X.2 Elektrostatik von Dielektrika

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N.BORGHINI
Elektrodynamik in Materie
Theoretische Physik IV
X.2 Elektrostatik von Dielektrika
Ein schwach- oder nichtleitendes Medium — entsprechend der Abwesenheit von frei beweglichen
Ladungsträgern — wird allgemein als Dielektrikum bezeichnet.
X.2.1 Elektrische Kraft auf einen Körper. Polarisationsvektor
Ein Körper, bestehend aus geladenen Teilchen mit der mikroskopischen Ladungsdichte ρ(~r),
~ r), das sich nur langsam im Raum ändert. Die
sei in einem externen elektrostatischen Feld E(~
~ r), vgl. (VII.3).
mikroskopische elektrische Kraftdichte im Punkt ~r ist ρ(~r)E(~
Die Mittelung dieser Kraftdichte über mesoskopische Skalen führt zur gemittelten Kraftdichte
Z
~
~ r 0 ) d3~r 0 ,
hρE(~r)i = f (~r −~r 0 ) ρ(~r 0 ) E(~
mit f der schon eingeführten Mittelungsfunktion. Das langsam variierende Feld kann um den Punkt
~r Taylor-entwickelt werden:
Z
~ r) + · · · d3~r 0
~ r) + (~r 0 − ~r) · ∇
~ E(~
~
hρE(~r)i = f (~r −~r 0 ) ρ(~r 0 ) E(~
Z
Z
0
0
3 0 ~
3 0
0
0
0
3 0
~
~ r) + · · ·
=
f (~r −~r ) ρ(~r ) d ~r E(~r) +
d ~r f (~r −~r ) ρ(~r ) (~r − ~r) d ~r · ∇ E(~
Man erkennt im ersten Term der zweiten Zeile die gemittelte Ladungsdichte % im Punkt ~r. Das
Integral im zweiten Term definiert ein Vektorfeld P~ (~r), die dielektrische Polarisation. Damit lautet
die gemittelte Kraftdichte
~ r)i = %(~r)E(~
~ r) + P~ (~r) · ∇
~ E(~
~ r) + · · ·
hρE(~
(X.15)
Diese gemittelte Kraftdichte kann dann über das Volumen des Körpers integriert werden, um
~ E
~ durch partielle Integration
die gesamte elektrische Kraft zu liefern. Dabei wird der Term (P~ · ∇)
~ · P~ )E
~ und
behandelt, d.h. dessen Integral wird durch die Summe des Volumenintegrals von −(∇
eines Oberflächenterms ersetzt. Unter Weglassen des Letzteren und der Beiträge höherer Ordnung
in der Taylor-Reihe ergibt sich
~ r) ≡ %eff (~r)E(~
~ r).
~ · P~ (~r) E(~
~ r)i ' %(~r)E(~
~ r) − ∇
hρE(~
Die effektive gemittelte Ladungsdichte lautet also
~ · P~ (~r).
%eff (~r) = %(~r) − ∇
(X.16)
Zur Ladungsdichte % können einerseits „gebundene“ Ladungsträger — die Atome bzw. Moleküle
des Dielektrikums — beitragen, und zum anderen „freie“ (oder „externe“) Ladungen, entsprechend
einer gemittelten Ladungsdichte %frei = hρfrei i. Üblicherweise wird angenommen, dass die gebundenen Ladungsträger zu einer null makroskopischen Ladungsdichte führen — d.h. das Dielektrikum
~ · P~ .
ist elektrisch neutral —, so dass % = %frei und %eff = %frei − ∇
Die dielektrische Polarisation beschreibt die durch das äußere elektrische Feld induzierte Verschiebung der elektrischen Ladungen im Dielektrikum. Dieser Verschiebung können unterschiedliche
Effekte beitragen, je nach der Art des Dielektrikums:
• Besteht das Letztere aus polaren Molekülen (mit einem nichtverschwindenden elektrischen
Dipolmoment), so führt die Anlegung des elektrischen Feldes zur Ausrichtung der molekülaren
Dipolmomente, und somit zur makroskopischen Polarisation.
• In einem Dielektrikum bestehend aus unpolaren Molekülen verschiebt das äußere elektrische
Feld die negativ geladene Elektronwolke jedes Atoms gegen den jeweiligen positiv geladenen
Kern: dies induziert ein elektrisches Dipolmoment, das zur dielektrischen Polarisation beiträgt.
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Bemerkungen:
∗ Hier wurde die Gültigkeit des Ausdrucks (X.16) als gemittelte Ladungsdichte eines makroskopischen Körpers am Beispiel der Kraft in einem externen elektrischen Feld gezeigt. Das Resultat
gilt aber allgemein für jede „elektrische Anregungsfunktion“, mit der der Körper sondiert wird.
Tatsächlich stellt die Entwicklung (X.15) den Anfang einer Multipolentwicklung dar.
∗ Seiner Definition nach ist die dielektrische Polarisation gleich dem elektrischen Dipolmoment pro
Volumen. Folglich ist die SI-Einheit für |P~ | das C·m−2 .
X.2.2 Makroskopische elektrostatische Gleichungen. Elektrische Flussdichte
Dank der Linearität der Mittelung lassen sich die Maxwell–Gauß- und die Maxwell–FaradayGleichung einfach mitteln zu
~ · E(~
~ r) = %eff (~r) .
∇
(X.17a)
0
und
~ × E(~
~ r) = ~0
∇
(X.17b)
Wenn man den Ausdruck (X.16) der effektiven Ladungsdichte in die erstere Gleichung einsetzt und
die elektrische Flussdichte
~ r) = 0 E(~
~ r) + P~ (~r)
(X.17c)
D(~
einführt, wird Gl. (X.17a) zu
~ · D(~
~ r) = %frei (~r).
∇
(X.17d)
Bemerkungen:
∗ Aus der Maxwell–Faraday-Gleichung (X.17b) folgt, dass man ein elektrisches Potential Φ(~r)
~ r) = −∇Φ(~
~ r). Die makroskopische Maxwell–Gauß-Gleichung liefert aber
einführen kann, mit E(~
keine „einfache“ Gleichung für Φ(~r), im Gegensatz zur Poisson-Gleichung im Vakuum.
∗ Der Vorteil der elektrischen Flussdichte soll sein, dass ρfrei den „von außen“ kontrollierbaren
Ladungen entspricht. In der Tat kontrolliert ein Experimentator eher das angewandte Potential,
~
und somit die elektrische Feldstärke E.
∗ Gemäß ihrer Definition hat die elektrische Flussdichte — die auch dielektrische Verschiebung
oder elektrische Erregung genannt wird — die gleiche Einheit wie die Polarisation, d.h. das C·m−2
im SI-System.39
∗ Der lokalen Formulierung (X.17d) entspricht dank dem Gauß’schen Integralsatz die Integralform
der makroskopischen Maxwell–Gauß-Gleichung
I
~ r) · d2 S~ = Qfrei ,
D(~
S
mit Qfrei der Gesamtladung im durch die Oberfläche S abgegrenzten Volumen.
∗ Die effektive Ladungsdichte (X.16) zieht nur die zwei ersten Terme in der Multipolentwikklung (X.15) in Betracht und stellt also eine Näherung der kompletten Formel dar. Analog ist
Gl. (X.17c) nur die Trunkierung eines längeren Ausdrucks, s. Jackson [8] Kapitel 6.6.
39
~ = E+4π
~
~ gegeben, während Gl. (X.17d)
Im Gauß’schen Einheitensystem wird die elektrische Flussdichte durch D
P
~
~
∇ · D = 4π%frei lautet.
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X.2.3 Felder an der Oberfläche eines Dielektrikums
Wie im Abschn. X.1.2 folgt aus der Gleichung (X.17b) die Stetigkeit der Tangentialkomponente
~ k der elektrischen Feldstärke an der Oberfläche eines Dielektrikums.
E
Andererseits liefern Argumente analog zu denen, die zum Ausdruck (X.9) des Sprungs der Nor~ ⊥ bei einer Leiteroberfläche führen, das Verhalten der elektrischen Flussdichte an
malkomponente E
der Oberfläche eines Dielektrikums:
• Wenn freie Ladungsträger auf der Oberfläche ∂ V stehen, entsprechend einer Flächenladungs~ gegeben durch
dichte σfrei , wird der Sprung der Normalkomponente von D
~ ⊥ (~r) = σfrei (~r)~en (~r) für ~r ∈ ∂ V ,
D
(X.18a)
mit ~en (~r) dem Normaleinheitsvektor zur Oberfläche im Punkt ~r.
Dies gilt insbesondere, im Fall wo die Oberfläche das Dielektrikum von einem geladenen Leiter
trennt, der freie Ladungen auf seine Oberfläche trägt.
~ ⊥ stetig.
• Wenn die Flächenladungsdichte null ist, dann ist die Normalkomponente D
Zusammenfassend lauten die Randbedingungen an der Oberfläche eines Dielektrikums
~ r) = 0 und ~en (~r) · D(~
~ r) = σfrei (~r) in einem Punkt ~r der Oberfläche, (X.18b)
~en (~r) × E(~
mit σfrei der Flächenladungsdichte und ~en dem Normaleinheitsvektor.
X.2.4 Modelle für die dielektrische Polarisation
Die Lösung der Gleichungen (X.17) erfordert einen weiteren Zusammenhang, um die dielektrische
Polarisation bzw. die elektrische Flussdichte mit der elektrischen Feldstärke zu verknüpfen. Ein
solcher Zusammenhang wird konstitutive Gleichung genannt und hängt von einem Modell für die
mikroskopische Physik ab, wie sich an den oben diskutierten Quellen der Polarisation ahnen lässt.
Übliche Modelle sind40
• Die dielektrische Polarisation ist proportional zum elektrischen Feld,
~ r),
P~ (~r) = χe 0 E(~
(X.19a)
mit einem ortsunabhängigen Proportionalitätsfaktor. Dieses Modell setzt ein homogenes und
isotropes Medium voraus.
Der dimensionslose Koeffizient χe heißt elektrische Suszeptibilität.
Damit ergibt sich
~ r) = (1 + χe )0 E(~
~ r) ≡ r 0 E(~
~ r),
D(~
(X.19b)
mit r der relativen Permittivität und ≡ r 0 der Permittivität des Dielektrikums.
~ r), d.h. das Medium ist noch isotrop, aber nicht mehr homogen.
• P~ (~r) = χe (~r)0 E(~
X
• Pi =
χe,ij 0 Ej , d.h. die Polarisation hängt linear von der elektrischen Feldstärke ab.
j
Die χe,ij bilden die Elementen eines Tensors zweiter Stufe ~~χe , des elektrischen Suszeptibilitätstensors.
P
Dementsprechend gilt Di = j r,ij 0 Ej mit r,ij = 1 + χe,ij den Elementen des (relativen)
~r .
dielektrischen Tensors ~
Man kann zeigen, dass diese Tensoren symmetrisch sind: χe,ij = χe,ji bzw. r,ij = r,ji . Außerdem existiert eine Basis, in der sie diagonal sind.
40
In Ref. [9] wird ein Überblick über unterschiedliche mögliche konstitutive Gleichungen dargestellt.
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Eine solche konstitutive Gleichung beschreibt ein Medium, das nicht mehr isotrop ist, sondern
zeigt bevorzugte Richtungen, wie z.B. die Achsen des Gitters in einem Kristall. Dann kann
passieren, dass die Polarisation immer parallel zu einer dieser Richtungen ist, auch wenn das
~ nicht entlang derselben Richtung ist.
äußere Feld E
• Die obigen Modelle, wie solche für elektrische Leiter im Abschn. X.1.1, beschreiben lineare
Medien — oder, genauer gesagt, dielektrische Medien im Regime, wo ihre Response linear ist.
Eine weitere Möglichkeit ist
X (1)
X (2)
Pi =
χe,ij 0 Ej +
χe,ijk 0 Ej Ek + · · · ,
j
j,k
~ hängt nicht-linear von E
~ ab.41
d.h. P~ (und folglich D)
Ein solcher Zusammenhang gilt insbesondere für starke elektrische Felder.
• Einige Substanzen, sog. Ferroelektrika wie z.B. Bariumtitanat BaTiO3 , weisen eine spontane
Polarisation P~ = P~0 6= ~0 auch bei verschwindendem elektrischen Feld auf. Auch hier ist der
~ und E
~ nicht linear.
Zusammenhang zwischen D
• Bei Piezoelektrika (z.B. Quarz) führt eine mechanische Spannung zu einer Polarisation auch
~ = ~0. Somit stellt ein Piezoelektrikum unter mechanischer Spannung ein Beispiel von
bei E
Ferroelektrikum dar.
Umgekehrt verformt sich ein Piezoelektrikum unter Anwendung einer elektrischen Spannung.
Bemerkungen:
∗ Die in Gl. (X.19b) eingeführte relative Permittivität r stellt in der Tat den Wert bei NullFrequenz der relativen dielektrischen Funktion r (ω) dar. Somit wird sie manchmal Dielektrizitätskonstante oder Dielektrizitätszahl genannt.
∗ Mithilfe thermodynamischer Betrachtungen kann man zeigen, dass die elektrische Suszeptibilität
eines Dielektrikums immer positiv ist, χe > 0.
∗ Formell kann ein elektrischer Leiter als ein Dielektrikum mit unendlich großer Permittivität
betrachtet werden.
Sei ein durch zwei parallele Ebenen abgegrenzter makroskopischer Körper,
~ ext.
E
beschrieben durch das Gesetz (X.19b) mit konstanter Permittivität , in einer
6 ~ ext. senkrecht zu den Ebenen.
gleichförmigen äußeren elektrischen Feldstärke E
E
~ Außerhalb des Körpers herrscht Vakuum, mit der elektrischen Flussdichte
~ ext. = 0 E
~ ext. . Auf der Körperoberfläche sitzen keine freie Ladungen.
D
~ im Inneren des Körpers folgt aus der elektrischen Flussdichte D.
~ Wegen
Die elektrische Feldstärke E
~ ⊥ [Gl. (X.18a)] gilt E
~ = D/
~ =D
~ ext. / = E
~ ext. /r . Für einen
der Stetigkeit der Normalkomponente D
~
~
Leiter muss E = 0 im elektrostatischen Gleichgewicht gelten, was sich im Limes r → ∞ erhalten
lässt.
Literatur
• Feynman [5, 6], Kapitel 10, 11 & 31-1
• Griffiths [7], Kapitel 4
• Jackson [8], Kapitel 4.3
• Landau–Lifschitz [4], Kapitel II § 6–7
• Schwinger [10], Kapitel 4.
41
~
Manchmal wird diese Nichtlinearität als eine E-abhängige
elektrische Suszeptibilität geschrieben.
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