Beziehungspflege – welche Faktoren beeinflussen die kongruente Beziehungspflege? Fachbereichsarbeit eingereicht bei Mario Wölbitsch von Sonja Ender an der psychiatrischen Gesundheits- und Krankenpflegeschule Rankweil Abgegeben in Rankweil am 22. Dezember 2009 Inhaltsverzeichnis Vorwort ....................................................................................- 2 1 2 3 Begriffsdefinition kongruente Beziehungspflege .......................- 5 1.1 Ziel der kongruenten Beziehungspflege .............................- 5 - 1.2 Definition Beziehung .......................................................- 6 - Rahmenbedingungen ............................................................- 7 2.1 Bezugspflege..................................................................- 7 - 2.2 Zeit...............................................................................- 7 - 2.3 Organisation ..................................................................- 8 - Bindungserfahrungen in entwicklungspsychologischer Hinsicht ..- 9 3.1 Auswirkungen von Bindungserfahrungen auf die weitere Entwicklung ................................................................. - 10 - 3.2 4 Das menschliche Gehirn = das soziale Organ ................... - 12 - Übertragung – Gegenübertragung ........................................ - 14 4.1 Übertragung ................................................................ - 14 - 4.2 Gegenübertragung ........................................................ - 15 - 4.3 Bedeutung für die Pflege ............................................... - 15 - 5 Schlussteil ........................................................................ - 16 - 6 Literaturübersicht .............................................................. - 19 - -1- Vorwort Beziehung findet immer und überall statt – wenn auch nur flüchtig, bei einer Begegnung im Stiegenhaus – „es ist nicht möglich in einer Beziehungssituation eine Nicht-Beziehung zu haben“. (Rüdiger Bauer) Ich habe in meinen Praktika die Erfahrung gemacht, dass zwischen dem Wunsch nach Nähe zum Patienten und der Realität des stationären Alltags häufig ein großer Unterschied ist. Oft habe ich erlebt, dass Patienten zwar versorgt werden, der persönliche Kontakt aber auf der Strecke bleibt. Meiner Meinung nach kommen in der Pflege die Kontaktaufnahme und die Beziehungsgestaltung zu kurz. Ich habe mich für dieses Thema entschieden, weil ich der Meinung bin, dass das Kernthema des pflegerischen Handelns die Begegnung mit dem Menschen ist. In der traditionellen Pflege wurden Grundregeln pflegerischen Verhaltens vermittelt, die eine distanzierte Haltung gegenüber dem Patienten zu bestärken schienen. Durch die Betrachtung dass der Mensch ein Objekt zur Wiederinstandsetzung ist, sind folgende Pflegemythen entstanden und wurden propagiert: • alle Patienten sind gleich • der Patient weiß nicht, was er braucht, was ihm hilft – er hat ja nicht das notwendige medizinische Grundwissen • der Patient ist „subjektiv“, der Arzt, die Pflegenden sind „objektiv“ in der Einschätzung seiner Bedürfnisse und in der Bewertung des Behandlungserfolges • das persönliche Leben der Pflegepersonen (Bedürfnisse, Gefühle) bleibt vor der Türe – sie stören routinierte Abläufe. -2- Diese und ähnliche Vorstellungen widersprechen jeder menschlichen Realität. Auf Grund dessen befinden sich viele Pflegende in einer ständigen Ambivalenz. Pflegende tragen die gesamte Verantwortung für den Beziehungsprozess während der Behandlung des Patienten. Daher sind die Ursachen für Beziehungsbehinderungen auch vor allem bei den Pflegekräften selbst zu suchen. (vgl. Rüdiger Bauer 2008, S.1) Auch gegenwärtig kann es in der täglichen Praxis dazu kommen, dass eine Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und Erfahrungen nicht möglich ist. Somit kann es zu einem Mangel an zwischenmenschlicher Kompetenz kommen, welcher die Bewältigung der eigenen Angst und Unsicherheit behindert. Dies kann dazu führen, dass Pflegende die Flucht vor den eigenen Gefühlen antreten. Es kann zur Aufrechterhaltung einer institutionellen Struktur kommen, die die persönliche Begegnung von Mensch zu Mensch auf ein Minimum herabsetzt. (vgl. Rüdiger Bauer 2008, S.2) In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich jedoch ein Wandel vollzogen. Pflegende besinnen sich zunehmend auf das, was sie als ihre eigentliche Aufgabe betrachten und suchen nach Möglichkeiten, eine dem Menschen zugewandte Pflege zu realisieren (Schletting & von der Heide 1993). Doch von der Erkenntnis bis zur Umsetzung im pflegerischen Alltag ist es oft ein schwieriger Weg. Die Auseinandersetzung mit der Thematik der Beziehungspflege führt nicht nur zur Aneignung von theoretischem Grundwissen. Vielmehr kann es zu einer Haltung kommen, die eine bewusstere Gestaltung des Beziehungsprozesses möglich macht. Dies ermöglicht das frühzeitige Erkennen von Beziehungshindernissen, Beziehungsarbeit erhöhen kann. -3- was die Qualität der Im Zuge meiner Literaturrecherche bin ich auf verschiedene Pflegemodelle und –konzepte gestoßen. Stets stand die Beziehung zum Patienten im Mittelpunkt. Ziel meiner Arbeit ist es, die Bedeutung von Beziehung in der Pflege aufzuzeigen und herauszufinden, welche Faktoren Einfluss auf die kongruente Beziehungspflege nehmen. Dieses Thema werde ich in Form einer linearen Erörterung erarbeiten. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich zu Beginn eine Definition von kongruenter Beziehungspflege anführen. Im weiteren Verlauf werde ich Rahmenbedingungen und Faktoren aufzeigen, welche die Beziehung zwischen Pflegeperson und Patient beeinflussen können. -4- 1 Begriffsdefinition kongruente Beziehungspflege Die kongruente Beziehungspflege ist die bewusste Wahrnehmung und die professionelle Bearbeitung (Personenwahrnehmung) Abhängigkeit zweier und oder und Klärung der interdependenten mehrerer Personen) interpersonalen (wechselseitige Aspekte einer Pflegeperson-Patient-Beziehung im Pflegeprozess. Das Konzept der kongruenten Beziehungspflege stützt sich auf die Pflegetheorie der „Psychodynamischen Pflege“ von Hildegard Peplau und die „Pflegeprozesstheorien“ von Ida Jean Orlando. Beide Theorien betonen die wechselseitige Beziehung und das prozesshafte Geschehen zwischen Pflegeperson und Patient. (Rüdiger Bauer 2004, S. 18) 1.1 Ziel der kongruenten Beziehungspflege In der Beziehung zwischen Pflegeperson und Patient beschreibt R. Bauer einen dynamisch interaktionellen Prozess, der in fünf Phasen abläuft. Das Ziel ist, eine möglichst hohe Kongruenz in der Pflegebeziehung zu erreichen. Unter Kongruenz ist das „Selbst-Sein“ zu verstehen, ein Sein, das nicht darauf angewiesen ist, sich hinter Masken, Rollen oder Fassaden zu verbergen. Nach R. Bauer hat die Qualität der Beziehung zwischen Pflegeperson und Patient einen sehr großen Einfluss auf das Therapieergebnis. -5- Wesentlich sind für ihn auch das Bewusstmachen der eigenen Gefühle in der Pflegebeziehung und die Bearbeitung dieser Gefühle. „Die Beziehung zu anderen, beginnt bei der Beziehung zu sich selbst. Diese Beziehung zu sich selbst wird in der Wechselwirkung zu anderen immer deutlich.“ (R. Bauer) In der kongruenten Beziehungspflege liegt die Verantwortung für den Aufbau einer Beziehung bei der Pflegekraft. Die Grundlagen sind die Fragen des Könnens (z.B. Berufserfahrung), des Sollens (z.B. Anforderung der Leitung), des Wollens (was will die Pflegeperson selbst), und des Dürfens (in welchem organisatorischen Rahmen bewegt sich die Pflegeperson). (vgl. Psych. Pflege Heute 6/2007, S.316) 1.2 Definition Beziehung Beziehung, Soziologie: der Grad der Verbundenheit oder Distanz zwischen Individuen, die in einem sozialen Prozess vereint sind; als Grundbegriff zur Beschreibung sozialer Systeme von G. Tarde, E. Dupreel, L. von Wiese und A. Vierkandt eingeführt. (vgl. http://lexikon.meyers.de/meyers/Beziehung) Ich möchte einleitend darauf hinweisen, dass es sich als schwierig erwiesen hat, die Faktoren ihrer Gewichtigkeit nach in eine Reihenfolge zu bringen. Da die Rahmenbedingungen die Basis darstellen, werde ich diese als erstes erläutern. -6- 2 Rahmenbedingungen Dieser Sammelbegriff beinhaltet Voraussetzungen, welche notwendig sind, um kongruente Beziehungspflege optimal umsetzen zu können. 2.1 Bezugspflege Beginnen möchte ich mit dem Pflegesystem der Bezugspflege, welches als stützender Rahmen für die Umsetzung von Beziehungspflege zu verstehen ist. Durch die Kontinuität der Pflegeperson und einem geringen Wechsel an Bezugspersonen wird der Beziehungsaufbau erleichtert. Des Weiteren bietet die Bezugspflege dadurch mehr Klarheit und Struktur für den Patienten. Zusätzlich ergibt sich ein weniger lückenhafter und wahrheitsgetreuerer Informationsfluss, da die Anzahl der in den Pflegeprozess involvierten Personen minimiert ist. 2.2 Zeit Ein weiterer, enorm wichtiger Faktor stellt die verfügbare Zeit dar. Denn das Schaffen einer vertrauensvollen und tragfähigen Beziehung nimmt Zeit in Anspruch. Zeitmanagement ist heutzutage ein wichtiges Thema, da Leistungsdruck, Wirtschaftlichkeit und Kostenbewusstsein die Pflege in ihrer Tätigkeit stark limitieren. Der Beziehungsprozess ist vom Pflegeprozess nicht abtrennbar. Hier liegt es an den Pflegedienstleitungen der Krankenhäuser, die nötigen Organisationsstrukturen zu schaffen, um die Pflegequalität auch im Hinblick auf die Beziehungsqualität sicherzustellen. (vgl. Rüdiger Bauer 2008, S. 171) -7- Immer wieder verstecken sich Pflegende hinter institutionellen Strukturen, mit dem Argument, dass sie für Beziehungspflege aufgrund der straffen Zeiteinteilung keine Zeit hätten. Ich denke, wenn man sich darauf besinnt, den Patientenkontakt bewusster zu gestalten, kann man auch ohne zusätzlichen Zeitaufwand einiges erreichen. Das Konzept der kongruenten Beziehungspflege steht und fällt mit dem Vorsatz des „Wollens“. Dieser aktive Entscheidungsprozess des Wollens sensibilisiert die Pflegeperson für die Beziehungsarbeit. (vgl. R. Bauer 2008, S. 171) 2.3 Organisation Des Weiteren darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich strukturelle Gegebenheiten wie der Personalschlüssel, aber auch die Möglichkeit sich mit dem Patienten zurückzuziehen, ebenfalls positiv auf den Beziehungsprozess auswirken. Ein weiterer limitierender Faktor, der aber meiner Meinung nach stark beeinflussbar ist, ist der Ausbildungsstand und die Motivation des Pflegepersonals. Um an diesem Punkt anzusetzen, benötigt es genügend Ausbildungsplätze und motiviertes Personal, welches die Weiterentwicklung nicht scheut. Daraus lässt sich schließen, dass verschiedene Aspekte Einfluss auf die Umsetzung der Beziehungspflege nehmen. Das Pflegesystem der Bezugspflege bietet anhand der patientenorientierten Vorzüge einen geeigneten Rahmen. Ebenso müssen im Auftrag der Qualitätssicherung der Faktor Zeitmanagement und das strukturelle Setting berücksichtigt werden. -8- 3 Bindungserfahrungen in entwicklungspsychologischer Hinsicht Bindung, das heißt die sichere Beziehung zur Mutter, zum Vater oder zu anderen Bezugspersonen, ist ein grundlegendes menschliches Motiv. Sie prägt den Menschen bis ins Erwachsenenalter und ist mitverantwortlich für die Gestaltung aller späteren Beziehungen. Die Art und Weise und in welcher Intensität ein Mensch in der Lage ist, in Beziehung zu treten und Beziehung zu leben, hängt von Beziehungserfahrungen der frühesten Kindheit ab. Deshalb behaupte ich, dass diese Bindungserfahrungen Einfluss auf die spätere Beziehungsfähigkeit haben. Die Bindungstheorie beschreibt in der Psychologie das Bedürfnis des Menschen, eine enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehung zu Mitmenschen aufzubauen. Sie wurde von dem britischen Kinderpsychiater John Bowlby und der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelt. Ihr Gegenstand ist der Aufbau und die Veränderung enger Beziehungen im Laufe des Lebens. Sie geht von dem Modell der Bindung der frühen Mutter-Kind-Beziehung aus. Sie verbindet ethnologisches, entwicklungspsychologisches, psychoanalytisches, therapeutisches und systemisches Denken. -9- 3.1 Auswirkungen von Bindungserfahrungen auf die weitere Entwicklung Durch die Bindungstheorie konnten langfristige Effekte der frühen Bindungsperson-Kind-Beziehung nachgewiesen werden. Aus der Qualität der Bindung, die beim „Fremde-Situations“-Test bei den 18 - 24 Monate alten Kindern festgestellt wurde, lassen sich folgende Vorhersagen ableiten: Sicher gebundene Kinder zeigen später adäquateres Sozialverhalten im Kindergarten und in der Schule, mehr Phantasie und positive Affekte beim freien Spiel, größere und längere Aufmerksamkeit, höheres Selbstwertgefühl und weniger depressive Symptome. In weiterer Folge zeigten sie sich offener und aufgeschlossener für neue Sozialkontakte mit Erwachsenen und Gleichaltrigen als vermeidende und oder ambivalent gebundene Kinder. Auch können frühe Bindungserfahrungen einen neurophysiologischen Einfluss ausüben. Hierbei konnte ein Einfluss von Bindungserfahrungen auf die Ausbildung der Rezeptoren des Hormons Oxytocin nachgewiesen werden, welches wiederum das Bindungsverhalten beeinflusst. Bindungsstörungen, insbesondere die desorganisiert/desorientierte Bindung scheinen einen Einfluss auf die Vulnerabilitätsschwelle zu besitzen, also die Schwelle ab der ein Mensch Belastungen nicht mehr verarbeiten kann und eine psychische Störung entwickelt. Aus den Ergebnissen der Bindungsforschung kann also gesagt werden, dass bestimmte Formen der Interaktion einen positiven wie negativen Einfluss auf die spätere Entwicklung - 10 - haben können. So haben Missbrauch oder Vernachlässigung einen besonders negativen Einfluss, der häufig eine psychische Störung auslösen oder begünstigen kann. Hingegen gelten aus Sicht der vorhandenen Forschungsergebnisse der Bindungstheorie stabile längere Bindungen als wichtiger Schutzfaktor vor psychischen Störungen. Eine solche Bindungsbeziehung kann offenbar auch die Folgen von traumatischen Erfahrungen, wie sexuellem Missbrauch oder Misshandlung mildern. In therapeutischen Beziehungen können durch nachholende Bindungserfahrungen individuelle Ressourcen genutzt werden. (vgl. https://portal.dimdi.de/websearch/servlet/Flow Controller/Documents-di) Anhand dieser Forschungsergebnisse lässt sich für die Pflege Folgendes ableiten: Da es erwiesen ist, dass Bindungsmuster in den ersten Jahren nach der Geburt festgelegt und geprägt werden, ist es für Pflegepersonen unabdingbar, diese im Beziehungsaufbau und in der Beziehungsgestaltung zu berücksichtigen. Wenn ein Patient in seiner Beziehungsfähigkeit Einschränkungen hat, bedeutet dies für die Pflege, dass es mehr an Sensibilität und Geduld benötigt. In meinem Praktikum auf der Jugendpsychiatrie waren Bindungsstörungen häufig Thema. Für die Pflege bedeutete dies, stellvertretende Rollen einzunehmen und dem Jugendlichen authentisch und ehrlich gegenüber zu treten. Allgemein gilt es, die Selbstwirksamkeit wieder herzustellen, d.h. die Affektregulierung des Patienten zu unterstützen und die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Beziehungen zu fördern. - 11 - 3.2 Das menschliche Gehirn = das soziale Organ Der nun folgende Teil ist zusammenhängend mit den eben beschriebenen Bindungsstörungen zu betrachten. Denn Bindungsstörungen sind nicht nur als Muster anzusehen, welche durch Prägung entstanden sind, Bindungserfahrungen führen auch zu komplexen neuronalen Umstrukturierungen. Ich behaupte, dass Beziehungserfahrungen nicht nur NervenzellNetzwerke organisieren, sondern auch das subjektive Fühlen und Denken eines Menschen prägen. Die Entwicklung von Fühlen, Denken und Handeln verläuft parallel mit der Entstehung von Nervenzell-Netzwerken des Gehirns. Diese entstehen durch Verschaltungen, mit denen die über 20 Milliarden Nervenzellen des Gehirns verknüpft sind. Die Verschaltungen erfolgen an kleinen Kontaktzonen, den Synapsen, mit Hilfe von Botenstoffen. Aus der Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt ergibt sich seelische und geistige Aktivität, welche wiederum jene NervenzellNetzwerke aktiviert, in denen das dazugehörende Wahrnehmungs- oder Handlungsmuster gespeichert ist. Gene steuern nicht nur, sie werden auch gesteuert. Die Vorstellung, dass Gene auf eine starr festgelegte Weise funktionieren und danach das gesamte Leben programmieren, ist nicht zutreffend. Vielmehr unterliegen Gene zahlreichen Einflüssen, die ihre Aktivität in hohem Maße regulieren. Am deutlichsten wurde dies durch Beobachtungen und Entdeckungen, die in den letzten Jahren neurobiologischen Forschung gemacht wurden. - 12 - auf dem Gebiet der Geistige Tätigkeit, aber zwischenmenschlichen auch Beziehungen Gefühle haben und im Erlebnisse Gehirn in biologische Veränderungen zur Folge. Der Grund dafür ist, dass Ereignisse, Erlebnisse und Lebensstile die Aktivität von Genen steuern, welche wiederum zu cerebralen Strukturveränderungen führen. (vgl. Joachim Bauer 2008, S. 7) Was wir erleben und tun, bezeichnet man als „erfahrungsabhängige Plastizität“ des Gehirns. Mechanismen der erfahrungsabhängigen Plastizität setzen bereits während der Schwangerschaft ein und spielen in den ersten Beispielsweise Jahren die nach der Geburt eine Spiegelneurone zeigen, dass beachtliche nicht nur Rolle. unser seelisches Empfinden, sondern auch die Neurobiologie unseres Gehirns ein auf zwischenmenschliche Bindungen eingestelltes und von Bindungen abhängiges System ist. (vgl. Joachim Bauer 2008, S. 71) Für die Pflege bedeutet dies, dass man sich immer wieder bewusst machen muss, dass gegenwärtige Erfahrungen des Patienten mit der Pflegeperson und/oder einer Pflegesituation gleichbedeutend sind mit früheren Erfahrungen. Die Pflegeperson kann dem Patienten helfen, die Bedeutung der lebensgeschichtlichen Erfahrung und deren Zusammenhang mit der unmittelbaren Erfahrung zu erfassen und auszusprechen. - 13 - Übertragung – Gegenübertragung Die neuronale Struktur stellt auch bei dem nun folgenden Phänomen die Basis dar, da es hierbei ebenso um frühe Erlebnisse und Erfahrungen in Zusammenhang mit gegenwärtigen Situationen geht. Übertragung und Gegenübertragung ist eine wissenschaftliche Erkenntnis aus der analytischen Tiefenpsychologie nach Sigmund Freud aus dem Jahre 1912. Dieses Phänomen findet in jeder menschlichen Begegnung in individuell ausgeprägter Intensität statt. Ich behaupte deshalb, dass dieses Phänomen auch in der kongruenten Beziehungspflege zum Tragen kommt. 3.3 Übertragung Es ist eine allgemeine und zudem wissenschaftlich unterbaute Erkenntnis, dass alles an Erleben und Wahrnehmen in Zusammenhang mit früheren Erfahrungen zu verstehen und zu erklären ist. Die Annahme, dass eine Pflegeperson ganz neutral eine „graue Wand“ repräsentiere, ist eine Illusion. Selbstverständlich wird die Pflegeperson vom Patienten als eigenständige Person mit Schwächen und Stärken erlebt. Es existieren nur wenig andere soziale Situationen, die so sehr zur zusätzlichen Projektion auffordern, wie dies in der Beziehung zwischen Patient und Pflegeperson der Fall ist. Ein einfaches Beispiel kann dies verdeutlichen: Ein Patient, der einen ungelösten Konflikt mit einem autoritären Vater hat, kann die Tendenz haben, übertrieben aggressiv zu agieren. - 14 - Dieses überaus aggressive Agieren entspricht dem Phänomen der Übertragung, da die Pflegeperson für diesen den autoritären Vater darstellt. 3.4 Gegenübertragung In weiterer Folge kann es zum Phänomen der Gegenübertragung seitens der Pflegeperson auf den Patienten kommen. Dies resultiert aus der Tatsache, dass die auf die Pflegeperson übertragene Haltung eine entsprechende Reaktion hervorruft. Dem oben genannten Beispiel entsprechend wird die Pflegeperson in die Rolle des autoritären Vaters gedrängt. Nun liegt es an der Pflegeperson, dies frühzeitig zu erkennen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Kreislauf der Übertragung und Gegenübertragung zu durchbrechen. 3.5 Bedeutung für die Pflege Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es grundsätzlich notwendig ist, dass sich Pflegepersonen der Übertragung und Gegenübertragung ständig bewusst sind. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit der Korrektur unangemessener, sich wiederholender und oft in der Intensität zu starker Gefühle, die mit der Realität nicht übereinstimmen. (vgl. Hans Strotzka 1994, S.51) An dieser Stelle ist es von immenser Wichtigkeit zu erwähnen, dass der Prozess den Anfang auch bei der Pflegeperson haben kann und somit beim Patienten zur Gegenübertragung führt. - 15 - 4 Schlussteil Die Wahl für das Thema meiner Fachbereichsarbeit hatte ich schnell getroffen, da Beziehungspflege ein zentrales Motiv der psychiatrischen Arbeit darstellt. Ich habe mich dann mit verschiedenen Pflegetheorien und Konzepten auseinander gesetzt. In meinen Fokus ist dabei die kongruente Beziehungspflege nach Rüdiger Bauer gerückt. Da ich während meiner Ausbildung mit einigen spannenden Phänomenen und Themen in Berührung gekommen bin, hat es mich interessiert, diese in Zusammenhang mit Beziehungspflege zu betrachten. Es war für mich sehr aufschlussreich, mich mit Phänomenen wie der Übertragung und Gegenübertragung eingehender zu beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit diesen hat mich in meiner pflegerischen Tätigkeit sensibilisiert. Es hat mir dabei geholfen, negative Gefühle als nicht von meinem Selbst kommend zu identifizieren und zu bearbeiten. Ebenso war es sehr interessant, sich mit den Bindungstheorien auseinanderzusetzen. Mir war zwar aus dem Unterricht schon einiges bekannt, aber vieles war auch neu und beeindruckend für mich. Mit dem Thema der Neurobiologie hatte ich mich im Vorfeld schon beschäftigt. Ich fand es deshalb spannend, dies in meine Arbeit zu integrieren. Zu den Rahmenbedingungen gibt es zu sagen, dass jede Institution eine individuelle Lösung benötigt, welche den Pflegepersonen ermöglicht, ausreichend Zeit für den Beziehungsprozess aufzuwenden. Institutionen sollten im Rahmen der Qualitätssicherung beachten, speziell ausgebildetes Pflegepersonal einzustellen bzw. den Mitarbeitern die Möglichkeit zu bieten, sich diesbezüglich fortzubilden. - 16 - Die wesentliche Aussage meiner Arbeit ist, dass es einen Wandlungsprozess gibt, der weg führt vom bloß arztorientierten Wissen und Handeln, hin zu einer Profession mit eigenem Selbstverständnis. Ich sehe es als große Chance, dass sich die Pflege über den eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereich selbstständiger repräsentieren kann. Pflegende sollten Beziehungsprozess der sich darüber bewusst wahrscheinlich sein, dass eigenständigste der und eigenverantwortlichste Bereich von Pflege überhaupt ist. Den Menschen in seiner Ganzheit zu verstehen, ist die Voraussetzung für eine tragfähige Beziehung. Die Gestaltung des Beziehungsprozesses ist Aufgabe der Pflege, deshalb ist es unabdingbar, den Menschen nicht nur als Patienten zu betrachten, sondern als jemanden der durch Erlebnisse, Ereignisse und Erfahrungen geprägt worden ist. Diese holistische Wahrnehmung des Menschen ermöglicht Pflegepersonen, den Beziehungsaufbau und die Beziehungsgestaltung zu individualisieren. Hierfür ebenso notwendig ist eine gezielte Auseinandersetzung mit der Biographie des Patienten und deren Weitergabe im interdisziplinären Behandlungsteam. Pflegepersonen können durch zielgerichtete Beziehungsarbeit die biopsycho-sozialen Aspekte der Erkrankung berücksichtigen. Diese Arbeit benötigt allem anderen voran ein Ziel und den kongruenten Umgang mit sich selbst und dem Patienten. Es ist ebenso wichtig, sich seiner eigenen Gefühle bewusst zu sein und sich immer wieder selbst zu reflektieren. Denn nur wenn man sich seiner Selbst bewusst ist, ist kongruente Beziehungspflege möglich. Hierzu möchte ich erwähnen, dass Supervisionen, Fort- und Weiterbildungen, sowie die Zusammenarbeit im Team eine hilfreiche Unterstützung darstellen. - 17 - Für die Pflegepraxis wird durch eine zielgerichtete Beziehungsarbeit im Pflegeprozess der Problemlösungsprozess erleichtert und gefördert. (vgl. Rüdiger Bauer, 2008 S. 165) Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema meiner Fachbereichsarbeit führte in meiner praktischen Tätigkeit zu einer bewussteren Beziehungspflege. Es hat mir verdeutlicht, dass es von enormer Wichtigkeit ist, Problemsituationen immer ganzheitlich - im Kontext mit früheren Erfahrungen des Patienten - zu betrachten. „Weil du die Welt bist, werden deine Taten die Welt beeinflussen, in der du lebst, die Welt deiner Beziehungen. Aber die Schwierigkeit liegt darin, die Bedeutung der individuellen Transformation zu erkennen. Wir möchten, dass sich die Gesellschaft um uns herum ändert, aber wir sind blind und wollen uns selbst nicht ändern.“ Krishnamurti, 100 Jahre - 18 - 5 Literaturübersicht Rüdiger Bauer (2004) Beziehungspflege - Professionelle Beziehungsarbeit für Pflegende, IBICURA Unterostendorf Joachim Bauer (2008) Das Gedächtnis des Körpers, Piper Verlag GmbH München https://portal.dimdi.de/websearch/servlet/Flow Contoller/Documents-di) Hans Strotzka (1994) Psychotherapie und Tiefenpsychologie, Springer Verlag/Wien Psych. Pflege Heute (6/2007) Georg Thieme Verlag KG - 19 - Eigenständigkeitserklärung Ich erkläre hiermit, dass die vorliegende fachspezifische Arbeit von mir verfasst wurde und dass ich dazu keine anderen, als die angeführten Behelfe verwendet habe. Die Reinschrift habe ich einer Korrektur unterzogen. Feldkirch, 20.Dezember 2009 Unterschrift - 20 -