2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand

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Das Eigene und das Fremde – Zu deutsch-polnischen
Wahrnehmungsmustern im Roman
Schlesisches Wetter (2003) von Olaf Müller
Inhaltsverzeichnis
1
Zielsetzung….............................................................................................................5
2
Methodologischer Ansatz und Forschungsstand...................................................7
2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen…………………………………………..7
2.2 Literatur und Geschichte – zur deutsch-polnischen Perspektive
auf den Vertreibungskomplex…………...……………………………………13
2.3 Komparatistische Imagologie und Stereotypenforschung……………………16
2.3.1 Zum Begriff ‚Stereotyp’………………………………………………..18
2.3.2 Polenbilder in der deutschen Literatur………………………………….21
2.4 Literatur in narratologischer Perspektive.……………………………..………23
2.4.1 Faktuales und fiktionales Erzählen……………………………………...24
2.4.2 Das <Was> und das <Wie> eines narrativen Textes……………………26
2.4.3 Franz Stanzels Typologie von <Erzählsituationen>…………………….29
2.4.4 Erzählte Welten in narratologischer Sicht.…………………………...…31
3 Olaf Müllers Schlesisches Wetter – Roman als Erinnerungsraum
3.1 Tabuisiertes Familiengedächtnis – Zur Vertreibungsgeschichte
der Familie Schynoski in Olaf Müllers Schlesisches Wetter………………………33
3.2 Stereotype Vorstellungen über das Eigene und das Fremde
in Olaf Müllers Schlesisches Wetter………………………………………..…..…37
3.2.1 Wrocław als Polenraum des Stereotyps der ,polnischen Wirtschaft´…38
3.2.2 Deutsch-polnische Wahrnehmung des Geschichtsraumes…………….42
3.2.3 Das Bild der ,schönen Polin´ in Müllers Auffassung.…………………44
3.3 Alexander Schynoski und seine Polenwahrnehmung………………………...47
3.3.1 Alexander Schynoski als autodiegetischer Erzähler…………..………..50
3.3.2 Heterogene erzählte Welt im Roman Schlesisches Wetter……………..53
4 Zusammenfassung……………………………………………………………......58
1
5 Anhang – biografische Angaben zu Olaf Müller……………………………….60
6 Literaturverzeichnis……………………………………………………………...61
6.1 Primärliteratur…………………………………………………………………61
6.2 Sekundärliteratur……………………………………………………………...62
1 Zielsetzung
Das Gedächtnis ist ein soziales Phänomen. Der Begriff ist sehr umfangreich und er wird
als kollektive oder individuelle Erfahrung oder Wahrnehmung betrachtet. Das
Gedächtnis entwickelt sich nicht in Isolation, sondern ist immer schon sozial auf andere
Individuen und, auf politischer Ebene, auf andere Gruppen bezogen. Die Menschen
entscheiden darüber, woran sich jemand erinnert, treffen die Wahl und konstruieren
erfahrungsbezogene Texte selbst, die zu Erinnerungsliteratur werden können.
Der Begriff der Erinnerung und das Erinnern als vergangenheitsgestaltender
Vorgang nehmen innerhalb der Kulturwissenschaften einen zentralen Platz ein und
erlauben einen inter- bzw. transdisziplinären Zugang. In der Erinnerung wird
Vergangenes in einer bestimmten Gestalt vergegenwärtigt, so dass sie eine
Beziehung zwischen dem Gegenwärtigen und dem Gewesenen stiftet. In der
Erinnerung wird auch die Geschichte konstruiert, sie ist das Organon der
Geschichte.1
Literarische Texte leisten einen großen Beitrag zur Vermittlung, Entwicklung und
Verbreitung der Geschichte. Heutzutage beschäftigen sich viele junge deutsche Autoren
mit dem Thema Flucht und Vertreibung im Kontext des Zweiten Weltkrieges.
Im Jahre 2003 erschien Olaf Müllers Roman Schlesisches Wetter.
In seinem Roman weist Müller auf die Heimatproblematik hin und beschäftigt sich mit
den Kriegserfahrungen der Großelterngeneration, mit der Vertreibung und Flucht. Das
Thema des Heimat-Verlustes und der Topos der `verlorenen Heimat´ steht nach 1945
im Zentrum öffentlicher Debatten. Der Begriff `Heimat´ wird immer besprochen, wo
Bevölkerungen in Massen emigrieren müssen oder vertrieben werden. Nach dem
Zweiten Weltkrieg, nach dem Niedergang des Dritten Reiches, wird das Thema aktuell,
als Millionen von Deutschen aus den Ostgebieten ausgesiedelt wurden und eine Art von
Sicherung verloren haben. Viele deutsche Autoren der dritten Generation greifen die
Heimatproblematik in ihren Büchern auf. Sie wurde zu einem relativ häufigen Thema in
Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien.
Wrocław/Dresden: Neiße Verlag 2007, S. 25.
1
2
der deutschen Literatur der Nachkriegsjahre. Sie stellt Schicksale und Haltungen der
Einzelnen dar.
In dem analytischen Teil dieser Arbeit wird das Phänomen ,Heimatʼ und die ,verlorene
Heimatʼ und die Art und Weise der Darstellung der Polen und Polens besprochen. Die
Reflexionen über das Eigene und das Fremde werden weitgehend die Bestimmung der
Semantik des literarischen Polen/Deutschland-Diskurses nach 1945 betreffen. Es wird
versucht,
die
Wahrnehmungsperspektiven
in
der
konkreten
Besonderheit
herauszuarbeiten.
Weiterhin wird auch die Frage gestellt, inwieweit die historisch entwickelte Stereotype
über Polen und die Polen in Schlesisches Wetter eine Rolle spielen. Durch die Analyse
des Romans wird untersucht, ob der entworfene literarische Polen-Raum stereotypisiert
wird oder eben nicht. Es werden drei Polen-Stereotype unterschieden und besprochen:
das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ, ,Opfer-Stereotypʼ und das Stereotyp der
,schönen Polinʼ.
In Bezug auf Erzähltheorie wird auch überprüft, ob Olaf Müller im Schlesisches Wetter
die erzählte Welt mit der realen Welt verknüpft hat oder nicht.
Um die analysierten Aspekte genauer zu veranschaulichen, werden die angeführten
Probleme mit zahlreichen Zitaten bzw. Anmerkungen und Verweisen auf die
entsprechenden Textstellen versehen.
Der Roman Schlesisches Wetter wird einerseits hinsichtlich der theoretischen Ansätze
im narratologischen Kontext untersucht und andererseits im Kontext eines kulturellen
Archivs aufgefasst. In Bezug auf Erzähltheorie wird auch überprüft, ob Olaf Müller im
Schlesisches Wetter die erzählte Welt mit der realen Welt verknüpft hat oder nicht.
Mit der Analyse werden Möglichkeiten einer theoretischen Annäherung an das Problem
der Wahrnehmung des Fremden erörtert.
Olaf Müllers Roman gehört zur Erinnerungsliteratur, die uns die Ereignisse überliefert,
die in der Vergangenheit stattfanden. Die Erinnerungsliteratur hat Einfluss auf unsere
Bildung. Sie erhält Informationen, die einen Blick in die Vergangenheit ermöglichen.
Die Nachkriegsliteratur war und ist umfassend, reichhaltig und vielfältig.
3
2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand
2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen
Der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945) entwickelte den Begriff
<mémoire collective>. Mit diesem Begriff beschäftigte er sich in seinen drei Schriften,
die heute eine zentrale Stellung im Diskurs über das kollektive Gedächtnis einnehmen.
Er versuchte in den Schriften zu beweisen, dass alle individuellen Handlungen und
Regeln letztlich auf eine überindividuelle soziale Wirklichkeit zurückgeführt werden.2
In seinem 1925 erschienenen Werk Les cadres sociaux de la mémoire verwendete
Halbwachs zum ersten Mal den Begriff des kollektiven Gedächtnisses. Mit dieser
Schrift versuchte er die soziale Bedingtheit der Erinnerung anzugeben. Nach seiner
Theorie ist jede persönliche Erinnerung eine <mémoire collective>, ein kollektives
Phänomen. Über fünfzehn Jahre arbeitete Halbwachs an der nächsten seiner Schriften
La mémoire collective, in der er sein Konzept des kollektiven Gedächtnisses weiter
entwickelte.
Er
untersuchte
Formen
und
Funktionsweisen
des
kollektiven
Gedächtnisses. Seine Überlegungen veröffentlichte er in seinem dritten Buch La
Topographie legendaire des Evangiles en Terre Sainte.
Astrid Erll stellt zwei grundlegende Konzepte von kollektivem Gedächtnis dar, mit
denen sich Halbwachs beschäftigte: kollektives Gedächtnis als das Gedächtnis des
Individuums, das sehr eng mit dem soziokulturellen Umfeld verbunden ist und
kollektives Gedächtnis innerhalb von sozialen Gruppen und Kulturgemeinschaften in
Bezug auf Vergangenes.3
Halbwachs Theorie des individuellen Gedächtnisses bildet sich innerhalb von
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, von sozialen Rahmen aus. Für Halbwachs sind
2
3
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 14 f.
Vgl. ebd., S. 14 f.
4
soziale Rahmen Menschen, die uns umgeben und mit denen man zusammenlebt. „Der
Mensch ist ein soziales Wesen.“4 Ein Individuum kann ohne andere Menschen nicht
existieren. Das soziale Umfeld bilden vor allem Mitmenschen. Ohne sie gibt es keinen
Zugang zu sozialer, kollektiver Sprache und Sitten. Durch Kommunikation und
Interaktion mit anderen Menschen werden Wissen über Daten und Fakten ,kollektive
Zeit- und Raumvorstellungen sowie Denk- und Erfahrungsströmungen vermittelt. Durch
den Kontakt mit Zeitgenossen kann man sich an vergangene Ereignisse erinnern. Nach
Halbwachs sind individuelle Erinnerungen sozial geprägt und sind vom kollektiven
Gedächtnis abhängig.5 Kollektives und individuelles Gedächtnis stehen in einer
Wechselbeziehung. Jeder Mensch gehört mehreren sozialen Gruppen an: der Familie,
der Religionsgemeinschaft, der Belegschaft am Arbeitsplatz und verfügt über
unterschiedliche, gruppenspezifische Erfahrungen. Dadurch unterscheiden sich nach
Halbwachs die Gedächtnisse einzelner Menschen voneinander.
Das kollektive Gedächtnis wurde von Halbwachs an soziologischen Fallbeispielen
untersucht. Dazu gehören: Familie, Religionsgemeinschaft und soziale Klasse.6 „Das
Familiengedächtnis ist ein typisches intergenerationelles Gedächtnis.“7 Es ist typisch für
jede Generation, für Mitglieder einer bestimmten Familie, die über gemeinsame
Erfahrungen verfügen. Im Rahmen einer Familie werden die Erfahrungen ständig
ausgetauscht. Das kulturelle Gedächtnis entsteht durch soziale Interaktion (durch
gemeinschaftliche
Handlungen
und
geteilte
Erfahrungen)
und
auch
durch
Kommunikation (wiederholtes gemeinsames Vergegenwärtigen der Vergangenheit).8
Das kollektive Generationsgedächtnis ist von den Familienmitgliedern abhängig. Auf
diese Weise trennt Halbwachs in seiner Theorie das Generationsgedächtnis von der
Zeitgeschichte und unterscheidet zwei Begriffe, ,Geschichte’ und ‚Gedächtnis’
voneinander. Für ihn ist Geschichte universal, sachlich und objektiv. Sie stellt eine
Rekonstruktion der Vergangenheit
dar. Das Gedächtnis ist im Gegensatz zur
Geschichte von Menschengruppen abhängig. Es ist stark selektiv und subjektiv.
Halbwachs untersuchte auch den Zusammenhang zwischen den Begriffen ‚des
kollektiven Gedächtnisses’ und ‚der Traditionsbildung’. Er stellte fest, dass die
4
5
6
7
8
Ebd., S. 15.
Vgl. ebd., S. 15 ff.
Vgl. ebd., S. 16.
Ebd., S. 16.
Vgl. ebd., S. 16.
5
Traditionsbildung durch das kollektiv konstruierte Wissen und Erinnerungen überliefert
wird.9
In den 1920er Jahren beschäftigten sich Maurice Halbwachs und Aby Warburg mit dem
Phänomen
des
kollektiven
Gedächtnisses.10
Die
Konzeptionen
der
beiden
Wissenschaftler unterscheiden sich grundlegend voneinander.11 Warburg verbindet das
kollektive Gedächtnis mit der Kultur, die anhand verschiedener Symbole (z.B. bewegte
Gewandtmotive antiker Fresken in Renaissancegemälden) auslöst wird.12 Er weist
darauf hin, dass die kulturellen Symbole eine erinnerungsauslösende Kraft haben.
„Solche Symbole, in denen sich das antike Pathos niedergeschlagen hatte, bezeichnete
Warburg als ‚Pathosformeln’.13 Pathosformeln verbindet man mit dem menschlichen
Ausdruck, mit Emotionen, Leidenschaften und leidenschaftlicher Erregung. Sie
beziehen sich auf die Körpersprache. Warburg behauptet, dass „Kultur beruht auf dem
Gedächtnis der Symbole.“14 Auf diese Weise entwarf er ein Konzept ,des kollektiven
Bildgedächtnisses’, das er auch als ‚soziales Gedächtnis’ bezeichnet. Nach seiner
Auffassung ist das antike Pathos eine Erinnerung, die die Künstler in Betracht zogen.
Damit verbindet er zwei Grundaspekte der Kultur ‚Ausdruck’ und ‚Orientierung’. Als
soziales Medium des kollektiven Gedächtnisses sind nach Warburg nicht nur mündliche
Rede, sondern auch Kunstwerke, die im menschlichen Gedächtnis eine geistige Spur
hinterlassen. Er verwendet auch den Begriff des ‚europäischen Kollektivgedächtnisses’.
Als ‚europäisches Kollektivgedächtnis’ wird nicht nur ausdrucksstarke und eng mit
unbewussten, psychischen Prozessen verbundene visuelle Kultur in Betracht
genommen, sondern auch Objektivationen der Alltagskultur, Feste und Literatur.15
Halbwachs’ und Warburgs Studien zum kollektiven Gedächtnis in den 1920er Jahren
zeigen sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten auf. Halbwachs argumentierte
seine Theorie von der sozialen Dimension und Wartburg von der materiellen Dimension
her. Die Gemeinsamkeit beider Konzeptionen liegt in der Erkenntnis, dass „Kultur und
ihre Überlieferung Produkte menschlicher Tätigkeit sind.“16
9
Vgl. ebd., S. 17.
Vgl. ebd., S. 19.
11
Vgl. ebd., S. 21.
12
Vgl. ebd., S. 19.
13
Ebd., S. 19.
14
Ebd., S. 19.
15
Vgl. ebd., S. 20 f.
16
Ebd., S. 21.
10
6
Heute gelten Halbwachs’ und Warburgs Schriften als zentrale Grundlegungen der
Theoriebildung zum kollektiven Gedächtnis. Ihre Untersuchungen gaben den Anstoß zu
weiteren Diskussionen um das kollektive Gedächtnis.
Halbwachs’ und Warburgs Konzeptionen fanden zur Zeit der Entstehung wenig Gehör.
Erst in den 1980er Jahren wurden interdisziplinär und kulturwissenschaftlich
ausgerichtete Untersuchungen zum Gedächtnis als kollektiv bedingtes oder Kultur
konstituierendes und kontinuierendes Phänomen weiter aufgenommen. Eines der
einflussreichsten Konzepte im Bereich der Gedächtnisforschung wurde durch den
französischen Historiker Pierre Nora entwickelt. Er verfasste ein monumentales
siebenbändiges Werk Les lieux de mémoire, in dem er darauf hinweist, dass Gedächtnis
und Geschichte unterschiedlich gesehen werden. Für seinen Untersuchungsgegenstand
galten ‚Erinnerungsorte’, die er als geografische Orte, Gebäude, Denkmäler, historische
Persönlichkeiten, Gedenktage, philosophische und wissenschaftliche Texte bezeichnet.
Nach Nora gibt es kein Milieu für das kollektive Gedächtnis. Er beschäftigte sich
deswegen mit den Orten, die Kultur vermitteln. Er stellte fest, dass das natürliche
kollektive Gedächtnis nicht mehr vorhanden ist, weil sich die Bedingungen geändert
haben. Nach Halbwachs’ Theorie können Erinnerungsorte nicht ein kollektives
Gedächtnis entwickeln. Nach Nora kann das nationale Gedächtnis kollektiver Identität
dienen. Er geht davon aus, dass die französischen Erinnerungsorte im 19. Jahrhundert
ihren
Ursprung
haben.
Es
gab
z.B.
in
Frankreich
viele
Menschen
mit
Migrationshintergrund. In solch einem Milieu kann das kollektive Gedächtnis nicht
vermittelt worden. Im 20. Jahrhundert nahm jedoch die Gesellschaft eine völlig andere
Struktur an. Für Nora ist „die heutige Gesellschaft in einem Übergangsstadium, in dem
die Verbindung zur lebendigen, nationalspezifischen, identitätsbildenden Vergangenheit
abreißt.“17 So gelten Erinnerungsorte als Platzhalter für das kollektive Gedächtnis, das
nicht mehr vorhanden ist. Das Werk Les lieux de mémoire von Nora wird als eine
Sammlung von Aufsätzen über Elemente der französischen Kultur bezeichnet, die „kein
verbindliches Gesamtbild der Erinnerung ergeben.“18 Jeder Mensch trifft seine eigene
Auswahl aus dem Angebot der Erinnerungsorte. Nora stellt Erinnerungsorte als Zeichen
dar, die nicht nur auf Ereignisse der französischen Vergangenheit, sondern zugleich
immer auch auf das abwesende lebendige Gedächtnis verweisen. Bei seinen
Überlegungen stellte Nora auch fest, was für Voraussetzungen ein Ereignis oder
17
18
Ebd., S. 23.
Ebd., S. 23.
7
Gegenstand besitzen muss, um als Erinnerungsort bezeichnet zu werden. Auf diese
Weise unterschiedet er drei Dimensionen der Erinnerungsorte: eine materielle, eine
funktionale und eine symbolische.19
Ende der 1980er haben Aleida und Jan Assmann den Begriff des kulturellen
Gedächtnisses analysiert, das viele wissenschaftliche Disziplinen verbindet, wie z. B.
Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie.
Da kommunikatives und kulturelles Gedächtnis sich voneinander unterscheiden,
gliederten Jan und Aleida Assmann dieses Phänomen in zwei ,Gedächtnis-Rahmenʼ20:
das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis
hängt mit der Alltagskommunikation zusammen und bezieht sich auf einem begrenzten
Zeitraum von ca.80 bis 100 Jahren.21 „Die Inhalte des kommunikatives Gedächtnisses
sind veränderlich und erfahren keine feste Bedeutungszuschreibung. Jeder gilt als gleich
kompetent, die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern und zu deuten.“22 Bei dem
kulturellen Gedächtnis handelt es sich um feste Ereignisse, die weit zurückliegen,
gruppenspezifisch sind und selektiv konserviert werden. Dieses Gedächtnis beeinflusst
soziale Gruppen und denen Identitätsbildung durch traditionelle und symbolische
Vermittlung der Vergangenheit, die durch Worte, Bilder, religiöse Handlungen, Rituale,
Bauwerke, Literatur, Musik. Das Gedächtnis ist an der Gegenwartsperspektive
gebunden
und
wird
von
Spezialisten, wie
z.B.
Priester,
die
verbindliche
gruppenbezogene Werte und Inhalte zu vermitteln versuchen, gefestigt. Das kulturelle
Gedächtnis ist auch reflexiv, weil es sich kritisch auf sich selbst und auf das Selbstbild
der jeweiligen Gruppe bezieht. Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen
Gedächtnis wird in literalen Gesellschaften durch Medien, wie Literatur und Filme,
unterstützt. Das Gedächtnis lebt durch die Interaktion und Kommunikation nur im
sozialen Netz, weil man nur das erinnert, was man kommuniziert.
Jan Assmann unterscheidet ,die rituelle Kohärenz oraler Kulturenʼ und ,die textuelle
Kohärenz skripturaler Kulturenʼ. Die oralen Kulturen basieren auf der Mündlichkeit.
Die skripturalen Kulturen beziehen sich auf das Prinzip der Schriftlichkeit. Weiter
unterscheiden Jan Assmann ,heißeʼ und ,kalte Kulturenʼ.23 „Das Gedächtnis heißer
Kulturen beruht auf Mythen im Sinne von Geschichten über eine gemeinsame
19
Vgl. ebd., S. 24.
Vgl. ebd., S. 27.
21
Vgl. ebd., S. 28.
22
Ebd., S. 29.
23
Vgl., ebd., S. 30.
20
8
Vergangenheit, die Orientierung in der Gegenwart und Hoffnung für die Zukunft bieten.
Beispiele für kalte Kulturen sind das alte Ägypten oder das mittelalterliche
Judentum.“24 Aleida Assmann stellt noch andere Unterscheidung dar. Sie sondert
,Gedächtnis als arsʼ und ,Gedächtnis als visʼ heraus. ,Gedächtnis als arsʼ magaziniert
Wissen und Informationen, die in jedem Moment in gleicher Form ins Gedächtnis
zurückzuführen werden können. Das ,Gedächtnis als visʼ hat eine transformierende
Wirkung. Es trägt zur Bewusstseinsveränderung der Menschen im Laufe der Zeit bei.
Erinnerungen können rekonstruiert werden sowie können ins Vergessen geraten.25
Das Speichergedächtnis ist jedoch auch wichtig, weil es viele Informationen enthält, die
im Laufe der menschlichen Entwicklung in das Funktionsgedächtnis übergehen können.
Das kulturelle Gedächtnis ist also nach diesem Konzept prozesshaft und kann sich
verändern.
Im Jahr 1997 wurde an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit Förderung der
deutschen
Forschungsgemeinschaft
der
Sonderforschungsbereich
434
,Erinnerungskulturenʼ gegründet. Als Untersuchungsgegenstand werden Inhalte und
Formen kultureller Erinnerung betrachtet. Der Mitglieder der Sonderforschungsbereich
haben sich ,eine konsequente Historisierung der Kategorie der historischen
Erinnerungʼ26 zum Ziel gesetzt. In den Vordergrund dieses Konzepts rückt dabei
„Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und vor allem die Pluralität der kulturellen
Erinnerung.“27 Die Mitglieder der Sonderforschungsbereich haben ein Modell geschafft,
um kulturelle Erinnerungsprozesse beschreiben zu können. Der Modell besteht aus drei
Ebenen. Die erste Ebene bestimmt die Rahmenbedingungen, die durch die folgenden
Faktoren bestimmt sind:
 Die Gesellschaftsformation: eine bestimmte Gruppe von Menschen, die sich an
etwas erinnert (z.B. offene oder geschlossene Gesellschaft)
 Die Wissensordnung: Rechte und Pflichte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt
gelten.
 Die Zeitbewusstsein: verändert sich durch Entwicklungsprozesse.
 Die Herausforderungslage: ein Wendepunkt im gesellschaftlichen Leben, der die
Bewusstseinsveränderungen prägt.28
24
Ebd., S. 30.
Vgl. ebd., S. 31.
26
Vgl. ebd., S. 34.
27
Ebd., S. 34.
28
Vgl. ebd., S. 34 ff.
25
9
„Die zweite Ebene geht es um ,die Ausformung spezifischer Erinnerungskulturenʼ“29
und umfasst vier Faktoren:
 Die Erinnerungshoheit in der Gesellschaft, also ein Erinnerungsehrenvorsitz.
 Die
Erinnerungsinteressen
unterschiedlicher
Gesellschaftsformationen,
die
verschieden sind, sich durchdringen, sich überschneiden und miteinander in
Wettbewerb treten können.
 Die Erinnerungstechniken, d. h. auf welche Art und Weise die Menschen die
Vergangenheit weitergeben.
 Die Erinnerungsgattungen: Formen der Präsentation der Geschichte wie z. B. ein
Geschichtsfilm oder historischer Roman.30
Die dritte Ebene beleuchtet „die Äußerungsformen und Inszenierungsweisen des
vergangenheitsbezogenen Sinns bzw. das konkrete Erinnerungsgeschehen”31 :
 Die Begriffe „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ sind nicht identisch. Das Gedächtnis
wird hier als „eine diskursive Formation”32 und die Erinnerung als „Abruf und
Neukonstitution von Wissen über die Vergangenheit”33 verstanden.
 Der „Typus der Erinnerungsarbeit”.
 Die Vergangenheit als das selbsterlebte Geschehen und als vermittelte
Information.34
2.2 Literatur und Geschichte – zur deutsch-polnischen Perspektive auf den
Vertreibungskomplex
Das Thema des Heimat – Verlustes und der Topos der ‚verlorenen Heimatʼ steht nach
1945 im Zentrum öffentlicher Debatten. In der Wissenschaft gibt es vielfältige
Auffassungen zum Begriff ‚Heimatʼ. Dem Grimmschen Wörterbuch nach bedeutet
‚Heimatʼ 1) das Land oder auch nur den Landstrich, in dem man geboren ist oder
bleibenden Aufenthalt hat, 2) den Geburtsort oder ständigen Wohnort, 3) selbst das
elterliche Haus und Besitztum, 4) in freier Anwendung: a) dem Christen ist der Himmel
29
Ebd., S. 35.
Vgl. ebd., S. 35.
31
Ebd., S. 35.
32
Ebd., S. 35.
33
Ebd., S. 36.
34
Vgl. ebd., S. 35.
30
10
der Heimat, b) dichterisch, c) Redensarten.35 Heimat ist nicht nur das Land, mit dessen
historisch-kulturellen Erbe sich der Mensch identifiziert, nicht nur die Landschaft, in
der er geboren und erzogen wird, nicht nur Sitz der Vorfahren, Elternhaus, Gut, Besitz,
nicht nur das Terrain, das die psycho-physische Entwicklung des Menschen beeinflusst,
sondern auch die menschliche Gemeinschaft, die die Entfaltung seiner Persönlichkeit
steuert, ‚das innere Miteinanderseinʼ. Oft wird Heimat als Mother- oder Vaterland
verstanden.36 Stanisław Ossowski z. B. definiert den Begriff ‚Heimatʼ wie folgt:
Heimat ist kein geografischer Begriff, der sich ohne Bezug auf die psychische Haltung
einer Gemeinschaft charakterisieren lässt. Ein Gebiet wird zur Heimat nur, wenn es eine
Menschengruppe gibt, die einen bestimmten Bezug zu ihm hat und sein Bild auf eine
bestimmte weise gestaltet. Dann gewinnt jener Außenwirklichkeitsbereich bestimmte
eigenartige Werte, die ihn zur Heimat machen. 37
Der Begriff ‚Heimatʼ wird immer aktuell, wo irgend Bevölkerungen in Massen
emigrieren müssen oder vertrieben werden. So wird er nach dem Zweiten Weltkrieg,
nach dem Niedergang des Dritten Reiches, aktuell, wenn Millionen von Deutschen aus
den Ostgebieten ausgesiedelt wurden und eine Art von Sicherung verloren haben.38
Erzwungene Migrationen und der ‚Vertreibungskomplexʼ gehören - so wie spätere
Umgang mit dieser traumatischen Vergangenheit - zu den Folgen des Zweiten
Weltkrieges.39 Die aus den Ostgebieten Ausgesiedelten haben ihre Heimat, ihr Gut, ihre
Wurzeln verloren – ihre Sozialkultur.40 Włodzimierz Borodziej und Klaus Ziemer
schreiben in der Einleitung Deutsch-polnische Beziehung 1939 – 1945 – 1949
Folgendes:
[…] es hat nach dem 8. Mai 1945 kein Ende der Geschichte und nicht einmal eine
Unterbrechung gegeben. In dem neuen Polen, das fast die Hälfte seines Staatsterritoriums
im Osten (180.000 km2) an die Sowjetunion abtreten musste und in Postdam mit 103.000
km2 deutscher Ostprovinzen entschädigt wurde, lebten im Sommer 1945 wahrscheinlich
etwa fünf Millionen Deutsche bzw. deutsche Staatsbürger. Die Geschichte der Verdrängung
der Mehrheit dieser Menschen aus ihrer bisherigen Heimat, die nun zum Westen und
Nordosten Polens geworden war, stellte eine Konsequenz des Zweiten Weltkriegs dar. Sie
gehört daher ebenso in den Rahmen der Darstellung der Folgen dieses Krieges wie der
damalige und spätere Umgang mit dieser traumatischen Vergangenheit, der heute
zutreffend als ‚Vergangenheitspolitikʼ bezeichnet wird.41
35
Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 10, München 1991, S. 864 ff.
Mazurkiewicz, Jolanta: Zwischen deutsch-polnischem Grenzland und verlorener Heimat. Frankfurt am
Main: Peter Lang Verlag 1998, S. 22. Wcięcie na linijce dla lepszej widoczności przypisu –
ujednolicić!
37
Vgl. Ossowski, Stanisław: Analiza socjologiczna pojęcia ojczyzny. In: Dzieła, t. III. Warszawa 1967, S.
203.
38
Vgl. Mazurkiewicz, Jolanta: Ebd., S. 36.
39
Vgl. Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Wrocław/Dresden: Neisse
Verlag 2007, S. 39.
40
Vgl. Mazurkiewicz, Jolanta: Ebd., S. 28.
41
Borodziej, Włodzimierz/ Ziemer, Klaus (Hg.): Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949. Eine
Einführung. In: Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. S. 39 f.
36
11
Durch die Aussage von Borodziej und Ziemer wird herausgestellt, dass die historischen
Ereignisse und Vorgänge des Heimatverlustes nicht isoliert betrachtet, sondern im
historischen und kontextualisierenden Umfeld dargestellt werden sollten.42 Bei dem
Heimatverlust-Komplex ist es für die deutsche und polnische Mentalitätsgeschichte
wichtig,
dass
„die
Vertreibungen
und
Zwangsausweisungen
der
polnischen
Zivilbevölkerung aus dem ehemaligen Osten Polens um die Vertreibung und
Zwangsausweisung der deutschen Zivilbevölkerung aus den ehemaligen deutschen
Ostprovinzen
infolge
des
Zweiten
Weltkrieges
ergänzt
werden.“43
Der
‚Vertreibungskomplexʼ ist ein guter Beispiel für Erinnerungskulturen, die sich teilweise
um den Besitz von Vergangenheit in Konkurrenz befinden. Das zeigt, dass keine
homogene Erinnerungskultur im Sinne des geschlossenen Konzeptes vorhanden ist,
sondern nur konkurrierende Erinnerungskulturen. Das Vorhandensein konkurrierender
Erinnerungskulturen ist eine Voraussetzung für die Modifizierung des sozialen und
kulturallen Gedächtnisses.44 Auf diese Weise unterliegt die Geschichtskultur einem
Wandel.
Die Heimatproblematik wurde zu einem relativ häufigen Thema in der deutschen
Literatur der Nachkriegsjahre. Sie stellt Schicksale und Haltungen der Einzelnen dar.
Dabei werden sich die Veränderungen erforschen, die im geschichtlichen Bewusstsein
infolge der nach dem Zweiten Weltkrieg sich installierenden gesellschaftlichen und
politischen Ordnung vollzogen werden. Die Nachkriegsliteratur zeigt die Störungen des
gesellschaftlichen Bewusstseins auf.45 Die Vertreibungsliteratur war und ist umfassend,
reichhaltig und vielfältig. Das Thema wird sowohl von den gegenwärtigen deutschen
Schriftstellern (u. a. Günter Grass, Olaf Müller, Reinhard Jirgl, Artur Becker) als auch
von den polnischen Schriftstellern (u.a. Leonie Ossowski, Piontek, Janosch, Dąbrowski)
aufgegriffen. Jörg Bernard Bilke berichtete, dass im Jahre 2003 auf der Leipziger
Buchmesse acht neue Titel zu diesem Thema zu entdecken waren, davon fünf Romane
aus der Enkelgeneration.46 Im Jahre 2003 erschienen u. a. Olaf Müllers Roman
Schlesisches Wetter und Reinhard Jirgls Die Unvollendeten. Bodo Heimann wies
nämlich in einem leitenden Überblick über Das Schicksal der Vertreibung in der
deutschen Nachkriegsliteratur darauf hin, dass sich etwa 100 deutsche Autoren mit dem
42
Vgl. ebd., S. 40.
Ebd., S. 40.
44
Vgl. ebd., S. 41.
45
Vgl. Mazurkiewicz, Jolanta: Ebd., S. 10.
46
Vgl. http://www.wikipedia.de/ Stand: 10.09.09
43
12
Thema befasst haben.47 „Das Phänomen der verlorenen Heimat ist jedoch in der
Literatur auf verschiedene Art und Weise thematisiert worden. Sie findet ihre Erklärung
in dem politischen Klima, in der Negierung der Erinnerung an die ehemaligen
deutschen Ostgebiete.“48 Das Phänomen der verlorenen Heimat greift Olaf Müller in
dem analysierenden Buch Schlesisches Wetter auf, in dem er deutsch-polnische
Beziehungen
darstellt.49
Müllers
Werk
gehört
zu
der
sogenannten
‚Vertreibungsliteraturʼ. Das ist ein Roman über Flucht und Vertreibung nach dem
Zweiten Weltkrieg aus Schlesien. Das Schicksal der Vertriebenen, die im und nach dem
Zweiten Weltkrieg aus dem Ostgebieten flohen, erfährt seit einigen Jahren immer
stärker öffentliche Aufmerksamkeit.50 Die Hauptfigur des Romans - Aleksander
Schynoski fährt in das schlesische Dorf, aus dem seine Familie stammt und wird dort
mit den Folgen der Vertreibung und dem heutigen Polen konfrontiert. In Schynoskis
Familiengeschichte spiegelt sich bruchstückhaft deutsche Nachkriegsgeschichte wider.
Müllers Roman gehört zu den Büchern, die als ‚Erinnerungsliteraturʼ gekennzeichnet
werden. Das Buch zeichnet die Erinnerung an die Erinnerung auf. In dem analytischen
Teil dieser Arbeit wird das Phänomen ‚Heimatʼ und der ‚verlorenen Heimatʼ und der
Art und Weise der Darstellung der Polen und Polens besprochen. Darüber hinaus wird
der Versuch unternommen, das literarische Bild einer Nation ‚im Spiegel der Literatur
einer anderen Nationʼ51 darzustellen. Gemeint ist das Bild von Polen in der deutschen
Nachkriegsliteratur, die die Frage der Heimat und der verlorenen Heimat betrifft. Um
die analysierten Aspekte genauer zu veranschaulichen, werden die angeführten
Probleme mit zahleichen Zitaten bzw. Anmerkungen und Verweisungen auf die
entsprechenden Textstellen versehen.
2.3 Komparatistische Imagologie und Stereotypenforschung
Die Rolle der Literatur in der Gesellschaft wird von Schriftstellern, Kritikern und
Literaturwissenschaftlern unterschiedlich gesehen. Vor der Analyse der einzelnen
Werke werden Möglichkeiten einer theoretischen Annäherung an das Problem der
47
Vgl. http://www.wikipedia.de/ Stand: 10.00.09
Mazurkiewicz, Jolanta: Ebd., S. 10.
49
Vgl. ebd., S. 9.
50
Vgl. ebd., S. 8 ff.
51
Ebd., S. 14.
48
13
Wahrnehmung des Fremden erörtert. Sozial- und literaturwissenschaftliche Ansätze wie
Stereotypenforschung, komparatistische Imagologie werden in diesem Kapitel kurz
vorgestellt, um die Vielfalt der Theorien und Betrachtungsperspektiven zu zeigen.
Die Literatur hat eine besondere Rolle bei der Entstehung und Tradierung von
Fremdenbildern.
Das
hat
dazu
geführt,
dass
sich
im
Rahmen
der
literaturwissenschaftlichen Komparatistik in der Mitte des 20. Jahrhunderts die
komparatistische
Imagologie
als
eine
der
jüngsten
Forschungsgebiete
herauskristallisierte. Diesen Vorgang beschreibt Angelika Cirbineau-Hoffmann in ihrem
Buch Einführung in die Komparatistik. Stereotypen sind nämlich relativ starre,
überindividuell geltende Vorstellungsbilder. Diese beziehen sich auf Nationen, Ethnien,
Rassen, soziale Gruppen, Religionen und Regionen.52 Imagologie wird meistens als
literaturwissenschaftliche Disziplin gesehen und oft mit der literarischen Komparatistik
in Verbindung gebracht. Der imagologische Aspekt betrifft vor allem Vorstellungen von
anderen Völkern, insofern sie in der Literatur oder in anderen Dokumenten festgehalten
worden sind. Imagologie enthält Vorurteile und Stereotype, die im gesellschaftlichen
Bewusstsein existieren.53 Ein zeitgenössischer belgischer Theoretiker der Imagologie,
Hugo Dyserinck, knüpft dabei an die französische Forschungstradition an, wonach
unterschieden werden muss zwischen dem Vorstellungstyp ,images’ und den ,mirages’.
Letztere kennzeichnet eine besonders illusionäre Abweichung von der Wirklichkeit.54
Zu dieser Traditionsrichtung gehören auch sowjetische Literaturwissenschaftler,
besonders Viktor Žirmunskijs und Michail Chrapczenkos, deren typologische Methode
die Abhängigkeit literarischer Urteile von historischen und gesellschaftlichen Analogien
im Leben verschiedener Völker aufgezeigt hat.55 Die Aufgaben der Imagologie sind
unter anderen vom westdeutschen Forscher Manfred Fischer formuliert worden. Nach
seiner Auffassung geht es in dieser Disziplin keineswegs um die Erarbeitung der so
genannten Nationalcharaktere, weil ihre Existenz illusionär ist und weil Merkmale, die
manchmal als nationale Eigenschaften angesehen werden, in der Regel Zweifel und
Kontroverse hervorrufen. Daher soll die Falsifikation imagologischer Erscheinungen als
Hauptziel betrachtet werden, unter Berücksichtigung ihrer Entstehung, Einwirkung und
52
Vgl. Cirbineau-Hoffmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik. Köln. Schmidt Erich Verlag
2004, S. 97.
53
Vgl. Klin, Eugeniusz: Deutsch-polnische Literaturbeziehungen. Köln, Wien. 1988, S. 153.
54
Vgl. Dyserinck, Hugo: Zum Problem der “images” und “mirages” und ihrer Untersuchung im
Rahmen der vergleichenden Literaturwissenschaft.
In: Klin, Eugeniusz: Deutsch-polnische
Literaturbeziehungen. Köln 1988, S. 107.
55
Vgl. Klin, Eugeniusz: Ebd., S. 153.
14
gesellschaftlichen
Funktionen.56
Angesichts
des
verbreiteten
Auftretens
von
imagologischen Symptomen schlägt der ungarische Komparatist Jảnos Riesz vor, deren
Erforschung nicht auf literarische Werke zu beschränken, sondern ebenfalls die Presse
und Literaturkritik sowie andere Dokumente des gesellschaftlichen Bewusstseins
imagologisch zu erfassen.57 Diese skizzierten Aufgaben der Imagologie werden im
weiteren Teil der Arbeit am Beispiel Olaf Müllers Schlesisches Wetter überprüft und
veranschaulicht.
2.3.1 Zum Begriff ‚Stereotyp’
In der Wissenschaft gibt es vielfältige Auffassungen zum Begriff ‚Stereotyp’.
Stereotype sind Bilder in unseren Köpfen. Das sind Bilder zu bestimmten Personen,
Nationen oder Phänomenen. Mit stereotypen Sprüchen ersetzt man oft das Unwissen
und den Mangel an Erfahrungen. Je weniger eigene Erfahrungen man hat, desto mehr
neigt man zu Stereotypen. Je erfahrener man ist, desto mehr zieht man die eigene
Meinung vor.
Viele Sozialwissenschaftler beschäftigen sich mit der Stereotypenforschung. Die
Bezeichnung ‚Stereotyp’ wird aber von ihnen unterschiedlich verstanden und beurteilt.
In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat Walter Lippmann in seiner frühen
Untersuchung die Bildung von Stereotypen mit einer ,Ökonomie des Denkens’ mit
notwendigen Verallgemeinerungen und Klassifizierungen verbunden.58 Lippmann
versteht Stereotype als „Bilder in den Köpfen“, die sich der Mensch von der Welt außer
seiner Reichweite macht.59 Er „stellt die Bildung von Stereotypen als ein rationelles
Verfahren des Individuums zur Reduktion der Komplexität seiner realen Umwelt dar.“60
Seit seinen Untersuchungen ist allgemein anerkannt, dass die Stereotype hauptsächlich
eine psychologische und keine das Wissen fördernde Funktion haben. Seine Theorie ist
von Niklas Luhmann weiterentwickelt worden. Ein anderer Sozialwissenschaftler, Hans
Hennig Hahn, fasst dagegen Stereotype vor allem als Integrationsfaktoren, als
56
Ebd., S. 154.
Vgl. Riesz, Jảnosz: Zur Omnipräsenz nationaler und ethnischer Stereotypen. In: Komparatistische
Hefte,1., Mainz 1980, S. 3 ff.
58
Vgl. Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung. München 1964 (engl. Public Opinion, New York
1922), S. 67.
59
Ebd., S. 27.
60
Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. völlig neu bearbeitete Auflage, Band 26, Leipzig·
Mannheim F.A.: Brockhaus, 2006, S. 431.
57
15
identitätsstiftende Elemente. Er begreift die Stereotypenforschung als eine Art
„Brückenschlag“
zwischen
Mentalitätsgeschichte,
Politikgeschichte,
Nationalismusforschung und der Geschichte interkultureller Kontakte. Stereotypen sind
keine Spiegelungen der Welt. Sie stellen selbst aufgrund ihrer Existenz in den Köpfen
der Menschen und in zwischenmenschlichen Beziehungen eine gesellschaftliche
Realität dar.61 Nach dieser Auffassung sind Stereotype „Grundlagen menschlicher
sozialer Existenz“ und sollen als ein relevanter Wirkungsfaktor betrachtet und
untersucht werden.62 Psychologisch betrachtet ist der Begriff ‚Stereotyp’ eine „häufige,
in Form und Inhalt gleichartig motorische oder sprachliche Äußerung eines
Individuums.“63 In der Sozialpsychologie werden damit Vorstellungen gemeint, die
„eine Gruppe von sich oder anderen Auffassungen, die innerhalb einer Gruppe eine
relativ geringe Streuung aufweisen und deshalb für diese Gruppe charakteristisch
sind.“64 Stereotypen können als Auto-Stereotypen (als Selbstbild oder Auffassung über
die eigene Gruppe auftreten) oder als Hetero-Stereotypen (als Fremdbild, als
Auffassung über Fremdgruppen oder als Bild vom anderen). 65 „Stereotype
Vorstellungen
von
sich
selbst
und
von
anderen
sind
von
daher
auch
wahrnehmungsprägende Schemata, sie sind schwer beeinflussbar und damit von langer
Dauer.“66 Von „Stereotypen der langen Dauer“ spricht Hubert Orłowski. In seinem
Buch Die Lesbarkeit von Stereotypen spricht er davon, dass der kognitive Status von
Stereotypen als eine Bewussteinsform im allgemeinen Sprachgebrauch definiert wird
und führt zur Vereinfachung der Wirklichkeit. Diese Einstimmigkeit schwindet
allerdings, sobald einzelne Vertreter den Rang, die Tragweite und den Charakter dieser
Vereinfachung zu bestimmen versuchen. Orłowski gibt auch einige Definitionen von
Stereotypen an. Im populärwissenschaftlichen Lexikon The Fontana Dictionary of
Modern Thought wird der Terminus wie folgt definiert: „Ein Stereotyp ist „ein
vereinfachtes Denkbild (von) einer bestimmten Kategorie von Menschen, Institutionen
oder Ereignissen, das – betreffs der wichtigsten Merkmale – von einer großen Anzahl
von Menschen geteilt wird. Stereotype werden von Vorurteilen begleitet, d. h. von
61
Vgl. Hahn, Hans Henning: Einleitung. In: Hahn,
Hans Henning (Hg.): Historische
Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Oldenburg 1995, S. 12 ff.
62
Vgl. ebd., S. 191.
63
Clauß, Günter (Hg.): Wörterbuch der Psychologie. VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1981, S.
254.
64
Ebd., S. 254.
65
Vgl. ebd., S. 254.
66
Zimniak, Paweł: Nachbarn literarisch. Zu Polenbildern in der neuesten deutschen Literatur. In:
Kolago, Lech (Hg.): Studien zur Deutschkunde. Warszawa 2007, S. 197.
16
positiven oder negativen Stellungen gegenüber einem jeden Mitglied, das zu der
jeweiligen Kategorie gezählt wird.“67 Die populäre Encarta Enzyklopädie Professional
2003 definiert den Begriff ‚Stereotypʼ als die Verewigung eines vereinfachten Bildes
einer Kategorie von Personen, Institutionen oder Kulturen. Dieser Ausdruck hat jedoch
auch eine negative Bedeutung.68 „Es degradiert das individuelle Denken zur Repetition
vorgeformter Auffassungen, die sich der kritischen Beurteilung verweigert. Es ist eng
mit dem Vorurteil verbunden“.69 Das Große Wörterbuch der Deutschen Sprache gibt
an, unter ‚Stereotyp’ ein „vereinfachendes, verallgemeinerndes, stereotypes Urteil,
unhaltbares Vorurteil über sich oder andere oder eine Sache; festes, klischeehaftes
Bild“70 zu verstehen. Generell ist das ,Stereotyp’ als eine Bewusstseinsform zu
verstehen, die der Erfahrung grundsätzlich fern steht.71 „Daher wird auch der
individuellen Wahrnehmung der Umwelt eine geringere Bedeutung zugemessen als
der gesellschaftlichen Überlieferung, der Tradition. Umso stärker wird der Charakter
der subjektiven Selbstverständlichkeit herausgehoben.“72 Den Begriff ‚Stereotyp der
langen Dauer’ führte ein polnischer Sprachwissenschaftler Marcin Kula ein, darin dem
Schöpfer des Interpretationsmodells ,la longue durée’, Fernand Braudel, folgend.73
Bestimmte ,Stereotype’ werden von Kula zu den Strukturen der langen Dauer gezählt.
„Die Strukturen der ,langen Dauer’ werden von Überlagerungen der Folgen historischer
Vorkommnisse gebildet, die viel dauerhafter sind als die Ursachen, auf die sie
zurückzuführen sind.“74 Die Untersuchung von ‚Stereotypen der langen Dauer’ haben
gezeigt, dass ihre Beschaffenheit nicht darin liegt, dass sie lange und in praxi
ununterbrochen funktionieren, sondern dass sie in jedem geeigneten Moment wieder
zum Leben berufen werden können.75 Diese Beobachtung lässt sich auf das Stereotyp
‚polnische Wirtschaft’ ‚Opfer-Stereotyp’ und das Stereotyp der ¸schönen Polin’
übertragen.
Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. Wrocław-Görlitz: Neisse Verlag 2005, S. 14.
Vgl. Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003© 1993-2002 Microsoft Corporation . In:
Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. S. 14.
69
Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003© 1993-2002 Microsoft Corporation . In:
Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. S. 14.
70
© 2000 Dudenverlag, Sat_Wolf, Bayern. In: Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. S. 14.
71
Vgl. Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. S. 14.
72
Ebd., S. 14 ff.
73
Vgl. ebd., S. 148.
74
Ebd., S. 148.
75
Vgl. ebd., S. 18 ff.
67
68
17
Die Auffassungen und Überlegungen zu diesen Begriffen werden in dem nächsten Teil
dieses Kapitels dargestellt. Es werden auch ausgewählte Polen-Bilder bzw. Stereotypen
in historischer Sicht gezeigt.
2.3.2 Polenbilder in der deutschen Literatur
Literarische Texte lassen eine Untersuchung von konstruierten Vorstellungen über das
Eigene und das Fremde als sinnvoll erscheinen. Die historische Verortung
polenbezogener Stereotype ist eng in historischer Perspektive mit einer Komprimierung
verbunden. In Auseinandersetzung mit der Sekundär- und Primärliteratur sind folgende
Polen-Stereotype zu unterscheiden:
1) An der ersten Stelle befindet sich das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ. Es
wird auch als Misswirtschaft verstanden. Hierbei geht es im deutsch-polnischen
Erfahrungsbereich wie in literarischen Texten um Stereotyp ,der langen Dauer’.
Dieses Stereotyp ist fast schon zu einer Kategorie bei der Wahrnehmung von Welt
geworden. Es hat in Abhängigkeit von deutschen Interessen und Bedürfnissen eine
propagandistische Funktion besessen, ist instrumentalisiert worden und diente der
Konstruktion eines Feindbildes.76 Die Funktion dieses Stereotyps ließe sich am
besten mit dem Begriff ¸Makrodefinition’ umschreiben. Das moderne deutsche Bild
Polens und der Pole stehen in einem festen Bezugssystem zu dem Begriff
,polnische Wirtschaft’. „Gemeinsam mit den Begriffen wie ‚Unregierbarkeit’,
‚Anarchie’ und dem so genannten ‚polnischen Reichstag’ erfüllt die ‚polnische
Wirtschaft’ gelegentlich die Funktion einer regionalhistorischen Metapher.“77 Die
semantische Sozialisation dieses Stereotyps ist auf historische Prozesse des 18. und
19. Jahrhunderts und auf folgende Faktoren zurückzuführen: a) „das Stereotyp ist
mit dem Ende der polnischen Biographie des polnischen Staates (der
Adelsrepublik) entstanden. Es ist b) in den Prozess der Entstehung der
Nationalstaaten eingebettet und hängt c) mit der Modernität des Begriffs
,Wirtschaft’ zusammen.“78 Der Kern dieses Stereotyps liegt in der Verurteilung der
unwirksamen
Handels,
der
Machtlosigkeit
also.
Die
Eigenschaft
der
Vgl. Zimniak, Paweł: tu skrócony tytuł, jeśli Pani już cytowała z pelnymi danymi bibliograficznymi –
ujednilicić tez w innych miejsczach, S. 197.
77
Orłowski, Hubert: ., S. 149.
78
Zimniak, Paweł:., S. 198.
76
18
Unordentlichkeit fördert lediglich das unwirksame Handeln. Die heute bereits
klassische Definition des Begriffs ‚Stereotyp’, die von Walter Lippmann stammt,
beschreibt ihn als ‚eine erkenntnis-ökonomische Abwehreinrichtung gegen die
notwendigen Aufwendungen einer umfassenden Datailerfahrung’.79 „Das Stereotyp
,polnische Wirtschaft’ wird, Lippmann folgend, als eine ökonomische ‚Kurzform
des Sich-Orientierens’ begriffen.“80
2) In den vergangenen Jahrhunderten entstand auch das zweite grundlegende PolenStereotyp, das so genannte ,Opfer-Stereotypʼ. Hierbei geht es darum, dass Polen
bzw. die Polen als Opfer gesehen werden. Dieses Stereotyp hat eine historische
Unterlage. Es ist auf folgende Faktoren zurückzuführen: a) im 18. Jahrhundert drei
Teilungen Polens, in Konsequenz verschwindet Polen im Jahre 1795 von der
politischen Landkarte und b) der einsetzende Kampf gegen die Fremdherrschaft,
der bis 1918 andauerte.
In diesen Zeiten gehörten Polen nie zu denen, die
Geschichte machten. Sie waren immer auf der Seite der Verlierer, die Geschichte
zu erdulden hatten. Vor allem die Lyrik des Vormärz hat im Zusammenhang mit
dem Freiheitskampf der Polen eine Art Polenbegeisterung ausgedrückt und dabei
das polnische Volk gleichzeitig als Opfer gesehen.81
3) Das dritte maßgebliche Stereotyp bezieht sich auf das Stereotyp der ‚schönen
Polin’. Dieses Stereotyp wird im historischen Kontext des Nationalitätenstreits
verortet und mit dem Imagotyp der polnischen Frau als Patriotin und ¸Mutter aller
Rebellion’ verbunden.82 Das Bild der ‚schönen Polin’ wiederholt sich in vielen
Werken der deutschen Gegenwartsliteratur. Die deutschen Schriftsteller erblicken
die polnischen Frauen sehr schön und entwerfen ihr Bild als ‚Weichsel- Aphrodite’.
Es wurden drei Stereotype der ‚langen Dauer’ herausgestellt. Das Wesen dieser
Stereotype liegt darin, dass sie in jedem geeigneten Moment wieder zum Leben gerufen
werden können. In dem nächsten Teil der Arbeit wird die Frage gestellt, inwieweit die
historisch herausgestellten Stereotype über Polen und die Polen in der deutschen
Gegenwartsliteratur eine Rolle spielen. Bezug genommen wird auf das Buch Olaf
Müllers Schlesisches Wetter. Durch die Analyse dieses Buches wird herausgestellt,
Vgl. Orłowski, Hubert: Ebd., S. 151.
Ebd., S. 151.
81
Vgl. ebd., S. 198.
82
Vgl. Zimniak, Paweł: Ebd., S. 198 ff.
79
80
19
inwieweit der entworfene literarische Polen-Raum stereotypisiert wird oder eben nicht.
Ausgewählte Figuren werden auch herausgestellt und gewertet.
2.4 Literatur in narratologischer Perspektive
Die Erzähltheorie gehört seit den frühen sechziger Jahren zu den zentralen Anliegen der
internationalen Literaturwissenschaft.83 Schon im frühen 20. Jahrhundert beschäftigten
sich viele Literaturwissenschaftler mit dem Begriff ‚Erzähltheorieʼ. Wichtige Beiträge
zur Erzählforschung kamen u. a. von Käte Friedemann, Henry James und Percy
Lubbock. Die deutschsprachige Erzähltheorie erreichte ihren ersten Höhepunkt in den
fünfziger Jahren, als einige der noch heute gelesenen Klassiker der Erzählforschung
veröffentlicht worden sind: Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung (1957), Franz
Karl Stanzels Die typischen Erzählsituationen im Roman (1955) und Eberhard
Lämmerts Bauformen des Erzählens (1955). Sie lieferten wesentliche Impulse für die
weitere, auch die strukturalistische, Erzählforschung und stellten systematische
Beschreibungsmodelle und terminologische Kategorien zur Verfügung. Die Arbeiten
von Lämmert und Stanzel sind bis heute literaturwissenschaftliche Standardtexte. Ihre
Typologien sind auch noch in der deutschen Erzählforschung der Gegenwart aktuell.84
Mit dem Begriff ‚Erzähltheorieʼ beschäftigt sich zurzeit Monika Fludernik, eine
österreichische
Anglistin
und
Literaturwissenschaftlerin.
Sie
hat
ein
Buch
Erzähltheorie. Eine Einführung geschrieben. In ihrem Buch verbindet sie den Begriff
‚Erzähltheorieʼ mit dem international anerkannten Terminus ‚die Narratologieʼ (engl.
narratology, frz. narratologie). Sie spricht davon, dass ‚Erzähltheorie´ die Wissenschaft
vom Erzählen ist. Es handelt sich hierbei um die Untersuchung der Erzählung als
Gattung mit dem Ziel, ihre typischen Konstanten, Variablen und Kombinationen zu
beschreiben. Dabei werden auch die Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften
narrativer Texte innerhalb von theoretischen Modellen (Typologien) thematisiert.85
Fludernik beschreibt auch den Begriff ‚Narratologieʼ. Sie verdeutlicht, dass ‚die
Narratolgieʼ „traditionell eine Unterdisziplin der Literaturwissenschaft gewesen ist und
besonders enge Bindungen an die Poetik und Gattungstypologie sowie die
83
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München.: C.H.Beck 2007, S. 7.
Vgl. Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesselschaft 2008, S. 19 ff.
85
Vgl. ebd., S. 17.
84
20
Literatursemiotik bzw. – semiologie hat.“86 Einerseits befasst sich die Erzähltheorie mit
Gattungsaspekten und andererseits gehört eine historische, typologische und
thematische Betrachtungsweise narrativer Gattungen zu den Grundvoraussetzungen
jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit. Fludernik betont auch, dass die Narratologie
große Ähnlichkeiten mit Poetik und Semiotik aufweist, aber die engsten Beziehungen
unterhält die Erzählforschung mit der Komparatistik und der Textlinguistik.87
2.4.1 Faktuales und fiktionales Erzählen
Die Erzählforschung hat in den letzten Jahren ihre Interessen über die theoretische
Frage „Was ist eigentlich Erzählung?“. In der Literaturwissenschaft gibt es vielfältige
Auffassungen zu diesem Begriff. Fludernik, Martinez und Scheffel beschäftigen sich
mit der Bezeichnung ‚Erzählungʼ. Fludernik erwähnt vielmals diesen Begriff
‚Erzählungʼ in ihrem Buch. Sie weist darauf hin, dass ‚Erzählenʼ eng mit dem Sprechakt
des Erzählens verbunden ist und somit mit der Figur eines Erzählers. 88 Martinez und
Scheffel verstehen hingegen den Begriff ‚Erzählenʼ als „eine Art von mündlicher oder
schriftlicher Rede, in der jemand jemandem etwas Besonderes mitteilt“.89 Sie betonen
auch, dass ‚Erzählungʼ eine Rede ist, wenn diese Rede einen ihr zeitlich voraus
liegenden Vorgang vergegenwärtigt, der als ‚Geschehnisʼ oder ‚Begebenheitʼ bestimmt
werden kann.90 Der Begriff ‚Erzählenʼ ermöglicht Unterschiede in der Verwendung des
Wortes zu benennen, die für eine Theorie des literarischen Erzählens offenbar von
Bedeutung sind. Diese Unterschiede betreffen einerseits den Realitätscharakter dessen,
was erzählt wird, und andererseits die Redesituation, in der eine Erzählung erfolgt.
Erzählungen lassen sich mit Hilfe der Merkmalspaare <real. vs. fiktiv> und <dichterisch
vs. nichtdichterisch> spezifizieren. Die Form der authentischen Erzählung von
historischen Ereignissen und Personen werden als <faktuale> Erzählung bezeichnet.
Der Begriff <faktual> bzw. <authentisch> steht im Gegensatz zu <fiktional> und
bezeichnet den pragmatischen Status einer Rede. Der Begriff <fiktiv> steht im
Gegensatz zu <real> und bezeichnet den ontologischen Status des in dieser Rede
86
Ebd., S. 18.
Vgl. ebd., S. 18 ff.
88
Ebd., S. 10.
89
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 7.
90
Vgl. ebd., S. 9.
87
21
Ausgesagten. Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, in der das reale
Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von
einem realen Leser gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden
werden. Fiktionale Texte sind ebenfalls Teil einer realen Kommunikationssituation, in
der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Der
Autor produziert also Sätze, die zwar <real>, aber <inauthentisch> sind, denn sie sind
nicht als Behauptungen des Autors zu begreifen. Dem fiktiven Erzähler hingegen sind
dieselben Sätze als <authentische> Sätze zuzuschreiben, die aber <imaginär> sind, denn
sie werden vom Erzähler behauptet, jedoch nur im Rahmen einer imaginären
Kommunikationssituation. Durch das reale Schreiben eines realen Autors entsteht so ein
Text, dessen imaginär authentische Sätze eine imaginäre Objektivität schaffen, die eine
fiktive Kommunikationssituation, ein fiktives Erzählen und eine fiktive erzählte
Geschichte umfasst. Die fiktionale Erzählung ist zugleich Teil einer realen wie einer
imaginären Kommunikation und besteht deshalb, je nach Sichtweise, aus realinauthentischen oder imaginär-authentischen Sätzen.91 Der Autor entwirft beim
Schreiben eines Romans die fiktive Welt und produziert gleichzeitig die Geschichte und
den erzählten Diskurs samt Erzähltext. Fludernik definiert ‚Erzählungʼ auch als eine
Selektion. Jede Geschichte ist zudem grundlegend perspektivisch. Die Geschichte verrät
den Blickwinkel des Autors, seine Nationalität und Herkunft, den Hintergrund des
Zeitalters, in dem er schreibt/schieb, und die Geschichte ist auf ein Publikum
zugeschnitten, das gewisse Vorurteile, ideengeschichtliche Überzeugungen und
Erwartungshaltungen hat. Leserinnen und Leser konstruieren aus dem Erzähltext eines
Romans die Geschichte (Figuren, Ort und Handlung, Ereignisse).92
In diesem Kapitel wurden fiktionale (erfundene) und nicht fiktionale Erzählungen
dargestellt. Bezug genommen wird auf das Buch Olaf Müllers Schlesisches Wetter. In
dem analytischen Teil versuche ich hinsichtlich der theoretischen Ansätze auf folgende
Fragen Antworten zu finden, 1) „Wie ist die Erzählung in dem Roman Olaf Müllers
Schlesisches Wetter zu werten, in dem offensichtlich erfundene Figur namens
Aleksander Schynoski die Geschichte seiner Familie erzählt, die an historischen Orten
in Schlesien spielt und eng verflochten ist mit historischen Ereignissen?“ Es ist jedoch
unumstritten, dass der Roman Schlesisches Wetter ein Werk der erzählenden Dichtung
91
92
Vgl. ebd., S. 10 ff.
Vgl. Fludernik, Monika: Ebd., S. 11 ff.
22
ist. 2) Was aber bedeutet das im Hinblick auf die zwei besprochenen Merkmalspaare
<fiktional/ faktual und fiktiv/ real>? Meine Auffassungen und Überlegungen zu diesen
Fragen werden in dem analytischen Teil der Arbeit dargestellt.
2.4.2 Das <Was> und das <Wie> eines narrativen Textes
In diesem Kapitel wird der fundamentale Gegensatz zwischen dem <Wie> und dem
<Was> von Erzählungen dargestellt und der Unterschied zwischen dem erzählerischen
Medium mitsamt den jeweils verwendeten Verfahren der Präsentation einerseits und
dem Erzählten (die Geschichte, die erzählte Welt) andererseits. Beim Lesen eines
narrativen Textes kann der Leser eine bestimmte Einstellung gegenüber dem Text
einnehmen, in der er von den Worten, dem Stil oder den Erzählverfahren absieht, mit
denen ihm die Geschichte vermittelt wird. Die Umstände der Vermittlung treten dann in
der Wahrnehmung zurück zugunsten der erzählten Welt, die der Text beschreibt. In
dieser Einstellung identifiziert der Leser sich mit bestimmten Figuren, nimmt Anteil an
ihrem Schicksal und beurteilt ihr Verhalten. Wenn und solange der Leser eine solche
Lesehaltung einnimmt, konzentriert er sich auf das, <was> ihm erzählt wird, und
blenden die Art und Weise, <wie> die Geschichte vermittelt wird, aus dem Bereich
seiner Aufmerksamkeit aus.93 Die Unterscheidung zwischen dem <Was> und dem
<Wie> eines Erzähltextes wird häufig mit dem Russischen Formalismus formulierten
Gegensatz von <fabula> und <sjužet> in Zusammenhang gebracht. 94 In Theorie der
Literatur (1925) „bestimmte Boris Tomaševskij <fabula> als die Gesamtheit der Motive
in ihrer logischen, kausaltemporalen Verknüpfung und <sjužet> als die Gesamtheit
derselben Motive in derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk
vorliegen.“95 In den sechziger Jahren griff der strukturalistische Erzähltheoretiker
Tzvetan Todorov in Frankreich das Begriffspaar auf und übersetzte es mit <histoire> vs.
<discours>. In Todorovs Definition evoziert die in einem Text erzählte Geschichte
<histoire> eine bestimmte Realität, Ereignisse, die stattgefunden haben, Personen, die,
aus dieser Perspektive betrachtet, sich mit solchen aus dem wirklichen Leben
vermischen. Die Ebene des <discours> wird von Todorov folgendermaßen bestimmt96:
„Es gibt einen Erzähler, der die Geschichte erzählt und es gibt ihm gegenüber einen
93
Vgl. Martinez, Mattias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 20.
Vgl. ebd., S. 22.
95
Edb., S. 22.
96
Vgl. edb., S. 23.
94
23
Leser, der sie aufnimmt. Auf dieser Ebene zählen nicht die erzählten Ereignisse,
sondern die Weise, wie der Erzähler dafür gesorgt hat.“97 In Bezug auf Tomaševskijs
<fabula> und Todorovs <histoire> unterscheidet man die ‚erzählte Weltʼ (oder Diagese)
von dem engeren Begriff ‚der Handlungʼ, der sich nur auf die Gesamtheit der
handlungsfunktionalen Elemente der dargestellten Welt bezieht. Die andere Seite der
Opposition, die Art und Weise der Vermittlung der erzählten Welt, bezeichnet man als
‚Darstellungʼ.98
Im Bereich der Handlung (verstanden als die Gesamtheit der handlungsfunktionalen
Elemente des Erzählens) unterscheidet man vier Elemente:99 1)Ereignis (Motiv). Das
Ereignis oder Motiv ist die kleinste, elementare Einheit der Handlung und wurde als
erzähltheoretischer Terminus vom Boris Tomaševskij definiert. Formal gesehen, sind
Motive nämlich aus Subjekt oder Prädikat zusammengesetzt, wobei als Subjekte
Gegenstände oder Personen und als Prädikate Geschehnis-, Handlungs-, Zustands- und
Eigenschaftsprädikate verwendet werden. Motive, oder Ereignisse können eine
dynamische oder eine statische Funktion haben, je nachdem, ob sich die Situation
verändern oder nicht.100 2) Geschehen. Auf einer ersten Integrationsstufe erscheinen
Ereignisse zu einem Geschehen aneinandergereiht, indem sie chronologisch aufeinander
folgen. 3) Geschichte. Das Geschehen als eine Reihe von Einzelereignissen wird zur
Einheit einer Geschichte integriert, wenn die Ereignisfolge zusätzlich zum
chronologischen auch einen kausalen Zusammenhang aufweist, so dass die Ereignisse
nicht nur aufeinander, sondern auch auseinander folgen. 4) Handlungsschema. Das
Handlungsschema ist ein aus der Gesamtheit der erzählten Ereignisse abstrahiertes
globales Schema der Geschichte, das nicht nur für den einzelnen Text, sondern für
ganze Textgruppen charakteristisch sein kann. Durch die Integration in ein
Handlungsschema erhält die Geschichte eine abgeschlossene (Anfang, Mitte, Ende) und
sinnhafte (z. B. archetypische) Struktur.101
Auf der Seite der ,Darstellung´ unterscheidet man nämlich zwei Aspekte: 5) Erzählung.
Die erzählten Ereignisse in der Reihenfolge ihrer Darstellung im Text. Die Erzählung
unterscheidet sich von der chronologisch rekonstruierten Handlung vor allem durch die
Gestaltung und zeitliche Umgruppierung der Ereignisse im Text (Erzähltempo,
97
Ebd., S. 23.
Vgl. ebd., S. 24.
99
Vgl. ebd., S. 25.
100
Ebd., S. 122.
101
Vgl. ebd., S. 25.
98
24
Rückwendung, Vorausdeutung).102 6) Erzählen. „Die Präsentation der Geschichte und
die Art und Weise dieser Präsentation in bestimmten Sprachen, Medien (z. B. rein
sprachliche oder audio-visuelle) und Darstellungsverfahren (z. B. Erzählsituation oder
Sprachstil).“103 Gérard Genette „baut seine Erzähltheorie auf strukturalistischen
Prinzipien auf. Er unterscheidet drei Ebenen
(narration, discours, historie) der
Erzählung und in Analogie dazu drei Kategorien, in der die Beziehungen zwischen
diesen drei Ebenen kategorisiert werden“104: 1) Genus/ Stimme. Der Akt des Erzählens,
der das Verhältnis von erzählendem Subjekt und dem Erzählten sowie das Verhältnis
von erzählendem Subjekt und Leser umfasst. 2) Tempus. Das Verhältnis zwischen der
Zeit der erzählten Geschichte und der Zeit der Erzählung im Sinne die Fragen: „In
welcher Reihenfolge?“ „Wie lange?“ und „Wie oft?“.105 3) Modus. Der Grad an
Mittelbarkeit und die Perspektivierung des Erzählten. Es bietet sich an, nach zwei
Leitfragen zu differenzieren und die unterschiedlichen Präsentationsformen des
erzählten nach beiden Parametern ‚Distanzʼ und ‚Fokalisierungʼ zu erfassen.106
„Genettes Typologie trifft auf bestechende Weise Unterscheidungen, die terminologisch
einprägsam und stringent sind, und dass sein Modell durch freie Kombinierbarkeit keine
Aussagen zu Kompatibilität bzw. Inkompatibilität zwischen den Kategorien macht.“107
Das ist ein großer Vorteil gegenüber Stanzels Typologie, die in dem nächsten Kapitel
dargestellt wird.
Die Handlung eines narrativen Textes ist Teil der erzählten Welt, in der sie stattfindet.
Jeder fiktionale Text entwirft eine eigene Welt.108 Erzählte Welten werden jedoch im
weiteren Kapitel der Arbeit besprochen.
Diese dargestellten Aspekte der Handlung und der Darstellung werden bei der Analyse
Olaf Müllers Schlesisches Wetter genau überprüft und veranschaulicht. Es werden auch
dafür entsprechende Beispiele dargestellt und in Bezug auf diese Kategorien
besprochen.
102
Vgl. ebd., S. 25.
Ebd., S. 25.
104
Fludernik, Monika: Ebd., S. 113.
105
Vgl. ebd., S. 32.
106
Vgl. ebd., S. 47.
107
Ebd., S. 117.
108
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 123.
103
25
2.4.3 Franz Stanzels Typologie von <Erzählsituationen>
Franz Karl Stanzelunterscheidet folgende Erzählsituationen: 1) Die auktoriale
Erzählsituation. Das auszeichnende Merkmal dieser Erzählsituation ist die Anwesenheit
eines persönlichen, sich in Einmengung und Kommentaren zum Erzählten
kundgebenden Erzählers. Dieser Erzähler scheint auf den ersten Blick mit dem Autor
identisch zu sein. Bei genauer Betrachtung wird jedoch fast immer eine eigentümliche
Verfremdung der Persönlichkeit des Autors in der Gestalt des Erzählers sichtbar.109
„Dieser auktoriale Erzähler ist eine eigenständige Gestalt, die ebenso vom Autor
geschaffen worden ist, wie die Charaktere des Romans. Wesentlich für den auktorialen
Erzähler ist, dass er als Mittelsmann der Geschichte einen Platz sozusagen an der
Schwelle zwischen der fiktiven Welt des Romans und der Wirklichkeit des Autors und
des Lesers einnimmt.“110 Die der auktorialen Erzählsituation entsprechende Grundform
des Erzählens ist die berichtende Erzählweise.111 2) Die Ich-Erzählsituation
unterscheidet sich von der auktorialen Erzählsituation darin, dass hier der Erzähler zur
Welt der Romancharaktere gehört. Er hat selbst das Geschehen erlebt, miterlebt oder
beobachtet, oder unmittelbar von den eigentlichen Akteuren des Geschehens in
Erfahrung gebracht. Hier herrscht auch die berichtende Erzählweise vor, der sich
szenische Darstellung unterordnet. 3) Die personale Erzählsituation. Bei der personalen
Erzählsituation handelt es sich, dass der Erzähler auf Einmischungen und Kommentare
verzichtet.112 „Für den Leser entsteht hier die Illusion, er befände die dargestellte Welt
mit den Augen einer Romanfigur, die jedoch nicht erzählt, sondern in deren
Bewusstsein sich das Geschehen gleichsam spiegelt. Damit wird diese Romanfigur zur
‚personaʼ, zur Rollenmaske, die der Leser anlegt.“113
Stanzel betrachtet seine drei Erzählsituationen als drei ‚Typenstellenʼ auf einem
‚Typenkreisʼ, zwischen denen „breite Zonen des Übergangs, der Mischformen und der
109
Vgl. Stanzel, K. Franz: Typische Formen des Romans. Göttingen: Vandenhoeck und Rupenrecht 1993,
S. 16.
110
Ebd., S. 16.
111
Vgl. ebd., S. 16.
112
Vgl. ebd., S. 16.
113
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 90.
26
abgewandelten Typenformen anzunehmen sind.“114 In seinem Typenkreis ist etwa der
Weg von der auktorialen zur Ich-Erzählsituation dadurch gekennzeichnet, dass sich der
Erzähler der erzählten Welt mehr und mehr annähert, um schließlich als Figur in sie
einzutreten. Genau die entgegengesetzte Bewegung zeigt sich dagegen, wenn man den
Typenkreis in Richtung der personalen Erzählsituation abschreitet. Hier zieht sich der
Erzähler mit seinen Kommentaren und Reflexionen mehr und mehr vom Erzählvorgang
zurück, bis er schließlich so weit hinter die Figuren zurückgetreten ist, dass die Illusion
der Unmittelbarkeit entsteht.115 In den siebziger Jahren hat Stanzel den Systemcharakter
seines Entwurfs zu festigen und zu einer Theorie des Erzählen auszuarbeiten versucht,
indem er seinen Typenkreis durch das Einbeziehen anderer Ansätze differenzierte. Es
wurden folgenden ‚Konstituentenʼ eingeführt: 1) die Konstituente ‚Person´ (Identität vs.
Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren), 2) die Konstituente
‚Modusʼ (Erzähler vs. Reflektorfigur) und 3) die Konstituente ‚Perspektiveʼ
(Außenperspektive vs. Innenperspektive).116 In seiner überarbeiteten Form hat der
Typenkreis mit seinem System von dominanten und subdominanten Konstituenten und
binären Oppositionen diese Anschaulichkeit allerdings weitgehend eingebüßt. Der
Typenkreis, der nur das <Wie> oder die Darstellung, nicht aber das <Was> oder die
Handlung narrativer Texte erfasst, berücksichtigt wichtige Parameter wie <Ordnung,
Dauer, Frequenz, Ort und Zeitdauer> des Erzählens gar nicht oder nur am Rande.
Zudem liegen systeminterne Nachteile von Stanzels Typologie zwischen den Positionen
von <Sprecher> und <Wahrnehmendem> sowie in dem von der Kreisform
hervorgerufenen Zwang zu einseitigen Determinationen.117
Der Vorteil von Stanzels Typologie liegt darin, dass er erkennbare Typen von
Romanen, die auch historisch relevant sind, am Typenkreis verortet. Seine drei
Erzählsituationen und Übergangsformen zwischen den Erzählsituationen stellen
bekannte Romantypen dar. Genette hingegen kann systematisch einiges kombinieren,
ohne jedoch dadurch einen richtigen Typus entstehen zu lassen, dessen Eigenschaften
im Gesamtkontext sinnhaft wären.118
Obwohl Stanzel seine Typologie erstmals Ende der fünfziger Jahre entwickelte, spielt
sie heute eine wesentliche Rolle im deutschen Sprachraum. Sein Modell gehört zu den
114
Ebd., S. 91.
Vgl. ebd., S. 91.
116
Vgl. ebd., S. 91 ff.
117
Vgl. ebd., S. 93.
118
Vgl. Fludernik, Monika: Ebd., S. 117.
115
27
wichtigsten Erzählmodellen der Narratologie. Die Kenntnis der Analysekategorien
Stanzels Topologie und das Verständnis der semantischen und funktionalen
Eigenschaften von Erzähltexten sind sehr wichtig für die wissenschaftliche
Untersuchung jedes literarischen Werkes.
2.4.4 Erzählte Welten in narratologischer Sicht
Martinez und Scheffel behaupten: „um einen narrativen Text zu verstehen, konstruiert
man im Akt der Lektüre die Totalität einer erzählten Welt. Diese Konstruktionsleistung
erfolgt auf der Grundlage der expliziten Aussagen des Erzählers und der Figuren, geht
aber über sie hinaus.“119 In dem analytischen Teil wird genau überprüft, ob Olaf Müller
die erzählte Welt mit der realen Welt in seinem Buch verknüpft hat, oder nicht. Reale
Zeitangaben, Ortsnamen und Ländernamen werden dabei auch eine wesentliche Rolle
spielen.
Die Konstruktion der erzählten Welt erfolgt im Leseakt ‚inklusivʼ und ,exklusivʼ. Das
bedeutet, dass der unthematische Horizont nicht nur vorgibt, was in der erzählten Welt
vorhanden ist, sondern auch, was aus ihr ausgeschlossen ist. Der Leser ist stets bestrebt,
die erzählte Welt als eine stabile und konsistente Totalität zu konstruieren. Man
unterscheidet vier Formen der Komplexität. 1) Homogene vs. heterogene Welten. „Bei
den ‚homogenen erzählen Welten´ ist das zugrunde liegende System von Möglichem,
Wahrscheinlichem und Notwendigem jeweils einheitlich.“120 Unterschiedliche Systeme
von Möglichkeiten vereinigen in sich. 2) Uniregionale vs. pluriregionale Welten. Eine
zweite Form von Komplexität findet man in den Werken, die in verschiedenen
Abschnitten verschiedene Weltsysteme präsentieren und insofern ‚pluriregionalʼ
genannt werden können – im Gegensatz zu ‚uniregionalen Weltenʼ mit einem einzigen
System. Besonders Erzähltexte mit extradiegetischen Rahmen- und intradiegetischen
Binnengeschichten bieten sich für die Konstruktion ‚pluriregionalen Weltenʼ an.121 3)
Stabile vs. instabile Welten. „Als eine ‚stabile Weltʼ wird die Vermischung von
phantastischen Grundmotiv und realistischem Kontext verstanden, die bereits im ersten
119
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 124.
Ebd., S. 127.
121
Vgl. ebd., S. 127.
120
28
Satz des Textes eingeführt wird und dauert bis zum Ende an.“122 Andere Texte
präsentieren ‚instabile Weltenʼ, insofern der Leser im Verlauf der Lektüre sich die
Handlung nach wechselnden Kriterien der Notwendigkeit und der Möglichkeit erklären
muss. 4) Mögliche vs. unmögliche Welten. In der Literaturwissenschaft begegnet man
dem Begriff der ‚möglichen Weltenʼ heute vor allem im Zusammenhang von einigen
Fiktionalitätstheorien. Auf der Grundlage der entwickelten Bestimmung von fiktionaler
Rede erscheint es grundsätzlich irreführend, das Phänomen der Fiktionalität mit Hilfe
von ‚möglichen Weltenʼ zu erklären.123
In Bezug auf diese theoretischen Ansätze wird Olaf Müllers Schlesisches Wetter im
weiteren Teil der Arbeit analysiert. Man kann jedoch feststellen, dass das Buch
Schlesisches Wetter eine ‚heterogene erzählte Weltʼ darstellt. Diese vorhandenen
erzählten Welten werden aber bei der Analyse genauer erläutert und an Beispielen
präsentiert.
122
123
Ebd., S. 127.
Vgl. ebd., 128 ff.
29
3 Olaf Müllers Schlesisches Wetter – Roman als Erinnerungsraum
3.1 Tabuisiertes Familiengedächtnis– Zur Vertreibungsgeschichte der Familie
Schynoski in Olaf Müllers Schlesisches Wetter
In Olaf Müllers Schlesisches Wetter wurde eine deutsche Familiengeschichte
dargestellt. Der Autor beschrieb eine fiktive Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg
aus dem schlesischen Dorf vertrieben wurde. Olaf Müller zeigte damit das Schicksal der
deutschen Vertriebenen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Ostgebieten
fliehen mussten. Familiäre Wurzeln der vom Autor dargestellten Familie sind eng mit
Polen verbunden, weil sie bis zum November 1946 auf dem heutigen polnischen Gebiet
lebte. Olaf Müller stellte das Schicksal der deutschen Familiengeschichte im und nach
dem Zweiten Weltkrieg dar. Die Familie stammte aus Schlesien. Als Handlungsorte
wählte der Autor schlesische Städte: Breslau und Bischwitz. Nach dem Zweiten
Weltkrieg wurde das östlich der Oder–Neiße-Linie gelegene Gebiet Schlesiens unter
polnische Verwaltung gestellt und ihre deutschen Ortsnamen wurden polonisiert.
Breslau hieß Wrocław und Bischwitz hieß Biskupice Orławskie. Historisch gesehen war
Wrocław von 1919 bis 1945 die Hauptstadt der neu gebildeten preußischen Provinz
Niederschlesien, davor preußische Residenzstadt und Hauptstadt der Provinz Schlesien,
dann in der Zeit der Nationalsozialismus außerdem Hauptstadt des Gaus Nieder- und
Mittelschlesien. Nachdem Wrocław 1945 dem polnischen Staat angeschlossen worden
war und anstelle der vertriebenen deutschen Bewohner polnische Siedler und
Zwangsumgesiedelte, zum Teil aus Lemberg und anderen Städten des bisherigen
Ostpolens, gekommen waren, ist es Woiwodschaftshauptstadt – erst der gleichnamigen,
seit 1999 der Woiwodschaft Niederschlesien.124
Schynoskis Familie floh nach dem Kriegsende nach Leipzig, wo die Hauptfigur des
Romans, Alexander Schynoski, geboren wurde. Als Kind war Alexander nie in Polen.
Er lernte Polen kaum nur von den geringen Erzählungen seiner Mutter und Großmutter
kennen. Er wuchs mit der Überzeugung, dass „seine Kindheit lang es ,Alte Heimatʼ
hieß.“125 „Erzählungen der Großmutter über die Vergangenheit begannen und endeten
124
125
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Breslau (Stand: 04.09.2009)
Müller, Olaf: Schlesisches Wetter. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003, S. 23.
30
oft damit.“126 Seine Großmutter behauptete, dass „die Alten haben es durchgemacht und
die Heimat verloren.“127
Seine Großmutter, Mutter und Tanten mussten sechzig Jahre früher aus den Ostgebieten
fliehen, und wie aus der Erzählung seiner Mutter folgte, ließen sie sich nach der
Vertreibung in Leipzig nieder. Sie schweißte jedoch zusammen, was sie während der
Kriegs- und Nachkriegszeiten durchmachen mussten. Schynoski erinnerte sich an seine
Herkunft folgendermaßen:
Unser schlesisches Blut. Das nicht von besonderem Wert ist. Ein lebenserhaltener
Stoff dennoch, scheint es. Der Begriff existiert nur in meinem Kopf. In der Familie
nahbrak man ein solch schwerwiegendes Wort nicht in den Mund. 128 (tu widać jak
na dłoni Tabuisierung, Verdrängung …. Z drugiej strony nosi w głowie…
Analizować
cytaty,
one
nie
mogą
funkcjonowac
w
powietrzu!!!Schynoskis
Familiengeschichte wird in Schlesisches Wetter nur ein einziges Mal durch die Stimme
von Schynoskis Mutter in Erinnerung gebracht. Das geschah am Vorabend von
Schynoskis Reise nach Polen. An diesem Abend erinnerte er sich auf diese Weise:
Sie hatte auch in meiner Kindheit nicht besonders häufig mit mir allein gesprochen,
selten ausführlich, niemals über Fürsten – Altgut oder ihre, Jugend. Es war
wahrscheinlich, dass sie es auch diesmal nicht tun würde […] Dann schien es sich
plötzlich zu einem Anfang durchgerungen zu haben. 129
Seine Mutter rief sich ihre Vergangenheit ins Gedächtnis. Sie erinnerte sich an die
Vertreibung und Flucht ihrer Familie aus der alten Heimat. Sie gedachte ihrer Jugend,
ihrer Familie, ihres Hauses, ihres Dorfes, in dem sie die Kindheit verbrachte. Ihre
Herkunft beschrieb sie in der folgenden Art: „Die Oma war eine geborene Krieg, ein
seltsamer Name […]. Die Uroma, die ist von polnischem Uradel gewesen, die waren
verarmt und haben sich dann umbenannt. Man konnte so einen Titel verkaufen.“130
Seine Mutter erzählte ihrem Sohn, dass sie mit ihrer Familie vor und im dem Zweiten
Weltkrieg in Bischwitz lebte. Dieses schlesische Dorf lag 30 Kilometer östlich von
Breslau. Der Autor verband den Ort am stärksten mit Schynoskis Familiengeschichte,
aus der sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben wurde. Die Geschichte
der Vertreibung prägte die Kindheit des Haupthelden. Schynoski brachte das in den
folgenden Ausdruck: „[…] die Großmutter, die ich liebte, stopfte mich mit ihren
126
Ebd., S. 23.
Ebd., S. 22 ff.
128
Ebd., S. 106.
129
Ebd., S. 127.
130
Ebd., S. 128.
127
31
Bildern, dem Erzählten, stopfte mich aus, bis ich in die Welt ihrer Entschuldigungen
passte. Bis ich verstummte. Weil ich nicht in ihre Erzählungen gehörte.“131
Seine Mutter erinnerte sich an die Zeiten vor dem Krieg. Sie erzählte, dass sein
Großvater auf dem Bau arbeitete und die Ziegel und alles Material auf das Gerüst
hochtrug. Seine Großmutter arbeitete bis 1938 beim Arbeitsdienst. Sie wusch Wäsche
und half beim Bauern aus. 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Sein Großvater war
Soldat und hatte immer Pferde unter sich. Er war nicht an der Front. Er war, „man sagte,
Nachschub“.132 Die erste schlimme, mit dem Krieg verbundene Erinnerung war für
Schynoskis Mutter das Verschwinden ihres Vaters. Diese Situation brachte sie in
Erinnerung auf diese Weise: „Er war bei den Amerikanern, wir wissen nicht, ob er in
Polen etwas Schreckliches getan hat, eigentlich hat er immer nur die Pferde unter sich
gehabt. Das war eben eine schlechte Zeit“.133
Das Verschwinden ihres Vaters war für sie die schmerzhafte Erfahrung. Sie liebte ihn
sehr. Die Frau erinnerte an ihn folgendermaßen:
Ich konnte meinen Vater nicht leiden, ich habʼs ihm aber nicht gesagt. Geschlagen
hat er uns nie, der war der beste Vater von der Welt […] Ich war zwölf Jahre alt, da
habe ich Zahnschmerzen, und er hat mich auf den Arm getragen und mich getragen,
bis ich einschlafen war; er hat unsere Räder geputzt, er hat unsere Schuhe geputzt
[…] Also mit uns Kindern war er gut.134
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das östlich der Oder–Neiße-Linie gelegene Gebiet
Schlesiens 1945 unter polnische Verwaltung gestellt. Das Gebiet, in dem Olaf Müller
seine deutsche Familie setzte, wurde administrativ in den polnischen Staat
eingegliedert. Schynoskis Mutter rief ins Gedächtnis die damalige Situation, die im
Dorf herrschte. Sie beschrieb sie in der folgenden Art: „die Polen haben alles
genommen, die haben alles in Besitz genommen, die ganzen Wohnungen. Alle. […] Die
Polen haben nur die Häuser genommen, wo es eine Landwirtschaft dazu gab.“ 135 Die
Frau erzählte auch davon, dass die Leute, die in den Häusern gewohnt haben, in die
kleinste Kammer gesteckt wurden und mussten sich damit zufriedengeben. Ihre Familie
verlor auch damals ihre Landwirtschaft. Die Mutter erinnerte sich an die Polen
folgendermaßen: „die Polen haben uns nicht vergewaltigen wollen, die haben uns nur
schikaniert […] sie haben uns zermürbt, die haben uns beschimpft.“136
131
Ebd., S. 23.
Ebd., S. 137.
133
Ebd., S. 135.
134
Ebd., S. 137.
135
Ebd., S. 141.
136
Ebd., S. 143.
132
32
Nach Übernahme der Verwaltung durch polnische Stellen wurden die deutschen
Ortsnamen polonisiert und die deutsche Bevölkerung größtenteils vertrieben. Mit dem
Zusammenbruch der Ostfront kam für die Deutschen im Osten eine schreckliche Zeit.
Ein Teil der damals 4,5 Millionen Menschen Schlesier floh ab Anfang 1945 vor der
anrückenden Roten Armee. Die von Olaf Müller dargestellte Schynoskis Familie musste
im Januar 1945 auch aus dem Ostgebiet fliehen. Der Autor vermittelte das in der
folgenden Art:
Mama hat uns genommen, und wir sind los, wir hatten Glück, dass es schon warm;
Im Januar; als wir aus Fürsten – Altguth weg mussten, hatte es zwanzig Grad minus
und es stürmte, am neunzehnten Januar ʼ45 hieß es noch, wir sollen alle dableiben,
weil die Front nicht kommt, in der Nacht zum zwanzigsten hieß es dann: wir müssen
weg, raus, sofort.137
Die Flucht Schynoskis Familie beschrieb Olaf Müller folgendermaßen:
Auf dem Weg sah es furchtbar aus. Das war ja nicht so ordentlich zugegangen.
Überall waren Sachen vertraut im Schnee, auch die tote Kinder, die zurückgeblieben
waren, und überall Puppen von den Kindern. Man hat das nicht so genau sehen
können, ob das Puppen waren oder tote Kinder, aber toten Kinder waren auch
dabei.138
Die Frau brachte in Erinnerung, dass ihre „Familie nach der Tschechoslowakei
geflüchtet war, als die Front kam“139. In der Tschechoslowakei wohnte sie bei einer
Familie Hupka. Am achten Mai war der Krieg zu Ende und ihre Familie „am neunten
oder am zehnten musste raus aus dem Dorf und alles abgeben“.140
Da die neue polnische Verwaltung zu diesem Punkt noch keineswegs gefestigt war,
konnten im Sommer 1945 viele geflohene Schlesier zunächst in ihre Heimat
zurückkehren. Diese Situation beschrieb der Autor auf diese Weise:
Die haben ja fünf oder sechs Jahre mit deutscher Besatzung leben müssen. Als sie
uns im Sommer ʼ46 weggeholt haben, die polnischen Milizen, die in Schlesien
gewütet haben, was denkst du, wie die Polen gelacht haben. Wir mussten zum
Russen. Im Schweinestahl arbeiten. 141
Schynoskis Familie kehrte im Sommer 1945 nach Schlesien nach Fürsten–Altguth
zurück. Jedoch schon im November 1946 erfolgte ihre zweite Zwangsaussiedlung, weil
in den Jahren 1946 und 1947 die Deutschen von den Ostgebieten endgültig vertrieben
wurden. Schynoskis Mutter erinnerte, wie folgt, sich an dieses Ereignis: „Im November
ʼ46, sind wir mit dem Viehwagon gefahren, man hat uns getrennt, ich bin nach Riesa
137
Ebd., S. 148.
Ebd., S. 149.
139
Ebd., S. 147.
140
Ebd., S. 148.
141
Ebd., S. 143.
138
33
gekommen und die Mama nach Görlitz, wir haben uns erst Anfang ʼ47 in Leipzig
wiedergefunden.“142
Die Frau erzählte ihrem Sohn die Familiengeschichte nur ein einziges Mal am
Vorabend von Schynoskis Reise nach Polen. Schynoski fuhr in das schlesische Dorf,
aus dem seine Familie stammte und wurde dort mit den Folgen der Vertreibung
konfrontiert. Olaf Müller nahm sich in Schlesisches Wetter dieses wichtigen Themas an.
Das ist ein Roman über Flucht und Vertreibung aus Schlesien. In Schynoskis Familie
spiegelte sich bruchstückhaft verdrängte deutsche Nachkriegsgeschichte wider. Die
Erinnerungen seiner Mutter und Großmutter schilderten das Schicksal der deutschen
Vertriebenen.
Müllers Roman gehört zu den Büchern, die als ,Erinnerungsliteraturʼ gekennzeichnet
werden. Die Heimatproblematik wurde zu einem relativ heutigen Thema in der
deutschen Literatur der Nachkriegsjahre. Sie stellt Schicksale und Haltungen der
Einzelnen dar. Der Begriff ‚Heimatʼ ist aktuell für viele Millionen Deutschen, die nach
dem Zweiten Weltkrieg aus den Ostgebieten vertrieben wurden. Das Phänomen der
verlorenen Heimat greift Olaf Müller in seinem Roman auf, in dem er deutsch-polnische
Beziehungen darstellt. Olaf Müller ist ein Vertreter der dritten Generation. Als ein
Schriftsteller des Jahrgangs 1962 wagte er sich in Schlesisches Wetter das Schicksal der
Vertriebenen zu beschreiben, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem
Ostgebieten fliehen mussten.
3.2 Stereotype Vorstellungen über das Eigene und das Fremde in Olaf Müllers
Schlesisches Wetter
„Die Lautsprecherwarnung vor Taschendieben verstand ich nur zum Teil. Der
dazugehörige Polenwitz fiel mir nicht ein.“143 Dem deutschen Journalisten Alexander
Schynoski, der zugleich der homodiegetische Erzähler ist, geht dieser Gedanke auf dem
Berliner Hauptbahnhof durch den Kopf, als er zwei polnische Journalisten abholt.
Während des Gesprächs mit den Polen rief Schynoski seine erste Polenreise ins
Gedächtnis. Die Polen-Reflexion brachte er folgendermaßen in Erinnerung: „Ich kannte
142
143
Ebd., S. 149.
Ebd., S. 57.
34
Polen kaum, hatte nur Stettin für wenige Tage besucht, stattete einmal Gubin eine kurze
nächtliche Visite ab […]. Diese Grenzgegenden hatte ich nie verlassen.“144
Olaf Müller konfrontierte seine Hauptfigur schon am Anfang der Geschichte mit den
stereotypen Vorstellungen über Polen (Taschendieben, Polenwitzen). Der Leser stellt
sich die Frage: Was für ein Bild über Polen stellte Olaf Müller in seinem Roman dar?
Inwieweit ist sein Roman stereotypisiert? Olaf Müller stellte seine Hauptfigur in einem
Polen-Raum dar und ließ sie mit der polnischen Realität und den deutschen Polen
zusammenstoßen. Infolge der Konfrontation bildeten sich in Schynoskis Kopf seine
eigenen Bilder über Polen. Werden seine Bilder mit den negativ orientierten und
schematisierten stereotypen Vorstellungen, die am Anfang der Geschichte dargestellt
wurden, bestätigt? Inwieweit wird der entworfene literarische Polen-Raum in Olaf
Müllers Schlesisches Wetter stereotypisiert oder nicht? Inwieweit spielen die historisch
herausgestellten Stereotype über Polen und die Polen eine Rolle in der
Gegenwartsliteratur?
Die genaue Analyse von Stereotypen über Polen und die Polen in Bezug auf Müllers
Schlesisches Wetter ermöglicht, auf die dargestellten Fragen eine Antwort zu finden.
Die historisch herausgestellten folgenden Stereotypen: Stereotyp der ,polnischen
Wirtschaftʼ, ,Polen-Opfer-Stereotypʼ und das Bild der ,schönen Polinʼ werden in
Betracht gezogen und genau besprochen. Die ausgewählten Beispiele werden
herausgesucht und veranschaulicht.
3.2.1 Wrocław als Polenraum des Stereotyps der ,polnischen Wirtschaftʼ
Takie wartościujące historyjki nie mają co szukać w pracy o walorach naukowych.In
diesem Kapitel wurde Wrocław als Polenraum des Stereotyps der ,polnischen
Wirtschaftʼ gesehen. In Olaf Müllers Schlesisches Wetter wurde diese Stadt sehr
ausführlich unter verschiedenen Aspekten beschrieben. Der Autor schilderte ihr Bild
vor dem Zweiten Weltkrieg und in Nachkriegszeiten. Ausführliche Beschreibungen des
Hotels, des Bahnhofs, der Straßen sind im Buch festzuhalten. Die im Buch genannten
Straßennamen
(Kościuszki-,
Sienkiewicza-,
Świdnickastraße)
und
Hotelnamen
(Polonia, Monopol) sind heute auf dem Stadtplan von Wrocław zu finden. Auf dem
144
Ebd., S. 18.
35
Hintergrund der Beschreibungen kann der Leser versuchen, sich direkt das Polenbild zu
schildern. Aufgrund der genauen Stadtdarstellung kann man annehmen, dass Olaf
Müller Wrocław sehr gut kennte. Dem Leser kam jedoch die Frage: Woher kennt der
Autor so gut Wrocław? War er schon in der Stadt? Erfuhr er über Wrocław und die
Polen von anderen, oder basiert er auf den Schreibformen über Polen? Aus seinem
Lebenslauf folgte, dass er Forschungsaufenthalte an der Jagiellonen- Universität in
Krakau im Jahr 1996 machte. Man kann voraussetzen, dass er die Polen und die
polnischen Städte schon damals kennen lernte und es in Schlesisches Wetter wagte,
dieses Polenbild darzustellen. Vertreibung und Flucht der Deutschen aus den
Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg sind Themen des Buches. In den Hintergrund
stellte der Autor das Polenbild. Die historische Verortung polenbezogener Stereotype ist
eng in historischer Perspektive mit einer Komprimierung verbunden. Zu den historisch
herausgestellten Stereotypen über Polen und die Polen gehört das Stereotyp der
,polnischen Wirtschaftʼ. Es ist das bekannteste deutsche Stereotyp, das Polen anbetrifft.
Es wird als Misswirtschaft verstanden und in der sozialen Kommunikation mit den
Begriffen wie ,Unordnungʼ und ,Unregierbarkeitʼ in enge Verbindung gesetzt. In dem
vorliegenden Kapitel wird herausgestellt, in welchem Grad der entworfene literarische
Polen-Raum durch das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ in Olaf Müllers
Schlesisches Wetter geprägt wird oder nicht. Ausgewählte Buchabschnitte werden
herbeizitiert und analysiert.
Olaf Müller ließ seine Figuren im polnischen Raum nieder, im schlesischen Dorf, in
dem sie vor und in den Kriegszeiten lebten. Nach dem Kriegsende wurden sie aus ihrem
Familiendorf, Bischwitz, vertrieben, weil dieses Gebiet unter polnische Verwaltung
gestellt wurde. Der deutsche Journalist, Alexander Schynoski, bereiste Polen in Müllers
Schlesisches Wetter als homodiegetischer Erzähler. Er machte sich nach Polen auf, um
seine schlesischen Wurzeln zu finden. Bei Schynoskis Bezug auf den fremden
nationalen Träger und Auslöser seiner Wahrnehmungsperspektiven flossen bereits
bildhafte Vorstellungskomponenten des deutschen Umfeldes ein. Er ist in seiner
Polenwahrnehmung durch seine bisherige Sozialisation geprägt.145 Schon am Anfang
der Geschichte, während der Zugsreise nach Polen, begegnete er der polnischen
Realität. Er „saß im langsamsten Zug, den es auf dieser Strecke überhaupt gibt“. 146
Seine ersten Bemerkungen drückte er folgendermaßen aus:
145
146
Vgl. Zimniak, Paweł: Ebd., S. 201.
Müller, Olaf: Ebd., S. 161.
36
Es war nicht lange, Liegnitz war erreicht, ein Ort direkt aus meinen schwärzesten
Phantasien. Vorwerke waren verwelkt; geborstene Dächer nicht repariert, ich ortete
Brücken, die nicht an ihrem Platz waren, und wunderte mich zwischen Liegnitz und
Breslau über die merkwürdige Vermehrung der Schrebergärten, über deren
Vordringen bis ins Innere Breslaus. Willkürlich waren Hochhäuser und
Hochhaussiedlungen gepflanzt worden. Mitten in die Schrebergärten hinein. Nichts
entsprach mehr meinem siebzig Jahre alten Stadtplan. Überall Schrebergärten.
Nichts entsprach mehr meinem siebzig Jahre alten Stadtplan […] Die Gärten
ringsherum waren die ersten Schrebergärten der Welt. 147
Schynoski brachte in Erinnerung, dass er nach der Ankunft in Wrocław vor sich
Unordnung, Verfall, mangelnde Sauberkeit bemerkte. Schynoski brachte das in
folgender Form zum Ausdruck: „Schließlich Breslau-Zentrum […]. Das Abstoßendste
nach meiner Ankunft: Der Gestank nach Scheiße in der Bahnhofshalle. Die
durchgerosteten Pfeiler der Hallenkonstruktion drohten einzuknicken. Ich beeile mich,
rauszukommen.“148
Die weitere Bewegung Schynoskis durch Wrocław war mit dem Wahrnehmen des
Zerfalls verbunden: „rußige Fassaden säumten die Piłsudskistraße. Bürgerhäuser […].
Grau, wie jene und ebenso befallen vom Werbetafelschimmel, der sich hier noch
gefährlicher und unüberschaubarer an den Fassaden empor zu fressen schien, so dass an
einigen Stellen das Mauerwerk, die Fenster oder der Putz nicht mehr zu erkennen
waren.“149 Während seines Aufenthaltes im
Hotel ,Poloniaʼ lenkte er die
Aufmerksamkeit auf die Matratze im Zimmer. Er beschrieb sie folgendermaßen: „Die
Matratze hing fast bis zum Boden durch. Seit der Einweihung des Hauses war sie nicht
ausgetauscht worden, hatte Generationen von Gefangenen beherbergt.“ 150 In der Nähe
der Stadtmitte schenkte er dem „lautstarken Hundegebell unter den Straßenlärm […],
obwohl weit und breit kein Hund zu sehen war. Wie von Hofhunden.“151
Auf dem Weg nach Bischwitz, zum Heimatdorf seiner Mutter und Großmutter, rief er
sich den Zug, mit dem er sich bewegte, ins Gedächtnis. Der Zustand des öffentlichen
Verkehrsmittels beschrieb er auf diese Weise: „Der Zug war drinnen wie draußen
vollkommen verdreckt. Ich war gezwungen, an jeder Station die Tür zu öffnen, um mit
Mühe den Namen des jeweiligen Dorfes zu entziffern. In einem Wagen lief die
Heizung, im nächsten wieder nicht.“152
147
Ebd., S. 159.
Ebd., S. 165 ff.
149
Ebd., S. 167.
150
Ebd., S. 177.
151
Ebd., S. 168.
152
Ebd., S. 198.
148
37
Schynoski als Journalist hörte schon in der Redaktion in Berlin von der Unsicherheit
und Angstzustände, in denen sich Polenbesucher befinden. Er hörte „von den mafiösen
Zuständen in Polen […] vom erbarmungslosen Beute-Machen bei deutschen Touristen,
von spurlosem Verschwinden.“153 Angst überkam Schynoski in Wrocław, als ihm auf
dem Kościuszkiplatz drei Männer entgegentreten. Er erinnerte sich wie folgt an dieses
Ereignis: „drei Männer traten mir entgegen, die sich nur mühsam auf den Beinen halten
konnten […]. Ich konnte ihren faulig alkoholisierten Atem bereits riechen.“154
Schynoski erinnerte sich an seinen Aufenthalt in einem Geschäft, das auf ihm einen
negativen Eindruck machte. Er brachte das in folgender Form zum Ausdruck: „Ich
inspizierte sogar den düsteren Laden. Es roch säuerlich nach Käse…außer einer
Verkäuferin und einer Frau, die ich mitten im Plausch gestört hatte, war das
Käsegeschäft leer.155
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die herbeizitierten Buchabschnitten das
Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ schildern. Damit zeigte Olaf Müller im
Schlesisches Wetter negative Komponenten der Polenwahrnehmung. Diese im Buch
erhaltenen Beschreibungen: der Gestank in der Bahnhofshalle, schmutzige Matratze im
Hotelzimmer, das Hundegebell unter den Straßenlärm, schlechter Zustand der Züge,
geborstene Dächer und endlich das erbarmungslose Beute-Machen bei den
Polenbesuchern, stellen jedem Leser ein negatives Bild über Polen dar. Das Stereotyp
der ,polnischen Wirtschaftʼ wird als Stereotyp der ,langen Dauerʼ bezeichnet und dient
zur Konstruktion des Feindbildes. Es ist mit den Folgen historischer Vorkommnisse
verbunden, die viel dauerhafter als die Ursachen sind, auf die sie zurückzuführen sind.
Durch die Analyse des Buches lässt sich ableiten, dass die vermeintlichen, kollektiv
gültigen und negativ konnotierten Vorstellungen über das Fremde in die individuelle
Wahrnehmung einflossen. Sie werden aber in die individuelle Wahrnehmung letztlich
dekonstruiert. „Im weiteren Handlungsbereich zeigt sich, dass die ,Überbleibselʼ des
Stereotyps der ,polnischen Wirtschaftʼ durch die Entwicklung auf der Ebene der
Geschichte nicht bestätigt werden. Die mitschwingende Latenz stereotypen Denkens
wird auf der Ebene des Diskurses insoweit kritisch hinterfragt, als Bewegung durch den
153
Ebd., S. 172.
Ebd., S. 171.
155
Ebd., S. 186.
154
38
literarischen Polen-Raum das Bewertungsmuster: Die Polen lassen alles verfallen,
verrotten und vergammeln“156
Am Anfang des Kapitels wurde die Frage gestellt, ob der entworfene literarische PolenRaum in Bezug auf das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ in Olaf Müllers
Schlesisches Wetter stereotypisiert ist oder nicht. Die herbeizitierten Buchabschnitte
weisen jedoch eindeutig darauf hin, dass sich Olaf Müller in seinem Roman auf das
Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ beruft und es sich in seinem entworfenen
literarischen Polen-Raum auf verschiedene Art und Weise schildern lässt.
3.2.2 Deutsch-polnische Wahrnehmung des Geschichtsraumes
Jede Geschichte lässt sich auf verschiedene Weise erzählen. Die Darstellung eines
Geschehens kann nicht nur aus unterschiedlicher Distanz, sondern auch aus
verschiedenen Blickwinkeln erfolgen und mehr oder weniger eng an die besondere,
mehr oder weniger eingeschränkte Wahrnehmung einer erlebenden Figur gekoppelt
sein.157 Im Sinne von Genette sollte man bei der Darstellung einer Geschichte seine
Aufmerksamkeit auf zwei Fragen lenken: <Wer sieht?> und <Wer spricht?>. In Bezug
darauf lässt sich der in Olaf Müllers Schlesisches Wetter entworfene deutsch-polnische
Geschichtsraum aus den verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Die Darstellung der
kriegsbezogenen Geschichte erfolgt einerseits durch die polnische Stimme der Figur der
Frau Misiak und andererseits durch die Stimme der deutschen Mutter, die ihrem Sohn
die
eigene
Geschichte
erzählte.
In
diesem
Kapitel
werden
entsprechende
Textausschnitte im Hinblick auf die Perspektivierung des Erzählten herausgestellt und
das historisch entstandene Polen-Opfer-Stereotyp analysiert.
Der deutsch-polnische Geschichtsraum wurde von Olaf Müller erzählerperspektivisch
als eine Individualisierung der Schicksale im Kontext des zweiten Weltkriegs
dargestellt. Das Stereotyp von den ,Polen als Opferʼ bezieht sich auf polnische MisiaksFamilie. Frau Misiak, siebzigjährige polnische Frau, erinnerte sich an ihre Geschichte
folgendermaßen:
Die Misiaks lebten immer in Warschau. […] Die Misiaks hatten zu den
angesehensten Warschauer Familien gehört. […] Bis die Deutschen kamen. […]
Erst `44 haben wir uns auf dem Lande versteckt. Erst in einem Kloster. Dann bei
156
157
Zimniak, Paweł: Ebd., S. 202.
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 63.
39
einem Bauern. In Warschau wurde es für uns zu gefährlich. Der Aufstand lag in der
Luft. […] Die Eltern meines Mannes waren im Lager. Die Mutter in einem Lager in
Deutschland. […] Die Eltern sind nicht zurückgekommen. Nach dem Krieg, gleich `
`45 kamen wir nach Breslau.158
Die heutige Stadt Breslau beschrieb die Frau auf folgende Weise: „die Stadt ist voller
Deutscher: Im November, im Winter fallen sie nicht auf. Aber im Frühjahr und erst im
Sommer zählt man sie zu Tausenden. Auch wenn sie in kleinen Gruppen spazieren,
könnte man denken, sie wären zu einer Demonstration nach Breslau gekommen.“159
Gefühle der polnischen Frau werden von dem Autor in dem folgenden Textstück
erfasst: „Die Deutschen mögen mit ihren Polen-Besuchen wenigstens warten, bis die
Generation der Hauptbetroffenen tot ist.“160
Das Polen–Opfer-Stereotyp bekommt in der kriegsbezogenen Analepse in Müllers
Auffassung ein Gegengewicht, das auf dem Beispiel Schynoskis Familiengeschichte zu
sehen ist. Die deutsche Mutter erinnerte sich an ihre Familiengeschichte
folgendermaßen:
Die Polen haben alles genommen, die haben alles in Besitz genommen, die ganzen
Wohnungen. Alles. […] Die Polen haben nur Häuser genommen, wo es eine
Landwirtschaft dazu gab. […] Die Polen haben uns nicht vergewaltigen wollen, die
haben uns nur schikaniert, früh wurden wir zur Arbeit eingeteilt, vergewaltigt haben
sie uns nicht, sie haben uns zermürbt, die haben uns beschimpft.161
Durch die parallele Darstellung der beiden Familiengeschichten versuchte Olaf Müller
in seinem Buch stark, vereinfachte, feststehende Stereotype zu vermeiden. Er zeigte
dabei, dass die Generationendifferenz eine bedeutende Rolle spielt. Die Generation der
Söhne und Enkel weist auf eine andere kognitiv-emotionelle Einstellung zur Geschichte
hin, die im Buch im Verhältnis von ,Historieʼ und ,Diskursʼ zu bemerken ist. Der junge
deutsche Autor wagte sich, die kriegsbezogene Geschichte einerseits einer polnischen
und andererseits einer deutschen Familie zu zeigen. Die ausgewählten Buchabschnitte
schildern, dass beide Nationen als Opfer des Krieges gesehen werden können. Die
Perspektivierung der Darstellung spielt eine gewisse Rolle bei der Darlegung einer
Geschichte. Der von Müller entworfene Polen-Raum betrachtet die funktionierende
Behauptung der deutsch-polnischen Nachbarschaft nicht mehr als problematisch. Olaf
Müller
zeigte
an
dem
Beispiel
den
jungen
deutschen
Journalisten,
dass
zwischenmenschliche Kontakte unter den beiden Nationen einen positiven Charakter
haben können.
158
Müller, Olaf: Ebd., S. 195 f.
Ebd., S. 196.
160
Ebd., S. 197.
161
Ebd., S. 141 f.
159
40
3.2.3 Das Bild der ,schönen Polinʼ in Müllers Auffassung
Bei der Analyse Olaf Müllers Schlesisches Wetter wird das Stereotyp der ,schönen
Polinʼ in Betracht gezogen. In der polnischen Geschichte war die Stellung der Frau
immer schon sehr stark. Insbesondere in schwierigen Momenten spielten die Frauen
immer eine wichtige Rolle, nicht nur die traditionelle Rolle als Hüterinnen des
häuslichen Herdfeuers, sondern auch als Wächterinnen der Erinnerung, der nationalen
und familiären Identität. Die Polinnen waren immer schon diejenigen, die zur Arbeit
gingen und für den Familienunterhalt sorgten, sie verwalteten des Vermögen während
der Abwesenheit der Männer, die an den Fronten kämpften. Heute scheint die polnische
Frau die Elemente der Moderne und der Tradition zu übernehmen, die ihr entsprechen:
Ehrgeiz und Entschlossenheit zur Selbstverwirklichung, aber auch Verbundenheit mit
dem Haus und der Familie.
Das Bild der ,schönen Polinʼ wurde im Schlesisches Wetter dargestellt.
Der Autor präsentierte Begegnungen zwischen dem deutschen Erzählerfigur und
polnischen Frauenfiguren. Die polnischen Frauen sind nicht wie in den vergangenen
Jahrhunderten in den Nationalitätenstreit eingebettet. Ihr Anderseins lässt sich in der
Fähigkeit zur Erzeugung eines positiven emotionalen Zustands zwischenmenschlicher
Beziehungen bemerken. Olaf Müller erblickt die polnischen Frauen sehr schön und
entwirf ihr Bild als ,Weichsel-Aphroditeʼ.
Die Hauptfigur des Buches, Aleksander Schynoski, begegnete auf ihrem Weg drei junge
Polinnen: Beata, Dorota und Agnieszka. Diese polnischen Frauen beschrieb er nur mit
positiven Komponenten, die in diesem Kapitel herbeizitiert werden.
Die erste Begeisterung der polnischen Frau folgte schon auf dem Berliner Ostbahnhof.
Nach Berlin kamen damals zwei polnische Journalisten, Beata und Witek, aus der
Breslauer Redaktion der Tageszeitung Gazeta wyborcza, den Schynoski vom Bahnhof
abholen musste. Beata, die schöne Polin, und Witek verbrachten über drei Wochen in
Berlin und Schynoski „fühlte sich wohl unter den Polen“162. Er erinnerte sich an Beata
folgendermaßen: „Beata reichte mir kaum zur Schulter. Der Begriff grazil genügt zur
Beschreibung ihrer Zerbrechlichkeit nicht.“163 Er wollte auch „ihr ein Komplement für
162
163
Ebd., S. 122.
Ebd., S. 53.
41
ihr hervorragendes Deutsch zu machen […]. Die deutsche Sprache schien ihr eine
Selbstverständlichkeit zu sein.“164 Seine Begeisterung drückte er in kurzer Form auf
diese Weise aus: „Beata gefiel mir sehr.“165
Während der Zugsreise nach Polen begegnete Schynoski der zweiten schönen Polin,
Dorota. Seine Reaktion wurde in dem folgenden Textstück beschrieben: „Sie sah so
deutsch aus […]. Und mit einem Mal sah sie sehr polnisch aus. Für mich.
Ausgesprochen polnisch. Slawisch. Ihre Wagenknochen wurden immer polnischer und
vor allen Dingen ihre Augen.“166 Über die Stimme des Erzählers zeigte Müller seine
Erfassung des fremden Landes. Polnische Frauenfiguren lassen sich als neu, unerwartet
und bedeutsam für das Denken, Fühlen und Handeln einstufen. An diese
Reisebekanntschaft erinnerte sich Schynoski in der folgenden Art:
Fast hatte ich sie übersehen. Wenn sie nicht so ausgesprochen polnisch ausgesehen
hätte. Und ich erzählte ihr von Maureen, obwohl es mir ganz und gar zuwider war
Maureen in London. Maureen in meiner Nähe oder irgendwo. Dorota sah mich
aufmerksam und verwundert an. Sie hatte mich registriert. Eine Antwort oder einen
Kommentar über meine Beziehung zu Maureen empfing ich nicht. Ein Nicken.
Möglicherweise Verständnis. Immerhin ein Nicken.167
Am Ende seiner Reise im Dorf Bischwitz, aus dem Schynoskis Familie stammt, traf der
Erzähler die nächste junge Polin, Agnieszka. Der Berliner Journalist verliebte sich in die
weibliche Schönheit. Schynoski beschrieb Agnieszka folgendermaßen:
Agnieszka konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Ihr merkwürdig rundes Gesicht
faszinierte mich. Wie ihre Augen. Noch runder. […]
Agnieszka fiel aus dem dörflichen Rahmen. In eine Bank passte ihre strenge
Erscheinung, die nur von ihrem runden Gesicht kontrastiert wurde, besser. Sie hatte
sonst nicht die Spur einer Bäuerin an sich. Und keine Spur von Maureen. Agnieszka
war, mir fiel aus nicht Treffenderes ein, berückend, und anders als Dorota schien sie
unbestreitbar zu existieren.168
Agnieszka arbeitete in einer Bank im Zentrum Breslaus. Ihr Wochenende verbrachte sie
beim Großvater in Bischwitz und während der Woche wohnte sie bei ihren Eltern. Die
junge Polin mochte die Stille, deswegen besuchte sie jede Woche ihrem Großvater.
Nach seiner Ansicht war „Breslau zu hektisch und zu laut.“169 Schynoskis Begeisterung
für Agnieszka führte dazu, dass er sich entschloss, in Polen zu bleiben.
Diese polnische Frauengestalt ist die bedeutendste Frauenfigur in Olaf Müllers
Schlesisches Wetter. Auf ihrem Beispiel kann man sehen, wie polnische Frauen im
164
Ebd., S. 54.
Ebd., S. 56.
166
Ebd., S. 161.
167
Ebd., S. 165.
168
Ebd., S. 222 ff.
169
Ebd., S. 224.
165
42
deutschen literarischen Raum aktuell gesehen werden. Bei der Figurenkonzeption gelten
polnische Frauen in Schlesisches Wetter als Helferinnen bei der Meisterung krisenhafter
Situationen und Trägerinnen neuer ,Beheimatungsmöglichkeitenʼ im Fremden.170 Diese
entworfenen neuen Bilder der ,schönen Polinʼ beziehen sich auf folgende Beispiele:
Agnieszka half dem dickleibigen und frustrierten deutschen Journalisten Schynoski bei
der Bewältigung seiner Lebenskrise. Schynoski wurde aus seiner Lethargie
hochgetrieben und fand am Ende seinen Frieden. An die Begegnung mit Agnieszka
erinnerte er sich auf diese Weise: „Wenn sie, Agnieszka, weggegangen wäre, ohne mich
zu begrüßen, säße oder längst wieder in Berlin.“171 Agnieszka trug neue
,Beheimatungsmöglichkeitenʼ für Schynoski. Durch die gezogene Bindung an die
polnische Frauenfigur wird eine Projektion der eigenen Existenz nach Polen
eingeschlossen.
Schynoskis
Ankunft
nach
Bischwitz
beschrieb
der
Autor
folgendermaßen:
An der Bushaltestelle von Fürsten-Altguth, vielleicht nur ein par Schritte vom
Geburtszimmer meiner Mutter entfernt […] erkannte ich, dass ich bei aller
überlegten Technik der Annäherung mich auf nichts weiter als den Zufall verlassen
musste, wenn ich eine Chance haben wollte, der polnischen Geliebten künftig näher
zu kommen.172
Im weiteren Handlungsbereich „radebrach Schynoski die ersten Brocken Polnisch.“173
Sein Zustand, in dem er sich befand, wurde in dem folgenden Textstück
folgendermaßen dargestellt: „Ich […] wurde von einem sagenhaften Glücksgefühl, dem
es nicht mehr auf das Gedächtnis ankam, erfasst.“174
Olaf Müller schildert in seinem Buch das Bild der ,schönen Polinʼ, die im
gegenwärtigen literarischen deutschen Polen-Raum existiert. Der Autor stellt die
polnischen Frauenfiguren als die Personen, die fähig sind, einen positiven emotionalen
Zustand zwischenmenschlicher Beziehungen zu erzeugen. Agnieszka, Schynoskis
Geliebte, wird auf der Ebene der Geschichte und auf der Ebene des Diskurses
individualisiert. Einerseits war sie imstande, ein positives Verhältnis zur Fremde zu
schaffen und andererseits stellte sie eine äußere und auch eine innerpsychische Realität
der deutschen Erzählerfigur dar.
Vgl. Zimniak, Paweł: Ebd., S. 204.
Müller, Olaf: Ebd., S. 222.
172
Ebd., S. 222.
173
Ebd., S. 234.
174
Ebd., S. 234.
170
171
43
3.3 Alexander Schynoski und seine Polenwahrnehmung
Olaf Müllers Roman schilderte eine Familiengeschichte, die nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieg aus einem schlesischen Dorf vertrieben wurde. Infolgedessen ließ sie
in Leipzig nieder. Der Autor stellte diese Geschichte als die Ich-Erzählung dar, und
näherte den Leser durch Schynoskis Worte zur Geschichte seiner Familie.
Die Hauptfigur, Alexander Schynoski bekam eines Tages einen letzten Auftrag von
Berliner Redaktion, der ihn auf die Spuren seiner Familiengeschichte führte. Seine
Familie stammte aus dem schlesischen Dorf, Bischwitz, aus dem sie nach dem
Kriegsende fliehen musste. Schynoski entschloss sich nach Polen zu fahren, um mit den
Folgen der Vertreibung und dem heutigen Polen zu konfrontieren. Aus Schynoskis
Erzählungen erfuhr der Leser, als der Journalist das fremde Land und seine Leute
erblickte. Einige seine Bemerkungen über Polen wurden schon in dem analysierten Teil
der vorliegenden Arbeit im Kapitel Wrocław als Polenraum des Stereotyps der
,polnischen Wirtschaftʼ. Er erinnerte an den Gestank in der Bahnhofshalle, schmutzige
Matratze im Hotelzimmer, das Hundegebell unter den Straßenlärm, schlechten Zustand
der Zügen, geborstene Dächer und erbarmungslose Beute-Machen bei den
Polenbesuchern. In diesem Kapitel werden andere Beispiele herausgesucht und
veranschaulicht, die dem Leser Möglichkeit geben, mit den Polenbilder bekannt zu
machen. Diese Polenbilder wurden in Schynoskis Erinnerung gebracht.
Als der Journalist nach Polen kam, kollidierte er mit der polnischen Realität im Hotel
,Poloniaʼ in Breslau. Ins Gedächtnis rief er folgendes Ereignis, als er seine Rechnung
mit der deutschen Währung zahlen wollte:
<Mark nehme ich nicht>, sagte die Frau empört und verwies mich an die
Wechselstube, die sich um die Ecke in einer Boutique befände. Tags darauf begriff
ich, welche immense Bedeutung die Wechselstuben für die Breslauer Wirtschaft
haben, in jeder Boutique fand sich ein gläserner Schalter, in dem der für das
Geldwechsel zuständige Mitarbeiter saß; Institute, wie ich sie so noch nie gesehen
hatte.175
Schynoski erinnerte sich an das polnische Radio, das es im Hotelzimmer gab. Er drückte das
folgendermaßen aus:
Ein Radio mit dem Namen Wanda Zwei […]war ein schwarzer Plastikkasten, kaum
größer als ein Schuhkarton und in der Lage, Frequenzen der Mittelwelle und der
Ultrakurzwelle zu empfangen…und ich entdeckte wie ausländische Filme in Polen
synchronisiert werden: Ein Mann oder auch eine Frau lesen zum Film, der in
175
Ebd., S. 174.
44
Originalsprache gezeigt wird, die immer gut zu hören ist, das Drehbuch mit
unbewegter, sonorer Stimme vor.176
Der deutsche Journalist übernachtete im Hotel in Breslau und sein Hotelzimmer
beschrieb er auf diese Weise: „Ein Blick aus dem Fenster in den matt beleuchteten Hof
und die Gitter an den Fenstern der Nachbarzellen verhießen nichts Gutes. Der Preis
meiner Zelle war sicher auf die fehlenden Gitter zurückzuführen.“177
Durch Schynoskis Stimme wurde dem Leser der Zustand der polnischen Gastronomie in
Breslau geschildert. Als er am späteren Abend Hunger hatte, ging er aus dem Hotel raus
und suchte nach einer Restauration. Er fand nur McDonaldʼs, das leider geschlossen
war. Seine Verwunderung wurde vom Autor in der folgenden Art beschrieben: „Vom
Hunger getrieben, suchte ich nach einem Restaurant […] wenigstens McDonaldʼs wäre
Tag und Nacht geöffnet, beruhigte ich mich […] Endlich vor dem McDonaldʼs
ankommen, las ich das Schild, welches verkündete, dass dieses Lokal Tag und Nacht
geschlossen sei.“178 Olaf Müller zeigte in dem folgenden Textstück, dass eine
wesentliche Rolle bei der Entwicklung der polnischen Wirtschaft schon in 90er Jahren
die Außeneinflüsse spielten.
Während eines Spazierganges durch Breslau bemerkte Schynoski Kioske, die er
wahrscheinlich früher nie sah. Er brachte in Erinnerung das Ereignis in der folgenden
Art: „An einem kleinem Platz gab es eine Reihe dieser Kioske, wie sie in der gesamten
Stadt zu finden sind. Würfel mit abgeschrägten Ecken, aus denen heraus so ziemlich
alles verkauft wurde, was man gebrauchen konnte.“179
In Breslau lenkte er Aufmerksamkeit auf den Zustand der polnischen Häuser und ihre
Umgebung. Der Autor brachte das in folgender Ausdruck: „Die Häuser waren es nicht
wert gewesen, wiederaufgebaut zu werden. Ställe. Schuppen […] Eine halbe Parkbank,
Treffpunkt gelangweilter Jugendlicher. Ein paar Kinder warfen Bälle an eine
sterbensgraue Mauer. Die rückwärtigen Fassaden waren nie aufgeputzt worden, wie das
auf der Straßenseite gründlich geschehen war.“180
Sein Aufenthalt im Theater brachte Schynoski in Erinnerung auf diese Weise: „Der
Zuschauerraum war kleiner als unsere Redaktion. Ich hätte nicht genau sagen können,
176
Ebd., S. 176.
Ebd., S. 176.
178
Ebd., S. 177.
179
Ebd., S. 183.
180
Ebd., S. 188.
177
45
wie viele Zuschauer er fasste, dafür war es so kurz vor der Vorstellung zu dunkel. Die
fortgeschrittene Dämmerung gehörte anscheinend schon zur Inszenierung.“181
Das letzte Beispiel, das in dem Kapitel veranschaulicht wird, bezieht sich auf die
polnische Stimme. Schynoskis Bemerkung drückte Olaf Müller folgendermaßen aus:
„Die polnischen Lieder klangen wie die des russischen Sängerdichters […] aber ich
hütete mich, das laut zu sagen, weil man ja weiß, wie die Polen zu Russen stehen.“182
In diesem Textstückt bezieht sich der Autor auf die Politik und die Beziehungen
zwischen Polen und Russen auf. Davon zeugte der letzte Satz „[…] wie die Polen zu
Russen stehen.“183
Die dargestellten Beispiele zeigen, wie der deutsche Journalist das polnische Land
während seiner Polenreise erblickte. Der Autor präsentierte jedoch noch Begegnungen
zwischen dem deutschen Erzählerfigur und polnischen Figuren. Schon am Anfang der
Geschichte lernte Schynoski in Berlin zwei polnischen Journalisten aus Breslauer
Redaktion der Tageszeitung Gazeta wyborcza kennen. Er verbachte mit ihnen über drei
Wochen und „fühlte sich wohl unter den Polen“184. Sie schenkten ihm einen Bildband
mit Stadtansichten Breslaus aus der Zeit vor 1945: „Ein Bildband über Breslau […] In
deutscher Sprache. Aber aus einem polnischen Verlag. Auf dem Titelbild eine Kirche,
wie ich dutzendfach von überbelichteten und fehlkolorierten Postkarten kannte.“185
Dieses Geschenk beeindruckte den deutschen Journalisten. Der Autor beschrieb das
folgendermaßen:
Ein gelbstichiges Foto hielt mich fest. Was mich an dem Bild gefangen nahm, war
schwer zu erklären. Möglicherweise hatte es mit einer Geschichte meiner
Großmutter zu tun. Obwohl es ein schlechtes Foto war. Dennoch sah ich wie
gebannt auf sich von einem Platz entfernende Straßenzüge und suchte in meinem
Gedächtnis nach der Entsprechung. Einer Begründung. 186
Die polnischen Frauen wurden von Olaf Müller nur mit positiven Komponenten
beschrieben. Schynoski begegnete auf seinem Weg drei junge Polinnen: Beata, Dorota
und Agnieszka. Am Ende der Geschichte verliebte er sich in der polnischen Frau, Beata.
Der Autor präsentierte auch Schynoskis Bekanntschaft mit dem polnischen Journalisten,
Witek. Er lernte ihn in Breslau kennen aber begegnete wieder in Breslau. Witek lud
Schynoski zu sich und seiner Mutter. Schynoskis Reaktion auf die polnische Einladung
181
Ebd., S. 200 ff.
Ebd., S. 80.
183
Ebd., S. 80.
184
Ebd., S. 122.
185
Ebd., S. 71.
186
Ebd., S. 71.
182
46
brachte der Autor in folgender Ausdruck: „Seine Mutter würde für mich kochen.“187
Am Beispiel von Misiaks Familie zeigte Olaf Müller die polnische Gastlichkeit. Der
Autor präsentiert in Schlesisches Wetter noch eine polnische Eigenschaft, die er
folgendermaßen beschrieb: „ […] einen Handkuss […] Von dieser polnischen Eigenart
hatte ich gehört.“188
Die dargestellte polnische Realität kollidierte mit den Fantasien Schynoskis. Olaf
Müller zeigte das gemütliche Wrocław, das unter dem ängstlichen unsicheren Blick des
Ostdeutschen in ein chaotisches Nest verwandelt wurde.
Schynoskis Polenliebe wuchs mit jeder Seite des Buches. Olaf Müller stellte den Osten
als der Ort der Gemächlichkeit, Besinnung, als sicheren Hafen vor der rauhen
Wirklichkeit dar. Ihre Bewohner assoziiert er mit Gastlichkeit und Höflichkeit und die
polnischen Frauenfiguren betrachtet als weibliche Schönheiten.
3.3.1 Alexander Schynoski als autodiegetischer Erzähler
In dem analytischen Teil versuche ich hinsichtlich der theoretischen Ansätze auf
folgende Fragen Antworten zu finden: Wer spricht in dem Roman? In welchem Maß ist
der Erzähler am Geschehen beteiligt? Wie ist die Erzählung in dem Roman Olaf
Müllers Schlesisches Wetter zu werten, in dem offensichtlich erfundene Figur namens
Aleksander Schynoski die Geschichte seiner Familie erzählt, die an historischen Orten
in Schlesien handelt und eng verflochten ist mit historischen Ereignissen? In dem
Kapitel werden dazu entsprechende Beispiele dargestellt und überprüft.
Hinsichtlich der theoretischen Ansätze lässt sich Müllers Roman als fiktionale
Erzählung bezeichnen. Der Autor stellt fiktiv die Geschichte einer Familie dar, die nach
dem Zweiten Weltkrieg aus einem schlesischen Dorf vertrieben wurde.
In Müllers Roman spielt der Ich-Erzähler eine bedeutende Rolle. Der Ich-Erzähler,
Alexander Schynoski, ist klar homodiegetisch, aber die Frage ist, ob er auch
autodiegetisch ist. Seine Position wird in dem Kapitel jetzt genauer geprüft und
analysiert.
Der Roman Schlesisches Wetter beginnt folgendermaßen:
187
188
Ebd., S. 183.
Ebd., S. 54.
47
Man gewöhnt sich nicht daran. Einer der Liebesbeweise Maureens bestand darin,
sich an der Tür umzudrehen und Schynoski! zu rufen. Als wüste ich nicht, wer ich
bin. Maureen ahnte nicht, was ihre Mahnung anrichtete. Ihr Ruf drang in meinem
Gehörgang ein und explodierte dort. Schynoski! Ich preßte beide Hände auf meine
Ohren. […] Journalist bin ich geworden, weil ich damals keine Ahnung hatte, was
eine Zeitung ist. Heute bin ich im Grunde nicht besser dran. Hellhöriger
Schynoski.189
Schon in den ersten Versen kommt Schynoski, der deutsche Journalist, als Figur in
seiner eigenen Geschichte vor. Der Ich-Erzähler verwendet die grammatische erste
Person. Das Geschehen des Romans wird aus seiner Sicht präsentiert. Die Figur des IchErzählers wird im Buch auf diese Weise dargestellt:
Ich trug von früh an stärke Gläser. […] Ich war kaum einundfünfzig hoch und wog
keine vierzig Kilo. Ein dürrer, unscheinbarer Junge. […] Ich war nur eine Randfigur.
Ein Journalist aus der dritten Reihe, der zu spät erfuhr, was Tage vorher verabredet
worden war. […] Mein Englisch war erbärmlich. […] Ich wog weit über einhundert
zwanzig Kilo. […] Ich wurde täglich fetter und löste mich dennoch zunehmend
auf.190
Die Handlung des Romans beginnt in Berlin in einer Wohnung, in der Schynoski mit
seiner englischen Lebensgefährtin, Maureen, zusammenlebt. Er brachte sie in
Erinnerung auf diese Weise:
Maureen verdiente bei Moritz & Schlesinger für uns beide. Sie nannte sich
Gastarchitektin. […] Maureen entwarf Häuser. Sie zeichnete. Sie rechnete. Ihr Büro
trieb Experimente in der Stadt. […] Sie investierte jeden Penny in ihr Studium. Sie
wollte vorwärts kommen. […] Sie gefiel mir.191
Schynoskis Liebesabenteuer mit Maureen endete in dem Moment, in dem er zu einer
Entscheidung kommen müsste, nach London mit Maureen zu fliegen oder in Berlin zu
bleiben. Die Reise nach London war mit Maureens Traumjob verbunden und der
Aufenthalt in Berlin mit einem Auftrag von seiner Redaktion, den er nach zwei Jahren
seiner Lethargie bekam. Schynoski entschloss sich in Berlin zu bleiben und um zwei
polnische Gastjournalisten, Beata Szewińska und Witek Misiak, zu kümmern. Seine
Entscheidung drückte Müller folgendermaßen aus: „Kein Wort mehr über London. Ich
werde nie wieder darüber nachdenken, dass ich jemals dort hätte ankommen können.
Diese Entscheidung hat mir das Leben gerettet.“192
Den Auftrag führte Schynoski auf die Spuren seiner Familiengeschichte, infolgedessen
sein Leben eine plötzliche Wende erfuhr. Die beiden Polen, Beata und Witek, stoßen
seine Polen-Reflexion an. Müller brachte das in den folgenden Ausdruck: „Ich kannte
189
Ebd., S. 5.
Ebd., S. 6 ff.
191
Ebd., S. 30 ff.
192
Ebd., S. 97.
190
48
Polen kaum, hatte nur Stettin für wenige Tage besucht, stattete einmal Gubin eine kurze
nächtliche Visite ab und kannte den polnischen Zipfel Usedoms flüchtig.“193
Schynoskis Mutter erzählte ihm von der Familiengeschichte und er entschloss sich,
nach Schlesien zu reisen. Die Mutter erzählte ihm von der Flucht aus der alten Heimat,
von der Vertreibung ihrer Familie nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien.
Schynoski fuhr nach Breslau und in das schlesische Dorf, aus dem seine Familie
stammte. Seine Gedanke bei der ersten Fahrt nach Breslau beschrieb Olaf Müller in der
folgenden Art: „Der Bahnhof von Leignitz war schon vorüber. Der nächste Halt würde
in Breslau sein. Ich kam zum ersten Mal an. Ich erinnere mich an die Frage Dorotas:
Woher ich käme? Und dass ich darauf keine Antwort wusste. Weil ich mich daran nicht
erinnern wollte. Damals.“194
Schynoski wird dort mit den Folgen der Vertreibung und dem heutigen Polen
konfrontiert. Die Realität kollidierte mit seinen Fantasien. Am Ende seiner Reise
begegnete er schließlich Agnieszka und entschloss sich, in Polen zu bleiben.
Alexander Schynoski erzählte im Roman von seiner Familiengeschichte und ist am
erzählten Geschehen unmittelbar beteiligt. Er ist zugleich die Hauptfigur des Werkes
und steht in einer engen Beziehung zu allen Figuren in der erzählten Welt. Den IchErzähler, der in seiner eigenen Geschichte vorkommt und zugleich auch die Hauptfigur
ist, wird in der Erzähltheorie als autodiegetischer Erzähler bezeichnet. Nach den
theoretischen Ansätzen ist Alexander Schynoski ein Beispiel des Erzählers eines
Romans, der homodiegetisch und zugleich autodiegetisch ist.
Die Textanalyse weist darauf hin, dass Müllers Schlesisches Wetter ein Werk der
erzählenden Dichtung ist. Alexander Schynoski ist homodiegetischer und zugleich
autodiegetischer Erzähler. Das Geschehen des Romans wird aus seiner Sicht präsentiert
und dargestellt.
3.3.2 Heterogene erzählte Welt im Roman Schlesisches Wetter
In dem vorherigen Kapitel wurde es klargestellt, dass Olaf Müllers Schlesisches Wetter
eine fiktionale Erzählung ist. In dem analytischen Teil wird jetzt genauer die erzählte
Welt überprüft, die Müllers Roman darstellt. Es wird analysiert, auf welche Weise Olaf
Müller die erzählte Welt in seinem Buch konstruiert und ob er die erzählte Welt mit der
193
194
Ebd. S. 18.
Ebd. S. 35.
49
realen Welt verknüpft hat, oder nicht. Die im Roman vorhandenen erzählten Welten
werden in dem Kapitel genauer erläutert und an einigen Beispielen präsentiert.
In Bezug auf theoretische Ansätze kann man feststellen, dass in Schlesisches Wetter
eine heterogene erzählte Welt dargestellt ist. Die Familiengeschichte, die in dem Roman
dargestellt wird, wird auf dem Hintergrund der realen historischen Ereignisse
präsentiert. Olaf Müller nahm in seinem Buch das wichtiges Thema an. Er beschäftigte
sich mit den Kriegserfahrungen der Großelterngeneration, ihr Umgang mit der Angst,
mit Vertreibung, Flucht und Tod.
Alle im Roman geschilderten Figuren sind fiktional und werden aus Sicht des
autodiegetischen
Erzählers
präsentiert.
Der
Autor
beschrieb
Schynoskis
Familienherkunft folgendermaßen:
Die Oma hatte noch vier Geschwister, die Tante Merthe, den Onkel Hans, die Tante
Gertrud, vier Geschwister, der Onkel Hans, die Tante Jaschke, also von der Mathilde
die Mutter, ja, also die waren vier Geschwister, und die Mama war die Jüngste. Und
die Oma war eine geborene Krieg, ein seltsame Name, nickt wahr? Die Uroma, die
ist von polnischem Uradel gewesen, die waren verarmt und haben sich dann
umbenannt. Man konnte so einen Titel verkaufen. Wer weiß, was man dafür
bekommen hat, nicht viel, glaube ich. Die hat geheiratet und hieß dann Krieg; das
Gut kriegt immer der Älteste, das war der Onkel Hans, der ist aber in Oberschlesien
im Bergwerk gewesen, und da hat sie das bekommen, und den Onkel hat sie
bewundert, weil er so weit weg war, weil man sich Geschichten erzählt hat, sagte
sie.195
Olaf Müller zeigte in seinem Buch fiktive Reaktionen der dargestellten Figuren, durch
die die Verbindung zwischen fiktionaler und realer Sphäre hergestellt wird. Er
verknüpft die fiktive Welt mit der realen Welt. Obwohl die Handlung sich in der
Gegenwart abspielt, die Hauptfigur des Romans, Alexander Schynoski, ruft die
Geschichte seiner Familie hervor. Er verwendet reale Zeitangaben, Orts- und
Ländernamen, die eine wesentliche Rolle im Buch spielen. Als Handlungsorte wählte
der Autor reale Städte: Berlin, London, Leipzig, Breslau und Bischwitz. Die
verwendeten Ortsnamen sind eng mit zahlreichen historischen Ereignissen verflochten.
Im Schlesisches Wetter gibt es viele Textabschnitte, in denen reale und fiktive Welten
zusammenstoßen.
In dem ersten Absatz beschrieb Olaf Müller Leipzig am Ende der sechziger Jahre. In
Leipzig setzte er die Kindheit des Haupthelden. Mit dieser Stadt sind Schynoskis erste
Kindheitserinnerungen verbunden. Bei der Stadtbeschreibung vermischte der Autor
zwei Welten.
195
Ebd., S. 128.
50
Einerseits rief Müller den realen Ortsnamen Leipzig, und historische Ereignisse, die mit
der schlesischen Stadt und der damaligen politischen Situation verflochten sind, ins
Gedächtnis. Er beschrieb Leipzig am Ende der sechziger Jahre folgendermaßen:
Tatsächlich wäre es sehr gefährlich gewesen, halbblind durch die Ruinen zu
stolpern, in denen wir noch Ende der sechziger Jahre in Leipzig gespielt haben.
Unter dem Schutt lagen überall Eingänge zu feuchten Kellerlöchern. Ein falscher
Schritt, und wir wären metertief in die Abgründe gestürzt, die der Krieg hinterlassen
hatte. Überwucherter Krater, heimtückische Gruben, Fallen. 196
Der Autor rief auch das folgende Ereignis, das Schynoskis erlebt, ins Gedächtnis:
„Direkt meinem Haus gegenüber lagen die Trümmer der Dosenfabrik Köhler, die an ein
Ruinengrundstück grenzte, wo vor der Bombardierung ʼ43, als meine Familie noch in
Fürsten-Altguth saß, ein Wohnhaus gestanden hatte.“197 In den Kriegsjahren existierte
die Dosenfabrik Köhler und der Autor verwendet sie als ein Element der realen
erzählten Welt.
Der
Textabschnitt
stellte
auch
fiktive
Beschreibungen
vor.
Dazu
gehören
Beschreibungen: Schynoskis Haus und seine Bande. An seine Bande erinnerte sich
Schynoski folgendermaßen:
In der Bande gab es Jungs, die ausführlich von Horrorfilmen aus dem
Westfernsehen erzählten. Dort wurden ihre Phantasien entfacht. Wir träumten
davon, in die Katakomben vorzudringen, aber uns fehlten die Werkzeuge. So blieb
es dabei, dass wir unsere markerschütternde Entdeckungen erfinden mussten. Eine
lange Reihe von Skeletten, die auseinandergesungen auf einer Bank an der
Kellerwand sitzen. Bei der ersten Berührung würden ihnen die modrigen Kleider
von den weißbleichen Knochen fallen. Das Mumientheater wäre zu Staub zerstoben.
Die ganze Vergangenheit.198
In diesem Abschnitt nahm der Autor Bezug auf Kindheitserinnerungen, die ihn mit den
Folgen des Zweiten Weltkrieges konfrontierten. An Schynoskis Beispiel zeigt er fiktive
Gefühle der Kriegskinder, die in der damaligen Zeiten aufwuchsen.
Olaf Müller brachte auch die reale Körnerstraße in Erinnerung, die bis heute in Leipzig
existiert. Bei der Körnerstraße setzte der Autor bei Schynoskis Haus ein: „Irgendwo in
Leipziger Süden. In der Körnerstraße. Wir wurden in ein Zimmer gesperrt.“199
Der Autor erinnerte sich im weiteren Teil des Buches auch an Stettin. Er führt die Stadt
auf folgende Weise ein: „Ich kannte Polen kaum, hatte nur Stettin für wenige Tage
besucht.[…] Stettin empfing mich Ende der siebziger Jahre im rußgrauen Wohnvierteln,
die man wahrscheinlich ein Jahrzehnt zuvor in die Stadt an der Oder gewürfelt hatte.
196
Ebd., S. 8.
Ebd., S. 8.
198
Ebd., S. 9.
199
Ebd. S. 11.
197
51
Von Stettin war bei Kriegsende nicht viel übriggeblieben. Ich kann mich nur undeutlich
erinnern, was ich drei Tage lang dort getan habe.“200
Daneben brachte Müller den polnischen Basar in Erinnerung und beschrieb ihn
folgendermaßen:
In der Nähe des Hafens, in dem wenigstens eine kleine Flottille polnischer
Marineboote zu besichtigen war, die dort ihre grauen Rümpfe auseinanderrieben,
hatten die Polen einen Basar aufgezogen, der ausschließlich die Wünsche der
DDRler bediente. Überteuerte T-Shirts waren bunt bedruckt mit den komisch
entstellten Gesichtern von Abba, den Beatles oder den Stones, Led Zeppelin und
Deep Purple. Beeindruckende Offerten, wohin man sah. Vereinswimpel
westdeutscher und englischer Fußballmannschaften. Trikots. Am preiswerten
erstand man Hemden mit dem Aufdrucks: Argentina ʼ78. Eine
Fußballweltmeisterschaft, die lange vorüber war. 201
Der Basar in Stettin wurde so beschrieben, dass der Leser den Eindruck bekommt, er
befinde sich direkt in der dargestellten Handlung. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die
Verkäufer, die auf dem Basar ihre Waren anboten. Müller zeigte sie auf diese Weise:
„Die Verkäufer schienen an ihrer Kunden nicht besonders interessiert zu sein.
Gleichgültig und wortlos gaben sie die eingeschweißten Sachen heraus und stopften das
Geld in ihre Hosentaschen. Man hatte das Geschäft schauspielerisch im Griff.“202
Im Roman gibt es viele Beispiele, die die soziale und ökonomische Situation des
damaligen Polen schildern. Der beschriebene Basar existierte bis in die heutige Zeit in
Polen und ist für viele polnische Bürger die geliebte Art des Handels. Mit solchen
Beschreibungen brachte der Autor den Leser näher an Polen und die polnische
Gesellschaft. In der Beschreibung des Basars verknüpfte Müller zwei verschiedene
Welten: reales Vorhandensein von Basaren und fiktive Beschreibung der Waren und
Verkäufer.
Die polnische Situation der siebziger und achtziger Jahre wird vom Autor am Beispiel
des Limonadenverkaufs auf der Straße. Müller beschrieb Schynoskis Reaktion darauf
wie folgt:
Alle zehn Meter verkaufte man Limonade in grün und rot. Sie war nicht so giftig,
wie sie aussah. Die ausgetrunkenen Gläser wurden mit einer kleinen Fontäne, die in
den Apparat eingebaut war, sofort gespült und wieder bereitgestellt. Ich kannte diese
Vorrichtung bis dahin nicht. Den Polen schienen die Getränke nichts anhaben zu
können. Warum sollte es mir anders ergehen? Ich war mindestens so
widerstandsfähig wie sie. Also trank ich ein Glas von der roten Limonade. Sie
schmeckte stark nach Zucker und einer nicht genau definierbaren Frucht. Ich
überlebte die Erfrischung leicht angeschlagen.203
200
Ebd., S. 18.
Ebd., S. 19.
202
Ebd., S. 20.
203
Ebd., S. 20.
201
52
In diesem Abschnitt lässt Müller wieder zwei verschiedene Welten kollidieren: realer
Limonadenverkauf auf der polnischen Straße in den siebziger Jahren und daraufhin die
fiktive Reaktion Schynoskis. Er konfrontierte die Hauptfigur mit der polnischen Realität
der siebziger Jahre.
Die Erzählungen von Schynoskis Mutter und Großmutter nähern den Leser an die
Vergangenheit der fiktiven Familiengeschichte. Sie gedachten ihrer Jugend, ihrer
Familie, ihres Hauses, ihres Dorfes, in dem sie die Kindheit verbrachten. In dem
folgenden Textabschnitt erzählte eine fiktive Figur, Schynoskis Großmutter, die
politische Situation, in der sich ihre Familie befand. Müller beschrieb das in der
folgenden Textpassage:
„Großmutter konterte: […] <Sommer ʼ45. Wir waren fast einen Monat wieder zu
Hause. Die Russen sind gerade abgezogen. Die Polen waren schon da. Auf der einen
Seite sind die Russen raus, auf der anderen kamen die Polen rein. Jedenfalls wollten
wir ihn in die Aschengrube werfen. Den hätte keiner gefunden. Die Aschengrube
war doch randvoll! Den hätten wir noch reingestopft. […] Die Alten haben es
durchgemacht und die Heimat verloren.>204
Durch Schilderungen Schynoskis Großmutter wird dem Leser die fiktive deutsche
Familiengeschichte gezeigt, die wegen den Folgen des Zweiten Weltkrieges aus den
Ostgebieten fliehen mussten. Die Frau brachte auch in Erinnerung, dass ihre „Familie
nach der Tschechoslowakei geflüchtet war, als die Front kam“205. In der
Tschechoslowakei wohnte sie bei einer Familie Hupka. Am achten Mai war der Krieg
zu Ende und ihre Familie „am neunten oder am zehnten musste raus aus dem Dorf und
alles abgeben“.206
Im Schlesisches Wetter schilderte Olaf Müller reale schlesische Städte. Genau beschrieb
er Wrocław auf folgende Weise:
Schließlich Breslau-Zentrum; die Einfahrt in die Stadt bis zu jenem Hauptbahnhof,
von dem meine Familie nicht abgefahren war. Der Transport nach Sachsen begann
ʼ47 auf dem Freiberger Bahnhof, der etwas abseits vom Stadtzentrum liegt. […]
Rußige Fassaden säumten die Piłsudskiegostraße. Bürgerhäuser, wie sie auch am
Bahnhof in Leipzig zu finden waren. Grau wie jene und ebenso befallen vom
Werbetafelschimmel, der sich hier noch gefährlicher und unüberschaubarer an den
Fassaden empor zu fressen schien, so dass an einigen Stellen das Mauerwerk, die
Fenster oder die Putz nicht mehr zu erkennen waren.207
204
Ebd., S. 23.
Ebd., S. 147.
206
Ebd., S. 148.
207
Ebd., S. 165 f.
205
53
Bei dieser Beschreibung präsentierte Müller historische Ereignisse, die eng mit dieser
schlesischen Stadt verflochten sind. Andere reale historische Ereignisse werden in
Erzählungen Schynoskis Mutter und Großmutter dargestellt:
Vermutlich sah ich meine Mutter in meinem Kopf um, während sie weitersprach.
[…] Während sie sprach, fuhr sie mit der Schere unter den Faden der Naht und riss
dann die Stoffbahnen wütend und kraftvoll auseinander. <[…] wir hatten in der
Tschechoslowakei, wohin wir geflüchtet waren, als die Front kam, da haben wir,
Hitler hat das noch, ich weiß nicht genau, wer das angeordnet hat, jedenfalls haben
wir da eine ganze Kiste Zucker gekriegt, Würfelzucker, eine ganze Kiste voll, so
einen großen Karton; davon haben wir Graupen gekriegt und schwarzes Mehl, und
als wir zurück sind, am achten Mai war der Krieg zu Ende, und am neunten oder am
zehnten mussten wir raus aus dem Dorf und alles abgeben. Den Zucker. Den Zucker
mussten wir abgeben, […] aber die Frau, wo wir gewohnt haben, Hupka hießen sie,
die hat uns den Zucker, den wir ihr geschenkt hatten, wiedergegeben.> 208
Diese dargestellten Beispiele zeigen, dass Olaf Müller in seinem Roman Bezug auf zwei
Merkmalspaare <real> und <fiktiv> nimmt, die für die erzählte Welt charakteristisch
sind. Einerseits rief er reale historische Ereignisse und Daten ins Gedächtnis, die mit
den Kriegserfahrungen eng verknüpft sind, und andererseits stellte er Reaktionen und
Gefühle der im Roman auftretenden Figuren fiktiv dar.
4 Zusammenfassung
Olaf Müllers Schlesisches Wetter gehört zu den Büchern, die als ,Erinnerungsliteraturʼ
gekennzeichnet werden. Olaf Müller ist ein Vertreter der dritten Generation. Als ein
Schriftsteller des Jahrgangs 1962 wagte er sich das Schicksal der Vertriebenen zu
beschreiben, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Ostgebieten fliehen
mussten. Der Zweite Weltkrieg war – und ist immer noch – ein unsagbar wichtiges und
schwerwiegendes Ereignis unserer Geschichte, woran die Erinnerung und das
208
Ebd., S. 147 f.
54
Gedächtnis unter keinen Umständen abnehmen oder gar verschwinden darf. Olaf Müller
beschäftigte sich in Schlesisches Wetter mit Heimatproblematik, die zu einem relativ
heutigen Thema in der deutschen Literatur der Nachkriegsjahre gehört.
Olaf Müller stellt eine deutsche Familiengeschichte und deutsch-polnische Stereotypik.
Der Roman markiert die Übergänge vom kommunikativen Erinnern zum kollektiven
Erinnern bis hinein ins kulturelle Gedächtnis. Aleksander Schynoski, die Hauptfigur des
Romans, liefert ein mustergültiges Beispiel für seine anfängliche Abhängigkeit vom
kollektiven Gedächtniskonstrukt und schließlich seine Befreiung von den damit
verbundenen Zwängen. Musterbeispiele der Übermittlung kommunikativer Erinnerung
sind Schynoskis Gespräche mit seiner Großmutter und Mutter. Sie bilden einen großen
Beitrag von Erinnerungen, von denen Schynoski sich abwenden wird.
In Schlesisches Wetter wurden historisch herausgestellte Stereotypen: Stereotyp der
,polnischen Wirtschaftʼ, ,Polen-Opfer-Stereotypʼ und das Bild der ,schönen Polinʼ in
Betracht gezogen. Die analysierten Buchabschnitte weisen eindeutig darauf hin, dass
sich Olaf Müller in seinem Roman auf das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ beruft
und es sich in seinem entworfenen literarischen Polen-Raum auf verschiedene Art und
Weise schildern lässt. Der entworfene Polen-Raum betrachtet die funktionierende
Behauptung der deutsch-polnischen Nachbarschaft nicht mehr als problematisch. An
dem
Beispiel
den jungen
deutschen Journalisten zeigt
Olaf Müller, dass
zwischenmenschliche Kontakte unter den beiden Nationen einen positiven Charakter
haben können. Die polnischen Frauenfiguren stellt Olaf Müller als die Personen, die
fähig sind, einen positiven emotionalen Zustand zwischenmenschlicher Beziehungen zu
erzeugen.
Erinnerung führt immer zu versuchen, eine Zeit und die Zeiten wiederzugewinnen.
Gedächtnis erweist sich dann als das, was aus teilweise verlorenen, teilweise
wiedergewonnen und teilweise imaginierten Bausteinen entsteht, die dauernd aufgebaut
und wieder abgebaut werden. Daher sind weder die Erinnerung noch das Gedächtnis
Konstanten, wie beispielweise die Abkehr von negativen Stereotypen gezeigt hat.
Erinnerung und Gedächtnis befinden sich in dauerndem Wandel.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass Schlesisches Wetter einen großen Beitrag
zur Theorie literarischer Darstellung von Erinnerung leistet.
55
5 Anhang – biografische Angaben zu Olaf Müller
Olaf Müller (* 23. März 1966) ist ein deutscher Philosoph und Professor an der
Humboldt-Universität zu Berlin. Müller studierte Philosophie und Mathematik an der
Georg-August-Universität Göttingen und der University of California, Los Angeles.
Nach Forschungsaufenthalten in Krakau (1996) und an der Harvard University (1997)ist
er seit 2003 Professor für Wissenschaftstheorie in Berlin.
56
Müller promovierte 1996 mit einer Arbeit über Willard Van Orman Quine. Gegen
Quine argumentiert er, dass sich den Begriffen "Synonymie" und "Analytizität"
durchaus ein sprachphilosophischer Sinn abgewinnen ließe. Dieses Ergebnis führt
Müller zu einer Kritik an Quines semantischen Skeptizismus, also der naturalistischeliminativen These, dass die Semantik in einer wahren Beschreibung der Welt keinen
Platz habe. Müller hat zudem eine allgemeine Kritik am erkenntnistheoretischen
Skeptizismus entwickelt. Aufbauend auf dem Gehirn-im-Tank Gedankenexperiment
Hilary Putnams versucht er zu zeigen, dass man einen generellen Skeptizismus mit a
priori Argumenten widerlegen könne.
In der Ethik kritisiert Müller den Utilitarismus und bemüht sich um eine Theorie des
Pazifismus.
Olaf Müller unterrichtete Philosophie in Mannheim (1994), in Krakau (1996), an der
Freien Universität Berlin (1996/97), in Göttingen (1998-2003) und an der LudwigMaximlilians-Universität München (2002/03). Seit Oktober 2003 lehrt er Philosophie
(mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie) an der Humboldt-Universität zu Berlin.209
6 Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
209
http://de.wikipedia.org/
57
Borodziej, Włodzimierz; Ziemer Klaus (Hg.): Deutsch-polnische Beziehungen 19391945-1949. Eine Einführung. In: Zimniak, Paweł: Niederschlesien als
Erinnerungsraum nach 1945. Wrocław/Dresden 2007.
Cirbineau - Hofmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik. Köln. 2004.
Dysernick, Hugo: Zum Problem der „images“ und „mirages“ und ihrer Untersuchung
im Rahmen der vergleichenden Literaturwissenschaft. In: Klein, Eugeniusz:
Deutsch-polnische Literaturbeziehungen. Köln 1988.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar 2005.
Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt 2008.
Hahn, Hans Henning: Einleitung. In: Hahn, Hans Henning (Hg.): Historische
Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde.
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Klein, Eugeniusz: Deutsch-polnische Literaturbeziehungen. Köln/ Wien 1988.
Martinez, Mattias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München
2007.
Mazurkiewicz, Jolanta: Zwischen deutsch-polnischem Grenzland und verlorener
Heimat. Frankfurt am Main 1988.
Müller, Olaf: Schlesisches Wetter. Berlin 2003.
Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. Wrocław 2005.
Szaruga, Leszek: Von den Stereotypen bis zur Befreiung von der Geschichte. In
Zimmermann, Hans Dieter (Hg.): Mythen und Stereotypen auf beiden Seiten der
Oder (Schriftenreihe des Forum Guardini, Bd.7), Berlin 2000.
Stanzel, K. Franz: Typische Formen des Romans. Göttingen 1993.
Zimniak, Paweł: Nachbarn literarisch. Zu Polenbildern in der neuesten deutschen
Literatur. In: Kolago, Lech (Hg.): Studien zur Deutschkunde. Warszawa 2007.
Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Wrocław/Dresden
2007.
6.2 Sekundärliteratur
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Vorurteil im englischsprachiger Literatur. Tübingen 1987.
Dudenredaktion: DUDEN 1, Die deutsche Rechtschreibung 23. Auflage. Dudenverlag,
Mannheim 2004.
58
Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung. München 1964.
Ossowski, Stanisław: Analiza socjalistyczna pojęcia ojczyzny. In: Dzieła. Tom III.
Warszawa. 1967.
Riesz, Jảnosz: Zur Omnipräsenz nationaler und ethnischer Stereotypen. Mainz 1980.
Stüben, Jens: Deutsche Polen-Bilder. Aspekte ethnischer Imagetype und Stereotype in
der Literatur. In: Hahn, Hans-Henning (Hg.): Historische Stereotypenforschung.
Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Oldenburg 1995.
Wörterbücher
Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. Leipzig/München 2006.
Clauß, Günter (Hg.): Wörterbuch der Psychologie. Leipzig 1981.
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. München 1991.
59
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