhält
man gleiche Vierecksflächen AGEF und BCDG. Fügt man nun die Dreiecksfläche
ABG hinzu, so erhält man die Gleichheit der Parallelogrammflächen.
Man kann eine Flächenfunktion einführen, die jedem beschränkten Polygongebiet G eine reelle Zahl µ(G) ≥ 0 zuordnet, so dass µ additiv und invariant unter
Bewegungen ist. Eigenartigerweise geht das ohne Parallelenaxiom, die Existenz ist
aber sehr schwer zu zeigen. Wenn das Parallelenaxiom gilt, kann man die Flächenfunktion so definieren, dass ein Quadrat der Seitenlänge a den Flächeninhalt a2
besitzt. Natürlich braucht man dafür eine Längenfunktion, aber es wurde ja schon
gezeigt, wie man mit Hilfe des Archimedes-Axioms eine solche Längenfunktion bekommt.
Der folgende Satz findet sich nicht bei Euklid, er wird sich aber bei späteren
Untersuchungen als sehr nützlich erweisen:
Satz über Äquidistanz: (E-P) sei zunächst nicht vorausgesetzt.
Sei g eine Gerade, C, C 0 zwei Punkte 6∈ g, aber auf der gleichen Seite von g. Mit
F bzw. F 0 seien die Fußpunkte der Lote von C bzw. C 0 auf g bezeichnet.
1. Ist F C =
b F 0 C 0 , so ist ∠F CC 0 =
b ∠F 0 C 0 C.
2. Setzt man zusätzlich (E-P) voraus, so gilt:
F C und F 0 C 0 sind genau dann kongruent, wenn C und C 0 auf einer Parallelen zu g liegen.
Beweis:
Es liegt folgende Situation vor:
2.6
Kreise und Parallelen
107
C
C0
F
F0
g
1) Die Winkel ∠F 0 F C und ∠F F 0 C 0 sind Rechte. Ist F C =
b F 0 C 0 , so ist F F 0 C =
b
0 0
0
0
0
0
0
F F C (SWS), und deshalb F C =
b F C und ∠F F C =
b ∠F F C . Damit ist aber
auch ∠CF 0 C 0 =
b ∠C 0 F C, und es folgt: CF 0 C 0 =
b C 0 F C (SWS). Also ist ∠F CC 0 =
b
0 0
∠F C C
2) Es gelte nun (E-P).
b F 0 C 0 . Nach dem Satz über die Winkelsumme im Dreieck ist ∠F CC 0 +
a) Sei F C =
∠F 0 C 0 C = 2R. Da die beiden Winkel nach (1) gleich sind, müssen beide Rechte
sein. Daraus folgt, dass CC 0 parallel zu g ist.
b) Sei umgekehrt CC 0 parallel zu g = F F 0 . Dann ist F F 0 C 0 C ein Parallelogramm.
b
In diesem Parallelogramm sind gegenüberliegende Seiten gleich lang. Also ist F C =
0
0
FC.
Wir haben damit auch gezeigt:
Gilt das euklidische Parallelenaxiom, so sind zwei Geraden, die überall den
gleichen Abstand haben, parallel.
Ab sofort und bis zum Ende des Abschnittes sei das Parallelenaxiom
vorausgesetzt!
Satz (Euklids Proposition 37):
Zwei Dreiecke, die in einer Seite übereinstimmen, und deren Höhen auf diese
Seite kongruent sind, haben die gleiche Fläche.
Beweis: Man kann annehmen, dass beide Dreiecke ihre Spitze auf der selben
Seite der Grundlinie haben. Nach Voraussetzung und wegen des vorigen Satzes
liegen diese Spitzen auf einer Parallelen zur Grundlinie. Ergänzt man die Dreiecke
zu Parallelogrammen, so erhält man flächengleiche Parallelogramme. Also sind auch
die Dreiecke flächengleich.
Satz (Euklids Proposition 46): Über einer Strecke kann man ein Quadrat
errichten.
Der Satz liefert sowohl die Existenz von Quadraten, als auch eine Konstruktionsbeschreibung. Den Beweis kann sich jeder selbst überlegen.
108
2 Synthetische Geometrie
Euklids Proposition 47 (der Satz des Pythagoras):
An einem rechtwinkligen Dreieck hat das Quadrat über der Hypotenuse die gleiche
Fläche wie die Quadrate über den Katheten zusammen.
Beweis: Das Dreieck ABC habe seinen rechten Winkel bei C, so dass AB die
Hypotenuse ist.
Es sei AEDB das Quadrat über der Hypotenuse, ACGF und CBHI die Quadrate
über den Katheten.
I
G
H
C
F
A
K
B
E
L
D
Man fälle das Lot von C auf AB, es trifft dort einen Punkt K mit A − K − B und
kann über K hinaus bis zu einem Punkt L mit E − L − D verlängert werden.
Da CL die Geraden AB und ED jeweils senkrecht trifft, ist CL parallel zu AE.
Die Dreiecke AEC und ABF sind kongruent (SWS, es ist ∠F AB =
b ∠CAE ), also
haben sie die gleiche Fläche.
Das Dreieck F AB und das Quadrat F ACG haben die gleiche Grundlinie und die
gleiche Höhe. Genauso haben AEC und das Rechteck AELK die gleiche Grundlinie
und die gleiche Höhe. Daraus folgt, dass F ACG und AELK die gleiche Fläche
haben. Und genauso folgt, dass CBHI und KLDB die gleiche Fläche haben.
2.6
Kreise und Parallelen
109
Nimmt man alles zusammen, so erhält man die Behauptung.
Steht eine Flächenfunktion zur Verfügung, so ergibt sich der Satz des Pythagoras
in der gewohnten Form:
Bei einem rechtwinkligen Dreieck mit der Hypotenuse c und den Katheten a
und b ist a2 + b2 = c2 .
Anhang:
Hier soll die Konstruktion des nicht-archimedischischen Körpers Ω(t) im Detail
ausgeführt werden.
Sei R(t) := {f /g : f, g Polynome, g 6= 0} der Körper der rationalen Funktionen“.
”
Die Elemente von P := {R ∈ R(t) : ∃ c ∈ R, so dass R(t) > 0 für t > c ist }
nennt man positiv. Damit wird R(t) zu einem angeordneten Körper, d.h.:
• Ist f ∈ R(t), so ist entweder f = 0 oder f > 0 oder f < 0.
• Sind f, g ∈ R(t), f > 0 und g > 0, so ist auch f + g > 0 und f · g > 0.
Ein angeordneter Körper K heißt archimedisch angeordnet, wenn es zu jedem x ∈ K
eine natürliche Zahl n mit n > x gibt.
Im Fall K = R(t) gilt: Ist n ∈ N, so ist fn (t) := t − n positiv (denn für t > n
ist fn (t) > 0). Weil fn (t) = f0 (t) − n mit f0 (t) := t ist, folgt: f0 (t) > n für jede
natürliche Zahl n. Der Körper R(t) ist nicht archimedisch angeordnet. Elemente
wie f0 kann man unendlich groß“ nennen, denn es ist f0 > c für jede reelle Zahl c.
”
Umgekehrt kann man das Element 1/f0 als unendlich klein“ bezeichnen, weil es
”
positiv und dabei kleiner als jede positive reelle Zahl ist.
Das Problem ist, dass man in R(t) nicht so ohne weiteres Wurzeln ziehen kann.
Dazu muss man den Körper erweitern, und das ist nicht ganz so einfach.
Sei C die Menge der stetigen Funktionen, die auf einem Intervall (c, ∞) definiert sind und entweder ≡ 0 oder ohne Nullstellen sind. Zwei solche Funktionen f1 : (c1 , ∞) → R und f2 : (c2 , ∞) → R sollen äquivalent heißen, falls ein
c ≥ max(c1 , c2 ) existiert, so dass f1 = f2 auf (c, ∞) ist. Es ist offensichtlich, dass
dies eine Äquivalenzrelation ist. Wir bezeichnen die Äquivalenzklasse von f ∈ C
mit < f > und die Menge aller Äquivalenzklassen mit Cb. Man beachte, dass diese
Menge weit davon entfernt ist, ein Körper zu sein! Schon die Summe zweier Klassen
kann nicht immer gebildet werden (die Funktionen f1 (t) := 2 und f2 (t) := 2 + sin t
liegen in C , nicht aber die Funktion f2 (t) − f1 (t) = sin t, die periodisch auftretende
Nullstellen besitzt).
Wir nennen eine Klasse < f > positiv, falls es ein c ∈ R gibt, so dass f (t) > 0 für
t > c ist. Positive Klassen können addiert und multipliziert werden, das Ergebnis
ist wieder positiv. Ist < f >6= 0 (und damit f (t) 6= 0 für genügend großes t), so ist
< f > positiv oder − < f > positiv.
110
2 Synthetische Geometrie
Nun definieren wir j : R(t) → Cb durch j(R) :=< R|(c,∞) >, wobei c so zu wählen
ist, dass R(t) definiert und R(t) 6= 0 für t > c ist. Die Abbildung ist wohldefiniert,
denn das Ergebnis hängt nicht von der Wahl von c ab. Ist R positiv, so ist auch
j(R) positiv. Weiter ist j(R1 + R2 ) = j(R1 ) + j(R2 ) und j(R1 · R2 ) = j(R1 ) · j(R2 ).
Die Summen und Produkte auf der rechten Seite können gebildet werden, denn zu
jeder rationalen Funktion R 6= 0 gibt es ein c, so dass R(t) definiert und R(t) 6= 0
für t > c ist. Schließlich ist j injektiv: Ist j(R1 ) = j(R2 ), so gibt es ein c, so dass
R1 (t) = R2 (t) für t > c ist. Dann ist R1 − R2 eine rationale Funktion, die für t > c
verschwindet. Das ist nur möglich, wenn R1 = R2 ist.
Wir können also R(t) als Teilmenge von Cb auffassen.
2.6.1 Satz
b
Sei
√ K ⊂ C ein Körper, der R(t) umfasst, sowie α ∈ K ein positives Element, aber
α 6∈ K. Dann ist
√
√
K 0 := K( α) = {a + b α : a, b ∈ K}
ein Körper, der K umfasst und seinerseits in Cb liegt.
Beweis: 1) Seien f, g, h ∈ C , a =< f >, b =< g > und α =< h >. Alle drei
Funktionen seien auf (c, ∞) definiert,
stetig und ohne Nullstellen. Außerdem sei
√
h > 0. Dann ist auch F := f +g h eine stetige Funktion auf (c, ∞). Wir nehmen an,
es gibt eine unbeschränkte Folge (tν ) mit F (tν ) = 0. Dann ist f (tν )2 = g(tν )2 · h(tν )
für alle ν. Aber f 2 − g 2 h ist ein Element von K und damit eine stetige Funktion,
die für großes t keine Nullstelle mehr besitzt. Das ist ein Widerspruch. Also liegt
F in C und K 0 in Cb.
2) Summe und Produkt zweier Elemente von K 0 können gebildet werden und liegen wieder in K 0 . Die Existenz des Inversen folgt wie bei der Konstruktion der
pythagoräischen Zahlen, und genau wie dort ergibt sich, dass K 0 ein Körper ist.
Definition
Es sei Ω(t) die Menge aller Elemente x ∈ Cb, zu denen es eine (von x abhängige)
Folge von Körpererweiterungen
R(t) = K0 ⊂ K1 ⊂ K2 ⊂ . . . ⊂ Kn
√
√
der Form Ki = Ki−1 ( αi ) mit positivem αi ∈ Ki−1 (und αi 6∈ Ki−1 ) gibt, so
dass x in Kn liegt.
Wir nennen Ω(t) den Körper der nichtarchimedischen Zahlen.
Ω(t) enthält R und alle natürlichen Zahlen, die – aufgefasst als Äquivalenzklassen
konstanter Funktionen – auch in C liegen. Aber in Ω(t) ist das Archimedische
Axiom nicht erfüllt.
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