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FORSCHUNG
Brigitte Handwerker
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Sprachenlernen – Sprachenlehren
DEUTSCH ALS FREMDSPRACHE
Vom Zugriff auf Zeiten und Zustände
In den letzten Jahrzehnten hat sich ein Schwerpunkt der Sprachlern- und -lehrforschung herausgebildet, dessen Gegenstand die Prozesse sind, die sich beim Sprachenlernen in den Lernerköpfen abspielen. Ein Anwendungsziel solcher Forschung
besteht in der Optimierung der Steuerung des Sprachenlernens: Sprachlehrende
sollen in die Lage versetzt werden, zu beurteilen, welche Strukturen für einen Lerner in welcher Lernphase verarbeitbar sind und welche Lernstrategien dem Lerner
vermittelt werden können, damit dieser seine Lernersprache selbst weiterentwickeln und in das System der fremden Sprache eindringen kann. Dazu gehört,
dass der Lehrende dem Lerner kognitive Werkzeuge liefert, die ihn befähigen, ausgehend von systematisch aufbereitetem Wissen Hypothesen zu bilden darüber, wie
das Zusammenspiel von rigiden Regeln und flexibler Kognition die Ausdrucks- und
Interpretationsmöglichkeiten in der fremden Sprache regelt. Voraussetzung für
eine entsprechende Vermittlungskonzeption ist die Identifizierung der relevanten
Komponenten: Sprachenlernen setzt an bei kleinen Einheiten wie den Wörtern mit
ihren Bedeutungen, doch erlaubt uns erst der analytische Blick auf dieses Bedeutungsangebot, Vorhersagen zu machen für den Part, den die kleinen Einheiten im
komplexen Konzert unter
Welche Komponenten der Wortbedeutung sind releihrer Dirigentin, der
vant für den Einsatz der Wörter im Zusammenspiel?
Grammatik, spielen könWelche Bedeutungskomponenten lassen welchen
nen.
Zugriff der Grammatik zu? Wie kann der Lehrende dem
Lerner Analyse- und Interpretationsraster an die
Hand geben? Im Folgenden geht es um die Interaktion
von lexikalischer Bedeutung und grammatischer Operation, wobei exemplarisch der Grammatikoperator
aufbereitet werden soll, der uns das deutsche Partizip
2 beschert und der uns den Zugriff auf bestimmte Zeiten und bestimmte Zustände ermöglicht.
Eine heikle Lernaufgabe: Was steckt in einem Verb?
Der Erwerb der fremdsprachigen Mittel, die zur Lokalisierung von Sachverhalten in der Zeit dienen, ist im allgemeinen mit großen Schwierigkeiten verbunden. Zu den
»liebsten Fehlern« vieler Fremdsprachenlerner gehört
der inadäquate Gebrauch der Tempora. Woran mag es
z.B. liegen, dass im Deutschen zwar Präteritum und Perfekt in vielen Kontexten austauschbar sind, es aber
merkwürdig anmutet, wenn ein Kandidat freudestrahlend aus einer Prüfung stürzt und ruft: »Ich bestand das
Examen!«? Die angemessene Ausdrucksweise wäre eine
Perfektkonstruktion gewesen, die das Partizip 2 (von
jetzt an: P2) enthält, das außer als Bestandteil von Perfekttempora auch als Ausdrucksmittel für Zustände auftaucht: Man hat den Vogelwart erdrosselt → der erdrosselte Vogelwart. Beide Phänomene, zeitliche Relationen
und Zustände als Bedeutungen, finden wir unabhängig
vom Eingreifen der Grammatik in der Bedeutung einzeln
betrachteter Verben selbst. Bevor wir uns fragen, wie
wir den Zugriff auf Zeiten und Zustände beim deutschen
P2 für einen Deutschlerner aufbereiten, erlaubt uns ein
Blick auf prominente Lernschwierigkeiten im Erstspracherwerb eine Annäherung an die relevanten
Bedeutungskomponenten, die ihren Niederschlag im
grammatischen Verhalten der Verben haben.
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Verben gelten als schwer zu erlernende Kategorie im
Erstspracherwerb. Zur Lernaufgabe des Kindes gehört
es, die innere Struktur ihrer Bedeutung zu erkennen
und beim Aufbau des lexikalischen Wissens Bedeutungskomponenten zu identifizieren, die für ganze
Klassen von Verben charakteristisch sind. So gehört
zur Bedeutung von Verben der Zustandsveränderung
wie »füllen« oder »wecken« die Information über den
Endzustand des Gegenstands, auf den sich der
Objektausdruck bezieht. Erstspracherwerbsstudien
haben aufgezeigt, dass drei- bis sechsjährige Kinder
diese Endzustandskomponente nicht als einen Teil der
Verbbedeutung auffassen. (Ein Glas mit Wasser) füllen
und sogar das transparente vollmachen wurden von
den Kindern in verschiedenen Experimenten interpretiert wie das die Handlungsart spezifizierende (Wasser
in ein Glas) schütten. Das Erreichen des Endzustands
scheint von den Kindern lediglich als Intention des
Agens betrachtet zu werden, die aber nicht realisiert
werden muss. So werden Dialoge wie der folgende
möglich: »Hat das Mädchen den Mann geweckt?« »Ja,
aber der hat's gar nicht gehört« (Wittek 1999: 291).
Das Funktionieren der Zustandsveränderungsverben
wird damit fälschlicherweise gleichgesetzt mit dem
der Verben, die den Endzustand tatsächlich nur als
angestrebtes Ziel evozieren. Verben wie waschen werden in der Werbung häufig mit dem explizit genannten
Zielzustand sauber oder gar rein verknüpft. In der Tat
ist dieser kein fester Bestandteil der Bedeutung von
waschen, obwohl der Satz »ich habe mich sauber
gewaschen« übertrieben deutlich wirkt. Das Fazit aus
der Betrachtung der einschlägigen Sprachdaten muss
lauten: Zustände und ihre Veränderung sind wichtige
Komponenten im Erlernen sprachlicher Bedeutungen.
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FORSCHUNG
Ein zweites Problem des Erstspracherwerbs, das sich in
jeder Sprachlernsituation wiederfindet, ist das Zusammenführen der vom Verb geforderten Mitspieler mit
ihren Rollen wie Agens und Patiens und der entsprechenden syntaktischen Realisierung als Subjekt oder
Objekt im Satz. Bekanntlich vertrauen Kinder bis zum
Alter von etwa 4 Jahren mehr auf ihr Gespür für Plausibilität als auf die Grammatik, wenn es um die Interpretation von Sätzen wie »Die Katze jagt die Maus« und
»Die Maus jagt die Katze« geht. Beide werden ungerührt
und korrekturresistent als Ausdruck für das Geschehen
um eine mausjagende Katze gedeutet. Das mentale Lexikon muss aber zusätzlich zur Aufzählung der Mitspieler
die Anweisungen für ihren korrekten Einbau in den Satz
enthalten. Einmal erkannte Muster lassen sich für den
Aufbau des mentalen Lexikons nutzen: Für ein neues
Verb wie das gorp der Psycholinguistin Gleitman (1990)
kann das Kind ausgehend vom Satz »Ernie gorpt Bert«
schließen, dass Ernie etwas mit Bert macht und nicht
umgekehrt. Wie auch immer man sich das mentale Lexikon vorstellen mag: Für den korrekten Gebrauch seiner
Einheiten in komplexen Konstruktionen muss der Lerner
letztendlich über eine angemessene Repräsentation der
Bedeutungsstrukturen verfügen. Entsprechend sollte die
lexikalische Beschreibung Folgendes sichtbar machen:
Abb 1 (links)
Die Grammatik nimmt Lernende an die Hand und führt
sie zu den Wissenschaften.
(Schwäbische Schnitzerei,
um 1330, Bayerisches
Nationalmuseum München)
(a) die inhärente Geschehens- oder Ereignisstruktur,
mittels deren sich Verben bzw. verbhaltige Komplexe
verschiedenen Verb- bzw. Situationsklassen zuordnen
lassen. Entsprechend der inhärenten Geschehensstruktur unterscheiden sich telische Verben, die einen punktuellen Zustandswechsel (platzen) oder eine Zustandsveränderung mit Vorphase und Grenzpunkt (verdursten,
etwas füllen) ausdrücken, von atelischen Verben, die
intern nicht begrenzte Zustände (sitzen), Vorgänge
(wachsen) oder Aktivitäten (tanzen) ausdrücken. Wichtig im Hinblick auf das grammatische Verhalten ist es,
von Anfang an über das isolierte Verb hinauszublicken,
da durch die Eigenschaften im Kontext hinzutretender
Satzteile (tanzen vs. in den Saal tanzen) die inhärente
Geschehensstruktur modifiziert werden kann. Grundlegend für die Erstellung lehrer- und lernerfreundlicher
Materialien sind die Begriffe »Zustand« und »Zustandswechsel«, wobei telische Sachverhalte zwei Zustände
(Vorzustand/Zustandswechsel/Nachzustand) implizieren, die den im Subjekt realisierten Mitspieler (er ist
eingetreten) oder den im Objekt realisierten Mitspieler
(er hat die Tür eingetreten) betreffen.
(b) die Argumentstruktur, mittels deren wir die
semantischen oder kognitiven Entitäten (die Mitspieler, Aktanten) im Einzugsbereich des Verbs erfassen.
Die Argumente werden durch die thematischen Rollen
wie Agens/Patiens weiter charakterisiert.
Hat im Fall des gesteuerten Fremdsprachenlernens
eine systematische Lexikarbeit die Komponenten der
Verbbedeutung herauskristallisiert, bietet sich Lehrenden und Lernern die Chance, den Zugriff der Grammatik
sichtbar und ihre Bedeutungseffekte nachvollziehbar zu
machen. Verben sind weiterhin Tyrannen mit lokaler
Macht, aber ein wohlverstandener Zugriff der Grammatik auf ihre charakteristischen Merkmale lässt den Eindruck von Willkür, der sich der Lerner unterwerfen
müsste, doch beträchtlich schrumpfen. Denn Willkür in
der deutschen Sprache könnte man, wie unten gezeigt
wird, vermuten angesichts eines grammatischen Operators, der aus dem Stamm eines Verbs dieses so manchem Klugen Kopfzerbrechen bereitende Gebilde P2
macht. Bei oberflächlicher Betrachtung liefert seine
Anwendung höchst unterschiedliche Resultate.
Eine Lernerstrategie: Suche nach der Einheit
von Form und Funktion
Die Formen, unter denen uns das deutsche P2 begegnet, umfassen Bildungen aus Verbstamm und ge –t (wie
in geliebt und geschändet), aus präfigiertem Verbstamm
und –t (wie in erdrosselt) und bei starken Verben Bildungen mit Vokalwechsel (wie in erfroren). Diese Beispiele sollen uns führen bei unserer Suche nach einer
lehrer- und lernerfreundlichen Darstellung des grammatischen Operators. In der theoretischen Linguistik ist
die Frage nach einer einheitlichen Partizipbedeutung
heftig umstritten. Traditionell wird unterschieden zwischen den formal identischen, aber unterschiedliche
syntaktische Funktionen erfüllenden verbalen Partizipien (aktivisches geschändet in Mackie hat die Witwe
geschändet, passivisches geschändet in die Witwe wurde geschändet) und den adjektivischen Partizipien, die
einen (Nach-) Zustand ausdrücken (passivisches
geschändet in die geschändete Witwe und in der
Zustandsform die Witwe war geschändet). Im Rahmen
einer syntaktischen Theorie mögen gute Gründe für eine
getrennte Behandlung des Partizips in adjektivischen
Kontexten sprechen, im Rahmen der Sprachlernoptimierung würden wir uns mit dem Verzicht auf eine einheitliche Beschreibung die Möglichkeit verbauen, eine
Lernerbrücke zu schlagen zwischen den genannten Vorkommen von geschändet. Zudem könnte sich der Lerner
des Deutschen mit Haspelmath (1994: 159) staunend
fragen, warum Sprachen ein grammatisches Morphem
haben sollten, das im Falle attributiver Konstruktionen
passivische Partizipien von transitiven Verben bildet,
aber aktivische von ergativen Verben (d.h. von einstelligen, agenslosen Verben, die das Perfektauxiliar sein
nehmen): die geschändete Witwe/der gefressene Knochen, aber der eingeschlafene Hofhund. Mit dem Plädoyer für die Suche nach einem gemeinsamen Bedeutungskern angesichts einer identischen Form in ver-
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schiedenen Verwendungskontexten soll nicht der alten
verpönten Grammatik-Übersetzungs-Methode das Wort
geredet werden, die stur von der Form ausging und das
Inventar der Formen ohne Rücksicht auf den Gebrauch
lernen ließ, sondern es soll ausgehend von einer Form
dem Kern der Inhalte, die diese Form in ihren verschiedenen Kontexten befördern kann, nachgespürt werden.
Derlei detektivisches Entdecken bringt Befriedigung,
nicht nur in der theoretischen Analyse eines Linguisten,
der dem Prinzip »Erste Hypothese: eine Form/ein
Inhalt« anhängt, sondern erst recht in der Bewältigung
des fremdsprachigen Inputs durch den Lerner.
Die Moritat von Mackie Messer
Jahrmarkt in Soho / Die Bettler betteln, die Diebe stehlen, die Huren huren.
Ein Moritatensänger singt eine Moritat.
Und der Haifisch, der hat Zähne
Und die trägt er im Gesicht
Und Macheath, der hat ein Messer
Doch das Messer sieht man nicht.
Aus Bertolt Brechts
»Dreigroschenoper«
Und die minderjährige Witwe
Deren Namen jeder weiß
Wachte auf und war geschändet –
Mackie, welches war dein Preis?
Ein Raster für das Lernen und Lehren: der P2-Greifer
Der Versuch, die P2-Konstruktionen durch den Rückgriff
auf die Aktiv/Passiv-Differenz zu erfassen, versteckt die
Gemeinsamkeit der Relation zwischen Partizipien und
Basisverb im allgemeinen und die zwischen P2 und spezifischem Basisverb in ihrer Abhängigkeit von der vom
Verb angebotenen semantischen Struktur. Naheliegend
erscheint die Einteilung in passivisch/ aktivisch aufgrund der Beobachtung, dass Partizipien bezüglich der
Verbmitspieler unterschiedlich orientiert sind: So wie
Adjektive »Experiencer«-orientiert (z.B. vergesslich/
furchtsam) oder »Stimulus/Thema«-orientiert (z.B.
unvergesslich/fürchterlich) sein können, greift ein typisches Partizip 1 ein Agens (der fressende Hund) und ein
typisches Partizip 2 ein Patiens (der gefressene Knochen) heraus. Doch haben wir in den obigen Beispielen
gesehen, dass der Zugriff des P2 keineswegs passivische Orientation bewirken muss: Bezieht sich das P2
auf das Oberflächensubjekt eines ergativen Verbs, also
auf das einzige Argument, das die semantische Struktur
für den Zugriff des P2 überhaupt anbietet, so ergibt sich
quer durch die Sprachen, die ein P2 haben, die Möglichkeit der P2-Attribution wie in »a recently erupted volcano« (für weitere Sprachen vgl. Haspelmath 1994).
Dass das P2 von erupt, aber nicht das von grumble,
dass das von einschlafen, aber nicht das von schlafen
die attributive Konstruktion erlaubt, lässt sich auf die
Telizität des jeweils ersten Verbs zurückführen, eine
Eigenschaft, die z.B. im Italienischen und Spanischen
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die so genannten absoluten Partizipialkonstruktionen
auch in nicht-passivischen Kontexten erlaubt: Arrivato
Gianni, la festa si animò (Wort für Wort übersetzt:
Angekommen Gianni, das Fest belebte sich). Ausgedrückt wird jeweils ein Zustand, der seinerseits ein
vorangegangenes Ereignis impliziert. Herausgegriffen
aus der semantischen Struktur des Verbs wird dabei
der Mitspieler, dessen resultierender Zustand lexikalisch spezifiziert wird: Bei typischen transitiven Verben ist dies die Besetzung des Patiens-Objekts wie in
der erdrosselte Vogelwart; bei weniger klar spezifizierten Zuständen gehen die Grammatikalitätsurteile mit
gutem Grund auseinander. Sie reichen von Ablehnung
(??der gesehene Mann) über Zweifel (?der angekommene Mann) bis zum Zuspruch (der flambierte Mann).
Beim ergativen erfrieren wird der alleinige Mitspieler
herausgegriffen, und dessen Zustand hat sich verändert: der erfrorene Eisverkäufer. Bei einigen Verben
kann man durchaus eine Affiziertheit beider Mitspieler
feststellen und damit von einem lexikalisch spezifierten »Nach«-Zustand für beide ausgehen: Wenn Caesar
Wein trinkt, verändern sich Caesar und Wein. Hier
ließ das Lateinische tatsächlich das P2 auf beide greifen: Caesar potus als der, der getrunken hat, neben
dem patiensorientierten potus , das sich auf das
Getrunkene bezieht. Im Deutschen haben wir nur
wenige Ausreißer dieser Art; in der studierte Mann
liegt schon die Lexikalisierung des P2 als Adjektiv vor,
die formgleich neben dem verbalen themaorientierten
P2 in das 20 Semester lang studierte Fach existiert.
Versuchen wir nun, die Komponenten, die für die
Interpretation und Verwendung des P2 eine entscheidende Rolle spielen, in einem handlichen Format darzubieten, das für DaF-Vermittler bequem abrufbar und
für Erklärungszwecke im Falle kognitiv ausgerichteter
Lernerfragen umsetzbar erscheint. Das handliche Format beruht auf der folgenden Darstellung: Die P2-Bildung wird in Anlehnung an Klein (1999) aufgefasst als
ein Prozess, in dem ein grammatischer Operator auf
einem zugrundeliegenden Lexem operiert und
bestimmten in der Bedeutungsstruktur des Verbstamms vorhandenen Argument/Zeit-Angaben eine
ausgezeichnete Rolle für die weitere Konstruktion
zuweist. Dabei lässt sich für unsere Anwendungszwecke der grammatische Operator konzipieren als
ein Werkzeug, das aus dem Angebot der Semantik des
Basisverbs Teilkomponenten herausgreift. Der Griff in
die Semantikkiste ist Beschränkungen unterworfen,
die sich in einer visualisierten Form der Argumentund Ereignisstruktur des Verbs bequem abarbeiten
lassen. Wie oben ausgeführt, spezifiziert der lexikalische Inhalt des Verbstamms Eigenschaften, die die
Verbargumente zu bestimmten Zeitabschnitten haben
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können. Außerdem gibt er die Abfolge und die Art der
Verknüpfung der verschiedenen Zeitabschnitte an.
Relevant für die Bedeutung des Partizips sind dabei
mindestens vier Typen lexikalischen Inhalts (detaillierter ausgeführt z.B. in Klein 1999):
Typ A schlaf-: Es gibt beim Typ A nur ein Argument A
und eine Zeitspanne ohne Subintervalle; der lexikalische Inhalt spezifiziert nur eine Eigenschaft (für die
Belegung) von A für die gesamte Zeitspanne. Das
Argument wird als Subjekt realisiert: Lulu schläft.
Typ B einschlaf-: Auch beim zweiten Typ gibt es nur
ein Argument A, dem aber für verschiedene Zeitintervalle unterschiedliche Eigenschaften zugeordnet werden. Im Ausgangszustand wird A als »nicht eingeschlafen« charakterisiert, im Zielzustand als »eingeschlafen«. Dabei ist der Anfangszustand Voraussetzung
dafür, dass der durch das Verb beschriebene Prozess
des Einschlafens überhaupt möglich ist. In der finiten
Konstruktion wird A zum Subjekt: Lulu schläft ein.
Typ C hass-: Bei Typ C haben wir zwei Argumente A
und B, die durch den lexikalischen Inhalt aber keine
nach Zeitintervallen unterschiedliche Charakterisierung erfahren. A ist dem lexikalischen Inhalt nach
stärker involviert als B; B wird nur als Objekt von As
Gefühlen charakterisiert. Das Argument mit der stärkeren (präziseren) Charakterisierung wird in der finiten Konstruktion zum Subjekt: Lulu hasst Dramatiker.
Typ D öffn-: Bei Typ D haben wir zwei Argumente A
und B; für B werden zwei verschiedene Subintervalle
spezifiziert. Im Ausgangszustand wird B als »nicht
offen« charakterisiert, im Zielzustand als »offen«. Für
A spezifiziert der lexikalische Inhalt nur eine irgendwie geartete Aktivität, die abhängig vom zu öffnenden
Gegenstand (Tor, Brief) sehr unterschiedlich ausfallen
kann. A wird zum Subjekt: Lulu öffnet das Törchen.
Die Frage ist nun, ob und wie wir ausgehend von der
Bedeutung des Verbstamms zu einer einheitlichen
Bedeutung des Partizips gelangen können. Erinnern
wir uns, dass gegen die Hypothese einer einheitlichen
Bedeutung zunächst sprach, dass Partizipien passivisch (das geöffnete Törchen) oder aktivisch (die eingeschlafene Lulu) interpretiert werden. Auch drücken
manche Partizipien Nachzeitigkeit zum im Verbstamm
kodierten Sachverhalt aus, während andere sich auf
weiter bestehende Sachverhalte beziehen ( die im
Preis enthaltenen Verpackungskosten). Woran also
müssen wir die semantischen Eigenschaften der Partizipien und der Konstruktionen, in denen sie auftreten,
festmachen?
Im Folgenden wird der Operator, der aus einem Verbstamm ein P2 macht, als P2-Greifer bezeichnet. Als
einheitliche Funktion des P2-Greifers lässt sich vorführen, wie seine beiden Subwerkzeuge, der Argumentgreifer und der Zustandsgreifer, bestimmte
Bedeutungskomponenten des Verbstamms herausgreifen. Dabei kann es sich z.B. um das erste und einzige
Argument und seinen Nachzustand handeln, wie in die
eingeschlafene Lulu. Oder der Argumentgreifer greift
sich das zweite Argument und der Zustandsgreifer
den zweiten Zustand des zweiten Arguments, wie in
der erdrosselte Vogelwart. Die Art des Herausgreifens
hängt vom lexikalischen Inhalt des beteiligten Verbstamms ab, d.h. davon, wie viele Argumente beteiligt
sind und welche Zustände oder Eigenschaften spezifiziert werden. Die Selektion ist einer hierarchischen
Abfolge unterworfen, die sich am besten am attributiv
gebrauchten P2 nachvollziehen läßt, da hier kein
Auxiliar seinen Einfluß geltend macht: Der P2-Greifer
greift sich die – bezogen auf ein erstes Argument mit
einem Ausgangszustand – maximal kontrastierende
Konfiguration heraus (Klein 1999). Wenn ein Verbstamm Eigenschaften zweier Argumente spezifiziert
(wie z.B. schänd-), selegiert das P2 den Zielzustand
des zweiten Arguments, was in maximalem Kontrast
zur ersten oder einzigen spezifizierten Eigenschaft
des ersten Arguments steht. Der maximale Kontrast
lässt sich in einer von links (1. Argument und seine
Zustände) nach rechts (2. Argument und seine
Zustände) verlaufenden Darstellung erfassen als
größtmögliche Distanz von den links stehenden Entitäten. Wir arbeiten unsere Semantikkiste von rechts
nach links ab.
FORSCHUNG
Abb. 2
Die nicht ganz grenzenlose
Freiheit über den Wörtern
belegt der Einsatz des grammatischen Greifers im Fall
»schlussverkauft«
Vgl. dazu den letzten
Abschnitt über »Flexible
Kognition – rigide Grammatik?«
Zugriffsraster für die P2-Greifaktion (Abb. 3)
Erster Schritt: Der Argumentgreifer sucht das Argument aus, auf sich das P2 attributiv beziehen kann. Im
Falle des transitiven Verbs schänden ist der Zugriff
auf das erste Argument untersagt, denn rechts davon
findet sich ein zweites Argument, das abgearbeitet
werden muss, hier belegt mit der Witwe. Mit dem Verbot des Zugriffs auf das erste Argument verbietet sich
automatisch der Zugriff auf einen der Zustände, die
durch die Verbsemantik für das erste Argument spezifiziert sein könnten.
Z w e i t e r S c h r i t t : Der Zustandsgreifer sucht den
Zustand aus, der durch das P2 ausgedrückt wird. Der
Zugriff auf den ersten Zustand des zweiten Arguments
ist wiederum untersagt, da sich rechts davon ein zweiter Zustand befindet, der abgearbeitet werden muss.
Anders herum gesehen, haben wir uns von rechts den
jeweils erstmöglichen Zustand des erstmöglichen
Arguments herausgegriffen.
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FORSCHUNG
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»der von Mackie geliebten Witwe« nicht wohlgeformt
erscheint, liegt an der fehlenden Spezifik des Zustands,
die ein zum Adjektiv gewordenes »geliebt« überflüssig
erscheinen lässt. Man denke an die Konkurrenz von
»beliebt« und daran, dass der Satz mit einem spezifizierenden Zusatz wie in » die Witwe ist heiß geliebt «
bereits ein wenig akzeptabler wird.
Abb. 3
Griffe in die Semantikkiste:
die geschändete minderjährige Witwe
* Mit einem Sternchen kennzeichnet man in der Linguistik grammatikalisch inkorrekte Formen
Abb. 4
Griffe in die Semantikkiste:
die geliebte Witwe
Griffe in die Semantikkiste:
die geschändete minderjährige Witwe
Der Frage, welche grammatischen Prozesse dafür verantwortlich sind, dass wir zusätzlich dem ersten Argument Ausdruck verleihen können in »die von Mackie
geschändete minderjährige Witwe« und in »die minderjährige Witwe wurde von Mackie geschändet«, aber
nicht in *??»die Witwe war von Mackie geschändet«
wird in Rapp (1997) nachgegangen. Bevor wir uns
dem Einbau des P2 in verschiedene Konstruktionen
zuwenden, lassen wir unsere Greifer in die Kisten der
übrigen drei Verbtypen greifen.
Griffe in die Semantikkiste: die geliebte Witwe
Entsprechend den Vorgaben der lexikalisch-semantischen Struktur des Verbs in Abb. 4 greifen der Argumentgreifer das zweite Argument und der Zustandsgreifer den diesmal einzigen Zustand im Angebot des zweiten Arguments heraus. Dass uns der Satz »*?die Witwe
ist geliebt« im Gegensatz zu »der geliebten Witwe« und
Griffe in die Semantikkiste: der erfrorene Eisverkäufer
Werden nur verschiedene Zustände eines einzigen
Arguments spezifiziert, wie im Falle unseres telischen
einstelligen Verbs erfrieren in Abb. 5, so wird der
Zugriff des Argumentgreifers auf das einzige Argument
lizensiert durch die Präsenz eines zweiten Zustands
dieses Arguments. Der Zustandsgreifer greift den
zweiten Zustand heraus wie in der erfrorene Eisverkäufer und die eingeschlafene Lulu. Angegeben wird
eine Eigenschaft des Arguments zu einer Zeitspanne,
die auf den im Verbstamm kodierten Vorgang folgt.
Was aber passiert nun bei Verbstämmen, deren lexikalischer Inhalt nur eine Eigenschaft für ein Argument
spezifiziert, wie etwa schlaf- und arbeit-? Eine theoretische Möglichkeit wäre, dass nur der syntaktische
Status des Verbstamms verändert wird; dann aber
müsste geschlafen/gearbeitet synonym zu schlafend/
arbeitend sein. Die Alternative zu dieser unbefriedigenden Hypothese ist, dass sich die Partizipien
geschlafen/gearbeitet auf die Zeitspanne nach einem
Schlaf- bzw. Arbeitsintervall beziehen. Diese Zeitspanne ist lexikalisch nicht spezifiziert; dem Argument
kann noch weniger als dem Objekt von lieben/hassen
und anderen Zustandsverben ohne Zustandsveränderung eine spezifische Eigenschaft zugeordnet werden.
Deshalb sind Konstruktionen wie *der geschlafene
Riese und *der getanzte Mackie nicht möglich, durchaus aber der Ausdruck einer räumlichen Veränderung
wie im attributiven der in den Saal getanzte Mackie
(vgl. Abb. 6).
Der Bezug auf die spezifizierte Eigenschaft des Schlafens und Tanzens ohne Direktional würde das Partizip 1
erfordern. Aus den lexikalischen Spezifikationen des
Verbstamms selegiert der P2-Greifer den zweiten
Zustand des zweiten Arguments, oder den einzigen
Zustand des zweiten Arguments. Ist nur ein Argument
vorhanden, so selegiert der P2-Greifer die zweite Eigenschaft dieses Arguments; ist keine zweite Eigenschaft
lexikalisch spezifiziert, erhalten wir nur den Bezug auf
einen zu unspezifischen Nachzustand, als dass eine
Anwendung auf das Argument in einer attributiven Konstruktion möglich wäre. Wenn dem einzigen Argument
keine qualitativen oder räumlichen Eigenschaften für
eine zweite Zeitspanne zugeordnet werden können, ist
die attributive Konstruktion nicht interpretierbar. Der
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FORSCHUNG
Zugriff erfasst zweite Argumente oder zweite Zustände
eines ersten und einzigen Arguments; das Resultat ist
umso besser, je spezifischer der lexikalische Inhalt für
die selegierte Eigenschaft ist: ?der umgebene Teich vs.
der von Bäumen umgebene Teich / ?der angekommene
Hausfreund vs. der noch vor dem Ehemann angekommene Hausfreund. Auch kann sich das P2 unter Wegfall
bestimmter Bedeutungskomponenten des Verbstamms
verselbständigen wie in gekrümmter Weg, wo keine
Aktion des Krümmens vorausgesetzt wird. Auf solcherlei Verselbständigungen als lexikalische Einheiten müssen Lerner hingewiesen werden. Denn Lexikalisierungen bieten Raum für Missverständnisse: Der gekrümmte Weg ist ungefährlich, aber die italienische coscienza
pulita könnte als ein wie auch immer gereinigtes und
nicht als ein von vornherein reines Gewissen aufgefasst
werden, wenn ein deutscher Italienischlerner das
Adjektiv pulito seiner P2-Form gemäß als Ausdruck des
Resultatszustands von pulire = putzen analysiert. Beim
deutschen verschmitzt ist gar das Basisverb verloren
gegangen, das soviel wie mit Ruten schlagen bedeutete.
War der Verschmitzte durch Schlagen klug geworden?
Abb. 5
Griffe in die Semantikkiste:
der erfrorene Eisverkäufer
Bis jetzt hatten wir das P2 als Attribut im Auge.
Betrachten wir nun sein Auftreten in sein/haben/werden-Konstruktionen, so fällt als erstes die Funktion des
Trägers der Finitheitsmerkmale im Satz ins Auge. Stellen wir unseren attributiven Konstruktionen die entsprechende sein+P2-Konstruktion gegenüber, so ergeben
sich im Falle der ergativen Verben klare Perfektformen
(der Eisverkäufer ist erfroren), im Falle der transitiven
Verben klare Zustandsausdrücke (»Zustandspassiv« die
Witwe ist geschändet; »reine Zustandsform« die Madonna ist von Engeln umgeben) und im Falle der sowohl
ergativ als auch transitiv gebrauchten Verben ambige
Formen (der Krug ist zerbrochen, ganz von selbst oder
als Folge des Krüge zerbrechenden Richters Adam). Problematisch für den Lerner: sein und haben können in
Konkurrenz geraten. Das Auxiliar haben selegiert immer
das erste Argument des Verbstamms als potentielles
Subjekt. Das führt zu Konkurrenz mit sein in den Fällen,
in denen dieses Argument gleichzeitig das durch den P2Greifer selegierte ist wie bei einschlafen, ertrinken,
erfrieren. Hier hat sich im Deutschen sein durchgesetzt,
während z.B. im Englischen have generalisiert wurde.
Im Falle von geschlafen, in denen das P2 keine irgendwie spezifizierten Eigenschaften eines Arguments ausdrückt, kann dieses nur mit Hilfe von haben, das wiederum das erste und einzige Argument von schlafen selegiert, in eine finite Konstruktion eingehen. Ob jede deutsche Perfektkonstruktion die Bedeutungskomponente
»Nachzustand« enthält, ist eine zur Zeit heiß diskutierte
Frage. Das Auxiliar werden schließlich greift auf das
zweite Verbargument als Subjektkandidaten, wenn die-
sem ein gewisses Involviertsein bescheinigt werden
kann (schlecht: In manchen Pralinen wird Alkohol enthalten, besser: Von manchen Menschen werden Cognacbohnen geliebt). Auch erlaubt werden eine unpersönliche Passivkonstruktion (es wird getanzt), die für Lerner
ein weiteres schwieriges Kapitel eröffnet. Hier verlassen
wir den Kernbereich des Passivs, der in früheren Stufen
des Deutschen eine kompositionelle Herangehensweise
erlaubte. Geschändet werden hieß zu einer Geschändeten werden. Für die weitere Entwicklung kann man
annehmen, dass sich mit der Ausweitung der Konstruktion auf intransitive Verben eine weitere funktionale Rolle
des Passivs herausbildete. Auch das Lateinische erlaubte Passivformen von intransitiven Verben wie curritur:
Einer solchen Funktion des Passivs, nämlich das
Geschehen in den Vordergrund zu rücken, mag im Deutschen die Nachzustands-Orientierung des P2 untergeordnet worden sein. Nicht nur die Lexikalisierung, auch
die Grammatikalisierung sprachlicher Einheiten macht
das Lehrerdasein mühsam.
Abb. 6
Griffe in die Semantikkiste:
der in den Saal getanzte
Mackie
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FORSCHUNG
Prof. Dr. Brigitte Handwerker
Jg. 1952. Studium der Linguistik und Promotion an der
Universität Paris 7. Von
1981–84 Mitarbeiterin am
Institut für Linguistik der TU
Berlin, von 1984–93 Professorin für Angewandte
Sprachwissenschaft an der
Universität Hildesheim, seit
1993 Professorin für
Deutsch als Fremdsprache
an der Humboldt-Universität
zu Berlin.
Forschungsschwerpunkte:
Die Interaktion von Lexikon
und Grammatik beim Sprachenlernen und -lehren; linguistische Grundlagen der
Vermittlung des Deutschen
als Fremdsprache.
Kontakt
Humboldt-Universität
zu Berlin
Philosophische Fakultät II
Institut für deutsche
Sprache und Linguistik
Sitz: Schützenstr. 21
Postadresse:
Unter den Linden 6
10099 Berlin
Tel.: (030) 20196–674/2
Fax: (030) 20196–729
E-Mail:
Brigitte.Handwerker
@rz.hu-berlin.de
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Flexible Kognition – rigide Grammatik?
Die nicht ganz grenzenlose Freiheit über den Wörtern
Bei aller Mühe, die Interaktion von Lexikon und Grammatik und die strikten Vorgaben, die diese Interaktion
für den Gebrauch sprachlicher Einheiten macht, transparent zu machen, sollte nie die nicht grenzenlose, aber
einen kreativen Sprachler gewaltig herausfordernde
Freiheit über den Wörtern vergessen werden. Unter
bestimmten Bedingungen lässt uns die Grammatik
Raum für den Ausdruck unserer konzeptionellen Freiheit. Schauen wir uns abschließend einige der angesprochenen Eigenschaften an, die in der Sprachlernlandschaft Spielwiese oder aber Fehlerquelle sein können. Rigidität muss da herrschen, wo die Kommunikation im Falle individueller Abweichungen fehlschlagen
würde. Fehlerquelle Argumentstruktur: Strenge Auflagen macht der Tyrann Verb im Hinblick auf die Form
bzw. Position seiner Mitspieler im Satz: Der Satz I disgust dogs muss so verstanden werden, dass sich Hunde
angewidert von mir abwenden, auch wenn ich als deutscher Englischlerner noch so gern nach dem Muster
von I hate dogs verfahren würde, wo die Hunde die Stimulus-Position besetzen. Dagegen erlaubt uns die
Grammatik das Einbringen eigener Perspektiven auf
einen Sachverhalt, wenn die Abweichungen vom grammatischen Normalfall gerade die gewollte Interpretation
deutlich machen: So lässt sich der Satz »Heinrich Heine
ist 8 Jahre lang gestorben« gerade wegen der Inkompatibilität von Spannenadverbial und telischem Verb
(Ereignisstruktur!) so interpretieren, dass der Sprecher
den Sachverhalt aus der Perspektive des langen auf den
Tod zulaufenden Siechtums sieht und sprachlich darstellt. Möglichkeiten und Gefahren kreativer Akte belegt
der Einsatz des grammatischen Greifers im Fall
schlussverkauft (Abb. 2): Das Partizip lässt sich mühelos interpretieren: Isoliert, wie es auf dem Foto
erscheint, können wir es auffassen als italienische
Kreation, die in Analogie zum Pärchen verkaufen/Verkauf das Pärchen schlussverkaufen/ Schlussverkauf mit
einem P2 schlussverkauft anbietet. Doch anders als
etwa bei einem Schild English spoken, das auf ein
andauerndes Angebot hinweist, bezeichnet das isolierte
P2 des telischen Neuverbs schlussverkaufen den Resultatszustand, so dass der Florentiner Laden auf seinem
Schild den deutschsprachigen Kunden bereits den Vollzug der Schnäppchenaktion signalisiert. Die unfreiwillige Kreativität hätte erfolgreich sein können, wenn der
Werbeträger das Wörtchen werden eingebaut hätte. Im
unpersönlichen Vorgangspassiv Hier wird schlussverkauft würde der Effekt des P2, das den Resultatszustand herausgreift, aufgehoben. Partizipverliebten Florentinern können wir die sprachgewaltige Ingeborg
Bachmann an die Seite stellen. Wie ließe sich die Callas
herztreffender beschreiben als in der Hommage:
»Ecco un artista, sie ist die einzige Person, die rechtmäßig die Bühne in diesen Jahrzehnten betreten hat,
um den [Zuhörer] unten erfrieren, leiden, zittern zu
machen, sie war immer die Kunst, ach die Kunst, und
sie war immer ein Mensch, immer die Ärmste, die
Heimgesuchteste, die Traviata«.
Heimgesucht hat als Adjektiv wohl geringe Überlebenschancen, aber das Auftreten eines P2 in genuinen
Adjektivpositionen lädt bewusste Sprachbenutzer ein,
ihm kurzum die grammatischen Merkmale echter
Adjektive zuzusprechen, so wie hier die Eigenschaft,
im Superlativ aufzutreten. Vielleicht vollzieht unerwarteterweise auch heimgesucht den Schritt hinüber
zur Wortklasse der Adjektive, wie es vollendet tat, das
sich in Schuberts »Unvollendeter« mit dem den deutschen Adjektiven und Substantiven vorbehaltenen
Negationspräfix »un-« verband. Sie hätte »die Unfertige« genannt werden können, doch wie willkommen ist
uns hier die kreative Hand der Grammatik! Trappatonis unfreiwilliger Schöpfungsakt, der uns das geflügelte ich habe fertig (ho finito) bescherte, beruht auf
eben dieser Überschneidung der Positionen von echten
Adjektiven und Partizipien, doch hat Trappatoni eines
der strikten Verbote der Grammatik missachtet. Ich
bin vollendet wäre in Ordnung gewesen, aber das wollte er wohl nicht sagen.
Literatur
Bachmann, Ingeborg: Hommage à Maria Callas. In:
Werke 4, Essays, Reden, vermischte Schriften,
Anhang. München/Zürich: Piper 19934, S. 343.
Brecht, Bertolt: Die Dreigroschenoper. Vorspiel: Die
Moritat von Mackie Messer. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Verlag.
Gleitman, Leila (1990): The Structural Sources of Verb
Meaning. In: Language Acquisition 1, 3-55.
Haspelmath, Martin (1994): Passive Participles
across Languages. In: Fox, Barbara/Hopper, Paul J.
(eds.): Voice: Form and Function. Amsterdam: Benjamins, 151-177.
Klein, Wolfgang (1999): Wie sich das deutsche Perfekt
zusammensetzt. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 113, 52-85.
Rapp, Irene (1997): Partizipien und semantische
Struktur. Zu passivischen Konstruktionen mit dem 3.
Status. Tübingen: Stauffenburg Verlag.
Wittek, Angelika (1999): Zustandsveränderungsverben
im Deutschen – Wie lernt das Kind die komplexe
Semantik? In: Meibauer, J./Rothweiler, M. (Hrsg.), Das
Lexikon im Spracherwerb. Tübingen und Basel. A.
Francke Verlag. UTB 2039, 278-295.
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