Anlässlich der Aufführung des Nabucco von

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Anlässlich der Aufführung des Nabucco von Giuseppe Verdi im
Castelgrande in Bellinzona am 28. Juli 2009 stellen wir den
einmaligen Altersruhesitz für Musiker, la “Casa di Riposo per
Musicisti”, (Fondazione Giuseppe Verdi) in Mailand vor
“L’opera mia più bella”
von Annegret Diethelm und Attilio D’Andrea
www.adad.ch
elle mie opere, quella che mi pia- Giuseppe Fortunino Francesco Verdi (1813 – 1901) ist wohl der berühmteste italienische Komce di più è la Casa che ho fatto co- ponist aller Zeiten. Ihm gelang 1841/42 der sensationelle Durchbruch mit der Uraufführung
struire a Milano per accogliervi i der Oper “Nabucco” in der Mailänder Scala, womit nach seinen eigenen Worten seine sechvecchi artisti di canto non favori- zehn Jahre Galeerenarbeit begannen, in denen ein Werk dem andern folgte, unter ihnen “Riti dalla fortuna, o che non posse- goletto” (1851), “Il Trovatore” (1853) und “La Traviata” (1853), die als Höhepunkte in Verdis
dettero da giovani la virtù del ri- Schaffen gelten und heute noch weltweit zu den beliebtesten Opern gehören. Verdi ist als Opernsparmio. Poveri e cari compagni della mia vita! komponist der grösste Gegenspieler des ebenfalls 1813 geborenen Richard Wagner. Er knüpfte
Credimi, amico, quella Casa è veramente l’opera an Gioacchino Rossini, Vincenzo Bellini, Saverio Mercadante und Gaetano Donizetti an. Seine
mia più bella, schrieb Giuseppe Verdi wenige Jah- Opern sind theatralische Gesamtkunstwerke, mitreissende Dramen mit ergreifenden, von
re vor dem Tod seinem Freund Giulio Montever- Menschlichem, Tragik und Humor gezeichneten Figuren grosser Gefühlsintensität.
de. Von meinen Werken ist jenes,
das mir am meisten gefällt, das
Haus, das ich in Mailand bauen
liess, um alte Künstler des Gesangs, die nicht vom Glück begünstigt waren, aufzunehmen und
die als Junge nicht die Tugend des
Sparens besassen. Arme und teure Begleiter meines Lebens! Glaube mir, Freund, dieses Haus ist
wahrlich mein schönstes Werk.
Entworfen vom Architekten und
Literaten Camillo Boito (18361914), dem Bruder des Poeten,
Komponisten und Librettisten
Giuseppe Verdis (Otello, Falstaff,
Mefistole), Arrigo Boito (1842 1914), beide Mitglieder der Scapigliatura, einer antibürgerlichen
Gruppe vorwiegend lombardischer Künstler und Schriftsteller
in Mailand zwischen 1860 und
1880, welche die Erneuerung der
Kunst forderte, entstand das “Casa di Riposo per Musicisti” in den
Jahren 1896 - 1899 an der damals
am Rand von Mailand gelegenen
Piazza Buonarotti nach genauer
Vorstellung und unter der täglichen Aufsicht des Bauherrn und
Stifters Giuseppe Verdi. Erst nach
dem Tod Verdis (1901) durften am
10. Oktober 1902 die ersten Gäste eintreten, da Giuseppe Verdi
von den minder begünstigten Musikerinnen und Musikern keine
Verdi liess zwischen 1896 und 1899 den Bau einer Altersresidenz für Musiker
Dankbarkeit erfahren wollte. Bis
in Mailand errichten, die noch heute bewohnt ist
heute bietet das Haus mit seinen
achtzig um drei Höfe angeordneten Zimmern italienischen Staatsbürgern, die ihr tektur bedient, mit um die Jahrhundertwende mo- ren darstellt. Mit diesen Worten beschreibt AlberLeben der Musik gewidmet haben, im Alter einen dernen Jugendstilelementen und exotisch wirken- to Savinio, der Bruder Giorgio de Chiricos, das
Ort der Ruhe und ein Leben in vollkommener Frei- den maurischen Formen, steht inmitten neuerer, Standbild und setzt hinzu, dass diese hausbackeheit und Autonomie. Solange sie können, leben sie nach den Bombardierungen des zweiten Welt- nen Denkmäler kein schlechtes Wetter vertragen:
weiter für die Musik, sei es aktiv am Klavier, sin- kriegs wieder aufgebauten Häuser am Kreisel der Aber wenn es wie heute in Strömen regnet, ist es
gend oder als Gäste der zahlreichen Konzerte, wel- Piazza Buonarotti (erreichbar mit der Metrolinie ein Jammer zuzusehen, wie der Vater unserer Meche berühmte, an der Mailänder Scala auftretende 1). Dort erhebt sich das 1930 von Enrico Butti ge- lodien dem Wolkenbruch ausgesetzt ist, mit unbeKünstler im grossen Vortragssaal geben. Es ist ein schaffene Verdidenkmal mit den Allegorien der decktem Kopf und ohne Mantel. Am liebsten möchganz aussergewöhnlicher, einzigartiger Alterssitz, Melodie, der Dichtung, der Heiterkeit und der Tra- te man über das schmiedeiserne Geländer sprinein respektvoller, heiterer Ort des Ausruhens nach gödie - ein für italienische Städte so typisches Bild gen, dem guten Maestro vom Sockel helfen, ihn an
einem reichen Leben, kein Altersheim im üblichen einer mitten im Verkehr und der Menschenmenge der Hand unter einem Schirm über die Strasse fühSinn: Gli ospiti non vivono “in” Casa Verdi ma auf den Sockel gehobenen Persönlichkeit, wie es ren und in die Casa di riposo geleiten.
“vivono Casa Verdi”. – Die Gäste leben nicht durch Giorgio de Chirico in traumhaft eingehen- Zentrum des Hauses ist die Cripta, die im Innern
“im” Casa Verdi sondern “leben das Casa Verdi”! der Weise wiedergegeben wird. Verdi ist in unge- mit Jugendstilmosaiken überzogene Grabkapelle,
Seit 1998 beherbergt das Haus auch begabte, min- zwungener Haltung dargestellt, mit lockerem, ent- ein von Musen, der heiligen Cäcilia, einem Liederbemittelte Studenten renommierter Musikschu- spanntem Körper, und die Arme hat er auf dem Rü- bespaar, dem stets wiederkehrenden Motiv der
len Mailands.
cken unter der Jacke verschränkt. Das Original ist Verdiopern, und Engeln bevölkertes Elysium, in
Der dreistöckige, ausgedehnte Komplex mit grau jenes berühmte Kleidungsstück, das in einer Vitri- der nach dem Willen Verdis er selbst und seine
verputztem Sockelgeschoss und zwei Oberge- ne des Scala-Museums ausgestellt ist, wo es zu- zweite Ehefrau, Giuseppina Strepponi, ihre letzte
schossen in rotem Sichtbacksteinmauerwerk, des- sammen mit dem Kragen, der wehenden Krawatte Ruhe gefunden haben und ein jünglingshafter Ensen eklektizistische architektonische Sprache, die und dem breitkrempigen Hut über dem fehlenden gel einen Lorbeerzweig auf den Sarg des Komposich aus dem Schatz typisch italienischer Archi- Schädel das furchterregende Bild des Unsichtba- nisten wirft. Diede una voce alle speranze, ai lut-
D
ti, pianse e amò per tutti. – Er gab der Hoffnung
und der Trauer eine Stimme, er weinte und liebte
für alle, schrieb Gabriele d’Annunzio auf Verdis
Grab. Während der Überführung der Leichname
der beiden Verstorbenen in die Krypta der Casa
Verdi 1901 sang ein Chor von 900 Sängern den
Gefangenenchor Va pensiero aus Nabucco. Seit
dem Besuch der Königin Margherita, der ersten
Königin Italiens und Mutter von Vittorio Emmanuele III, die ein Zeichen für die erste Gattin Verdis vermisste, findet sich in der
Krypta eine eingemauerte Tafel
mit der Inschrift: Margherita Barezzi, seiner geliebten Frau, die
ihm in den ersten Kämpfen des
Lebens beistand.
Fürs Publikum offen ist die Krypta Giuseppe Verdis, während die
Säle und das kleine Museum, das
unter anderem Bilder aus der
Sammlung Verdis, sein erstes Spinett, das Esszimmer des Ehepaars
Verdi zeigt, nach Anmeldung nur
von Gruppen besucht werden
kann. (Informationen: www.casaverdi.org)
Alberto Savinio hingegen war es
vergönnt, in Begleitung des Hausmeisters als einzelner Besucher
durch das Haus zu gehen:
Vom Korridor im ersten Stock blicke ich auf den Hof hinunter und
erblicke Verdi – tatsächlich: Verdi, wie er langsamen Schrittes den
Hof überquert und auf den Ausgang zugeht. Ich schreie nicht,
denn es ist nicht meine Art zu
schreien, und wie mir meine Mutter erzählt, war ich auch stumm
geblieben, als ich das Licht der
Welt erblickte.
Ich hebe rasch den Blick gen Himmel, um den Zauber zu bannen,
dann senke ich den Blick auf die
Fenster gegenüber, um sicherzugehen, dass er noch im Besitz seiner Kräfte ist und in der Zwischenzeit nicht nekromantische
Fähigkeiten erworben hat;
schliesslich richte ich ihn wieder auf den Hof: Verdi geht noch immer über den Hof und will eben das
Atrium betreten.
Damit nicht genug, hinter dem ersten Verdi geht
ein zweiter Verdi und hinter dem zweiten ein dritter, dann ein vierter, ein fünfter…
Er ist es: sind sie er? … Er kommt aus der Krypta: kommen sie aus der Krypta? … Ich allein sehe
ihn: Ich allein sehe sie? …
Der Hausmeister sagt: “Eine Uniform wäre demütigend gewesen, und deshalb hat der Maestro
verfügt, seine Gäste, seine “Kollegen”, sollten genauso gekleidet sein wie er, mit der weiten,
schwarzen, zweireihigen Jacke, der wehenden
Krawatte, dem breitkrempigen Hut.”
Die Stimme des Hausmeisters klingt in meinen Ohren wie die Stimme meiner Mutter, als sie mich als
Kind aus der Finsternis eines Alptraums weckte.
(Alberto Savinio: Stadt, ich lausche deinem Herzen. Frankfurt am Main 1989/ Übersetzung von
Ascolto il tuo cuore, città, Mailand 1984, Originalausgabe 1944).
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