Somatoform - Klinik Schützen

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Somatoform
Fortbildung: Klinik Schützen Rheinfelden 27.3.07
Umgang mit
(somatoformen)
Schmerzstörungen im
Praxis-Alltag: Vom
Schreckgespenst zum
hilfreichen Wegweiser
Prof. Dr. Peter Keel
Chefarzt Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik
Bethesda-Spital, Basel
Somatoforme Stö
Störungen:
Definition, Pathogenese
™ „Körperliche“ Symptome ohne
ausreichende organische Ursache
™ Zusammenhang mit (oft unbewussten)
emotionalen Konflikten, Belastungen
™ Psychische Dauerspannung (Sorgen,
Angst, Stress) führt über vegetative und
hormonelle Zwischenglieder zu
funktionellen Organstörungen
™ Prädisposition durch Lebensstil und
traumatische Kindheitserfahrungen
Chronischer Rü
Rückenschmerz:
Multifaktorielle Stö
Störung
Synonyme:
• Psychosomatisch
• Idiopathisch (Rückenschmerz)
• Unspezifisch (Rückenschmerz)
• Psychogen (Schmerz)
• Funktionell (Brustschmerz)
• Essentiell (Hypertonie)
Erscheinungsbilder (Auswahl)
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Hypochondrie
Somatisierungsstörung
Müdigkeitssyndrom (Neurasthenie)
autonome Funktionsstörungen (z.B.
Reizblase, paroxysmale, Tachykardie)
anhaltende somatoforme Schmerzstörung,
v.a. unspezifischer Rückenschmerz
Fibromyalgie
Colon irritabile
Kopfschmerz, Migräne
Peptisches Ulcus
Hypertonie
Koronare Herzkrankheit
Psyche
Soma
Risiko des Auftretens von Rü
Rückenschmerzen
(geordnet nach Beeinflussbarkeit: oben = nein/ unten = ja)
1
Fallbeispiel Massimo
• angelernter Betriebsmechaniker bei
Maschinenhersteller (Präzisionsteile), seit
18 Jahren in Firma, sehr geschätzt
• 38 Jahre, verheiratet, 2 Kinder (7/11 J.)
• guter Fussballspieler
• wiederholte Episoden von Kreuzschmerzen,
harmlose degenerative Veränderungen
• aus Angst vor Stellenverlust bei Krankheit,
nur heimliche kleine Arbeitspausen (auf WC)
Fallbeispiel Massimo (2)
• Physiotherapie und SchmerzMedikamente (Ibuprofen etc.) helfen
anfangs
• Besserung durch 4-wöchige
Intensivbehandlung in Rehabilitationsklinik
• kann nur noch halben Tag arbeiten,
halbe IV-Rente wegen behindernden Rückenschmerzen
Fallbeispiel Massimo (3)
Fallbeispiel Massimo (4)
• Psychotherapie deckt tragische
Kindheitsgeschichte auf (wiederholte
Verstossung)
• machte ihn zu einem extrem
hilfsbereiten, angepassten, mit sich
harten Menschen
• dauernde Angst, erneut verstossen zu
werden (Eltern, später Sportclub,
Arbeitgeber)
• versucht „allen alles recht zu machen“
• Arbeitgeber hält zu ihm, trotz weiteren
Arbeitsausfällen und schliesslich voller
Arbeitsunfähigkeit
• weitere Behandlungsversuche auch mit
starken Schmerzmitteln (Morphium)
• verdeckte Eheprobleme: Frau trennt sich
überraschend, bricht Kontakt zu Kindern
weitgehend ab, diese bleiben bei Patient,
sind sehr unterstützend, er verwöhnt sie
Fallbeispiel Massimo: Diagnose
• (unspezifische) funktionelle Rückenschmerzen = somatoforme Schmerzstörung
• keine fassbare körperliche Ursache
¾psychische Belastungen erst spät erkannt, da
(unbewusst) „verleugnet“
¾multifaktorielle Genese
¾Veränderungen der Schmerzwahrnehmung
(neuropathische Komponente, Neuroplastizität
des Gehirns) spielen eine Rolle, da Gabapentin
(Neurontin) und hohe Dosen von Amitriptylin
(Tryptizol) wirksam (grosse Ausnahme!!)
Somatoforme Störungen
Häufigste, gleichzeitig unscharfe Diagnose:
Anhaltende somatoforme Schmerzstö
Schmerzstörung
(F 45.4)
kontinuierliche Schmerzen seit >6 Monaten
als schwer und belastend erlebt
Zusammenhang mit emotionalen Konflikten und
psychosozialen Belastungen
Schmerz oder Intensität nach gründlicher
Untersuchung nicht adäquat erklärbar
nicht durch physiologische Prozesse erklärt (z.B.
Spannungskopfschmerz)
2
Volksmund: Sorgen machen krank
machen Kopfweh
liegen auf dem Herzen
drücken auf den Magen
verschlagen den Appetit
oder auch: Ärger wird geschluckt
Wut im Bauch haben
Schiss (Angstdurchfall) haben
weiche Knie bekommen
Zugang zum Patienten:
Schmerz kennen, verstehen
und bewä
bewältigen lernen
1. Sicherung des Vertrauensverhältnisses
2. Regeln für die Gesprächstechnik und die
Informationsgewinnung
3. Elemente der vertieften (psychosomatischen)
Schmerzanamnese
4. Aktive Schmerzbewältigung mit Patient:
„Therapieeinleitung“
5. Therapeutisches Vorgehen und geeignete
Behandlungsmöglichkeiten
2. Regeln fü
für die Gesprä
Gesprächstechnik
und die Informationsgewinnung
•
•
•
•
•
Erwartungen klären
Zeitrahmen festlegen
„Passives“ Zuhören (Zuwendung)
Zeit lassen für Antworten (Pausen)
Aktives Zuhören:
¾offene Fragen
¾gezieltes Nachfragen (sich ins Bild setzen)
... aber bei chronischem Schmerz?
Zusammenhang oft nicht klar, weil ...
•
•
•
•
•
Chronischer Stress (Dauerspannung) nicht
wahrgenommen („normal“) -> Verleugnung
verdrängte Probleme: unangenehm, bedrohlich,
(scheinbar) unlösbar -> Sachzwänge
sozial erwünschtes Verhalten -> nett sein
Zwang allen alles recht machen: Angst vor
Ablehnung, Verstossung (Prägung durch
Kindheit) -> übermässige Wachsamkeit
Durchhalteparolen, auf die Zähne beissen, hart
mit sich selbst -> zentrale Sensibilisierung
1. Sicherung des
Vertrauensverhä
Vertrauensverhältnisses
• Eingehen auf Patient (therapeutische
Grundhaltung)
¾Regeln für die Gesprächstechnik und die
Informationsgewinnung
• Beschwerden ernst nehmen:
¾umfassende Anamnese
¾gründliche körperliche Untersuchung
3. Elemente der vertieften (psycho(psychosomatischen) Schmerzanamnese
• Ziele: Suche nach
¾Zusatzsymptomen als Hinweise für
funktionelle Störung
¾psychosozialen Belastungsfaktoren
¾prognostischen Hinweisen
¾Zeichen von Komorbidität mit
Depression oder Angst
3
Vertiefte Schmerzanamnese
Schmerz überall
Schmerzgeneralisierung
¾ausgedehnte, umschriebene Schmerzen
¾zusätzliche funktionelle Beschwerden
(Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Magen-DarmBeschwerden etc. -> Fibromyalgie)
¾adäquates Schmerzverhalten, erhaltene
Modulation
Symptomausweitung
¾ auffälliges Schmerzverhalten
¾ fehlende Modulation, extreme Stärke
Suche nach prognostisch
ungünstigen Faktoren
• Alter über 50 Jahre
• Belastungssituationen in Beruf und Privatleben,
geringe Arbeitszufriedenheit
• "schichtabhängige" Faktoren: geringe Bildung,
unqualifizierte Arbeit, Gastarbeiter, unsicherer
Arbeitsplatz
• pessimistisch-resignative Einstellung und
passive Erwartungen
• sekundäre Folgen: Stellenverlust, sekundärer
Krankheitsgewinn (Entlastung, Entschädigung)
Typische funktionelle BegleitBegleitsymptome bei chronischem Schmerz
• Müdigkeit (98%) !
• Schlafstörungen (90%) !
• Gelenkschmerzen (85%)
• Colon irritabile (80%)
• Parästhesien (76%)
• Migräne, Spannungskopfschmerzen (66%)
• Engegefühl bei Schlucken (Globusgefühl) (40%) !
¾weisen in Richtung Fibromyalgie-Syndrom
(Häufigkeit bei FMS)
¾DD: Depression, Angststörung
Vertiefte Schmerzanamnese:
Schmerzbeschreibung
¾Lokalisation(en), Ausdehnung
• begrenzt – ausgedehnt – diffus (überall)
¾Intensität, Fluktuationen
• gering – hoch; moduliert – immer gleich
¾Beginn, Auslöser
• abrupt – schleichend
¾Trauma/Belastung
• ja – nein
¾Zusatzbeschwerden
Eher typisch für:
„mechanisch“
funktionell
Symptomausweitung
• keine – typische – bizarre
Fibromyalgie (FMS):
Obligate Symptome
• Schmerzen im Bereiche der Muskulatur
am ganzen Körper (oben/unten;
links/rechts)
¾während mindestens 3 Monaten
¾an der Wirbelsäule
• Typische Druckschmerzpunkte (11/18)
¾Ausdruck der Hyperalgesie
4
Abgrenzung
FMS/Depression/Angst
Erweiterte Schmerzanamnese
Typisch für Depression, nicht für FMS
• Bedrückte Stimmung
• Verlust von Interesse und Freude
• Appetit vermindert
• Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit
• Suizidtendenzen
Typisch für Angst, nicht für FMS
• anfallsweises Auftreten von Angst/Panik
begleitet von Schwitzen, Herklopfen etc.
Symptomausweitung:
Mögliche Ursachen
Suche nach weiteren Kriterien
für Symptomausweitung
• Auffälliges Schmerzverhalten (Seufzen,
Reiben, Hinken etc.)
• Unzufriedenheit mit Behandlungen
• Schlechte oder unrealistische
Selbstprognose
• Diskrepanz oder Inkonsistenz in Angaben
und Verhalten
• Hinweise auf schwere (unlösbare)
psychosoziale Belastungssituation
Weitere Hinweise fü
für
psychosomatisches Leiden
• Lebensgeschichte
¾Mangel an Liebe und Zuwendung
¾Strenge, Strafen, Schläge
¾frühes hartes Arbeiten
¾Missbrauch (körperlich, sexuell)
• Folgen für Persönlichkeit
¾Tendenz zu Selbstüberforderung
• Ausdruck grosser Verzweiflung
(Somatisation, Hypochondrie, Angst)
• Verdeutlichungstendenz bei gestörter
Arzt-Patient-Beziehung
• Aggravation bei sekundärem Gewinn
(unbewusst/teilbewusst)
• bewusste Simulation, oft bei Persönlichkeitsstörungen (narzisstisch, Borderline,
paranoid, asozial)
Tendenz zu Selbstüberforderung
•
•
•
•
•
•
Leistungsorientierung: hartes, pausenloses
Arbeiten, Verausgabung, wenig Erholung
Selbstwertprobleme: Anerkennung von Leistung
abhängig, Selbstentwertungstendenz
Angst vor Kritik und Verstossung:
Perfektionismus, Überanpassung, Überwachsamkeit
Vermeidung von Abhängigkeit: Mangel an
Urvertrauen, forcierte Selbständigkeit, Mühe Hilfe zu
beanspruchen
Aggressionshemmung: geringes Durchsetzungsvermögen, konfliktscheu, Harmoniesucht
Alexithymie: Unfähigkeit v.a. unangenehme
Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken
5
4. Aktive Schmerzbewä
Schmerzbewältigung
mit Patient: „Therapieeinleitung“
Therapieeinleitung“
Informations- und Motivationsarbeit in fünf Schritten:
1. Aufklärung über die Gutartigkeit des Leidens
2. Konfrontation mit übertriebener Schmerz-angst
3. Verzicht auf weitere Abklärungen und passive
Behandlungen
4. Vermeidung längerfristiger Krankschreibung
und baldige Rückkehr an (bisherige) Arbeit
5. Absprache mit übrigen Behandlern: Unité de
doctrine
4.2. Konfrontation mit
übertriebener Schmerzangst
4.1. Aufklä
Aufklärung über die
Gutartigkeit des Leidens
• Fehlen fassbarer Befunde: kein gefährliches
Leiden
• Bedeutung der radiologischen Befunde:
normale Abnützung
• Hinweis auf weiche Befunde
(Muskelverhärtungen, Druckschmerzpunkte, Dysbalance, Trainingsmangel etc.)
und funktionelle Begleitsymptome
4.3. Verzicht auf weitere Abklä
Abklärungen
und passive Behandlungen
• Übertriebene Angst vor
Schmerzprovokation bei Belastung
• Katastrophale Vorstellungen und
Befürchtungen
• Konditionsverlust als Folge der
Schonung: erhöhte Schmerzanfälligkeit
• erneute Untersuchung nur bei neuen
Symptomen (Warnzeichen)
• Nutzlosigkeit und Schaden von
Untersuchungen ohne klare Indikation
• passive Symptombekämpfung limitieren, da
keine "Heilung" dadurch
• Cave: Nebenwirkungen, Konditionsverlust,
Kosten
4.4. Vermeidung lä
längerfristiger
Krankschreibung & baldige Rü
Rückkehr
an (bisherige) Arbeit
4.5. Absprache mit übrigen Behandlern:
Unité
Unité de doctrine
• Nicht Schmerzfreiheit, sondern "Leben mit
Schmerz"
• Aktivierung trotz Schmerz: Ungefährlichkeit
des Belastungsschmerzes
• Gefahr der Entwöhnung von der Arbeit:
Konditionsverlust
• Gefahr des Stellenverlustes bei langer
Krankheit
9Zusammenarbeit von Hausarzt,
Spezialisten, Physiotherapeuten
9Gleiche Ziele, Koordination der
Informationen und Massnahmen
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5. Ganzheitliches
Behandlungskonzept
• Schmerz selber beeinflussen
lernen
¾Anleitung zu Verhaltensänderung
• Rücksicht auf den
Rücken/Rücksicht auf sich selbst:
¾Rücken schützen
¾Stress abbauen
Rücksicht auf sich selbst:
Stress abbauen
•
•
•
•
•
Zeit nehmen für sich selbst
Nein sagen lernen
Sich durchsetzen lernen
Konfliktfähiger werden
Perfektionismus abbauen
¾Schmerz- und Stressbewältigungstraining
Umgang mit Widerstand:
Auswege
Veränderungen in Helferrolle
¾Rolle des omnipotenten Helfers aufgeben
(Paradigmawechsel: Akutmedizin ->
Rehabilitation)
¾eigene Grenzen (Gefühle) kennen und zeigen
(Echtheit!), trotzdem wohlwollend und
einfühlsam bleiben
¾eigene Angst zu enttäuschen ablegen, Nein
sagen gegenüber Patient
Rücksicht auf den Rücken:
Rücken schützen
• Vor Überlastung schützen (Ergonomie)
¾Schwerarbeit dosieren
¾konstante Haltungen meiden
• Durch Training stärken
¾Bewegung im Alltag, Sport (z.B. MTT, Nordic
Walking, Aquafit etc.)
• Durch Ausgleich entlasten
¾Pausen, Sport, Entspannung (ev.
Entspannungskurs für PMR, AT)
Widerstä
Widerstände gegen
Verä
Veränderung
• unrealistisch hohe Erwartungen: Heilung
• hilflos-passive Erwartungshaltung: „Ich kann
nichts dagegen tun ...“
• Einwände gegen Veränderung: „Ja, aber ...“
• verdeckte Widerstände: „... nichts hilft, alles
macht Nebenwirkungen, immer gleich ...“
• vermeintliche Sachzwänge - unrealistische
Ängste
Umgang mit Widerstand:
Auswege
Erwartungen an Patient
¾Klare Abmachungen (Erwartungen
klären, Ziele definieren, Vertrag)
¾Eigenverantwortung fördern
(Selbstreflexion), Eigenleistungen
verlangen (Hausaufgaben)
¾übertriebene Hilflosigkeit aufdecken,
überwinden helfen („ja, aber“)
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