Björn Gottstein: Musik im Wendekreis des Schlagzeugs

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Menge von musikalischen Persönlichkeiten herausgebildet, die sich auf die Musik selbst auswirken.
Zum einen sind da Charaktere wie Christian Dierstein,
mit seinem eher sachlichen Stil, oder Robyn Schulkowsky, die ihren Auftritten oft etwas Verspielt-­
Tänzerisches verleiht. Manche Schlagzeuger haben
sich ganz und gar auf ein einziges Instrument festgelegt; Lê Quan Ninh aus Frankreich oder Morton J.
Olsen aus Norwegen nutzen die große Trommel als
Resonanzkörper, Drehscheibe und Bühne für alle
denkbaren Objekte. Man denke an die vielen Musiker,
die als Schlagzeuger schließlich andere musikalische
Wege beschritten, an Michael Vorfeld und seine
Glühlampenmusik, an Hanno Leichtmann, der jetzt
Techno produziert, an Martin Brandlmayr, der sich
der experimentellen Elektronik zuwendet, an Günter
Müller, der auf „geknackter Alltagselektronik“ spielt,
an Jason Kahn, einst Schlagzeuger der Posthardcoreband Universal Congress Of, der heute meditative Klangambiente realisiert, an Volker Staub, der
sich als Instrumentenbauer tätigt, und Stefan
­Froleyks wurde zuletzt am Ufer der Ruhr gesichtet,
wo er mit Angelruten nach Klängen fischte. Wenn
man über die Persönlichkeiten unter den Schlagzeugern spricht, dann muss man wohl auch die Gründergeneration erwähnen, jene Neugierigen, die den
Komponisten die neuen Klänge erst nahe legten, wie
Christoph Caskel in Deutschland, Jean-Pierre Drouet
in Frankreich, William Winant in den USA oder, im
Bereich der improvisierten Musik, Eddie Prevost in
England. Ihnen sind inzwischen weitere Generationen
gefolgt: Musiker vom Schlage eines Jonny Axelsson,
eines Matthias Kaul, eines Isao Nakamura, einer
Rumi Ogawa, eines Stefan Römer, eines Dirk Rothbrust. Einige von ihnen wurden sogar Medienstars,
wie Evelyn Glenn durch den Dokumentarfilm „Touch
The Sound“11 oder der „Schlagzeug-Artist“ Martin
Gruber. Es ist ein weiter Weg, der 1962 von der
Gründung eines Ensembles wie Les Percussions de
Strasbourg oder 1977 der Slagwerk Den Haag zur
örtlichen Sambagruppe führt, von einem Stück wie
Iannis Xenakis „Pléïades“ zu der den Alltag humorvoll rhythmisierenden Broadwayshow „Stomp“. Und
man tut Niemandem einen Gefallen, wenn man all
diese Erscheinungsformen von Musik über einen
Kamm schert. Die These vom Jahrhundert des
Schlagzeugs aber, die Reginald Smith Brindle 1970
formulierte, scheint ihre Berechtigung zu haben.
4 „My heart is beating like a jungle drum“, singt
Emilía Torrini und will wohl sagen, dass sich Glücksgefühle auch auf perkussiv-somatische Weise
äußern können. Dschungeltrommeln sind wild,
unmittelbar, gefährlich und aufregend. Diese
Zuschreibungen sind aus politischer Sicht sicherlich
ambivalent. Aber sie erzählen uns doch etwas
11 Regie: Thomas Riedelsheimer, Deutschland 2004.
darüber, was wir mit dem Perkussiven insgesamt in
Verbindung bringen. Denn so schlägt eben das verliebte Herz; ein Rhythmus, den wir – ganz buchstäblich – im Blut haben. Und wenn die Sängerin dann ihr
„Rakatungtungrakatungonburubummbummbumm“
vorträgt und die Dschungeltrommel vokal imitiert,
dann werden Trommel und Liebe, Klang und Subjekt
vollkommen eins: das Schlagzeug als Dispositiv der
Seele.
Tatsächlich verdanken wir dem Schlagzeug im 20.
Jahrhundert eine Reihe von ästhetischen Erfahrungen.
Nehmen wir die nervöse Energie, die sich im Jazz seit
Erfindung des Bebops breit machte und die einerseits etwas mit Hektik und Orientierungslosigkeit zu
tun hat, die aber auch die gliedernde Schwerkraft
des Metrums aufhebt und so etwas Freies und
Bodenloses evoziert. Nehmen wir die düsteren Beats
der Dark-Wave-Szene, die noch heute im Dubstep
weiterleben und denen etwas Klandestines und
zutiefst Melancholisches zu eigen ist. Nehmen wir
die den Groove des Hiphop, die humorlose Grad­
linigkeit von Techno ...
Wo bleibt da, Bitteschön, die neue Musik? Die Komponisten der Avantgarde haben das Schlagzeug
nicht nur besonders gründlich, sondern auch besonders radikal befragt. Das gilt nicht nur für die Erweiterung des Instrumentenfundus, sondern auch für
die Möglichkeiten, die Instrumente zum Klingen zu
bringen. Wer den überirdisch schönen Gesang eines
Beckens gehört hat, das hochkant über die Membran
einer großen Trommel geschoben wird, wer die ortlose Schwingung eines mit einem Kon­trabassbogen
gestrichenen Vibraphonstabs erlebt hat, weiß wovon
die Rede ist. Man kann die Trommel schlagen, um zu
marschieren oder, wie einst Mauricio Kagel, um den
Sieg zu verfehlen. Man kann die Trommel als Stumpfsinn inszenieren oder aber als ein Instrument der
­Kritik, wie in Nicolaus A. Hubers Trommelstück
­„Dasselbe ist nicht dasselbe“. Man kann die Sterne
anrufen, wie Gérard Grisey in „Le noir d‘étoile“ und
die Klangmechanik zersetzen wie Helmut Lachenmann in seinem „Intérieur“. Aber man vergesse
dabei nicht, dass vom Schlagzeug immer auch eine
Gefahr ausgeht. Und deshalb sollte man Reginald
Smith Brindles Rat an Musikern und Komponisten
ganz besonders ernst nehmen: „A few sounds are
enough. For the love of God avoid a racket!“12
Björn Gottstein
Musikjournalist, lebt in Berlin
12 Reginald Smith Brindle, „Contemporary Percussion“, London 1970, 203.
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Musik im Wen d e k re i s d e s S c h l a g z e u g s
1„Percussion can be rather dangerous,“1 warnte Reginald
Smith Brindle 1970. Zwar wollte Smith Brindle Komponisten nur darauf hinweisen, dass sie es mit perkussiven
Effekten in ihren Werken nicht übertreiben, sondern sparsam damit umgehen sollten. Aber das Schlagzeug ist
manchmal tatsächlich gefährlich. Aus der Psychologie ist
zum Beispiel bekannt, dass repetitive Rhythmen auf jene
Regionen des Gehirns wirken, in denen hypnotische und
ekstatische Zustände ausgelöst werden. Auch stehen
Tanz und Ekstase in einem engen Zusammenhang, und
im Schamanismus, Sufismus, aber auch in der westlichen
Kultur wurden Musik und Tanz benutzt, um einen Bewusstseinsverlust herzustellen.2 Und dann ist da noch jener
berühmte „Rhythmus, wo man mit muss“, ein massenpsychologisches Phänomen, dass den Einzelnen in seiner
Eigenständigkeit schwächt. Gemeint sind damit Tempi
von ca. 110 Schlägen pro Minute, das vielen Tänzen und
auch einer ausdifferenzierteren Clubmusik wie House
Music zugrunde liegt. Der Zwang, der von einem solchen
Rhythmus ausgeht, das Unfreiwillige daran, ist natürlich
auch gefährlich. Als im November 2012 bei der Generalprobe eines Werks von Claus-Steffen Mahnkopf der
Schlagzeuger des Orchesters den Hammerschlag erstmals mit voller Wucht ausführte, zuckten die gesamten
Blechbläser ordentlich zusammen. Das sei doch „Körperverletzung“, raunte einer der Orchesterangestellten, und
es wurden schleunigst Plexiglasscheiben hervorgebracht,
um die Musiker von der dynamischen Wucht des Hammerschlags zu schützen. Das deutsche Wort „schlagen“
impliziert ja nun auch eher keinen besonders zärtlichen
Akt; und die elegantere Vokabel vom Perkussiven geht
ebenfalls auf percussus, der Schlag, und percussio, die
Erschütterung, zurück. Schließlich war der Stock, mit dem
Jean-Baptiste Lully seinem Orchester pochend den Takt
vorgab und den er sich eines unglücklichen Abends im
Januar 1867 in den Fuß rammte, wodurch er sich Wundbrand zuzog, an dem er schließlich starb, auch ein Schlaginstrument. Percussion can be rather dangerous indeed.
Nun kommt, wer sich in Gefahr begibt, bekanntlich darin
um. Für die Musik ist das Gegenteil der Fall. Erst die
Gefahren des Perkussiven haben die Lebendigkeit und die
Vielfalt der Musik im 20. Jahrhundert überhaupt möglich
gemacht. „Our own time seems to be becoming more
and more the age of percussion“3, schrieb Smith Brindle.
Das ist eine Übertreibung, gewiss, und aus dem Mund
eines Autors, der gerade ein Buch über das Schlagzeug in
1 Reginald Smith Brindle, „Contemporary Percussion“, London 1970, 178.
2 Vgl. auch Hans-Peter Dürr, „Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis
und Zivilisation“, Frankfurt a. M. 1985, 34f.
3 Reginald Smith Brindle, „Contemporary Percussion“, London 1970, 1.
der Musik des 20. Jahrhunderts schreibt, vielleicht auch
eine naheliegende Verzerrung der Perspektive. Immerhin
sind auch im 20. Jahrhundert noch Klaviertrios, Streichquartette und Bläserquintette komponiert worden. Und
dennoch ist etwas dran an der These vom Jahrhundert
des Schlagzeugs, so wie sich die Renaissance mit der
Laute, der Barock mit der Orgel, die Klassik mit dem
Streichquartett, die Romantik mit dem Klavier assoziieren
lässt. Und es ist ja nicht nur in der komponierten, so
genannten ernsten Musik der perkussive Klang der Bedeutung nach gewachsen. Für den Jazz, Rock’n’Roll und
Beat-Musik wurde das Schlagzeug zu einer Voraussetzung, ja zu einer Bedingung ihrer Entstehung, sodass, wo
wir heute auch Musik hören, meist auch getrommelt wird.
Wie aber hat das Schlagzeug die neue Musik geprägt?
Und ist das Schlagzeug nicht vielleicht sogar auch eine
Bedingung ihres Entstehens? In einer frühen Bestandsaufnahme der neuen Musik, in Fred K. Priebergs 1956
erschienenem Buch „Musik unterm Strich“, ist von einem
„Einbruch des Rhythmus“4 in die Musik die Rede. Für
­Prieberg steht das Rhythmische, das Stampfen und
Schlagen, am Anfang der neuen Musik. Sowohl die
Dampflokomotive, die Arthur Honegger 1923 in einem
Orchesterstück porträtierte, als auch das Trance-gleiche
Taumeln, das Igor Strawinsky 1913 in seinem „Frühlings­
opfer“ evoziert, sind für Prieberg Paradigmen einer neuen
Kunst, die dem Schlagzeug eine größere Bedeutung zuteil
werden lässt. Das Maschinelle und das Kultische, das ist
Priebergs These, stehen, als ihre Raison d‘être gewissermaßen, am Anfang der neuen Musik. Wenn Prieberg nun
weiter ausführt, dass „der Einbruch des Rhythmus zu
einer Emanzipation des Geräuschs“ führte, weil „Rhythmikinstrumente zugleich Geräuschwerkzeuge“5 sind,
dann deutet er damit die weitreichenden Konsequenzen
an, die mit der perkussiven Erweiterung der Musik seither
einhergingen. Denn ob das Maschinelle oder das Kultische
in späteren Werken immer eine so große Rolle spielten, sei
einmal dahin gestellt. Dass das Schlagzeug aber bleiben
würde, wurde bald Gewissheit.
2 Nichts verleitet so zur Systematisierung wie das viel­
seitige Arsenal des Schlagzeugers. Als um 1970 herum
gleich drei Bücher erschienen, die sich der Rolle des
Schlagzeugs in der neuen Musik widmeten, stand die
Erfassung und Systematisierung der Instrumente
4 Fred K. Prieberg, „Musik unterm Strich. Panorama der neuen Musik“, München
1956, 106.
5 Fred K. Prieberg, „Musik unterm Strich. Panorama der neuen Musik“, München
1956, 106.
im Mittelpunkt.6 Da wird zum Beispiel der Unterschied
zwischen Idiophonen und Membranophonen erklärt.
­Idiophone sind Instrumente bei denen der Korpus des
­Instruments selbst klingt, ein Triangel zum Beispiel. Bei
den Membranophonen wird, wie bei einer Trommel, eine
Membran zum Schwingen gebracht. Es lassen sich
gestimmte und ungestimmte Instrumente unterscheiden.
Die Stabspiele sind gestimmte Idiophone: Xylophon,
Marimbaphon, Vibraphon. Auch über die Baustoffe Fell,
Metall und Holz lassen sich Gruppenzugehörigkeiten definieren. Vom Gong bis zur großen Trommel lässt sich so
jedes Instrument klassifizieren und in seinen Eigenarten
beschreiben. Die Autoren der Schlagzeugliteratur widmen
sich dann den Grenzfällen, wie dem Einsatz einer Trillerpfeife in der lateinamerikanischen Tanzmusik. Neue Erfindungen müssen eingeordnet werden. Das Cartophone,
das einst Les Percussions de Strasbourg erfand, lässt sich
leicht den nicht-gestimmten Idiophonen zuschreiben. Gleiches gilt für die Ketten, die Edgard Varèse in „Intégrales“
verlangt. Aber wie verhält es sich mit den Water Gongs,
wenn ein schwingend-klingender Gong langsam ins Wasser getaucht wird? Wo genau hat der Drumcomputer
­seinen Platz? Wo ein Drumset gewordenes Streichquartett?
Es gehört eben auch zu den schöneren Dilemmata der
Musikgeschichte, dass täglich neue Schlagzeuginstrumente
erfunden werden. Es käme niemand auf die Idee die
Technik eines gestrichenen Beckens der Familie der
Streichinstrumente zuzuordnen. Fast jede neuartige Form
der Klangerzeugung, die nicht auf einem bereits existierenden Instrument oder auf elektronische Weise vollzogen
wird, wird den Schlagzeugen zugeordnet. Gerütteltes
Blech, gerascheltes Laub, gerollte Kugeln und ein angeblasenes Windspiel – das alles sind Schlaginstrumente
oder werden zumindest so genannt. Natürlich hat die
Öffnung der Musik hin zum Alltäglichen viel mit dieser
Erweiterung des Instrumentenfundus zu tun. Dort wo
Komponisten ihre unmittelbare Umgebung abklopfen
und -horchen, wird die Welt der Geräusche erforscht,
gezähmt und schließlich kultiviert. Das Areal der Möglichkeiten ist grenzenlos, von dem Geräusch der Fingerkuppe
auf der Computertastatur, wenn ein Text geschrieben
wird, bis hin zum Umblättern einer Seite, wenn dieser
Text gelesen wird ...
„Nicht surrealistischer Gag oder aggressive Provokation“
sollte die Erweiterung der Klangmöglichkeiten sein, wie
Helmut Lachenmann 1969 notierte. Der erstickte Schlag,
die gepresste Saite, der tonlose Luftstoß sind ihm vielmehr
„logische Integration des gesamten verfügbaren Klangund Geräuschrepertoires“. Ob diese Integration tatsächlich einer wie auch immer gearteten musikhistorischen
„Logik“ folgt, sei einmal dahin gestellt. Wichtiger ist vielleicht, dass Lachenmann mit seinem Schlagzeugkonzert
6 Włodzimierz Kotoński, „Schlaginstrumente im modernen Orchester“, Mainz
1968. James Blades, „Percussion Instruments and their History“, London 1970.
Reginald Smith Brindle, „Contemporary Percussion“, London 1970.
„Air“ das Soloinstrument „als sinnfälligstes – auch augenfälligstes – Medium solcher Klangrealistik“ bezeichnet,
weil das Schlagzeug es ihm ermögliche, „die äußere
mechanische Kausalität, die einem Klang zugrunde liegt,
in die Erfahrung und Reflexion einzubeziehen“. Mit der
Kausalität ist wohl auch die Unmittelbarkeit gemeint, mit
der ein Gegenstand zum Klingen gebracht wird. Es bleibt
immer ein Rest kleines Kind, das neugierig auf einen Topf
schlägt, eine Büchse tritt oder einen Ball gegen das
­Garagentor hämmert. Es ist noch gar nicht so lange her,
da sind ­solche mechanischen Vorgänge der Lachenmannschen Klangrealistik noch als „unstilisiertes musi­
kalisches Rohmaterial“7 taxiert worden ist.
Auffällig ist in der Musik die Spannbreite zwischen der
völlig ungeübten Tätigkeit des Schlagens und der technischen Anforderung einer komplexen Partitur. Es ist durchaus denkbar, dass ein Chorsänger, obschon nicht dafür
ausgebildet, auf der Bühne auch einmal ein Becken
anschlägt, als bloßes Zusatzinstrument. Die Beiläufigkeit
eines solchen perkussiven Nebeneffekts steht im kruden
Gegensatz zur rhythmischen Komplexität, die zum
­Beispiel Lachenmann dem Solisten seines Konzerts abverlangt. Mehr noch als Melodieinstrumentalisten und Sänger
wird der Schlagzeuger an der rhythmischen Genauigkeit
gemessen. Zwar muss vielleicht auch ein Klarinettist
­gelegentlich eine in eine Quintole verschachtelte Septole
bewältigen, aber die rhythmisch-metrischen Proportionen
sind beim Schlagzeug als das Eigentliche des musikalischen
Ereignisses doch noch einmal deutlicher hervorgehoben.
3 Mit seinen „Mode de valeurs et d‘intensités“ wagte
­Olivier Messiaen 1949 ein Experiment mit weitreichenden
Folgen. Indem er die Schönbergsche Reihentechnik nicht
nur auf die Tonhöhe anwendete, sondern auch auf eine
Reihe anderer Elemente, darunter auch die Tondauern,
hob er die Hierarchie unter den Parametern auf. Wenn in
der Musik des 19. Jahrhunderts der Rhythmus dominierte,
dann sprach man davon, dass „in der Hierarchie der
Parameter das Untere nach oben gekehrt wird“8. In
­Messiaens „Mode“ wurden nun erstmals alle Parameter
auf gleiche Weise ausgearbeitet und somit vollkommen
gleichberechtigt behandelt. Was daran irritiert, ist, dass
Messiaen die rhythmische Schicht der Musik emanzipiert,
obschon oder vielleicht auch gerade weil er sie nicht
explizit gestaltet. Denn wenn sich die Notenwerte aus
den Zahlenwerten einer Reihe ableiten, ergibt sich der
7 Carl Dahlhaus, „Musikalischer Realismus. Zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts“, München 1982 [=Serie Piper 239], 52.
8 Carl Dahlhaus, „Die Musik des 19. Jahrhunderts“, Wiesbaden 1980 [=Neues
Handbuch der Musikwissenschaft 6], 48. „Daß bei Rossini der Rhythmus
gegenüber der Diastematik, die Instrumentation und die Koloratur gegenüber
der melodischen Zeichnung und der Methode der steigernden Wiederholung
gegenüber dem repetierten Motiv nicht selten den Vorrang erhalten, daß also in
der Hierarchie der Parameter das Untere nach oben gekehrt wird, leuchtete
dem musikalischen Publikum […] rasch ein, befremdete jedoch die Ästhetiker,
die angesichts der Umstülpung von einer ‚Wirkung ohne Ursache‘ sprachen, als
wäre es selbstverständlich, daß Instrumentation, Koloratur und Repetitionstechnik in einer tragenden melodischen Substanz ‚begründet‘ sein müssen.“
Rhythmus aus der Abfolge von Dauern von selbst.
Wenn in der Zahlenreihe also die Werte 3 und 1
steht, dann wird ein punktierter Rhythmus notiert,
ohne dass dieser je als solcher, also als syntaktische
Einheit, gedacht war.
Diese Reihung musikalischer Dauern blieb ein musikalischer Sonderfall und es wurden bald andere Verfahren der rhythmischen Gestaltung virulent. Und in
dem Maße, in dem die Komponisten den Rhythmus
als Bedeutungsträger ausdifferenzierten, wuchs die
Rolle des Schlagzeugs in der neuen Musik. Wenn Beat
Furrer in „Xenos III“ (2012) einen Text der Klang­
gestalt nach analysiert, die rhythmischen Eigenschaften des Texts auskomponiert und die Pauke zu
einem veritablen „Sprecher“ erhebt, dann ist nur eins
von vielen möglichen Verfahren der „Verschlagzeugung“ eines Materials. Gleiches gilt für ein weithin
offeneres Übertragungsverfahren, wie die musika­
lische Anverwandlung der Charaktere aus Fjodor ­
Dostojewskijs Roman „Der Spieler“, die Lucia ­Ronchetti
in „Helicopters and Butterflies“ (2012) betreibt.
Blicken wir auf die Geschichte der Schlagzeugmusik
seit den 1930ern zurück, dann wird deutlich, wie
­konsequent die Komponisten das Instrumentarium
entwickelt haben. Die wichtigsten Neuerungen
kamen sicher von Edgard Varèse, der das Perkussive
1926 mit „Hyperprism“ und „Intégrales“ erstmals
erprobte und mit dem reinen Schlagzeugstück
­„Ionisation“ 1931 endgültig befreite. Einen weiteren
Schritt vollzog John Cage, der mit seiner Reihe der
„Constructions in Metal“ zwischen 1939-41 eine ganz
auf Metren gebaute Musik erfand. Zwar kann man
Varèse rückblickend vorwerfen, „Ionisation“ sei „not
completely successful from a colouristic point of
view“, oder Cages, dass die „Constructions“ „seem
to lack colour contrast“9. Aber Varèse, Bartók und
Cage bleiben die großen Heroen am Beginn der
Epoche des Schlagzeugs. Als Darius Milhaud 1947
sein „Konzert für Schlagzeug und Orchester“
­komponiert, war der „Percussive turn“ bereits in
­vollem Gange.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg
folgten eine Reihe von neuen Kontexten, in denen
der Trommelschlag erklang. Pierre Boulez, der das
Schlagzeug in „Marteau sans maître“ 1955 auf eine
erstmals in ganzer Konsequenz ausdifferenzierten
Weise benutzte, hat nie ein Geheimnis aus seiner
Liebe zur indonesischen Musik gemacht, die ihm als
Vorbild diente. Steve Reich war 1971 gerade von einer
Afrika-Reise zurückgekehrt, als er „Drumming“ als
ein Paradigma der amerikanischen Minimal Music
schuf. Man darf die ideologische Bedeutung dieser
Öffnung hin zur so genannten Weltmusik nicht
9 Reginald Smith Brindle, „Contemporary Percussion“, London 1970, 195.
unterschätzen. Es ist gerade durch das Schlagzeug
ein Universalismus in die Musik gekommen, der viele
ideologischen Barrieren abbauen half.
Gleichzeitig hat das Schlagzeug der Musik viele
Bedeutungsräume eröffnet. Das Rituelle und
­Zeremonielle wurde bereits genannt, die Auskultation
des Alltäglichen durch einen Paukenschlägel, die
Öffnung auf nicht-westliche Kulturen hin – all das
sind Aspekte des Schlagzeugs, die dem Instrument
über den bloßen Klang hinaus einen Sinn verleihen.
Ganz sicher gehört auch die Wiederentdeckung des
Körpers hierher. Dass also aus der geistigsten aller
Künste, der Musik nämlich, wieder etwas aus dem
Körper heraus Gestaltetes und mit dem Körper
Erlebtes wurde. Nicht nur ist der Rhythmus etwas,
das nicht nur das Ohr, sondern den gesamten Körper
des Hörers affiziert, auch die Klangerzeugung ist
beim Schlagzeug eine körperliche, bisweilen fast
athletische Tätigkeit. Das gilt für das Schlagen
selbst. Gerade in Bereichen, wo der Schlagzeuger
auch konditionell gefordert ist, etwa beim Heavy
Metal, stehen die Musiker in puncto Fitness Spitzensportlern in nichts nach. Hinzu kommt, dass, wo, wie
zum Beispiel in der neuen Musik, oft eine große Zahl
an Schlaginstrumenten verlangt wird, die Musiker
zügig weite Wege auf der Bühne zurücklegen müssen
und jedenfalls mehr Kilometer machen als ein Geiger,
der das gesamte Konzert auf seinem Stuhl verbringt.
Es lag also sicher nahe, auch den Körper des Schlagzeugers in die Klangerzeugung mit einzubeziehen.
Der menschlichen Anatomie sind ja sogar zahlreiche
Hohlräume zu eigen, die die Resonanzfähigkeiten
des Körpers noch erhöhen. Heute hat die Idee des
Körperschlagzeugs, auch Body percussion genannt,
bereits eine gewisse Tradition, darunter Werke wie
Vinko Globokars „Corporel“ (1985), die anatomischen
Erkundungen des Frankfurter Komponisten und
Schlagzeugers Robin Hoffmann oder ein Werk wie
François Sarhans „Homework 2“, das auch panto­
mimische Elemente enthält, sodass die Bewegungen
des Schlagzeugers nicht mehr unter dem Diktat der
Klangerzeugung stehen. Wie kommentierte der
Schlagzeuger Sven-Åke Johansson einst den stummen
Schlag auf ein Becken aus Schaumstoff? Es sei
manchmal der viel lautere Schlag als ein echter
Beckenschlag, weil der Hörer ihn sich laut vorstellt.10
Mit dem Körper der Schlagzeuger kommt noch etwas
anderes ins Spiel – nämlich, um es mal ein wenig
abschätzig zu formulieren, die Beschaffenheit des
Interpreten. Denn wie ein solches Stück für Body
­Percussion klingt, hängt ein wenig auch von der Physis
des jeweiligen Musikers ab. Und es haben sich
gerade im Bereich Schlagzeug doch eine ganze
10 Vgl. Björn Gottstein, „Der Streichzeuger“, in: taz – die tageszeitung. 2.
Dezember 2004.
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