Die gotischen „ga” – Komposita: Semantik und Kategorialfunktion aus synchroner und diachroner Sicht Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung .............................................................................................. 3 2 Die Wortbildung ................................................................................... 6 2.1 Arten der Wortbildung ................................................................. 9 2.2 Typen der Komposition ............................................................. 11 2.3 Verbalkomposita ......................................................................... 13 2.4 Aspekt im Gotischen................................................................... 16 2.5 Aspekt in den ga-Komposita ....................................................... 21 2.6 Geschichte der Goten .................................................................. 24 2.7 Kurze Charakteristik der gotischen Sprache ............................. 25 1 3 Aktionsart- und Aspektsemantik der gotischen ga-Komposita ....... 27 3.1 Die ga-Komposita, die kein entsprechendes Simplex besitzen 28 3.2 Die ga-Komposita, die ein entsprechendes Simplex besitzen .... 30 3.3 Die ga-Komposita, in denen das Präfix „ga-” den perfektiven Aspekt ausdrückt ................................................................................... 31 3.4 Die ga-Komposita, in denen das Präfix „ga-” die Bedeutung des Verbs modifiziert .................................................................................. 52 4 Schlusswort .......................................................................................... 70 5 Anhang: Die Liste aller gotischen ga-Komposita ................................ 72 6 Bibliographie ........................................................................................ 81 7 Internetquellen...................................................................................... 84 1. Einleitung Das Thema der vorliegenden Arbeit sind Verben der gotischen Sprachen mit dem Präfix ga- (z.B. ganiman, gafilhan, gaqiman etc.), die eigentlich keine Komposita, sondern Ableitungen sind, da das Element ga- seinem Status nach kein Bestimmungswort, sondern ein Präfix ist. Der Terminus ga- Komposita wurde von Wilhelm Streitberg eingeführt und hat sich bis heute in der Forschungstradition gehalten. Daher wird er auch hier verwendet. ganiman ,nehmen, mitkommen' gafilhan ,verstecken, begraben' gaqiman ,zusammenkommen' 2 Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht in der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen semantischer und grammatischer Funktion des Präfixes ga- in Verbindung mit verschiedenen Verbalstämmen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen folgende konkrete Aufgaben gelöst werden: 1. Die Analyse der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur zu dem Forschungsthema, deren Präsentation und deren kritische Sichtung. 2. Die Erarbeitung eines Forschungsmodells für die Untersuchung des empirischen Sprachmaterials. 3. Die Erhebung der zu untersuchenden Entitäten aus den entsprechenden Quellen. 4. Die Klassifikation der zu erforschenden sprachlichen Einheiten nach ihren relevanten Merkmalen und Aufstellung von formalen und semantischen Gruppen der jeweiligen Entitäten. 5. Die Untersuchung morphologischen, der syntaktischen wichtigsten etc. semantischen, Eigenschaften der entsprechenden Entitäten und deren Verwendung in konkreten Kontextbelegen. 6. Die Formulierung der wichtigsten Schlussfolgerungen zu dem untersuchten Sprachmaterial. Das Korpus der Arbeit bilden die Texte der gotischen Bibel (zusammengestellt im 5./7. Jh. nach Christus) nach der Ausgabe von Wilhelm Streitberg im Jahre 1965, einschließlich des in derselben Ausgabe vorhandenen Gotisch-Griechisch-Deutschem Wörterbuches. Die entsprechenden Einheiten werden dem Wörterbuch entnommen und an konkreten Textbeispielen analysiert. In der Arbeit werden folgende Forschungsmethoden benutzt: 3 1. Historisch–vergleichende Analyse mit den Elementen der internen und externen Rekonstruktion. 2. Synchrone und diachrone Wortbildungsanalyse. 3. Kategorialgrammatische Analyse, darunter sprachvergleichend. In der vorliegenden Arbeit werden keine Hypothesen formuliert, da es die Spezifik meines Forschungsgegenstandes nicht sinnvoll macht. Stattdessen werden folgende Fragen gestellt, die im Laufe der Untersuchung beantwortet werden: 1. Von welchen Verbalstämmen werden die „ga”-Komposita gebildet? 2. Wie stark ist im Gotischen die Parallelität zwischen Simplizia und „ga”-Komposita? 3. Was ist das Verhältnis zwischen semantischer Modifikation des Simplexes durch das Präfix „ga” und der kategorialgrammatischen (aspektuellen) Funktion dieses Präfixes? Die Arbeit besteht aus dieser Einleitung, dem theoretischen Teil, dem empirischen Teil, dem Schlussteil, der Literatur und dem Quellenverzeichnis. In der Einleitung werden die Aufgaben, Fragen, Ziele und Methoden der vorliegenden Arbeit dargestellt. Hier wird gezeigt, wozu eigentlich diese Arbeit entsteht, wie sieht ihre Gliederung aus und was mit ihr bewiesen sein soll. Der theoretische Teil präsentiert historische und grammatische Grundlagen für den praktischen Teil, was die Analyse des Korpuses ermöglicht. In diesem Teil wird die analysierte Literatur dargestellt. Verschiedene Standpunkte und Diskussionen werden verglichen und mit entsprechenden Textbeispielen argumentiert. Der empirische Teil befasst sich mit konkreten Beispielen der „ga”-Komposita, die nach ihren Merkmalen klassifiziert werden. Sie 4 werden hier auch gruppiert, beschrieben und erklärt. Dieser Teil ist der Kern der Arbeit, weil die praktische Untersuchung der beschriebenen Verben das Ziel der Arbeit ist. In dem Schlussteil werden die Schlussfolgerungen aus der Korpusanalyse gezogen. In diesem Abschnitt werden die dargestellten Fragen beantwortet. Hier ist auch eine kurze Zusammenfassung der gesamten Arbeit enthalten. In dem Abschnitt „Literatur” werden alle gebrauchten Bücher und Artikel mit ihren Autoren und bibliografischen Daten genannt. Dieser Teil ermöglicht das Finden der Werke, aufgrund deren diese Arbeit entstanden ist. In dem Quellenverzeichnis befinden sich alle Internetquellen, die zur Literatur nicht gehören und in dieser Arbeit genutzt wurden. 2 Die Wortbildung Nach Heinz Vater 1999, S. 75 ist die Wortbildung „die Erzeugung eines lexikalischen Worts.” In jeder Sprache kann man eine unbegrenzte Zahl neuer Wörter bilden, indem man beliebige Laute miteinander mischt. Die meisten neuen Wörter entstehen jedoch auf eine andere Weise. Die Menschen behalten die neuen Lexeme schneller, wenn sie aus bereits vorhandenen gebildet werden. Vater unterscheidet sechs Wortbildungsverfahren, nach denen die Wörter entstehen. Zu ihnen gehören: Komposition, Derivation, Konversion, Abkürzung, Kontamination und Entlehnung. (Vgl. Vater 1999, S.75) In meiner 5 Arbeit sind zwei Wortbildungsweisen wichtig: Komposition und Derivation. Die Komposition ist die einfachste und häufigste Möglichkeit der Entstehung neuer Wörter. Ein Kompositum wird durch die Zusammensetzung zweier oder mehrerer vorhandener Lexeme gebildet. Vater 1999, S. 77 unterscheidet zwei Typen von Komposita: a.) Determinativ-Komposita, die unbedingt zweigliedrig sind, z.B. hellblau, Holzhaus. In diesem Fall determiniert das Erstglied das Zweitglied. b.) Kopulativ-Komposita, die nicht unbedingt zweigliedrig sind, z.B. Hosenrock, schwarzrotgold. Die einzelnen Glieder sind einander kopulativ, also verbindend zugeordnet. Der Kopf, also das Grundglied des Kompositum ist der letzte Teil der Zusammensetzung und bestimmt sowohl die Katogorie als auch das Genus. Eine andere Weise der Wortbildung ist die Derivation, anders genannt: Ableitung oder Affigierung. Die Derivation ist „die Produktion eines lexikalischen Worts aus einem bestehenden mit Hilfe von Derivationsaffixen (Derivativen).” (Vater 1999, S.82) Das Ergebnis dieses Prozesses ist ein Derivat, z.B.Fahrer, freundlich, trinkbar. Höhle 1982 (zitiert nach Vater 1999, S. 82) meint, dass die Affixe Wörter sind. Die Affixe gelten allgemein als Morpheme, die keine lexikalischen, sondern nur grammatikalische Bedeutung haben. Mit Hilfe von ihnen bildet man neue Wörter. Man unterscheidet vier Affixe: Präfix, Suffix, Infix und Zirkumfix. In dieser Arbeit sind die Präfixe am wichtigsten, sie kommen vor einem Morphem vor, z.B. gehen – begehen. Die Suffixe werden nach einem Morphem hinzugefügt, z.B. lieben – Liebling. Die Infixe sind in einem Morphem enthalten, sie treten aber nicht in der deutschen Sprache auf, aus diesem Grund kann ich kein passendes Beispiel nennen. Die letzte Gruppe der Affixe bilden die Zirkumfixe, die 6 um ein Morphem vorkommen, z.B. geleitet – „ge” und „et” sind in diesem Fall Zirkumfixe. (Vgl. Glück 2005, S. 127) Höhle ist jedoch der Meinung, dass die Derivation eine Form der Komposition ist. Für den einzigen Unterschied zwischen Affigierung und Komposition hält er die Tatsache, dass die Affigierung aus zwei freien Konstituenten und die Komposition aus einer freien und einer gebundenen Konstituente entstehen. Die freien Konstituenten existieren allein in der Sprache als Wörter, die gebundenen Konstituenten kommen nur mit anderen Lexemen vor und haben nur in der Verbindung mit ihnen eine Bedeutung. (Vgl. Vater 1999, S. 82 ) Eine ähnliche Definition der Wortbildung gibt Stepanova 1986 in ihrem Buch „Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache” an, wobei sie eigentlich zwei Definitionen darstellt. Nach ihr ist die Wortbildung sowohl „ein der Wege der Entwicklung des Wortschatzes” als auch „die Wortstruktur”. (Stepanova 1986, S. 78) Sie ist der Meinung, dass die Lehre von der Wortbildung in zwei Richtungen geht. Zum einen ist diese Lehre „Beschreibung der Prozesse, die der Entwicklung des Wortschatzes dienen”, zum anderen ist sie „Analyse der fertigen Wortstruktur”. (ebd., S. 78) Sie behauptet, dass die einzelnen Affixe verschiedene Aufgaben bei der Wortbildung erfüllen. „Eine präfixale Struktur hat die allgemeine Bedeutung eines kategorialen Merkmals, das durch das Präfix zum Ausdruck gebracht wird (un- bei Substantiven – Merkmal der Verneinung oder der Verstärkung, zer- bei Verben – Merkmal der Trennung oder der Zerstörung usw.); eine suffixale Struktur weist auf eine weite semantische Kategorie hin (-er bei Substantiven – Kategorie der handelnden Person, -en bei Adjektiven - Beziehung auf den durch das Grundwort bezeichneten Stoff usw.)”. (ebd., S. 91) Stepanova beschreibt in ihrem Buch dreizehn Grundwortbildungsmodelle der deutschen Gegenwartssprache, darunter 7 vier betreffen präfixale Ableitungen. Die Autorin gliedert diese Modelle in zwei Gruppen: Modelle der präfixalen Ableitung (normales und mit Veränderung des Wurzelmorphems) und Modelle der präfixal-suffixalen Ableitung (normales und mit veränderter Wurzel). Bei den Modellen der präfixalen Ableitung unterscheidet Stepanova zwischen deutschen und fremden Präfixen. Sie werden hier in die Wortarten gruppiert: Präfixe der Substantive: a.) deutsche: erz-, ge-, miß- (misse-), un-, ur-; b.) fremde: a-, anti-, auto-, ex-, extra-, hyper-, in-, inter-, ko- (kon-), makro-, mikro-, mini-, mono-, poly-, pseudo-, re-, super-, ultra-, vize-. Präfixe der Adjektive: a.) deutsche: erz-, ge-, miß-, un-; b.) fremde: a-, anti-, extra-, hyper-, in-, inter-, makro-, mikro-, mono-, poly-, super-. Präfixe der Verben: a.) deutsche: be-, ent-, emp-, er-, ge-, miß-, ver-, zer-; b.) fremde: de-, dis-, ex-, ko-, re-. (Vgl. ebd., S. 107) Die Autorin weist darauf hin, dass einige Präfixe in zwei oder drei Wortarten gebraucht werden, z.B. erz- oder un- (Substantiv, Adjektiv) und ge- oder miß- (Substantiv, Adjektiv, Verb). Bei den Modellen der präfixal-suffixalen Ableitung werden auch drei Wortarten beschrieben, die bei der Wortbildung genutzt werden: Präfixal-suffixale Substantive: es sind Strukturen mit dem Präfix ge- und meist mit dem Suffix –e (seltener mit einigen anderen Suffixen), z.B. Gefrage, Gelaufe, Gespiele, Geschreibsel. Die Hauptbetonung fällt in der Regel auf das Wurzelmorphem. Präfixal-suffixale Adjektive: „sie werden nach dem Modell der Partizipialformen der schwachen Verben gebildet, ohne dass ein 8 Verbalparadigma dazu existiert” (ebd.,110), z.B. gestiefelt, befrackt, entmenscht, vertiert, zertalt. Das Suffix –t und das Präfix ge- gelten hier nicht als grammatische, sondern als lexikalische Morpheme. Präfixal-suffixale Verben: sie sind nicht zahlreich, zu ihnen gehören z.B. beerdigen, befriedigen usw. Das verbale Suffix –en wird zu den grammatischen Merkmalen gezählt. (Vgl. Stepanova 1986, S.110) 2.1 Arten der Wortbildung Keller 1995, 100 unterscheidet zwei Arten der Wortbildung: Zusammensetzung (anders genannt: Komposition), bei der mindestens zwei freie Morpheme zusammengefügt werden (z.B. Landstadt) und Ableitung, bei der ein gebundenes oder Affixmorphem zu einem freien Morphem hinzugefügt wird (z.B. länd-lich, städt-isch). (Vgl. Keller 1995, 100) Bergmann 2004, 45f. ordnet die Morpheme aufgrund ihrer Funktion verschiedenen Klassen zu. Grundlage für jedes Wort ist immer ein oder mehrere Morpheme, die die inhaltliche Beziehung zu dem bezeichneten Sachverhalt und zu anderen Wörtern begründen und manchmal auch allein als Wörter auftreten, zum Beispiel schön in Schönheit. Diese Morpheme nennt er Grundmorpheme, weil sie die wichtigsten Teile der Wörter sind. Ein Wort kann mehrere Grundmorpheme enthalten, z.B. Hoch-sommer. Die Morpheme in dieser Bildung können als selbstständige Wörter allein auftreten (hoch, Sommer). Solche Grundmorpheme bezeichnet man als freie Grundmorpheme. In dem Wort Halte-platz ist Platz ein freies Grundmorphem, aber Halte kommt in der Sprache nicht selbstständig vor. Solche Grundmorpheme nennt man gebundene Grundmorpheme. Manchmal werden die neuen Wörter mit Morphemen wie -keit, -lich, usw. gebildet (z.B. amt-lich). Solche Grundmorpheme bezeichnet man 9 als Präfixe, wenn sie vor Grundmorphemen auftreten (z.B. er-, ge-, be-, ver-) oder als Suffixe, wenn sie hinter Grundmorphemen vorkommen (z.B.-lich, -heit, -ung, -nis). Als Oberbegriff für Präfixe und Suffixe gelten Affixe. (Vgl. Bergmann 2004, 45f.) Schmidt 1927, 387 (zitiert nach Bühler 1999, 334) definiert die Prä- und Suffixe als Formen, die inhaltlich keine Bedeutung haben und dazu dienen, die formalen und grammatischen Beziehungen der Wörter auszudrücken. (Vgl. Schmidt 1927, 387) Bergmann 2004, 47 unterscheidet, genauso wie Keller, zwei Arten der Wortbildung: Komposition (Zusammensetzung) und Derivation (Ableitung). Er ergänzt nur diese Aufteilung mit der Bemerkung, dass die Komposition und Derivation in einem Wort zusammen vorkommen können. Als Beispiel nennt er das Wort Aussegnungshalle, das man als Kompositum zweier Wörter Aussegnung und Halle betrachten soll. Das erste Morphem Aussegnung ist eine Ableitung eines Substantives auf -ung. Dieses Substantiv wird von dem Verb aussegnen abgeleitet, das aus einem Präfix aus- und einem Grundmorphem segnen besteht. Das Wort Halle ist ein Grundmorphem und das Element -s- ist ein Fugenelement. (Vgl. Bergmann 2004, 47) 2.2 Typen der Komposition Bergmann 2004, 47f. unterscheidet vier Typen der Komposition: Determinativkompositum, Possessivkompositum, Kopulativkompositum und Zusammenrückung. Aufgrund des Textes von Thomas Mann untersucht er die Determinativkomposita. Die Wortart dieser Zusammensetzung wird durch das Zweitelement der Komposita bestimmt. Z.B. die Bildung Hochsommer gilt als ein maskulines Substantiv, weil Sommer ein maskulines Substantiv ist und Vormittagsstunde ist ein feminines Substantiv, denn Stunde ist ein feminines Substantiv. Das Zweitelement nennt man Grundwort, weil die 10 Flexion des Kompositums an ihm ausgewiesen wird. Die Bedeutung des Kompositums ist sowohl vom Erstelement als auch vom Grundwort abhängig, z.B. Frühlingsnachmittag bedeutet „Nachmittag im Frühling” oder Gedächtnistafeln bedeutet „Tafeln zum Gedächtnis”. Die Erstelemente bestimmen die Bedeutung des Grundwortes näher, aus diesem Grund werden sie Bestimmungswörter genannt. Die Komposita, die aufgrund der Bedeutungsbeziehung zwischen Bestimmungswort und Grundwort gebildet werden, bezeichnet man als Determinativkomposita. Ihr wichtiges Merkmal ist, dass sie durch ihr Grundwort ersetzt werden können. Frühlingsnachmittag kann durch Nachmittag ersetzt werden, Gedächtnistafeln durch Tafeln. (Vgl. Bergmann 2004, 47f.) Nach Bergmann 2004, 48f. wird im Possessivkompositum auch wie bei dem Determinativkompositum das Zweitglied durch das Erstglied determiniert, wobei die Bedeutung der ganzen Bildung außerhalb der Bedeutung des Grundwortes liegt. Er gibt zwei Bespiele an: „Rotschwänzchen ist ein Vogel, der einen roten Schwanz hat und Langbein ist eine Person, die lange Beine hat.” (Bergmann 2004, 48) Ein Rotschwänzchen ist kein Schwänzchen und ein Langbein ist kein Bein, deshalb kann das Kompositum durch das Grundwort nicht ersetzt werden. Als dritter Typ der Komposita gibt Bergmann 2004, 49 das Kopulativkompositum an. In dieser Zusammensetzung sind die beiden Elemente, also das Erstelement und das Zweitelement, semantisch gleichwertig. In dem Beispiel „nasskalt” bilden die Bedeutungen zweier Elemente die Bedeutung des Kompositums: sowohl nass, als auch kalt. Beim Kopulativkompositum vertreten die beiden Elemente dieselbe Wortart. Die Elemente können vertauscht werden, ohne dass sich die Bedeutung verändert: nasskalt = kaltnass, aber die Umkehrung der Reihenfolge ist nicht üblich. Zum Vergleich: bei Determinativkomposita 11 verädert die Umkehrung der Reihenfolge der Elemente die Bedeutung, z.B. Hochsommer ist nicht Sommerhoch gleich. (Vgl. Bergmann 2004, 49) Die letzte Art der Komposita ist die Zusammenrückung. In diesem Fall ist eine syntaktische Wortgruppe unter Beibehaltung der Wortfolge und der Flexion zu einem neuen Wort verbunden, z.B.: „drei Käse hoch” zu Dreikäsehoch „nimmer satt” zu Nimmersatt „lange Weile” zu Langeweile. (Vgl. Bergmann 2004, 49) Nach Bühler 1999, 320ff. ist das Kompositum „ein Wort mit gefügtem Symbolwert und verlange (…) faktisch (unter gewissen Voraussetzungen und mit bestimmten Einschränkungen) mehrere nennende Bedeutungspulse”. (Bühler 1999, 320ff.) Brugmann 1900, 359ff. bezeichnet die Komposition als Urschöpfungsakt, bei dem die neuen Wörter erschöpft werden (zitiert nach Bühler 1999, 320ff.). Nach ihm ist „der wirkliche Anfang des Vorganges, den wir Kompositionsbildung nennen, vielmehr immer eine Modifikation der Bedeutung des syntaktischen Wortverbandes” (Brugmann 1900, 359ff., zitiert nach Bühler 1999, 320ff.). 2.3 Verbalkomposita Keller 1995, 196ff. unterscheidet zwei Arten der Verbalkomposition: Zusammensetzung von Substantiv + Verb und Verbalpräfigierung. a.) Der Typ: Substantiv + Verb. Beispiele: fuazfallōn – „zu Füssen fallen” halsslagōn – „ohrfeigen” castluamen – „Gast sein” welaqhedan – „segnen” 12 ābandmuasōn – „zu Abend essen” Diese Komposita, Lehnsübersetzung außer des dem Wort lateinischen welaqheden, „benedicere” das eine ist, sind Verbalableitungen von Nominalkomposita, z.B. castluamī = = „Gastlichkeit”. b.) Verbalpräfigierung. Die Partikeln, die in den germanischen Verben präfigiert werden konnten, hatten eine adverbiale sowie eine präpositionale Funktion und waren unbetont. Die Funktions- und Betonungdifferenzierung vor der Zeit des Ahd. hatte die Präfixe in zwei Klassen geteilt. Zu einer Klasse gehörten Partikeln, die stets unbetont und reduziert waren, obwohl die Vokale mundartlich variierten (z.B. gi-, ge-, ga-). Einige historisch auseinanderzuhaltende Partikeln waren zusammengefallen, z.B. got. faír-, fra-, faúr-: ahd. fir- oder got. and-, in-: ahd. in-. Sie traten immer vor dem Verb auf, und das Partizip Präteritum des Verbs hatte kein gi-. Die zweite Klasse bildeten Präfixpartikeln, die stärkere adverbielle Funktion hatten und semantisch gesehen deutlicher definiert waren, solche Partikeln trugen Betonung. Die Mehrheit der Partikeln ließen sich in zwei Klassen klar aufteilen, d.h. in trennbare oder untrennbare Partikeln, einige konnten gleichzeitig zu beiden Gruppen gehören. (Vgl. Keller 1995, 196ff.) *Untrennbare Partikeln: bi- biborgēn – „sich hüten”, int- (in-) intfliahan- „entfliehen”, ir- irbaldēn – „Mut fassen”, gi- gibeiten – „nötigen”, firfirneman – „vernehmen”, zi- zibrechan – „brechen, bändigen”; auch die folgenden standen stets vor dem Verb: duruh- thuruhstechan – „durchstechen”, hintar – hintarqueman – „erstaunen, erschrecken”, missi- missidrūēn – „mißtrauen”. *Trennbare Partikeln: aba- „ab”, abasnīdan – „abschneiden”, lat. abscisio; after: afterruafan – „nachrufen”; ana: „an” anablāsan – „anblasen”, lat. inspirare; fram: framgangan – „vorgehen”, lat. 13 procedere; fora: forachunden – „verkündigen”, lat. pronuntiāre; furi: furibringen – „herbeibringen”; in: ingān – „hineingehen”; hera: „her” – herafuaren – „herführen”; hina: „weg” hinaneman – „wegnehmen”; miti: „mit” mitiloufan – „mitgehen”; nāh: „nach” nahloufan – „nachlaufen”; nidar: „nieder” nidarfallan – „niederfallen”; dana: „weg, fort” thanasnīdan – „wegschneiden; ubar: „über” ubarwinnan – „besiegen”, lat. superāre; ūf: „auf” ūfgangan – „aufgehen”; umbi: „um, herum” umbirītan – „umreiten”; ūz: „aus” ūzirdrīban – „austreiben”; widar: „gegen, wider” widarwerban – „zurückkehren” zua: „zu” zuaruafan – „zurufen”; ubar, untar, umbi kamen sowohl in der trennbaren wie untrennbaren Klasse vor. (Keller 1995, 196ff.) Keller 1995, 561ff. sondert drei Möglichkeiten der Verbbildung aus: Ableitung, Komposition und Präfigierung. Mit der Ableitung hat man nur bei der Umwandlung zu Verben durch ein Suffix des Infinitivs -en zu tun. Es kann erweitert werden zu -el-n, -er-n, -ig-en, -ier-en, -is-ieren. „Die Umwandlung von Substantiven hat besonders fachsprachlich beträchtlich zugenommen (drahten, gummieren, sanden) und ist namentlich zusammen mit Präfixen beliebt (verlanden, entwässern, ausbrauchen) (Keller 1995, 561). Die Ableitungen sind immer untrennbar. Die zweite Art der Verbbildung ist die Komposition. Grundsätzlich entstehen die Zusammensetzungen aus der Verbindung eines Verbs mit einem anderen Verb, z.B. fließdrücken, schleifputzen, tauchhärten, mähdreschen. Komposita mit einem Substantiv als Bestimmungselement kommen sehr selten vor und sind trennbar, z.B. achtgeben, teilnehmen, zugrundegehen, schlittenfahren, maschineschreiben, radfahren. Trennbare Verbzusammensetzungen, deren erster Bestandteil ein Adjektiv ist, treten häufiger auf: heißlaufen, glattreiben, trockenlegen, fremdgehen. Als erste Bestandteile können auch adverbiale Partikel vorkommen: 14 hinauswerfen, dableiben, herkommen, weiterwursteln, zusammenlöten. Typisch für die Verbbildung ist die Präfigierung, die zwei Arten aufweist. Zu der ersten Klasse gehören sechs Partikeln, die gebundene Morpheme sind: be-, er-, ent-, ver-, zer-, miss-. Früher trat auch ge- auf, alle Verben mit ge- sind heute lexikalisiert (z.B. fallen-gefallen), weil dieses Präfix nicht mehr produktiv ist. Die zweite Gruppe bilden präfigierte Adverbien und Präpositionen, die freie Morpheme sind (z.B. ab, an, auf, usw.). Die meisten von ihnen sind trennbar, aber einige (durch, über, um, unter, manchmal wider) können auch untrennbar sein, z.B. 'übersetzen über'setzen. Viele Morpheme sind polysem, also haben sie mehrere Bedeutungen und bilden zahlreiche Klassen. Nur die untrennbaren Präfixe haben Hauptbedeutung und sind deshalb nicht kompliziert. Unten werden sie aufgelistet, mit ihrer Bedeutung und mit Beispielen versehen: ver- a.) „versehen mit” : verzieren, vergolden b.) „rückgängig oder falsch machen” : verlernen, versteigen c.) „zu etwas machen oder vollenden” : verlanden, verwildern d.) „weg” : verschenken, verreisen be- a.) Hauptfunktion: Bildung transitiver Verben: besingen, besteigen b.) „versehen mit” : beringen, berasen, bebildern c.), „etw. an etw. tun” : beschmieren, befriedigen er- a.) „Übergang in einen anderen Zustand” : erlahmen, erwachen b.), „entfernen” : entkeimen, entnazifizieren zer- a.) „entzwei machen” : zersetzen, zersingen b.), „Handlungsintensivierung” : zerschneiden, zerschmettern miß- a.) „falsch oder gar nicht machen” : mißbrauchen, mißglücken. (Vgl. Keller 1995, 561ff.) 2.4 Aspekt im Gotischen 15 Schleicher 1855, 197 hat das Gotische mit dem Altkirchenslavischen verglichen. Als Resultat seiner Untersuchungen hat er ein paar Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Sprachen entdeckt. Als erste Gemeinsamkeit nennt er den Verlust der alten Futurformen. Nach Schleicher hat das Verschwinden der Futurformen zur Unterscheidung zwischen Verba Perfecta und Verba Imperfecta geführt. Der Unterschied verschwand im Neuhochdeutsch, als die Umschreibung überhand genommen hat (zitiert nach Leiss 1992, 54). Die Ähnlichkeiten zwischen den gotischen (sowie deutschen) und slavischen Verben hat auch Grimm 1824/1974, LII bemerkt. Nach ihm haben die Perfectiva ein Futurum und kein Präsens. Als Bespiel gibt er den Satz: „zurück oder ich schieße” an. Er weist auch darauf hin, dass die Perfectiva im Präsens als Antwort auf die Frage „was machst du” nicht auftreten können. Von einem Sterbenden, Reisenden, Lesenden oder Bleibenden sagt man nicht dass er verstirbt, verreist, durchliest und verbleibt, sondern dass er stirbt, reist, liest und bleibt (zitiert nach Leiss 1992, 55). Grimm 1824/1974, LIII stellt nicht fest, ob dem perfektiven Verb ebenso wie im Slavischen jeweils ein semantisch äquivalentes Verb entspricht. Er weist auf die mögliche perfektivierende Bedeutung von ge- im Tatian hin und als Beispiel gibt er den Satz, in dem das Simplexverb mit dem gipräfigierten Verb verwendet wird: „thaz siu bâri, inti gibar” („Während ihres dortigen Aufenthalts fant für Maria die Zeit ihrer Niederkunft und sie gebar ihren ersten Sohn”). (zitiert nach Leiss 1992, 56) Streitberg 1891, 176 beschäftigt sich mit dem Gebrauch von ge- (ahd.gi-, got. ga-), jedoch beschränkt er sich nicht nur auf dieses Präfix, sondern er untersucht alle präfigierten Verben im Gotischen. Er unterscheidet nicht zwischen Aktionsart und Aspekt. Die sowjetischen Aspektologen haben darüber diskutiert, ob Simplexverben und die jeweils dazugehörigen 16 Präfixverben im Russischen Aspektpaare darstellen. Nach diesem Gedankengang gibt es im Gotischen keine Aspektkategorie, sondern nur Aktionsarten. Als Aspektpaare dienen Verbpaare wie „pisat’ – napisat’ , „schreiben” impf. vs. pf. Die Entsprechung des russischen Beispieles „pisat’ – napisat’ ist das Verbpaar „meljan – gameljan”, und in einer älteren germanischen Sprache lautet es: „skrîҌan – giskrîҌan”. Genauso ist es im Polnischen, diese Formen lauten: „pisać – napisać”. Das Gotische verfügt über viele Verbpaare vom diesen Typ. Ga- ist das semantisch leerste Präfix im Gotischen. Ursprünglich bedeutete ga- „zusammen”, wie bei den Wortbildungen von Ge- mit Substantiv in der gegenwärtigen deutschen Sprache auch sichtbar ist, z.B. Gehirn als die Gesamtheit des Hirns; Gewässer, usw. Die zentrale Funktion des verbalen ga-Präfixes ist es, die Gesamtheit einer Verbalsituation anzuzeigen. Weitere Verbpaare: taujan gataujan „tun”, „machen” „vollbringen” saihvan gasaihvan „sehen” „erblicken” laisjan galaisjan „lehren” hausjan gahausjan „hören” „vernehmen” brikan gabrikan „brechen”, „zerstören” bindan gabindan „binden” bairan gabairan „tragen” „gebären” matjan gamatjan 17 „essen” (Vgl. Leiss 1992, 56-63) Rice 1932, 122 hat die Häufigkeit der gotischen Verben mit den griechischen Verben in einer Übersetzung verglichen. Er hat festgestellt, dass die Präfixverben (Rice nennt sie „Komposita”) im gotischen Text häufiger als im griechischen auftreten (5948:4047). Auch die Anzahl der verwendeten Präfixe im Gotischen ist höher als im Griechischen (28:18). Fast die Hälfte der belegten Präfixverben im Gotischen (2516 von 5948) ist mit ga- präfigiert. Für das nächsthäufigste Präfix (us-) gibt es 905 Belege. Rice beweist, dass Wulfila nicht mechanisch übersetzt hat und dass es keine genaue Entsprechung von griechischen und gotischen Präfixen gibt. (Vgl. Leiss 1992, 64) Leiss 1992, 67f. stellt fest, dass viele der präfigierten Verben (mehr als die Hälfte der Belege nach Rice) keine ga-Verben sind. Im Gotischen gab es sowohl die Kategorie der Aktionsartverben als auch die des Aspekts. Die Aspektopposition wurde vor allem durch die ga-Verben gebildet. Nur einige wenige ga-Verben können nicht als perfektive Aspektverben klassifiziert werden. So ist es immer, wenn ga- an bereits „perfektive” Grundverben tritt. In diesem Fall entfaltet ga- nicht seine aspektuelle Bedeutung, sondern seine konkrete Grundbedeutung „zusammen” : ga-qiman bedeutet „zusammenkommen”, weil qiman wie das nhd. kommen bereits als Grundverb über eine außenperspektivierende Semantik verfügt. Es gibt auch eine Gruppe von Verben, die Aktionsarten sind, weil sie über keinen Aspektpartner verfügen. Zu ihnen gehören z.B.: fra-qiman „vertun, verbrauchen” us-qiman „umbringen” ana-qiman „überkommen” ana-meljan „aufschreiben” 18 (Vgl. Leiss 1992, 67f.) Leiss 1992, 70f. weist auch darauf hin, dass im Unterschied zum Englischen die aspektuellen Verbpaare gerade nicht synonym werden. Es fand eine Art Verdoppelung des Systems statt: - dem englischen sein-Passiv (be + Partizip II) stehen im Deutschen zwei Passivformen gegenüber: das sog. Zustandspassiv (sein + Partizip II) und das Vorgangspassiv (werden + Partizip II); - dem englischen haben-Perfekt (have + Partizip II) stehen im Deutschen zwei Perfektvarianten gegenüber: haben + Partizip II und sein + Partizip II; - vielen der englischen Verben, die seltsam homonym geworden sind, entsprechen im Deutschen zwei oder mehrere Verben, z.B.: tear reißen und zerreißen burn brennen und verbrennen freeze frieren und einfrieren stop halten und anhalten Die homonymen Verben, wie z.B. Kochen, sind im Deutschen Ausnahmen. (Vgl. Leiss 1992, 70f.) Kotin 1988-89, 19 stellt fest, dass im Gotischen und Althochdeutschen eine aspektartige Kategorie – die Kategorie der potentiellen Abgeschlossenheit/ Nichtabgeschlossenheit vorhanden war. Das Präfix ga-/gi- trat als abstraktes Merkmal potentiell abgeschlossener Verbbedeutung auf. Vergleichsweise gibt er folgende Beispiele an: got. niman – ganiman „nehmen”; ahd. quedan – giquedan „sagen”; vs. got. wisan ahd. wesan „sein”. Kotin 1988-89, 19f. weist auch darauf hin, dass die Verbindung des Präfixes ge- mit einem Verb zu einer Bedeutungsmodifikation des letzteren führt. Die in der Gegenwartssprache semantisch nicht korrelierenden Verben: „hören”- „gehören”, „fallen”- „gefallen”, „raten”- „geraten” hatten im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen ähnliche Bedeutungen. Bei 19 diesen Verben wiesen sowohl das Simplex als auch das Derivat alle Sememe auf, die heute bei den Gliedern der entsprechenden Opposition vorhanden sind: ahd. (gi) fallan, mdh. (ge) vallen bedeutete: „fallen, geschehen, entsprechen, zusammenfallen, plötzlich kommen, sündigen, gelingen, mißlingen”, später auch „gefallen”. Die letztere Bedeutung entwickelte sich aus dem Wort „gelingen”, das auf den alten Brauch zurückgreift, über wichtige Angelegenheiten durch Würfelwerfen zu entscheiden; ahd. (gi)hôr(r)an mhd. (ge)hœren „hören, anhören, zu jdm. oder etw. gehören, zukommen, erforderlich sein”. Ein anderes Beispiel: das Simplex ahd. râtan, mhd. raten, got. (ga-)redan hatte eine ursprüngliche Bedeutung „über etw. nachdenken, etw. durch Raten zu lösen versuchen”. Im Althochdeutschen entwickelten sich die Bedeutungen „jdm. etwas raten, jdn. beratend umsorgen”. Die Bedeutungen des Derivats ahd. giratan mhd. geraten sind mit denen von raten identisch. Das Präfixverb weist sowohl die alten als auch die neuen Bedeutungen auf. Die neuen Bedeutungen sind: „gelingen” und „zufällig irgendwohin gelangen”. (Vgl. Kotin 1988-89, 19f.) Nach Kotin 1988-89, 20f. lässt sich eine ähnliche ursprüngliche semantische Korrelation und Bedeutungsentwicklung auch bei folgenden Derivaten in der deutschen Gegenwartssprache beobachten: geschehen (ahd. (gi)skehan – „sich beeilen, geschehen, passieren”), gebühren (ahd. (gi)burien, mhd. (ge)bürn – „heben, sich erheben, sich zutragen, sich schicken, passen usw.”), gedeihen (ahd. thîhan, mhd. (ge)dîhen; vgl. got. (ga)peihan, niederl. gedijen, aengl. gedion – „wachsen, gedeihen. (urspr.) sich verdichten”), gewinnen (ahd. (gi)winnan, mhd. (ge)winnen – „kämpfen, siegen”), gewöhnen (ahd. (gi)wennen, mhd. (ge)wenen – „jmdn. an etw. (hauptsächl. an eine bestimmte Nahrung) gewöhnen”, vgl. engl. to wean – „ein Kind an eine andere Nahrung als Muttermilch 20 gewöhnen”), gelingen (ahd. gilingan, mhd. (ge)lingen, mnd. lingen – „glücken, gedeihen”). Ein gutes Beispiel dafür ist auch das Verb gebären (vgl. got. bairan, ahd. beran, mhd. bern – „tragen”; also got. ga-bairan, ahd. gi-beran, mhd. ge-bern = (sukzessiv, resultativ) – „(die Frucht) bis zu Ende tragen (und zur Welt bringen)”. (Vgl. Kotin 1988-89, 20f.) 2.5 Aspekt in den ga-Komposita Nach Kotin 2007, 38ff. ist die Verbalpräfigierung und das Präfix ga- das einzige Kodierungsmittel der Perfektivität im Gotischen. Im Gotischen (und somit im Gemeingermanischen) erfüllen die ga-Komposita nur die Funktion der Aspektualität. Sie sind weder immer resultativ noch immer perfektiv. Das Präfix ga- drückt im Gotischen verschiedene Aktionsarten aus, vgl. die Belege aus dem Evangelium des Matthäuses und des Johannes: „iþ Iohannes gahausjands in karkarai waurstwa Xristaus, insandjands bi siponjam seinaim qaþ du imma…” – „als Johannes im Kerker von Christi Taten gehört hatte, schickte er einige seiner Schüler und sagte (durch diese) zu Ihm…”; „ …gaggandans gateihiþ Iohanne þatei gahauseiþ jah gasaihᵤiþ – „geht und sagt dem Johannes, was ihr gehört und gesehen habt”; „blindai ussaihᵤand, jah haltai gaggand, þrutsfillai hrainjaj wairþand, jah blindai gahausjand, jah dauþai urreisand, jah unledai wailamerjanda: jah audags ist hᵤazuh saei ni gamarjada in mis – „Blinde werden sehend, und Lahme gehen, Aussätzige werden rein, und Taube bekommen Gehör, und Tote erstehen auf, und Arme verkünden, und selig ist, wer nicht Ärgernis nimmt an Mir”; „ …jah gahailnoda sa þiumagus is in jainai hᵤeilai” – „ …und in diesem Augenblick wurde sein Diener gesund”; 21 „ …jah gatauhun ina du Anin…” – „und führten Ihn zu (dem Hohenpriester) Anna…”. Aus diesen Belegen kann man schlussfolgern, dass die ga-Komposita keine Einschränkungen bezüglich des Tempus und der Diathese haben, d.h. sie können wie die Simplizia sowohl im Präsens als auch im Präteritum sowie im Mediopassiv auftreten. In anderen Sprachen gibt es auch da Aspektpräfix, z.B. im Russischen cund co-, im Polnischen z-, ze-, za- usw. In den gotischen Belegen (auch in den oben angeführten) findet man eine Gemeinsamkeit – Profilierung einer generalisierenden Synthese, einer synthetischen Allgemeinheit gegenüber der analytischen Einzelheit. Diese Erscheinung gilt als sprachlicher Ausdruck der Idee des einheitlichen Ganzen bzw. als der in der Einheit aufgehobenen Pluralität, die wir sowohl bei den gePrädikationen wie bei den ge-Nominalkomposita (z.B. Gestirn, Gehege, Gelände, Gemälde etc.) vorfinden. Auch in anderen Sprachen – im Althochdeutschen, Altsächsischen, Angelsächsischen und Altnordischen (Altisländischen) werden synthetisch-ganzheitliche Bedeutungen verschiedener Modifikationen durch Präfixbildungen ausgedrückt. Bei dem perfektiven Aspekt können die Präfixe als Perfektivierungsmittel gelten. Bis auf das Altisländische, wo diese Funktion die präfixalen Partikeln of- und um- übernehmen, handelt es sich meistens um das am stärksten grammatikalisierte germanische Präfix ga- (got. ga-, ahd. gi-, ga-, ge-, as. gi-, ge-, ags. ge-): Asächs. „ …thes thu mit thinum handon gidedos” – „das Du mit Deinen Händen getan hast”; „ …þone yldo bearn aéfre gefrúnon” – „[ein Gebäude], das die Menschen schöner niemals gesehen haben”; „ …der gisizzit, der dar suonan scal” – „wenn Der sich [auf den Richterstuhl] setzt [wörtl. zum Sitzen kommt”], Der dort richten soll [wird]…”; 22 „Hiltibrant gimahalta (Heribrantes sunu) – „Hildebrant sprach [fing an zu reden]”. Auch andere Präfixe konnten Perfektivität ausdrücken, z.B. ahd. ir-, ar-, ur-, ags. a- (=er-), ahd. fir-, far-, fer-, ags. for- (=ver-) etc. Im Hochdeutschen entwickeln sich die inaktivischen Konstruktionen werden + Part. II und sein + Part. II paralel. Im Mittelhochdeutschen können sie synonymisch verwendet werden, z.B.: „gesuochet was sîn vrouwe” – „seine Frau war [=wurde] gesucht”; „er was von ir geminnet” – „er war [=wurde] von ihr geliebt” vs.: „daz nie von manne mêre / wîp geminnet wart sio siere” – „dass nie eine Frau von einem Mann so stark geliebt wurde”. Seit dem Frühneuhochdeutschen setzt eine entscheidende Differenzierung beider Konstruktionen ein, deren Hauptimpuls eine aspektual markierte Gegenüberstellung von Vorgang und Zustand gewesen ist. Die Konstruktion werden + Part. II konnte durch den endgültigen Verlust der transformationellen Semantik von werden zur aspektual unmarkierten Hauptkodierungsform eines passivischen Vorgangs werden, vgl. „das Buch wurde (lange, aber auch bis zu Ende) gelesen, die Unterlagen wurden gesucht, aber auch gefunden” etc. Die Funktion der Verbindung sein + Part. II ist die Bezeichnung eines inaktiven Zustandes, da die Hauptleistung des medialen Prädikats in der Kodierung der Qualität bzw. des Zustandes eines inaktiven Subjekts besteht. Zugleich drückt die Konstruktion sein + Part. II einen resultativen Zustand aus, d.h. einen Zustand, der infolge der vorhergegangenen Handlung entstanden ist: „die Tür ist/war geöffnet”, „der Soldat ist/war verwundet”, „die Bücher sind/waren ausverkauft” etc. Es gibt auch Ausnahmen wie „die Blüten sind/waren geschlossen”, die deutlich zeigen, dass der inaktive Zustand den resultativen Vorgang dominiert. Der Aspektbezug kommt jedoch in den meisten Fällen vor 23 und davon zeugt die Unmöglichkeit von Sätzen wie * die Brille ist gesucht oder * hier ist getanzt. (Vg. Kotin 2007, 38ff.) 2.6. Geschichte der Goten Kotin 2012, 13ff. beschreibt den Ursprung des gotischen Volkes. Die Geschichte der Goten beginnt zwischen Ende des ersten Jahrtausends vor Christus und Mitte des zweiten Jahrhundert nach Christus. Die ältesten Zeugnisse über die Goten stammen aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Die Frage der Siedlung von diesem Volk ist umstritten. Es gibt zwei Annahmen, für die archäologische und sprachliche Beweise vorhanden sind, aber diese zwei Thesen schließen sich oft aus. Nach der ersten Hypothese sind die Goten aus der Halbinsel Skandinavien in die östlichen Gebiete der Ostseeküste übergesiedelt. Der zweiten Ansicht zufolge siedelten sie bereits ursprünglich an der Weichsel-Mündung. Gegen die Mitte des 2. Jh. n. Chr. beginnt für die Goten die entscheidende Etappe ihrer Geschichte. Sie dauert bis zum 6. Jh. n. Chr., dann wurde die Mehrheit des gotischen Volkes vernichtet und ist sie ausgestorben. Die Goten gehören zu den Völkern, die besonders intensiv an der Großen Völkerwanderungen teilgenommen haben. Sie haben längsten Weg zurückgelegt: von der Ostseeküste die Weichsel aufwärts und längs der Oder nach Süden bis Transilvanien und zum Schwarzmeergebiet, dann nach Süden, über Transilvanien und die Halbinsel Krim nach Byzanz sowie nach Italien und Spanien. Die Goten siedelten, insbesondere seit der Hunnen-Invasion im Jahre 375, in Pannonien und auf dem Balkan. Der gotische Stammesverbund weist deutliche Züge einer Gliederung auf, die sich u.a. in deren Bezeichnung als Tervingi („Waldbewohner”) und Greutungi („Bewohner einer steinigen Gegend”) zeigt, die im Jahre 269 zum ersten Mal dokumentiert 24 ist. Im vierten Jahrhundert entsteht das gotische Alphabet, das auf den griechischen Buchstaben basiert. Einige Schriftzeichen im Gotischen sind lateinischen Ursprungs. (Vgl. Kotin 2012, 13ff.) 2.7. Kurze Charakteristik der gotischen Sprache Kotin 2012, 17ff. stellt die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der gotischen Sprache dar. Die dank der Christianisierung entstandene Schriftlichkeit und die gotischen Bibeltexte machen die Goten zu einem Volk, das zur Verbreitung des Christentums und der christlich geprägten Kultur unter den Germanen beiträgt. Das berühmteste gotische Bischof Wulfila hat ein eigenständiges gotisches System von Buchstaben entwickelt. Er hat an der Übersetzung der Mehrheit der heute bekannten gotischen Texte teilgenommen und eine Übersetzerschule gegründet. Im Buch von Kotin werden die Merkmale der gotischen Sprache und die Änderungen beschrieben, die gemeinsam eine allgemeine Charakteristika des Gotischen bilden. In der vorhandenen Arbeit erwähne ich einige von ihnen : Im Frühgotischen gab es einen stärkeren Unterschied zwischen Längen und Kürzen als im Gotischen des 4. Jh. Die gemeingermanischen Endsilbenvokale wurden im Mittel- und Spätgotischen (im 4. und im 5.-7. Jh.) abgeschwächt, was im Frühgotischen nicht vorkommen kann. Das Gotische ist die einzige schriftlich beibehaltene Sprache, die keinen Rhotazismus des nach Verners Gesetz stimmhaft gewordenen Konsonanten s kennt: batiza, nimaza, vgl. ahd. bezziro „besser”, aisl. dagr „Tag”. Das Gotisch weist eine konsequente Verengung des germanischen kurzen Vokals e und zu i auf, vgl. germ. *neman, got. niman 25 sowie eine Stimmlosigkeit der germanischen stimmhaften Konsonanten im absoluten Auslaut bzw. vor auslautenden stimmlosen Konsonanten, vgl. germ. *guᵭ-a – „Gott, Gottheit”, got. guþ – „Gott” neben ags. goᵭ, as. god; got. gaft 2. Pers. Sg. Prät. Ind. zu giban – „geben”. Im Gotischen treten die Typen der Stämme auf, die in anderen germanischen Sprachen völlig oder größtenteils verschwunden sind: die u-Stämme, die r-Stämme, die nd-Stämme, die meistens in die a- (Maskulina und Neutra), ô- (Feminina) oder auch iStämme (Maskulina und Feminina) übergegangen sind. (Vgl. Kotin 2012, 17ff.) 3 Aktionsart- und Aspektsemantik der gotischen ga-Komposita Alle Komposita, die in der vorliegenden Arbeit beschrieben werden, lassen sich nach vier Hauptkriterien unterteilen. Am Anfang werden sie in zwei Gruppen gegliedert, abhängig davon, ob sie die ihnen entsprechenden Simplizien haben oder nicht. Das zweite Kriterium ist der Ursprung der Verben. Sie werden also in Gruppen eingeteilt, nach der Regel: aus welcher Wortart sie gebildet wurden. Die drittte Gruppe bilden Verben, bei denen das entsprechende Präfix Aspektfunktion aufweist. Dazu gehören die Komposita, die die 26 Perfektivität ausdrücken. Hier werden diese Komposita mit dem Polnischen als einer klassischen Aspektsprache verglichen im Unterschied zum Deutschen. In diesem Kapitel müssen auch die Verben berücksichtigt werden, bei denen der perfektive Aspekt nicht durch das Präfix „ga-”, sondern auf eine andere Art und Weise kodiert wird. Neben ihnen wird eine Gruppe von Verben dargestellt, bei denen das Präfix „ga-” nicht die grammatische Funktion hat, sondern die lexikalische Bedeutung des Wortes modifiziert. Die dritte Gruppe ist in dieser Arbeit am wichtigsten, denn das Ziel dieser Untersuchung ist, wie schon in der Einleitung angedeutet wurde, den Zusammenhang zwischen semantischer und grammatischer Funktion des Präfixes „ga-” in Verbindung mit verschiedenen Verbalstämmen zu erforschen. Es werden auch die Zweifelsfälle dargestellt, die demonstrieren, dass eine deutliche Differenzierung der grammatischen vs. semantischen Funktion des Präfixes sehr schwierig ist. Alle beschriebenen Verben werden an den Beispielen in den Kontexten dargestellt. 3.1 Die ga-Komposita, die kein entsprechendes Simplex besitzen Zu dieser Gruppe gehören die Komposita, die im Korpus nur als Zusammensetzungen vorkommen. Wie ich schon in dem theoretischen Teil meiner Arbeit angedeutet habe, gibt es nur einen schriftlichen Text in der gotischen Sprache – die Bibelfragmente mit dem Wörterbuch. Sie ist die einzige Quelle, in der man nachschlagen kann, welche Wörter in der gotischen Sprache vorkamen. Es gibt aber auch viele Wörter, für die man keinen Beweis im Korpus hat und die in der gotischen Sprache dennoch existierten. Grundsätzlich geht man davon aus, dass nur die Wörter, die im Wörterbuch zu finden sind, sicherlich in der 27 Vergangenheit existiert haben. Man kann aber nicht ausschließen, dass es auch andere Wortformen gegeben hat. Aus diesem Grund ist es schwierig, die Verben nach diesem Merkmal zu analysieren. Zu dieser Gruppe habe ich die Verben gezählt, die in der gotischen Bibel nur als Komposita auftreten. Weder im Text noch im Wörterbuch habe ich das entsprechende Simplex gefunden, z.B. für: ga-diupjan *vertiefen L 6,48 galeiks ist mann timrjandin razn, saei grob jah gadiupida jah gasatida grunduwaddjau ana staina. at garunjon þan waurþanai bistagq ahva bi jainamma razna jah ni mahta gawagjan ita; gasulid auk was ana þamma staina. Er ist gleich einem Menschen, der ein Haus baute und grub tief und legte den Grund auf den Fels. Da aber Gewässer kam, da riß der Strom zum Hause zu, und konnte es nicht bewegen; denn es war auf den Fels gegründet. Obwohl dieses Kapitel den Komposita, die kein entsprechendes Simplex haben, gewidmet wurde, darf man die anderen Verben mit dem Präfix ga-, die im obigen Beispiel vorkommen, nicht auslassen. Ich konzentriere mich auf das Verb gadiupjan, das ein Vertreter dieser Gruppe ist, aber ich beschreibe auch andere Komposita. In diesem Beispiel haben wir mit dem Kompositum gadiupjan zu tun. Das ist auch der einzige Kontext in der Bibel, in dem dieses Verb überhaupt vorkommt. Es gibt auch keine Stelle im Text, wo man das Simplex diupjan finden kann. Man kann aber nicht ausschließen, dass es dieses Wort in der gotischen Sprache gab. Die anderen Zusammensetzungen in diesem Satz sind: 28 gasatida in der Vergangenheitsform vom Verb gasatjan * hinsetzen, hinstellen, hinlegen; bistagq in der Vergangenheitsform vom Verb bi-stigqan *anstoßen an; gawagjan *einen in Bewegung setzen, Infinitivform gasulid – Passivform vom Verb gasuljan * das Fundament legen, begründen. Ein anderes Beispiel ist das Kompositum ga-leiþan *kommen, gehen. Im Wörterbuch von Streitberg gibt es kein Verb leiþan, aber es gibt viele Komposita mit diesem Stamm: af-leiþan *weggehen, entweichen, verreisen bi-leiþan *verlassen, zurücklassen inn-galeiþan *hineingehen miþ-inngaleiþan *mithineingehen hindar-leiþan *hinzukommen, vergehen þairh-leiþan *hindurchgehen, vorbeigehen ufar-leiþan *übersetzen us-leiþan *hinausgehen, weggehen, vergehen In diesem Fall kann man vermuten, dass das ga-Kompositum gerade vom Simplex leiþan entstanden ist, es gibt viele Zusammensetzungen mit diesem Stamm. Dieses Beispiel lässt auch vermuten, dass das Kompositum ga-leiþan vom Simplexverb stammt. Man geht davon aus, dass ein Kompositum von einem Verb abgeleitet wird, wenn es ein entsprechendes Simplex hat. Diese Regel ist nicht hundertprozentig gültig, weil die Komposita von anderen Wortarten stammen können, sogar dann, wenn sie ein Simplex haben. Die Untersuchung des Ursprungs eines Kompositums ist eine schwierige Aufgabe. 3.2 Die ga-Komposita, die ein entsprechendes Simplex besitzen 29 Im Gegensatz zu der vorherigen Gruppe gibt es im Wörterbuch von Streitberg viele ga-Komposita, die ein Simplex haben. An dieser Stelle möchte ich nur Beispiele zeigen, die genauere Analyse kommt bei der Besprechung der Rolle des Präfixes „ga-” vor. Diese Untersuchung beruht auf der Suche nach den Funktionen des Präfixes in den Komposita im Vergleich zu den Simplizien. hailjan *einen oder etwas heilen ga-hailjan *herstellen M 9,35 jah bitauh Iesus baurgs allos jah haimos laisjands in gaqumþim ize, jah merjands aiwaggeljon þiudangardjos jah hailjands allos sauhtins jah alla unhailja. Und Jesus ging umher in alle Städte und Märkte, lehrte in ihren Schulen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte allerlei Seuche und allerlei Krankheit im Volke. Mc 1,34 jah gahailida managans ubil habandans missaleikaim sauhtim jah unhulþons managos uswarp jah ni fralailot rodjan þos unhulþons, unte kunþedun ina. Und er half vielen Kranken, die mit mancherlei Seuchen beladen waren, und trieb viele Teufel aus und ließ die Teufel nicht reden, denn sie kannten ihn. 30 3.3 Die ga-Komposita, in denen das Präfix „ga-” den perfektiven Aspekt ausdrückt Zu dieser Gruppe gehören alle Komposita, bei denen das Präfix „ga-” die Aspektfunktion erfüllt. Ich werde hier die Simplizia mit den Komposita, in denen „ga-” die Abgeschlossenheit der Handlung ausdrückt, vergleichen. Ich habe vier Simplizia mit entsprechenden Zusammensetzungen ausgewählt, außerdem bespreche ich das Wort gadauþnan, das nur als ein Kompositum vorkommt, also in diesem Kapitel werden neun Verben in den Kontexten untersucht. Zu jedem Beispiel habe ich fünf Zusammenhänge analysiert, nur in drei Fällen ist es anders, weil sie nicht oft in dem gotischen Text erscheinen. Diese Verben sind: hausjan *hören ga-hausjan *hören, vernehmen meljan *schreiben ga-meljan *schreiben ga-dauþnan *sterben nasjan *retten ga-nasjan * retten sweran *ehren ga-sweran *verherrlichen Obwohl in diesem Kapitel die Aspektfunktion in den obigen Verben analysiert wird, werden auch andere ga-Komposita, die in den Beispielsätzen auftreten, beschrieben. Am Anfang werden die Verben hausjan und gahausjan in Kontexten dargestellt und analysiert. Es lässt sich in den unten gezeigten Beispielen beobachten, dass das Verb hausjan nur in der Bedeutung „hören” 31 vorkommt. Es drückt die Handlung aus, aber die Abgeschlossenheit der Tätigkeit ist nicht zu erschließen, abgesehen davon, ob das Verb in der Vergangenheits-, Gegenwarts- oder Zukunftsform auftritt. Das Kompositum gahausjan kommt in der Bedeutung „hören, vernehmen” vor. In diesem Fall ändert sich die Bedeutung nicht, aber das Kompositum weist auf die Abgeschlossenheit der Handlung hin und erfüllt die Aspektfunktion. In einigen Bibelkontexten lässt sich beobachten, dass das Verb gahausjan zwar die Bedeutung „hören” hat, aber es heißt genauer „das Hörvermögen bekommen”, also „zum ersten Mal hören”. Diese Beispiele sind: M 11, 5-6; L 7,22-23; Mc 7,37 (Seiten 34-35). Aus semantischer Sicht ist es selbstverständlich, dass gahausjan nur die beendete Handlung ausdrücken kann. In dem theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit wurde die Meinung von Grimm dargestellt. Nach ihm haben die perfektiven Verben, zu denen auch gahausjan gehört, kein Präsens. Von einer tauben Person sagt man nicht in der Gegenwart, dass sie in einem konkreten Augenblick die Hörfähigkeit bekommt. Des Weiteren ist es auch unmöglich, dieses Verb in dieser Bedeutung ohne Abgeschlossenheit der Handlung zu verwenden. Um diese These zu begründen, werden hier zwei Situationen beschrieben, in denen die Semantik des Verbs gahausjan erklärt wird: Eine taube Person hat das Hörvermögen bekommen. 1. Eine taube Person konnte früher nicht hören und jetzt hat sie diese Fähigkeit. 2. Jemand (z.B. Gott) hat angefangen, einer tauben Person das Hörvermögen zu geben, aber in einem Moment hat er aufgehört und die Handlung nicht beendet, so dass diese Person weiter taub ist. In dem ersten Beispiel wird die richtige Bedeutung des Kompositums dargestellt. Der zweite Satz wurde künstlich geschaffen, weil solche Situation nicht vorkommen kann. Das Verb gahausjan kann nur in der 32 Aspektfunktion und nicht in der Vergangenheit als eine nicht abgeschlossene Tätigkeit auftreten. hausjan* hören J 10,20 qeþunuh managai ize: unhulþon habaiþ jah dwalmoþ; hva þamma hauseiþ? Viele unter ihnen sprachen: Er hat den Teufel und ist unsinnig; was höret ihr ihm zu? hauseiþ – Präsensform, 2. Person des Dualis vom Verb hausjan * hören L 2,46 jah warþ afar dagans þrins, bigetun ina in alh sitandan in midjaim laisarjam jah hausjandan im jah fraihnandan ins. Und es begab sich, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. hausjandan * Partizip I vom Verb hausjan * hören L 6,47 hvazuh sa gaggands du mis jah hausjands waurda meina jah taujands þo, ataugja izwis hvamma galeiks ist. Wer zu mir kommt und hört meine Rede und tut sie, den will ich euch zeigen, wem er gleich ist. 33 hausjands – Partizip I vom Verb hausjan * hören C 1,21-23 jah izwis simle wisandans framaþidans jah fijands gahugdai in waurstwam ubilaim, iþ nu gafriþodai in leika mammons is þairh dauþu du atsatjan izwis weihans jah unwammans jah usfairinans faura imma, jabai sweþauh þairhwisiþ in galaubeinai gaþwastidai jah gatulgidai jah ni afwagidai af wenai aiwaggeljons, þoei hausideduþ, sei merida ist in alla gaskaft þo uf himina, þizozei warþ ik Pawlus andbahts; Und euch, die ihr weiland Fremde und Feinde waret durch die Vernunft in bösen Werken, hat er nun versöhnt mit dem Leibe seines Fleisches durch den Tod, auf daß er euch darstellte heilig und unsträflich und ohne Tadel vor ihm selbst; so ihr anders bleibet im Glauben, gegründet und fest und unbeweglich von der Hoffnung des Evangeliums, welches ihr gehört habt, welches gepredigt ist unter aller Kreatur, die unter dem Himmel ist, dessen Diener ich, Paulus, geworden bin. gafriþodai – Partizip II vom Verb gafriþon *versöhnen mit; gaþwastidai – Partizip II vom Verb gaþwastjan *befestigen; gatulgidai – Partizip II vom Verb gatulgjan *befestigen, bestärken; hausideduþ – Partizip II vom Verb hausjan *hören. J 10,16 jah anþara lamba aih þoei ni sind þis awistris, jah þo skal briggan, jah stibnos meinaizos hausjand, jah wairþand ain aweþi, ains hairdeis. 34 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle; und dieselben muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden. hausjand – Präsensform, 3. Person des Dualis vom Verb hausjan *hören gahausjan *hören, vernehmen M 10,27 þatei qiþa izwis in riqiza, qiþaiþ in liuhada, jah þatei in auso gahauseiþ, merjaiþ ana hrotam. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was ihr hört [eigentlich: gehört habt] in das Ohr, das predigt auf den Dächern. gahauseiþ – Präsensform, 2. Person des Dualis vom Verb gahausjan *hören, vernehmen M 11,5-6 blindai ussaihvand, jah haltai gaggand, þrutsfillai hrainjai wairþand, jah daubai gahausjand, jah dauþai urreisand, jah unledai wailamerjanda: jah audags ist hvazuh saei ni gamarzjada in mis. die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Toten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, der sich nicht an mir ärgert. gahausjand – Präsens, 3.Person des Dualis vom Verb gahausjan *hören, vernehmen; gamarzjada – Passivform vom Verb gamarzjan *Ärgernis erregen; 35 L 7,22-23 jah andhafjands Iesus qaþ du im: gaggandans gateihats Iohannen þatei gasehvuts jah gahausideduts, þatei blindai ussaihvand, haltai gaggand, þrutsfillai gahrainjanda, baudai gahausjand, naweis urreisand, unledai wailamerjanda; jah audags ist sahvazuh saei ni gamarzjada in mis. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Gehet hin und verkündiget Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten stehen auf, den Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht ärgert an mir. gateihats – Imperativform des Dualis vom Verb gateihan *anzeigen, verkündigen; gasehvuts – Vergangenheitsform des Dualis vom Verb gasaihvan *erblicken; gahausideduts – Präteritumform, 2. Person des Plurals vom Verb gahausjan *hören, vernehmen, das Gehör bekommen; gahrainjanda – Passivform des Plurals, 3. Person vom Verb gahrainjan *reinigen; gahausjand – Präsensform, 3.Person des Plurals vom Verb gahausjan *hören, vernehmen, das Gehör bekommen; gamarzjada – Passivform des Singulars, 3. Person vom Verb gamarzjan *Ärgernis erregen. Mc 7,37 jah ufarassau sildaleikidedun qiþandans: waila allata gatawida jah daubans gataujiþ gahausjan jah unrodjandans rodjan. 36 Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. gatawida – Vergangenheitsform vom Verb gataujan *tun, vollbringen, bewirken; gataujiþ – Präsensform vom Verb gataujan *tun, vollbringen, bewirken; gahausjan – Infinitivform vom Verb gahausjan *hören, vernehmen, das Gehör bekommen. L 14, 35 nih du airþai, ni du maihstau fagr ist; ut uswairpand imma. saei habai ausona gahausjandona, gahausjai. Es ist weder auf das Land noch in den Mist nütze, sondern man wird's wegwerfen. Wer Ohren hat, zu hören, der höre! gahausjandona – Partizip I vom Verb gahausjan *hören, vernehmen; gahausjai – Optativ in imperativischer Funktion vom Verb gahausjan *hören, vernehmen Das zweite Verbpaar sind die Wörter meljan und gameljan. Die Bedeutung der beiden Verben ist gleich, nämlich „schreiben”. Meljan kommt in den Beispielsätzen in verschiedenen Formen vor, z.B. als Infinitiv, Imperativ oder Partizip. Gameljan tritt nur in der Vergangenheitsform auf und drückt die abgeschlossene Handlung aus. Das Kompositum gameljan kommt meistens im Partizip II vor und führt das Zitat ein. In diesen Fällen ist die Bedeutung dieses Verbs: „steht geschrieben”, das auf den schriftlichen Beleg des Zitates hinweist. Das 37 zeugt auch von der Aspektfunktion dieses Verbs. Wenn jemand etwas geschrieben hat und das Resultat dieser Handlung in Form von einem nachweisbaren Text bezeugen kann, weist es auf die Abgeschlossenheit des Schreibens hin. In zwei Beispielen, die unten angeführt wurden (L 2,3 und L 2,1), kommen die Verben meljan und gameljan in der Bedeutung schätzen, zählen vor. Im Kontext mit dem Wort meljan gibt es die Information, dass das ganze Volk in die Stadt ging, um sich registrieren zu lassen. Die Abgeschlossenheit dieser Handlung ist hier nicht erkennbar. Das Beispiel, in dem das Verb gameljan auftritt: das ganze Volk sollte niedergeschrieben (verzeichnet) werden, deutet auf das Resultat der Handlung hin, nämlich dass infolge der Tätigkeit ein Register enstehen soll. meljan *schreiben L 1,1-4 Unte raihtis managai dugunnun meljan insaht bi þos gafullaweisidons in uns waihtins, swaswe anafulhun unsis þaiei fram frumistin silbasiunjos jah andbahtos wesun þis waurdis; galeikaida jah mis [jah ahmin weihamma] fram anastodeinai allaim glaggwuba afarlaistjandin gahahjo þus meljan, batista Þaiaufeilu, ei gakunnais þize bi þoei galaisiþs is waurde [a]staþ. Sintemal sich's viele unterwunden haben, Bericht zu geben von den Geschichten, so unter uns ergangen sind, wie uns das gegeben haben, die es von Anfang selbst gesehen und Diener des Worts gewesen sind: habe ich's auch für gut angesehen, nachdem ich's alles von Anbeginn mit Fleiß erkundet habe, daß ich's dir, mein guter Theophilus, in Ordnung schriebe, auf das du gewissen Grund erfahrest der Lehre, in welcher du unterrichtet bist. 38 meljan – Infinitivform vom Verb meljan *schreiben; gafullaweisidons – Partizip II vom Verb gafullaweisjan *vollenden, beglaubigen; galeikaida – Präsensform, 3. Person, Singular vom Verb galeikan *gefallen; gakunnais – Präsensform, 2. Person Optativ, Singular vom Verb gakunnan *kennen lernen, erfahren, erkennen; galaisiþs – Partizip II vom Verb galaisjan *lehren. L 2,3 jah iddjedun allai, ei melidai weseina, hvarjizuh in seinai baurg. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. melidai – Partizip II vom Verb meljan *schreiben L 16,7 þaþroh þan du anþaramma qaþ: aþþan þu, hvan filu skalt? iþ is qaþ: taihuntaihund mitade kaurnis. jah qaþ du imma: nim þus bokos jah melei ahtautehund. Darnach sprach er zu dem andern: Du aber, wie viel bist du schuldig? Er sprach: Hundert Malter Weizen. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Brief und schreib achtzig. melei – Imperativform, 2. Person, Singular vom Verb meljan *schreiben 39 Mc 10,4 iþ eis qeþun: Moses uslaubida unsis bokos afsateinais meljan jah afletan. Sie sprachen; Mose hat zugelassen, einen Scheidebrief zu schreiben und sich zu scheiden. meljan – Infinitivform vom Verb meljan *schreiben ga-meljan *schreiben L 2,1 Warþ þan in dagans jainans, urrann gagrefts fram kaisara Agustau, gameljan allana midjungard. Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. gameljan – Infinitivform vom Verb gameljan *schreiben M 11,10 sa ist auk bi þanei gameliþ ist: sai, ik insandja aggilu meinana faura þus, saei gamanweiþ wig þeinana faura þus. Denn dieser ist's, von dem geschrieben steht: "Siehe, ich sende meinen Engel vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll." gameliþ – Partizip II vom Verb gameljan *schreiben; gamanweiþ – Präsensform, 3. Person, Singular vom Verb gamanwjan *einem etwas (zu)bereiten zu 40 J 5,46 jabai allis Mose galaubidedeiþ, ga~þau~laubidedeiþ mis; bi mik auk jains gamelida. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. galaubidedeiþ – Präteritumform, 2. Person des Plurals Optativ vom Verb galaubjan *glauben, anvertrauen; gamelida – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb gameljan *schreiben. J 6,31 attans unsarai manna matidedun ana auþidai, swaswe ist gameliþ: hlaif us himina gaf im du matjan. Unsere Väter haben Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben steht: "Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen." gameliþ – Partizip II vom Verb gameljan *schreiben R 10,11 qiþiþ auk þata gameliþ: hvazuh sa galaubjands du imma ni gaaiwiskoda. Denn die Schrift spricht: "Wer an ihn glaubt, wird nicht zu Schanden werden." gameliþ – Partizip II vom Verb gameljan *schreiben; galaubjands – Partizip I vom Verb galaubjan *glauben, anvertrauen; 41 gaaiwiskoda – Passivform, 3. Person Präsens, Singular vom Verb gaaiwiskon *beschämen, beschimpfen. Das dritte Beispiel ist das Verb ga-dauþnan *sterben. In der gotischen Bibel gibt es keine Textstelle, wo man das Simplex dauþnan finden kann. Ein Grund dafür ist die Bedeutung des Kompositums gadauþnan. Das Verb sterben enthält in sich die Aspektfunktion. Man benutzt es vor allem, wenn man von der Vergangenheit oder von der Zustandsveränderung spricht. Im Deutschen gibt es kein Verb, das die Handlung des Sterbens in der Gegenwart ausdrückt, es gibt nur die Wendung „im Sterben liegen” mit dieser Bedeutung. Im Polnischen kommen zwei unterschiedliche Verben vor, die das Tempus der Handlung genauer unterscheiden: umierać – „im Sterben liegen” und umrzeć – „sterben”. Das Wort umierać drückt zwar die Gegenwart, aber es weist darauf hin, dass jemand bald, also in der Zukunft, stirbt. Das Verb umrzeć tritt meistens in der Vergangenheit auf, in der Bedeutung: „Jemand ist gestorben”, aber es kann auch auf die Zukunft deuten, z.B.: „Jemand will nicht sterben” oder „Jemand ist bereit, zu sterben”. Abgesehen davon, in welchem Tempus die Verben umrzeć und sterben vorkommen, drücken sie die Abgeschlossenheit der Handlung aus. Die unten angeführten Kontexte zeigen unterschiedliche Situationen und Tempora, in denen das Verb gadauþnan *sterben vorkommt. Im ersten Beispiel, Mc 9, 47-48, tritt dieses Wort in der Gegenwart auf, in der Bedeutung: der Wurm wird nie sterben, weil er unsterblich ist. Der zweite Satz drückt die Vergangenheit mit dem Handlungsabschluss aus: die Herde ersoff im Wasser und ist gestorben. Das letzte Beispiel ist ein Konditionalsatz mit dem Versprechen: wer dieses Brot isst, stirbt nicht (wird nie sterben). In allen diesen Sätzen kommt die Aspektfunktion vor. Man kann nicht ausschließen, dass es im Gotischen kein Simplex 42 dauþnan gab, obwohl es keinen Beweis dafür gibt. Die Bedeutung des Verbs dauþnan würde mit der Semantik des polnischen Wortes umierać vergleichbar sein. gadauþnan *sterben Mc 9, 47-48 jah jabai augo þein marzjai þuk, uswairp imma; goþ þus ist haihamma galeiþan in þiudangardja gudis, þau twa augona habandin atwairpan in gaiainnan funins, þarei maþa ize ni gadauþniþ jah fon ni afhvapniþ. Ärgert dich dein Auge, so wirf's von dir! Es ist dir besser, daß du einäugig in das Reich Gottes gehest, denn daß du zwei Augen habest und werdest in das höllische Feuer geworfen, da ihr Wurm nicht stirbt ihr Feuer nicht verlöscht. gadauþniþ – Präsensform, 3. Person, Singular vom Verb ga-dauþnan *sterben; galeiþan – Infinitivform vom Verb galeiþan *kommen, gehen M 8,32 jah qaþ du im: gaggiþ! iþ eis usgaggandans galiþun in hairda sweine; jah sai, run gawaurhtedun sis alla so hairda and driuson in marein jah gadauþnodedun in watnam. Und er sprach: Fahret hin! Da fuhren sie aus und in die Herde Säue. Und siehe, die ganze Herde Säue stürzte sich von dem Abhang ins Meer und ersoffen im Wasser. 43 galiþun – Präteritumform, 3. Person, Plural vom Verb galeiþan *kommen, gehen; gawaurhtedun – Präteritumform, 3. Person, Plural vom Verb gawaurkjan *bewirken, erwirken, bereiten; gadauþnodedun – Präteritumform, 3. Person, Plural vom Verb gadauþnan *sterben J 6,50 sa ist hlaifs saei us himina atstaig, ei saei þis matjai, ni gadauþnai. Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, auf daß, wer davon isset, nicht sterbe. gadauþnai – Präsensform, 3. Person, Singular Optativ vom Verb gadauþnan *sterben Die Verben nasjan und ganasjan haben gleiche Bedeutung, nämlich: „retten”. Nasjan kommt in der gotischen Bibel grundsätzlich in zwei Formen vor: im Imperativ, wenn sich jemand an Gott wendet und um die Rettung bittet sowie im Infinitiv als Vermutung oder Wunsch, damit jemand errettet wird. Das Kompositum ganasjan hat eine andere Funktion. Es tritt in den meisten Fällen in der Vergangenheitsform auf und drückt die abgeschlossene Handlung aus, dass jemand von jemandem errettet wurde. Die Rolle des Retters erfüllt vor allem Gott. Die Rettung beruht darauf, dass er die Menschen heilt und selig macht sowie ihnen das Leben gibt. nasjan *retten M 8,25 44 jah duatgaggandans siponjos is urraisidedun ina qiþandans: frauja, nasei unsis, fraqistnam. Und die Jünger traten zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: HERR, hilf uns, wir verderben! nasei – Imperativform, 2. Person, Singular vom Verb nasjan *retten L 9, 24 saei allis wili saiwala seina nasjan, fraqisteiþ izai; aþþan saei fraqisteiþ saiwalai seinai in meina, ganasjiþ þo. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's erhalten. nasjan – Infinitivform vom Verb nasjan *retten; ganasjiþ – Präsensform, 3. Person, Singular vom Verb ganasjan *retten. L 19,10 qam auk sunus mans sokjan jah nasjan þans fralusanans. Denn des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, das verloren ist. nasjan – Infinitivform vom Verb nasjan *retten M 27,49 iþ þai anþarai qeþun: let, ei saihvam, qimaiu Helias nasjan ina. 45 Die andern aber sprachen: Halt, laß sehen, ob Elia komme und ihm helfe. nasjan – Infinitivform vom Verb nasjan *retten Mc 3,4 jah qaþ du im: skuldu ist in sabbatim þiuþ taujan aiþþau unþiuþ taujan, saiwala nasjan aiþþau usqistjan? iþ eis þahaidedun. Und er sprach zu ihnen: Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, das Leben erhalten oder töten? Sie aber schwiegen still. nasjan – Infinitivform vom Verb nasjan *retten ga-nasjan * retten L 6,19 jah alla managei sokidedun attekan imma, unte mahts af imma usiddja jah ganasida allans. Und alles Volk begehrte ihn anzurühren; denn es ging Kraft von ihm und er heilte sie alle. ganasida – Präteritumform vom Verb ganasjan *retten J 12,39-40 duþþe ni mahtedun galaubjan; unte aftra qaþ Esaeias: gablindida ize augona jah gadaubida ize hairtona, ei ni gaumidedeina augam jah froþeina hairtin jah gawandidedeina jah ganasidedjau ins. 46 Darum konnten sie nicht glauben, denn Jesaja sagte abermals: "Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verstockt, daß sie mit den Augen nicht sehen noch mit dem Herzen vernehmen und sich bekehren und ich ihnen hülfe." galaubjan – Infinitivform vom Verb galaubjan *glauben, anvertrauen; gablindida – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb gablindjan *verblenden; gadaubida – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb gadaubjan *verstocken; gawandidedeina – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb gawandjan *(hin)wenden; ganasidedjau – Präteritumform, 1. Person, Singular vom Verb ganasjan *retten L 7,3 gahausjands þan bi Iesu insandida du imma sinistans Iudaie, bidjands ina ei qimi jah ganasidedi þana skalk is. Da er aber von Jesu hörte, sandte er die Ältesten der Juden zu ihm und bat ihn, daß er käme und seinen Knecht gesund machte. gahausjands – Partizip I vom Verb gahausjan *hören, vernehmen; ganasidedi – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb ganasjan *retten J 12,47 jah jabai hvas meinaim hausjai waurdam jah galaubjai, ik ni stoja ina; nih þan qam ei stojau manased, ak ei ganasjau manased. 47 Und wer meine Worte hört, und glaubt nicht, den werde ich nicht richten; denn ich bin nicht gekommen, daß ich die Welt richte, sondern daß ich die Welt selig mache. galaubjai – Präsensform, 3. Person, Singular vom Verb galaubjan *glauben, anvertrauen; ganasjau – Präsensform, 1. Person, Singular vom Verb ganasjan *retten L 6,9 qaþ þan Iesus du im: fraihna izwis hva skuld ist sabbato dagam, þiuþ taujan þau unþiuþ taujan, saiwala ganasjan þau usqistjan? Da sprach Jesus zu ihnen: Ich frage euch: Was ziemt sich zu tun an den Sabbaten, Gutes oder Böses? das Leben erhalten oder verderben? ganasjan – Infinitivform vom Verb ganasjan *retten Das letzte Beispiel für die Aspektfunktion der ga-Komposita in der gotischen Sprache sind die Verben sweran und gasweran. Die beiden Verben bedeuten: „ehren, verherrlichen”. In der Bibel wird Gott und sein Sohn verherrlicht. Des Weiteren gibt es im vierten Gebot einen Befehl, nach dem man die Mutter und den Vater ehren soll. Das Simplex sweran kommt nicht in der Vergangenheitsform vor. Dieses Verb drückt nur die Gegenwart und eventuell auch die Zukunft aus. Zur Bescheibung der Vergangenheit und gleichzeitig der Abgeschlossenheit der Handlung dient das Kompositum gasweran. Diese Abgrenzung der Tempora erfolgt aus der Anwendung zweier Verben mit derselben Bedeutung in verschiedenen Kontexten. Gasweran ist ein perfektives Verb und enthält in sich die Aspektfunktion. In diesem Fall ist es eher unmöglich, dieses 48 Wort in der Vergangenheitsform zu benutzen, ohne den Handlungsabschluß auszudrücken. Wenn jemand eine Person geehrt hat, ist sie jetzt verherrlicht. Der Zustand dieser Person hat sich geändert. sweran *ehren J 12, 23 iþ Iesus andhof im qiþands: qam hveila ei sweraidau sunus mans. Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, daß des Menschen Sohn verklärt werde. sweraidau – Präsensform, 3. Person, Singular vom Verb sweran *ehren L 18,20 þos anabusnins kant: ni horinos; ni maurþrjais; ni hlifais; ni galiugaweitwods sijais; swerai attan þeinana jah aiþein. Du weißt die Gebote wohl: "Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren." swerai – Imperativform, 2. Person, Singular vom Verb sweran *ehren Mc 7,6 iþ is andhafjands qaþ du im þatei waila praufetida Esaïas bi izwis þans liutans, swe gameliþ ist: so managei wairilom mik sweraiþ, iþ hairto ize fairra habaiþ sik mis. 49 Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Wohl fein hat von euch Heuchlern Jesaja geweissagt, wie geschrieben steht: "Dies Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir. gameliþ – Partizip II vom Verb gameljan *schreiben; sweraiþ – Präsensform, 3. Person, Singular vom Verb sweran *ehren Mc 10,19 þos anabusnins kant: ni horinos; ni maurþrjais; ni hlifais; ni sijais galiugaweitwods; ni anamahtjais; swerai attan þeinana jah aiþein þeina. Du weißt ja die Gebote wohl: "Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemand täuschen; ehre Vater und Mutter." swerai – Imperativform, 2. Person, Singular vom Verb sweran *ehren J 12,26 jabai mis hvas andbahtjai, mik laistjai: jah þarei im ik, þaruh sa andbahts meins wisan habaiþ; jah jabai hvas mis andbahtiþ, sweraiþ ina atta. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren. sweraiþ – Präsensform, 3. Person, Singular vom Verb sweran *ehren ga-sweran *verherrlichen J 13,31 50 qaþ þan Iesus: nu gasweraids warþ sunus mans, jah guþ hauhiþs ist in imma. Da er aber hinausgegangen war, spricht Jesus: Nun ist des Menschen Sohn verklärt, und Gott ist verklärt in ihm. gasweraids – Partizip II vom Verb gasweran *verherrlichen J 12,16 þatuþ~þan ni kunþedun siponjos is frumist; ak biþe gasweraiþs was Iesus, þanuh gamundedun þatei þata was du þamma gameliþ, jah þata gatawidedun imma. Solches verstanden seine Jünger zuvor nicht; sondern da Jesus verklärt ward, da dachten sie daran, daß solches von ihm geschrieben war und sie solches ihm getan hatten. gasweraiþs – Partizip II vom Verb gasweran *verherrlichen; gamundedun – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb gamunan *sich einer Sache erinnern; gameliþ – Partizip II vom Verb gameljan *schreiben; gatawidedun – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb gataujan *tun, vollbringen, bewirken. 3.4 Die ga-Komposita, in denen das Präfix „ga-” die Bedeutung des Verbs modifiziert Zu dieser Gruppe gehören Verben, die sowohl ein Simplex als auch ein Kompositum mit dem Präfix „ga-” haben. In diesem Fall gilt „ga-” als 51 semantischer Modifikator. Jedes Simplex hat eine Grundbedeutung, die durch dieses Präfix in den Komposita geändert wird. In diesem Kapitel werden folgende Verben in den Kontexten analysiert: beidan * auf etwas warten ga-beidan *ausharren, ertragen rinnan *rennen, laufen ga-rinnan *zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen fullaweisjan *überreden ga-fullaweisjan *vollenden oder beglaubigen filhan *verbergen ga-filhan *begraben wenjan *warten, hoffen auf ga-wenjan *erwarten Zu jedem Verb werden die Texstellen der Bibel gezeigt, in denen sie vorkommen. Einige Verben erscheinen nur in einem oder in zwei Kontexten. Diese Beispiele sind besonders wichtig, weil sie zeigen, dass man die These der Bedeutungsmodifizierung sogar nur an zwei Sätzen begründen kann. Als erstes Beispiel werden die Verben beidan und gabeidan analysiert. Die Bedeutung des Simplexes beidan ist „auf etwas warten”, mit dem Präfix „ga-” heißt dieses Verb „austragen, ertragen”. Die beiden Wörter haben denselben Stamm, aber die Bedeutung des Simplex unterscheidet sich von der Bedeutung des Kompositums. In diesem Fall ist keine Aspektfunktion vorhanden. Aus semantischer Sicht ist es leicht zu begründen. Das Verb beidan in der Vergangenheitsform drückt die Handlung aus, in der jemand auf jemanden oder auf etwas gewartet hat. 52 Zwar ist es möglich, dass man mit dieser Tätigkeit irgendwann aufhört, aber im Kontext der Bibel ist es anders. z.B. Ein Mann hat auf seine Frau zwei Stunden lang vor dem Kino gewartet und dann ist er nach Hause gegangen. Wenn dieser Mann nach Hause gegangen war, hat er das Warten aufgegeben und die Handlung wurde abgeschlossen. Gleich ist es mit derselben Tätigkeit, aber mit dem anderen Resultat: z.B. Ein Mann hat auf seine Frau zwei Stunden lang vor dem Kino gewartet und dann sie ist endlich gekommen. In diesem Fall ist die Frau dieses Mannes gekommen, er wartet nicht mehr auf sie, die Handlung ist auch abgeschlossen. Das obige Beispiel gehört zu den alltäglichen Situationen. Die Bibel ist ein spezifischer Text, weil er das menschliche Innere betrifft. Der Kontext ist anders. Man betrachtet das Warten nicht nur als einen einfachen Prozess mit unterschiedlichem Resultat, der in einem Moment zu Ende ist. Die Menschen, die in der Bibel beschrieben wurden, erwarten etwas Wichtiges, z.B. das Kommen von Christus, die Gerechtigkeit Gottes, usw. Sie wissen nicht, wann das passiert, sie beeilen sich nicht, sondern sie warten in aller Ruhe. In dieser Sitution ist die Handlung nicht abgeschlossen, weil sie weiterhin dauert. beidan * auf etwas warten L 2,25 þaruh was manna in Iairusalem, þizei namo Swmaion, jah sa manna was garaihts jah gudafaurhts, beidands laþonais Israelis, jah ahma weihs was ana imma. 53 Und siehe, ein Mensch war zu Jerusalem, mit Namen Simeon; und derselbe Mensch war fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der heilige Geist war in ihm. beidands – Partizip I vom Verb beidan * auf etwas warten Mc 15,42-43 jah juþan at andanahtja waurþanamma, unte was paraskaiwe, saei ist fruma sabbato, qimands Iosef af Areimaþaias, gaguds ragineis, saei was <jah> silba beidands þiudangardjos gudis, anananþjands galaiþ inn du Peilatau jah baþ þis leikis Iesuis. Am Abend ging Joseph von Arimathia, ein geachtetes Mitglied des Hohen Rates, zu Pilatus. Joseph wartete auf das Kommen des Reiches Gottes. Weil am nächsten Tag Sabbat war, entschloss er sich, Pilatus schon jetzt um den Leichnam Jesu zu bitten. beidands – Partizip II vom Verb beidan *auf etwas warten; galaiþ – Vergangenheitsform vom Verb ga-leiþan *kommen, gehen G 5,5 aþþan weis ahmin us galaubeinai wenais garaihteins beidam; Wir aber warten im Geist durch den Glauben der Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß. beidam – Präsensform, 1.Person des Dualis vom Verb beidan *auf etwas warten 54 M 11,2-3 iþ Iohannes gahausjands in karkarai waurstwa Xristaus, insandjands bi siponjam seinaim qaþ du imma: þû is sa qimanda þau anþarizuh beidaima? Da aber Johannes im Gefängnis die Werke Christi hörte, sandte er seiner Jünger zwei und ließ ihm sagen: Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen warten? gahausjands - Partizipform vom Verb gahausjan *hören, vernehmen beidaima – Optativum, 1. Person des Dualis vom Verb beidan *auf etwas warten L 1,21 jah was managei beidandans Zakariins, jah sildaleikidedun hva latidedi ina in þizai alh. Und das Volk wartete auf Zacharias und verwunderte sich, daß er so lange im Tempel verzog. beidandans – Partizip II vom Verb beidan *auf etwas warten ga-beidan *ausharren, ertragen K 13,4-7 friaþwa usbeisneiga ist, sels ist: friaþwa ni aljanoþ; friaþwa ni flauteiþ, ni ufblesada, ni aiwiskoþ, ni sokeiþ sein ain, ni ingramjada, nih mitoþ ubil, nih faginoþ inwindiþai, miþfaginoþ sunjai; allata þulaiþ, allata galaubeiþ, all weneiþ, all gabeidiþ. 55 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet [eigentlich: erträgt] alles. galaubeiþ – Präsensform vom Verb galaubjan *glauben, anvertrauen; gabeidiþ – Präsensform, 3. Person, Singular vom Verb gabeidan *ausharren, ertragen Das zweite Beispiel ist das Verbpaar rinnan und garinnan. Rinnan bedeutet „rennen” oder „laufen” und das Kompositum garinnan bedeutet „zusammenlaufen”, „zusammenkommen”, „erlaufen”, „erringen”. Die Semantik des Simplexes ist mit der Semantik des gegenwärtigen deutschen Verbes rennen vergleichbar. Das Kompositum garinnan enthält die ursprüngliche Bedeutung des Präfixes „ga-”, nämlich zusammen. In fast allen Belegen ist es sichtbar, dass die Menschen zusammengekommen sind. Sie haben sich versammelt und jetzt bilden sie eine gemeinsame Gruppe. rinnan *rennen, laufen Mc 5,6-7 gasaihvands þan Iesu fairraþro rann jah inwait ina jah hropjands stibnai mikilai qaþ: hva mis jah þus, Iesu, sunau gudis þis hauhistins? biswara þuk bi guda, ni balwjais mis! 56 Da er aber Jesum sah von ferne, lief er zu und fiel vor ihm nieder, schrie laut und sprach: Was habe ich mit dir zu tun, o Jesu, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott, daß du mich nicht quälest! rann – Präteritumform, 1. Person, Singular vom Verb rinnan *rennen, laufen; gasaihvands – Partizip II vom Verb gasaihvan *erblicken R 9,16 þannu nu ni wiljandins ni rinnandins, ak armandins gudis. So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. rinnandins – Partizip I vom Verb rinnan *rennen, laufen K 9,24 niu wituþ þatei þai in spaurd rinnandans allai rinnand, iþ ains nimiþ sigislaun? swa rinnaiþ, ei garinnaiþ. Wisset ihr nicht, daß die, so in den Schranken laufen, die laufen alle, aber einer erlangt das Kleinod? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet! rinnandans – Partizip I vom Verb rinnan *rennen, laufen; rinnand – Präsensform, 3. Person des Plurals vom Verb rinnan *rennen, laufen; rinnaiþ – Präsensform, 2. Person des Plurals Optativ vom Verb rinnan *rennen, laufen; 57 garinnaiþ – Präsensform, 2. Person des Plurals Optativ vom Verb garinnan *zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen Mc 9,25 gasaihvands þan Iesus þatei samaþ rann managei, gahvotida ahmin þamma unhrainjin, qiþands du imma: þu ahma, þu unrodjands jah bauþs, ik þus anabiuda: usgagg us þamma jah þanaseiþs ni galeiþais in ina. Da nun Jesus sah, daß das Volk zulief, bedrohte er den unsauberen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir, daß du von ihm ausfahrest und fahrest hinfort nicht in ihn! gasaihvands – Partizip I vom Verb gasaihvan *erblicken; rann – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb rinnan *rennen, laufen; gahvotida – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb gahvotjan *einen bedrohen; galeiþais – Präsensform, 2. Person, Singular vom Verb galeiþan *kommen, gehen L 8,33 usgaggandans þan suns þai unhulþans af þamma mann galiþun in þo sweina, jah rann sa wriþus and driuson in þana marisaiw jah afhvapnodedun. Da fuhren die Teufel aus von dem Menschen und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich von dem Abhange in den See und ersoff. 58 galiþun – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb galeiþan *kommen, gehen J 7,38 saei galaubeiþ du mis, swaswe qaþ gameleins, ahvos us wambai is rinnand watins libandins. Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen. galaubeiþ – Präsensform, 3. Person, Singular Optativ vom Verb galaubjan *glauben, anvertrauen; rinnand – Präsensform, 3. Person des Plurals vom Verb rinnan *rennen, laufen garinnan *zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen L 5,15 usmernoda þan þata waurd mais bi ina, jah garunnun hiuhmans managai hausjon jah leikinon fram imma sauhte seinaizo. Es kam aber die Sage von ihm immer weiter aus, und kam viel Volks zusammen, daß sie ihn hörten und durch ihn gesund würden von ihren Krankheiten. garunnun – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb garinnan *zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen K 14,26 59 hva nu ist, broþrjus? þan samaþ garinnaiþ, hvarjizuh izwara psalmon habaiþ, laisein habaiþ, andhulein habaiþ, razda habaiþ, skerein habaiþ, allata du timreinai wairþai. Wie ist es denn nun, liebe Brüder? Wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeglicher Psalmen, er hat eine Lehre, er hat Zungen, er hat Offenbarung, er hat Auslegung. Laßt alles geschehen zur Besserung! garinnaiþ – Präsensform, 2. Person des Plurals Optativ vom Verb garinnan *zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen Mc 14,53 jah gatauhun Iesu du auhumistin gudjin; jah garunnun miþ imma auhumistans gudjans allai jah þai sinistans jah bokarjos. Und sie führten Jesus zu dem Hohenpriester, dahin zusammengekommen waren alle Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten. gatauhun – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb gatiuhan *wegziehen, wegführen; garunnun – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb garinnan * zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen J 12,10-11 munaidedunuþ~þan auk þai auhumistans gudjans, ei jah Lazarau usqemeina, unte managai in þis garunnun Iudaiei jah galaubidedun Iesua. 60 Aber die Hohenpriester trachteten darnach, daß sie auch Lazarus töteten; denn um seinetwillen gingen viele Juden hin und glaubten an Jesus. garunnun – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb garinnan * zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen; galaubidedun – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb galaubjan *glauben, anvertrauen Mc 1,33 jah so baurgs alla garunnana was at daura. Und die ganze Stadt versammelte sich vor der Tür. garunnana – Partizip II vom Verb garinnan * zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen E 4, 11-14 jah silba gaf sumansuþ~þan sumans apaustauluns, sumanzuþ~þan aiwaggelistans, sumansuþ~þan praufetuns, hairdjans jah laisarjans, du ustauhtai weihaize du waurstwa andbahtjis, du timreinai leikis Xristaus, unte garinnaima allai in ainamundiþa galaubeinais jah ufkunþjis sunus gudis, du waira fullamma, in mitaþ wahstaus fullons Xristaus, ei þanaseiþs ni sijaima niuklahai uswagidai jah uswalugidai winda hvammeh laiseinais, liutein manne, in filudeisein du listeigon uswandjai airzeins, Und er hat etliche zu Aposteln gesetzt, etliche aber zu Propheten, etliche zu Evangelisten, etliche zu Hirten und Lehrern, daß die Heiligen zugerichtet werden zum Werk des Dienstes, dadurch der Leib Christi 61 erbaut werde, bis daß wir alle hinkommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters Christi, auf daß wir nicht mehr Kinder seien und uns bewegen und wiegen lassen von allerlei Wind der Lehre durch Schalkheit der Menschen und Täuscherei, womit sie uns erschleichen, uns zu verführen. garinnaima – Präsensform, 1. Person des Plurals Optativ vom Verb garinnan * zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen K 9,24 niu wituþ þatei þai in spaurd rinnandans allai rinnand, iþ ains nimiþ sigislaun? swa rinnaiþ, ei garinnaiþ. Wisset ihr nicht, daß die, so in den Schranken laufen, die laufen alle, aber einer erlangt das Kleinod? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet! rinnandans – Partizip I vom Verb rinnan *rennen, laufen; rinnand – Präsensform, 3. Person des Plurals vom Verb rinnan *rennen, laufen; rinnaiþ – Präsensform, 2. Person des Plurals vom Verb rinnan *rennen, laufen; garinnaiþ – Präsensform, 2. Person des Plurals vom Verb garinnan *zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen Zu dem weiteren Verbpaar fullaweisjan und gafullaweisjan gibt es in der gotischen Bibel jeweils einen Beleg. An diesen zwei Beispielen ist es nachvollziehbar, dass das Präfix ga- die Bedeutung des Simplexes völlig 62 verändert. Im ersten Kontext ist die Bedeutung von fullaweisjan überreden und das Kompositum gafullaweisjan heißt beglaubigen. fullaweisjan *überreden K 5,11 witandans nu agis fraujins mannans fullaweisjam, iþ guda swikunþai sijum. aþþan wenja jah in miþwisseim izwaraim swikunþans wisan uns, Dieweil wir denn wissen, daß der HERR zu fürchten ist, fahren wir schön mit den Leuten; aber Gott sind wir offenbar. Ich hoffe aber, daß wir auch in eurem Gewissen offenbar sind. fullaweisjam – Präsensform, 1. Person des Dualis vom Verb fullaweisjan *überreden ga-fullaweisjan *vollenden oder beglaubigen L 1,1-4 Unte raihtis managai dugunnun meljan insaht bi þos gafullaweisidons in uns waihtins, swaswe anafulhun unsis þaiei fram frumistin silbasiunjos jah andbahtos wesun þis waurdis; galeikaida jah mis [jah ahmin weihamma] fram anastodeinai allaim glaggwuba afarlaistjandin gahahjo þus meljan, batista Þaiaufeilu, ei gakunnais þize bi þoei galaisiþs is waurde [a]staþ. Sintemal sich's viele unterwunden haben, Bericht zu geben von den Geschichten, so unter uns ergangen sind, wie uns das gegeben haben, die es von Anfang selbst gesehen und Diener des Worts gewesen sind: habe ich's auch für gut angesehen, nachdem ich's alles von Anbeginn mit Fleiß erkundet habe, daß ich's dir, mein guter Theophilus, in Ordnung 63 schriebe, auf das du gewissen Grund erfahrest der Lehre, in welcher du unterrichtet bist. gafullaweisidons – Partizip II vom Verb ga-fullaweisjan *vollenden oder beglaubigen; galeikaida – Partizip II vom Verb galeikan *gefallen; gakunnais – Präsensform, 2. Person, Singular vom Verb gakunnan *kennen lernen, erfahren, erkennen; galaisiþs – Partizip II vom Verb galaisjan *lehren Das nächste Beispiel sind Verben filhan und gafilhan. Das Simplex filhan hat eine Bedeutung, nämlich: verbergen. In der Bibel gibt es nur eine Stelle, wo man dieses Verb im Kontext finden kann. Das Kompositum gafilhan kommt in mehreren Sätzen vor und ist gewissermaßen eine Ausnahme in der Analyse der vorliegenden Arbeit. Hier werden einige Kontexte gezeigt, in denen ga- die Bedeutung modifiziert, aber es gibt auch ein paar Sätze, in denen dieses Präfix die Aspektfunktion erfüllt. Drei Beispiele am Anfang weisen darauf hin, dass gafilhan die Bedeutung: begraben hat. Die weiteren Kontexte zeigen, dass dieses Kompositum die gleiche Semantik wie das Simplex aufweist, aber gleichzeitig die Abgeschlossenheit der Handlung ausdrückt. Sie kommen nur in der Vergangenheitsform vor. filhan *verbergen T 5,25 samaleiko þan jah waurstwa goda swikunþa sind, jah þoei aljaleikos sik habandona filhan ni mahta sind. 64 Desgleichen auch etlicher gute Werke sind zuvor offenbar, und die andern bleiben auch nicht verborgen. filhan – Infinitivform vom Verb filhan *verbergen ga-filhan *begraben M 8,22 iþ Iesus qaþ du imma: laistei afar mis jah let þans dauþans gafilhan seinans dauþans. Aber Jesus sprach zu ihm: Folge du mir und laß die Toten ihre Toten begraben! gafilhan – Infinitivform vom Verb gafilhan *begraben M 8,21 anþaruh þan siponje is qaþ du imma: frauja, uslaubei mis frumist galeiþan jah gafilhan attan meinana. Und ein anderer unter seinen Jüngern sprach zu ihm: HERR, erlaube mir, daß hingehe und zuvor meinen Vater begrabe. galeiþan – Infinitivform vom Verb galeiþan *kommen, gehen; gafilhan – Infinitivform vom Verb gafilhan *begraben L 16,22 warþ þan gaswiltan þamma unledin jah briggan fram aggilum in barma Abrahamis; gaswalt þan jah sa gabeiga jah gafulhans warþ. 65 Es begab sich aber, daß der Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und ward begraben. gaswiltan – Infinitivform vom Verb gaswiltan *sterben; gaswalt – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb gaswiltan *sterben; gafulhans – Partizip II vom Verb gafilhan *begraben J 8,59 þanuh nemun stainans, ei waurpeina ana ina; iþ Iesus þan gafalh sik jah usiddja us alh usleiþands þairh midjans ins, jah hvarboda swa. Da hoben sie Steine auf, daß sie auf ihn würfen. Aber Jesus verbarg sich und ging zum Tempel hinaus. gafalh – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb gafilhan *begraben J 12,36 þande liuhaþ habaiþ, galaubeiþ du liuhada, ei sunjus liuhadis wairþaiþ. þata rodida Iesus, jah galaiþ jah gafalh sik faura im. Glaubet an das Licht, dieweil ihr es habt, auf daß ihr des Lichtes Kinder seid. galaubeiþ – Imperativform, 2. Person des Plurals vom Verb galaubjan *glauben, anvertrauen; 66 galaiþ – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb galeiþan *kommen, gehen; gafalh – Präteritumform, 3. Person, Singular vom Verb gafilhan *begraben Als letztes Beispiel werden die Verben wenjan und gawenjan analysiert. Auf den ersten Blick sind sie semantisch ähnlich, jedoch sind ihre Bedeutungen ein bisschen anders. Wenjan bedeutet: warten, hoffen. Die unten dargestellten Beispielen zeigen, dass dieses Verb auf die Gegenwart und Zukunft hinweist – ich warte auf etwas, also ich hoffe, dass etwas passiert und umgekehrt – ich hoffe auf etwas und ich warte darauf. In diesen beiden Fällen ist es nicht sicher, ob das, worauf man hofft und wartet, wirklich passiert. Die deutsche Entsprechung des Kompositums gawenjan heißt: „erwarten”. Der Unterschied zwischen den Verben beruht darauf, dass gawenjan die eigene Meinung und Vermutung ausdrückt, z.B. Ich erwarte von dir, dass du nett bist. Dieser Satz bedeutet: nach mir, aufgrund meines Wissens, schätze ich dich als eine nette Person ein. Hier geht es nicht darum, dass jemand hofft oder wartet darauf, dass dieser Mensch nett ist. Mit dieser Aussage wird die persönliche Meinung einer Person über eine andere Person gezeigt. wenjan *warten, hoffen auf L 3,15-16 at wenjandein þan allai managein jah þagkjandam allaim in hairtam seinaim bi Iohannein, niu aufto sa wesi Xristus, andhof þan Iohannes allaim qiþands: ik allis izwis watin daupja, iþ gaggiþ swinþoza mis, þizei ik ni im wairþs andbindan skaudaraip skohis is; sah izwis daupeiþ in ahmin weihamma jah funin. 67 Als aber das Volk im Wahn war und dachten in ihren Herzen von Johannes, ob er vielleicht Christus wäre, antwortete Johannes und sprach zu allen: Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber ein Stärkerer nach mir, dem ich nicht genugsam bin, daß ich die Riemen seiner Schuhe auflöse; der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen. wenjandein – Partizip I vom Verb wenjan *warten, hoffen auf L 7,18-19 jah gataihun Iohannen siponjos is bi alla þo. jah athaitands twans siponje seinaize Iohannes insandida ins du Iesua qiþands: þû is sa qimanda þau anþaranu wenjaima? Und es verkündigten Johannes seine Jünger das alles. Und er rief zu sich seiner Jünger zwei 19 und sandte sie zu Jesu und ließ ihm sagen: Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten? gataihun – Präteritumform, 3. Person des Plurals vom Verb gateihan *anzeigen, verkündigen K 16,7 ni wiljau auk izwis nu þairhleiþands saihvan; unte wenja[n] mik hvo hveilo saljan at izwis, jabai frauja fraletiþ. Ich will euch jetzt nicht sehen im Vorüberziehen; denn ich hoffe, ich werde etliche Zeit bei euch bleiben, so es der HERR zuläßt. wenja[n] – Präsensform, 1. Person, Singular vom Verb wenjan *warten, hoffen auf 68 J 5,45 þatei ik wrohidedjau izwis du attin; ist saei wrohida izwis, Moses, du þammei jus weneiþ. Ihr sollt nicht meinen, daß ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt, der Mose, auf welchen ihr hofft. weneiþ – Präsensform, 2. Person des Plurals vom Verb wenjan *warten, hoffen auf K 15,19 jabai in þizai libainai [ainai] in Xristau wenjandans sijum þatainei, armostai sium allaize manne. Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christum, so sind wir die elendesten unter allen Menschen. wenjandans – Partizip I vom Verb wenjan *warten, hoffen auf ga-wenjan *erwarten L 7,43 andhafjands þan Seimon qaþ: þana gawenja þammei managizo fragaf. þaruh is qaþ du imma: raihtaba stauides. Simon antwortete und sprach: Ich achte, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht gerichtet. 69 gawenja – Präsensform, 1. Person, Singular vom Verb gawenjan *erwarten 4 Schlusswort In der Arbeit wurden alle gotischen ga-Komposita mit ihren Simlizien und deutschen Entsprechungen dem Wörterbuch von Streitberg entnommen und aufgelistet. Dann wurden diese Verben analysiert und in 6 Gruppen eingeteilt. Die erste Aufteilung betraf die Abgrenzung der Komposita, die ein Simplex und die kein Simplex besitzen. Später wurden sie wieder in 2 Gruppen eingeteilt, abgesehen davon, von welcher Wortart sie stammen. Während der Untersuchung wurde festgestellt, dass die genaue Angabe des Ursprungs aller Verben eine schwierige Aufgabe ist. Aus diesem Grund wurden die Komposita, die ein Simplex haben der Gruppe der Verben zugewiesen, die von den Verben stammen; die anderen Komposita gehören zu der zweiten Gruppe, die von anderen Wortarten stammen. Die wichtigste Aufgabe, in der eigentlich das Ziel der vorliegenden Arbeit bestand, beruhte auf der Untersuchung der Funktion des Präfixes „ga-” bei den gotischen Verben. Um diese Funktionen festzustellen, mussten die Komposita in Kontexten analysiert werden. Nach der Analyse dieser Verben lässt sich feststellen, dass dieses Präfix in Verbindung mit den Simplexverben zwei Funktionen erfüllen kann. Entweder drückt es den Aspekt aus oder es modifiziert die Bedeutung des Simplexes. Die gotischen Verben werden oft präfigiert, am häufigsten tritt der Fall auf, dass ein Simplex mehrere Präfixe hat, z.B. bairan * tragen; leiden at-bairan * bringen inn-atbairan * hineinbringen 70 fra-bairan * vetragen ga-bairan * etwas zusammentragen, vergleichen; gebären Þairh-bairan * hindurchtragen us-bairan * hinaustragen, hervorbringen ūt-bairan * hinaustragen Das weist darauf hin, dass die meisten Komposita von anderen Verben gebildet wurden. In dieser Arbeit wurde die These aufgestellt, dass die Zusammensetzungen, die ein Simplex haben, von einem Verb stammen. Die Situation, in der ein Simplex nur mit einem Präfix „ga-” auftritt oder in der es kein Simplex, sondern ein Kompositum mit „ga-” auftritt, kommt sehr selten vor. In der vorliegenden Arbeit wurden 19 von 241 Verben mit dem Präfix „ga-” analysiert. Die Liste aller Verben befindet sich im Anhang. Bei den meisten Verben erfüllt das Präfix „ga-” die Aspektfunktion. Die gotischen ga-Komposita sind ein interessantes Forschungsobjekt, da sie eine wichtige Rolle einer Vorsilbe in einem Verb begründen können. Leider konnten nicht alle Verben in aller Kontexten analysiert werden. Manchmal mussten viele Textstellen gefunden werden, um die Funktion des Präfixes „ga-” zu begründen, in anderen Beispielen, wie fullaweisjan und gafullaweisjan reichten nur zwei Kontexte, um den Unterschied in der Bedeutung beider Verben darzustellen. 5 Anhang: Die Liste aller gotischen ga-Komposita 71 ga-aggwjan *bedrängen ga-aiginon * in Besitz nehmen, übervorteilen ga-ainan * vereinzelnen, trennen ga-aistan * sich scheuen vor ga-aiwiskon * beschämen, beschimpfen ga-arman * sich eines erbarmen ga-aukan * sich vermehren, zunehmen ga-baidjan * einen zwingen ga-bairan * etwas zusammentragen, vergleichen; gebären ga-bairgan * einen bergen, bewahren ga-bairhtjan * offenbaren ga-bandwjan *durch Winke andeuten ga-batnan *Vorteil erlangen ga-bauan *Wohnung aufschlagen ga-beidan *ausharren, ertragen ga-beistjan *durchsäuern ga-bidjan *beten, bitten ga-bindan *binden ga-biugan *beugen, sich beugen ga-blauþjan *abschaffen ga-bleiþjan *sich erbarmen ga-blindjan *verblenden ga-botjan *verbessern, herstellen ga-brannjan *verbrennen ga-brikan *zerbrechen ga-daban *s.ereignen, eintreffen ga-dailjan *zuteilen, zerteilen ga-daubjan *verstocken 72 ga-daursan *sich erkühnen, wagen ga-dauþjan *Tod bringen, töten ga-dauþnan *sterben ga-digan *kneten, aus Ton bilden ga-diupjan *vertiefen ga-domjan *urteilen, entscheiden ga-draban *aushauen ga-dragan *zusammentragen ga-dragkjan *tränken mit ga-drausjan *hinabstürzen ga-drigkan *trinken ga-driusan *hinfallen ga-drobnan *in Bestürzung geraten ga-fāhan *ergreifen, erfassen, ertappen ga-fahrjan *zubereiten ga-faihon *übervorteilen ga-fastan *behalten, bewahren ga-filhan * begraben ga-fraihnan * erfragen ga-fraujinon *unterjochen ga-frisahtjan *abbilden ga-frisahtnan *ein Abbild werden ga-friþon *versöhnen mit ga-fulljan *mit etw. erfüllen ga-fullnan *erfüllt werden von ga-gaggan *zusammenkommen ga-geigan *gewinnen ga-haban *ergreifen; behalten, festhalten; sich enthalten ga-haftjan *sich heften, hängen an 73 ga-gáhaftjan *zusammenheften, verbinden ga-haftnan *anhangen ga-hailjan *herstellen ga-hailnan *hergestellt werden ga-haitan *zusammenrufen ga-hamon *sich bekleiden mit ga-hardjan *verhärten ga-haunjan *erniedrigen ga-hausjan *hören, vernehmen ga-hilpan *helfen ga-hnaiwjan *erniedrigen ga-hnipnan *sich betrüben ga-horinon *Ehebruch begehen ga-hrainjan *reinigen ga-huljan *verhüllen ga-ƕeilan *zur Ruhe kommen, aufhören; verweilt ga-ƕeitjan *weißen ga-ƕotjan *einen bedrohen ga-ïbnjan *gleich machen ga-ïdreigon *bereuen, Buße tun ga-jiukan *besiegen ga-kannjan *verkünden ga-karon *besorgen ga-kausjan *erproben ga-kiusan *erproben ga-kroton *zerbrechen, zerschellen ga-kunnan *sich unterordnen, gehorchen ga-lagjan *hinlegen ga-laisjan *lehren 74 ga-laistjan *Gastfreundchaft pflegend ga-latjan *verhindern ga-laþon *zusammenberufen, einladen, berufen ga-laubjan *glauben ga-laugnjan *verborgen bleiben; sich verbergen ga-lausjan *erlösen, befreien ga-leikan *gefallen ga-gáleikon *sich verwandeln, eine Gestalt annehmen ga-leiþan *kommen, gehen ga-leikinon *herstellen ga-lewjan *hingeben, überlassen, überliefern ga-lisan *zusammenlesen, versammeln ga-liugan *ein Weib nehmen ga-liuhtjan *etw.erleuchten, ans Licht bringen ga-lūkan *etw. verschließen ga-luknan *sich verschließen ga-magan *gelten, bedeuten ga-gámainjan *verunreinigen ga-maitan *zerschneiden, verschneiden ga-manwjan *einem etw. zubereiten zu ga-markon *grenzen ga-marzjan *Ärgernis erregen, Ärgernis nehmen an ga-matjan *essen ga-maudjan *einen erinnern an ga-maurgjan *verkürzen ga-meljan *schreiben ga-mikiljan *preisen ga-mitan *zumessen ga-motan *Raum finden 75 ga-motjan *einem begegnen ga-munan *sich einer Sache erinnern ga-nagljan *festnageln an ga-naitjan *beschimpfen ga-namnjan *benennen ga-nanþjan *aufhören ga-nasjan *erretten, herstellen ga-natjan *benetzen ga-nawistron *begraben ga-niman *mitnehmen, erhalten, empfangen ga-nisan *genesen, errettet werden ga-niutan *ergreifen, erwischen ga-nohjan *genügsam sein, sich genügen lassen ga-nohnan *zur Genüge versehen sein mit ga-paidon *(mit einem Leibrock)bekleiden ga-qiman *zusammenkommen, hinkommen ga-qiþan *sich verabreden, übereinkommen, beschließen ga-qiujan *beleben ga-qiunan *aufleben ga-raginon *einen Rat geben ga-rahnjan *abschätzen ga-raidjan *befehlen, verordnen, bestimmen ga-raþjan *zählen ga-redan *Vorsorge treffen für ga-rinnan *zusammenlaufen, zusammenkommen, erlaufen, erringen ga-saiƕan *erblicken ga-sakan *schelten, den Mund stopfen, zum Schweigen bringen, überführen, widerlegen ga-salbon *(be)salben 76 ga-saljan *zum Opfer bringen ga-sandjan *entsenden, geleiten ga-satjan *hinsetzen, hinstellen, hinlegen ga-sibjon *sich mit einem versöhnen ga-sigljan *besiegeln, bestätigen ga-siggqan *versinken, untergehen ga-sitan *sich niedersetzen, Platz nehmen ga-skaidan *sich zurückziehen ga-skaidnan *geschieden werden ga-skaman *beschämt werden ga-skapjan *erschaffen ga-skaþjan *einem Schaden zufügen in ga-skeirjan *erklären, übersetzen ga-slawan *verstummen ga-sleiþjan *beschädigen ga-slepan *entschlummern, entschlafen ga-smeitan *aufstreichen auf, bestreichen ga-smiþon *(durch Schmieden) bewirken ga-sniumjan *hineilen, kommen ga-sniwan *ereilen, gelangen zu ga-sokjan *aufsuchen ga-soþjan *ersättigen ga-speiwan *ausspeien ga-spillon *verkünden ga-stagqjan *etwas anstoßen an ga-staldan *erwerben, bekommen ga-standan *stehen bleiben, halt machen, bestehen, verbleiben, beharren ga-staurknan *vertrocknen ga-steigan *hineinsteigen 77 ga-stiggqan *anstoßen ga-stojan *ein Urteil abgeben über , beurteilen, verurteilen, urteilen ga-stoþan *aufrecht erhalten ga-straujan *bestreuen ga-suljan *das Fundament legen, begründen ga-sunjon *rechtfertigen ga-supon *würzen ga-sweran *verherrlichen ga-swikunþjan *etw. bekannt geben ga-swiltan *sterben ga-swinþjan *stärken ga-swinþnan *erstarken ga-swogjan *erseufzen ga-taiknjan *ein Zeichen geben, belehren ga-tairan *zerreißen, zerstören, aufheben ga-talzjan *belehren, erziehen ga-tamjan *bezähmen, bezwingen ga-tandjan *mit einem Brandmal versehen ga-tarhjan *kennzeichnen ga-tarnjan *berauben ga-taujan *tun, vollbringen, bewirken ga-taurnan *vergehen, aufhören ga-teihan *anzeigen, verkündigen ga-tewjan *durch Wahl bestimmt, verordnet ga-tilon *erlangen ga-gátilon *zusammenfügen ga-timan *geziemen für ga-timrjan *erbauen ga-tiuhan *wegziehen, wegführen 78 ga-trauan *vertrauen ga-trudan *zertreten ga-tulgjan *befestigen, bestärken ga-þahan *verstummen ga-þairsan *verdorren ga-þarban *sich enthalten ga-þaursnan *verdorren, vertrocknen ga-þeihan *vorwärtskommen ga-þiuþjan *einem den Segen geben ga-þiwan * unterjochen, in Dienstbarkeit bringen ga-þlahsnan *erschrecken ga-pláihan *ermahnen, einem zusprechen, ihn trösten ga-þliuhan *die Flucht ergreifen, entfliehen ga-þrafstjan *ermuntern, empfangen ga-þreihan *bedrängen ga-þulan *erdulden ga-þwastjan *befestigen ga-wadjon *zusammenfügen, verloben ga-wagjan *einen in Bewegung setzen ga-wairpan *hinwerfen ga-gáwairþjan *versöhnen mit ga-gáwairþnan *sich versöhnen mit ga-waknan *erwachen ga-waldan *sich der Herrschaft bemächtigen, einen vergewaltigen ga-waljan *erwählen ga-wandjan *(hin)wenden ga-wargjan *einen verurteilen zu ga-wasjan *bekleiden mit, sich bekleiden ga-waurkjan *bewirken, erwirken, bereiten 79 ga-weihan *weihen, heiligen ga-fullaweisjan *vollenden, beglaubigen ga-weison *heimsuchen, besuchen, besorgen ga-wenjan *erwarten, annehmen ga-widan *zusammenbinden, verbinden ga-wigan *bewegen ga-winnan *erleiden ga-wisan *verweilen, verbleiben ga-wrikan *bestrafen, Rache nehmen an ga-wrisqan *Frucht bringen ga-wundon *verwunden 80 6 Bibliographie: Bergmann, R., Pauly, P., Stricker, S., (2004): Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft 4., überarbeitete und erweiterte Auflage, Universitätsverlag WINTER, Heidelberg. Binnig, W. (1999): Gotisches Elementarbuch, de Gruyter, Berlin; New York. Bühler, K. (1999): Sprachtheorie, Lucius & Lucius, Stuttgart. Fleischer, W., Barz, I. (1992): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Max Niemeyer, Tübingen. Glück, H. (2005): Metzler Lexikon Sprache, 3.Ausgabe, Metzler, Stuttgart. Keller, R.E. (1995): Die deutsche Sprache und ihre historische Entwicklung, Helmut Buske Verlag, Hamburg. Kotin, M. (1988-1989): „Wortbildung und Bedeutungsentwicklung” in: Germanistisches Jahrbuch, DDR UdSSR (Herausgeber:Breitung, H.) Kotin, M. (1998): Die Herausbildung der grammatischen Kategorie des Genus verbi im Deutschen, Helmut Buske Verlag, Hamburg. Kotin, M. (2003): Die werden-Perspektiven und die werden-Periphrasen im Deutschen. Historische Entwicklung und Funktionen in der 81 Gegenwartssprache in: Kątny, A.: Danziger Beiträge zur Germanistik, Band 6. Kotin, M. (2005): Die Sprache in statu movendi. Erster Band, Universitätsverlag WINTER, Heidelberg. Kotin, M. 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