Das Eigene und das Fremde – Zu deutsch-polnischen Wahrnehmungsmustern im Roman Schlesisches Wetter (2003) von Olaf Müller Inhaltsverzeichnis 1 Zielsetzung….............................................................................................................5 2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand...................................................7 2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen…………………………………………..7 2.2 Literatur und Geschichte – zur deutsch-polnischen Perspektive auf den Vertreibungskomplex…………...……………………………………13 2.3 Komparatistische Imagologie und Stereotypenforschung……………………16 2.3.1 Zum Begriff ‚Stereotyp’………………………………………………..18 2.3.2 Polenbilder in der deutschen Literatur………………………………….21 2.4 Literatur in narratologischer Perspektive.……………………………..………23 2.4.1 Faktuales und fiktionales Erzählen……………………………………...24 2.4.2 Das <Was> und das <Wie> eines narrativen Textes……………………26 2.4.3 Franz Stanzels Typologie von <Erzählsituationen>…………………….29 2.4.4 Erzählte Welten in narratologischer Sicht.…………………………...…31 3 Olaf Müllers Schlesisches Wetter – Roman als Erinnerungsraum 3.1 Tabuisiertes Familiengedächtnis – Zur Vertreibungsgeschichte der Familie Schynoski in Olaf Müllers Schlesisches Wetter………………………33 3.2 Stereotype Vorstellungen über das Eigene und das Fremde in Olaf Müllers Schlesisches Wetter………………………………………..…..…37 3.2.1 Wrocław als Polenraum des Stereotyps der ,polnischen Wirtschaft´…38 3.2.2 Deutsch-polnische Wahrnehmung des Geschichtsraumes…………….42 3.2.3 Das Bild der ,schönen Polin´ in Müllers Auffassung.…………………44 3.3 Alexander Schynoski und seine Polenwahrnehmung………………………...47 3.3.1 Alexander Schynoski als autodiegetischer Erzähler…………..………..50 3.3.2 Heterogene erzählte Welt im Roman Schlesisches Wetter……………..53 4 Zusammenfassung……………………………………………………………......58 1 5 Anhang – biografische Angaben zu Olaf Müller……………………………….60 6 Literaturverzeichnis……………………………………………………………...61 6.1 Primärliteratur…………………………………………………………………61 6.2 Sekundärliteratur……………………………………………………………...62 1 Zielsetzung Das Gedächtnis ist ein soziales Phänomen. Der Begriff ist sehr umfangreich und er wird als kollektive oder individuelle Erfahrung oder Wahrnehmung betrachtet. Das Gedächtnis entwickelt sich nicht in Isolation, sondern ist immer schon sozial auf andere Individuen und, auf politischer Ebene, auf andere Gruppen bezogen. Die Menschen entscheiden darüber, woran sich jemand erinnert, treffen die Wahl und konstruieren erfahrungsbezogene Texte selbst, die zu Erinnerungsliteratur werden können. Der Begriff der Erinnerung und das Erinnern als vergangenheitsgestaltender Vorgang nehmen innerhalb der Kulturwissenschaften einen zentralen Platz ein und erlauben einen inter- bzw. transdisziplinären Zugang. In der Erinnerung wird Vergangenes in einer bestimmten Gestalt vergegenwärtigt, so dass sie eine Beziehung zwischen dem Gegenwärtigen und dem Gewesenen stiftet. In der Erinnerung wird auch die Geschichte konstruiert, sie ist das Organon der Geschichte.1 Literarische Texte leisten einen großen Beitrag zur Vermittlung, Entwicklung und Verbreitung der Geschichte. Heutzutage beschäftigen sich viele junge deutsche Autoren mit dem Thema Flucht und Vertreibung im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Im Jahre 2003 erschien Olaf Müllers Roman Schlesisches Wetter. In seinem Roman weist Müller auf die Heimatproblematik hin und beschäftigt sich mit den Kriegserfahrungen der Großelterngeneration, mit der Vertreibung und Flucht. Das Thema des Heimat-Verlustes und der Topos der `verlorenen Heimat´ steht nach 1945 im Zentrum öffentlicher Debatten. Der Begriff `Heimat´ wird immer besprochen, wo Bevölkerungen in Massen emigrieren müssen oder vertrieben werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Niedergang des Dritten Reiches, wird das Thema aktuell, als Millionen von Deutschen aus den Ostgebieten ausgesiedelt wurden und eine Art von Sicherung verloren haben. Viele deutsche Autoren der dritten Generation greifen die Heimatproblematik in ihren Büchern auf. Sie wurde zu einem relativ häufigen Thema in Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Wrocław/Dresden: Neiße Verlag 2007, S. 25. 1 2 der deutschen Literatur der Nachkriegsjahre. Sie stellt Schicksale und Haltungen der Einzelnen dar. In dem analytischen Teil dieser Arbeit wird das Phänomen ,Heimatʼ und die ,verlorene Heimatʼ und die Art und Weise der Darstellung der Polen und Polens besprochen. Die Reflexionen über das Eigene und das Fremde werden weitgehend die Bestimmung der Semantik des literarischen Polen/Deutschland-Diskurses nach 1945 betreffen. Es wird versucht, die Wahrnehmungsperspektiven in der konkreten Besonderheit herauszuarbeiten. Weiterhin wird auch die Frage gestellt, inwieweit die historisch entwickelte Stereotype über Polen und die Polen in Schlesisches Wetter eine Rolle spielen. Durch die Analyse des Romans wird untersucht, ob der entworfene literarische Polen-Raum stereotypisiert wird oder eben nicht. Es werden drei Polen-Stereotype unterschieden und besprochen: das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ, ,Opfer-Stereotypʼ und das Stereotyp der ,schönen Polinʼ. In Bezug auf Erzähltheorie wird auch überprüft, ob Olaf Müller im Schlesisches Wetter die erzählte Welt mit der realen Welt verknüpft hat oder nicht. Um die analysierten Aspekte genauer zu veranschaulichen, werden die angeführten Probleme mit zahlreichen Zitaten bzw. Anmerkungen und Verweisen auf die entsprechenden Textstellen versehen. Der Roman Schlesisches Wetter wird einerseits hinsichtlich der theoretischen Ansätze im narratologischen Kontext untersucht und andererseits im Kontext eines kulturellen Archivs aufgefasst. In Bezug auf Erzähltheorie wird auch überprüft, ob Olaf Müller im Schlesisches Wetter die erzählte Welt mit der realen Welt verknüpft hat oder nicht. Mit der Analyse werden Möglichkeiten einer theoretischen Annäherung an das Problem der Wahrnehmung des Fremden erörtert. Olaf Müllers Roman gehört zur Erinnerungsliteratur, die uns die Ereignisse überliefert, die in der Vergangenheit stattfanden. Die Erinnerungsliteratur hat Einfluss auf unsere Bildung. Sie erhält Informationen, die einen Blick in die Vergangenheit ermöglichen. Die Nachkriegsliteratur war und ist umfassend, reichhaltig und vielfältig. 3 2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand 2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen Der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945) entwickelte den Begriff <mémoire collective>. Mit diesem Begriff beschäftigte er sich in seinen drei Schriften, die heute eine zentrale Stellung im Diskurs über das kollektive Gedächtnis einnehmen. Er versuchte in den Schriften zu beweisen, dass alle individuellen Handlungen und Regeln letztlich auf eine überindividuelle soziale Wirklichkeit zurückgeführt werden.2 In seinem 1925 erschienenen Werk Les cadres sociaux de la mémoire verwendete Halbwachs zum ersten Mal den Begriff des kollektiven Gedächtnisses. Mit dieser Schrift versuchte er die soziale Bedingtheit der Erinnerung anzugeben. Nach seiner Theorie ist jede persönliche Erinnerung eine <mémoire collective>, ein kollektives Phänomen. Über fünfzehn Jahre arbeitete Halbwachs an der nächsten seiner Schriften La mémoire collective, in der er sein Konzept des kollektiven Gedächtnisses weiter entwickelte. Er untersuchte Formen und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses. Seine Überlegungen veröffentlichte er in seinem dritten Buch La Topographie legendaire des Evangiles en Terre Sainte. Astrid Erll stellt zwei grundlegende Konzepte von kollektivem Gedächtnis dar, mit denen sich Halbwachs beschäftigte: kollektives Gedächtnis als das Gedächtnis des Individuums, das sehr eng mit dem soziokulturellen Umfeld verbunden ist und kollektives Gedächtnis innerhalb von sozialen Gruppen und Kulturgemeinschaften in Bezug auf Vergangenes.3 Halbwachs Theorie des individuellen Gedächtnisses bildet sich innerhalb von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, von sozialen Rahmen aus. Für Halbwachs sind 2 3 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 14 f. Vgl. ebd., S. 14 f. 4 soziale Rahmen Menschen, die uns umgeben und mit denen man zusammenlebt. „Der Mensch ist ein soziales Wesen.“4 Ein Individuum kann ohne andere Menschen nicht existieren. Das soziale Umfeld bilden vor allem Mitmenschen. Ohne sie gibt es keinen Zugang zu sozialer, kollektiver Sprache und Sitten. Durch Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen werden Wissen über Daten und Fakten ,kollektive Zeit- und Raumvorstellungen sowie Denk- und Erfahrungsströmungen vermittelt. Durch den Kontakt mit Zeitgenossen kann man sich an vergangene Ereignisse erinnern. Nach Halbwachs sind individuelle Erinnerungen sozial geprägt und sind vom kollektiven Gedächtnis abhängig.5 Kollektives und individuelles Gedächtnis stehen in einer Wechselbeziehung. Jeder Mensch gehört mehreren sozialen Gruppen an: der Familie, der Religionsgemeinschaft, der Belegschaft am Arbeitsplatz und verfügt über unterschiedliche, gruppenspezifische Erfahrungen. Dadurch unterscheiden sich nach Halbwachs die Gedächtnisse einzelner Menschen voneinander. Das kollektive Gedächtnis wurde von Halbwachs an soziologischen Fallbeispielen untersucht. Dazu gehören: Familie, Religionsgemeinschaft und soziale Klasse.6 „Das Familiengedächtnis ist ein typisches intergenerationelles Gedächtnis.“7 Es ist typisch für jede Generation, für Mitglieder einer bestimmten Familie, die über gemeinsame Erfahrungen verfügen. Im Rahmen einer Familie werden die Erfahrungen ständig ausgetauscht. Das kulturelle Gedächtnis entsteht durch soziale Interaktion (durch gemeinschaftliche Handlungen und geteilte Erfahrungen) und auch durch Kommunikation (wiederholtes gemeinsames Vergegenwärtigen der Vergangenheit).8 Das kollektive Generationsgedächtnis ist von den Familienmitgliedern abhängig. Auf diese Weise trennt Halbwachs in seiner Theorie das Generationsgedächtnis von der Zeitgeschichte und unterscheidet zwei Begriffe, ,Geschichte’ und ‚Gedächtnis’ voneinander. Für ihn ist Geschichte universal, sachlich und objektiv. Sie stellt eine Rekonstruktion der Vergangenheit dar. Das Gedächtnis ist im Gegensatz zur Geschichte von Menschengruppen abhängig. Es ist stark selektiv und subjektiv. Halbwachs untersuchte auch den Zusammenhang zwischen den Begriffen ‚des kollektiven Gedächtnisses’ und ‚der Traditionsbildung’. Er stellte fest, dass die 4 5 6 7 8 Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 15 ff. Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 16. 5 Traditionsbildung durch das kollektiv konstruierte Wissen und Erinnerungen überliefert wird.9 In den 1920er Jahren beschäftigten sich Maurice Halbwachs und Aby Warburg mit dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses.10 Die Konzeptionen der beiden Wissenschaftler unterscheiden sich grundlegend voneinander.11 Warburg verbindet das kollektive Gedächtnis mit der Kultur, die anhand verschiedener Symbole (z.B. bewegte Gewandtmotive antiker Fresken in Renaissancegemälden) auslöst wird.12 Er weist darauf hin, dass die kulturellen Symbole eine erinnerungsauslösende Kraft haben. „Solche Symbole, in denen sich das antike Pathos niedergeschlagen hatte, bezeichnete Warburg als ‚Pathosformeln’.13 Pathosformeln verbindet man mit dem menschlichen Ausdruck, mit Emotionen, Leidenschaften und leidenschaftlicher Erregung. Sie beziehen sich auf die Körpersprache. Warburg behauptet, dass „Kultur beruht auf dem Gedächtnis der Symbole.“14 Auf diese Weise entwarf er ein Konzept ,des kollektiven Bildgedächtnisses’, das er auch als ‚soziales Gedächtnis’ bezeichnet. Nach seiner Auffassung ist das antike Pathos eine Erinnerung, die die Künstler in Betracht zogen. Damit verbindet er zwei Grundaspekte der Kultur ‚Ausdruck’ und ‚Orientierung’. Als soziales Medium des kollektiven Gedächtnisses sind nach Warburg nicht nur mündliche Rede, sondern auch Kunstwerke, die im menschlichen Gedächtnis eine geistige Spur hinterlassen. Er verwendet auch den Begriff des ‚europäischen Kollektivgedächtnisses’. Als ‚europäisches Kollektivgedächtnis’ wird nicht nur ausdrucksstarke und eng mit unbewussten, psychischen Prozessen verbundene visuelle Kultur in Betracht genommen, sondern auch Objektivationen der Alltagskultur, Feste und Literatur.15 Halbwachs’ und Warburgs Studien zum kollektiven Gedächtnis in den 1920er Jahren zeigen sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten auf. Halbwachs argumentierte seine Theorie von der sozialen Dimension und Wartburg von der materiellen Dimension her. Die Gemeinsamkeit beider Konzeptionen liegt in der Erkenntnis, dass „Kultur und ihre Überlieferung Produkte menschlicher Tätigkeit sind.“16 9 Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 19. 11 Vgl. ebd., S. 21. 12 Vgl. ebd., S. 19. 13 Ebd., S. 19. 14 Ebd., S. 19. 15 Vgl. ebd., S. 20 f. 16 Ebd., S. 21. 10 6 Heute gelten Halbwachs’ und Warburgs Schriften als zentrale Grundlegungen der Theoriebildung zum kollektiven Gedächtnis. Ihre Untersuchungen gaben den Anstoß zu weiteren Diskussionen um das kollektive Gedächtnis. Halbwachs’ und Warburgs Konzeptionen fanden zur Zeit der Entstehung wenig Gehör. Erst in den 1980er Jahren wurden interdisziplinär und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen zum Gedächtnis als kollektiv bedingtes oder Kultur konstituierendes und kontinuierendes Phänomen weiter aufgenommen. Eines der einflussreichsten Konzepte im Bereich der Gedächtnisforschung wurde durch den französischen Historiker Pierre Nora entwickelt. Er verfasste ein monumentales siebenbändiges Werk Les lieux de mémoire, in dem er darauf hinweist, dass Gedächtnis und Geschichte unterschiedlich gesehen werden. Für seinen Untersuchungsgegenstand galten ‚Erinnerungsorte’, die er als geografische Orte, Gebäude, Denkmäler, historische Persönlichkeiten, Gedenktage, philosophische und wissenschaftliche Texte bezeichnet. Nach Nora gibt es kein Milieu für das kollektive Gedächtnis. Er beschäftigte sich deswegen mit den Orten, die Kultur vermitteln. Er stellte fest, dass das natürliche kollektive Gedächtnis nicht mehr vorhanden ist, weil sich die Bedingungen geändert haben. Nach Halbwachs’ Theorie können Erinnerungsorte nicht ein kollektives Gedächtnis entwickeln. Nach Nora kann das nationale Gedächtnis kollektiver Identität dienen. Er geht davon aus, dass die französischen Erinnerungsorte im 19. Jahrhundert ihren Ursprung haben. Es gab z.B. in Frankreich viele Menschen mit Migrationshintergrund. In solch einem Milieu kann das kollektive Gedächtnis nicht vermittelt worden. Im 20. Jahrhundert nahm jedoch die Gesellschaft eine völlig andere Struktur an. Für Nora ist „die heutige Gesellschaft in einem Übergangsstadium, in dem die Verbindung zur lebendigen, nationalspezifischen, identitätsbildenden Vergangenheit abreißt.“17 So gelten Erinnerungsorte als Platzhalter für das kollektive Gedächtnis, das nicht mehr vorhanden ist. Das Werk Les lieux de mémoire von Nora wird als eine Sammlung von Aufsätzen über Elemente der französischen Kultur bezeichnet, die „kein verbindliches Gesamtbild der Erinnerung ergeben.“18 Jeder Mensch trifft seine eigene Auswahl aus dem Angebot der Erinnerungsorte. Nora stellt Erinnerungsorte als Zeichen dar, die nicht nur auf Ereignisse der französischen Vergangenheit, sondern zugleich immer auch auf das abwesende lebendige Gedächtnis verweisen. Bei seinen Überlegungen stellte Nora auch fest, was für Voraussetzungen ein Ereignis oder 17 18 Ebd., S. 23. Ebd., S. 23. 7 Gegenstand besitzen muss, um als Erinnerungsort bezeichnet zu werden. Auf diese Weise unterschiedet er drei Dimensionen der Erinnerungsorte: eine materielle, eine funktionale und eine symbolische.19 Ende der 1980er haben Aleida und Jan Assmann den Begriff des kulturellen Gedächtnisses analysiert, das viele wissenschaftliche Disziplinen verbindet, wie z. B. Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie. Da kommunikatives und kulturelles Gedächtnis sich voneinander unterscheiden, gliederten Jan und Aleida Assmann dieses Phänomen in zwei ,Gedächtnis-Rahmenʼ20: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis hängt mit der Alltagskommunikation zusammen und bezieht sich auf einem begrenzten Zeitraum von ca.80 bis 100 Jahren.21 „Die Inhalte des kommunikatives Gedächtnisses sind veränderlich und erfahren keine feste Bedeutungszuschreibung. Jeder gilt als gleich kompetent, die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern und zu deuten.“22 Bei dem kulturellen Gedächtnis handelt es sich um feste Ereignisse, die weit zurückliegen, gruppenspezifisch sind und selektiv konserviert werden. Dieses Gedächtnis beeinflusst soziale Gruppen und denen Identitätsbildung durch traditionelle und symbolische Vermittlung der Vergangenheit, die durch Worte, Bilder, religiöse Handlungen, Rituale, Bauwerke, Literatur, Musik. Das Gedächtnis ist an der Gegenwartsperspektive gebunden und wird von Spezialisten, wie z.B. Priester, die verbindliche gruppenbezogene Werte und Inhalte zu vermitteln versuchen, gefestigt. Das kulturelle Gedächtnis ist auch reflexiv, weil es sich kritisch auf sich selbst und auf das Selbstbild der jeweiligen Gruppe bezieht. Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis wird in literalen Gesellschaften durch Medien, wie Literatur und Filme, unterstützt. Das Gedächtnis lebt durch die Interaktion und Kommunikation nur im sozialen Netz, weil man nur das erinnert, was man kommuniziert. Jan Assmann unterscheidet ,die rituelle Kohärenz oraler Kulturenʼ und ,die textuelle Kohärenz skripturaler Kulturenʼ. Die oralen Kulturen basieren auf der Mündlichkeit. Die skripturalen Kulturen beziehen sich auf das Prinzip der Schriftlichkeit. Weiter unterscheiden Jan Assmann ,heißeʼ und ,kalte Kulturenʼ.23 „Das Gedächtnis heißer Kulturen beruht auf Mythen im Sinne von Geschichten über eine gemeinsame 19 Vgl. ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 27. 21 Vgl. ebd., S. 28. 22 Ebd., S. 29. 23 Vgl., ebd., S. 30. 20 8 Vergangenheit, die Orientierung in der Gegenwart und Hoffnung für die Zukunft bieten. Beispiele für kalte Kulturen sind das alte Ägypten oder das mittelalterliche Judentum.“24 Aleida Assmann stellt noch andere Unterscheidung dar. Sie sondert ,Gedächtnis als arsʼ und ,Gedächtnis als visʼ heraus. ,Gedächtnis als arsʼ magaziniert Wissen und Informationen, die in jedem Moment in gleicher Form ins Gedächtnis zurückzuführen werden können. Das ,Gedächtnis als visʼ hat eine transformierende Wirkung. Es trägt zur Bewusstseinsveränderung der Menschen im Laufe der Zeit bei. Erinnerungen können rekonstruiert werden sowie können ins Vergessen geraten.25 Das Speichergedächtnis ist jedoch auch wichtig, weil es viele Informationen enthält, die im Laufe der menschlichen Entwicklung in das Funktionsgedächtnis übergehen können. Das kulturelle Gedächtnis ist also nach diesem Konzept prozesshaft und kann sich verändern. Im Jahr 1997 wurde an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit Förderung der deutschen Forschungsgemeinschaft der Sonderforschungsbereich 434 ,Erinnerungskulturenʼ gegründet. Als Untersuchungsgegenstand werden Inhalte und Formen kultureller Erinnerung betrachtet. Der Mitglieder der Sonderforschungsbereich haben sich ,eine konsequente Historisierung der Kategorie der historischen Erinnerungʼ26 zum Ziel gesetzt. In den Vordergrund dieses Konzepts rückt dabei „Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und vor allem die Pluralität der kulturellen Erinnerung.“27 Die Mitglieder der Sonderforschungsbereich haben ein Modell geschafft, um kulturelle Erinnerungsprozesse beschreiben zu können. Der Modell besteht aus drei Ebenen. Die erste Ebene bestimmt die Rahmenbedingungen, die durch die folgenden Faktoren bestimmt sind: Die Gesellschaftsformation: eine bestimmte Gruppe von Menschen, die sich an etwas erinnert (z.B. offene oder geschlossene Gesellschaft) Die Wissensordnung: Rechte und Pflichte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gelten. Die Zeitbewusstsein: verändert sich durch Entwicklungsprozesse. Die Herausforderungslage: ein Wendepunkt im gesellschaftlichen Leben, der die Bewusstseinsveränderungen prägt.28 24 Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 31. 26 Vgl. ebd., S. 34. 27 Ebd., S. 34. 28 Vgl. ebd., S. 34 ff. 25 9 „Die zweite Ebene geht es um ,die Ausformung spezifischer Erinnerungskulturenʼ“29 und umfasst vier Faktoren: Die Erinnerungshoheit in der Gesellschaft, also ein Erinnerungsehrenvorsitz. Die Erinnerungsinteressen unterschiedlicher Gesellschaftsformationen, die verschieden sind, sich durchdringen, sich überschneiden und miteinander in Wettbewerb treten können. Die Erinnerungstechniken, d. h. auf welche Art und Weise die Menschen die Vergangenheit weitergeben. Die Erinnerungsgattungen: Formen der Präsentation der Geschichte wie z. B. ein Geschichtsfilm oder historischer Roman.30 Die dritte Ebene beleuchtet „die Äußerungsformen und Inszenierungsweisen des vergangenheitsbezogenen Sinns bzw. das konkrete Erinnerungsgeschehen”31 : Die Begriffe „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ sind nicht identisch. Das Gedächtnis wird hier als „eine diskursive Formation”32 und die Erinnerung als „Abruf und Neukonstitution von Wissen über die Vergangenheit”33 verstanden. Der „Typus der Erinnerungsarbeit”. Die Vergangenheit als das selbsterlebte Geschehen und als vermittelte Information.34 2.2 Literatur und Geschichte – zur deutsch-polnischen Perspektive auf den Vertreibungskomplex Das Thema des Heimat – Verlustes und der Topos der ‚verlorenen Heimatʼ steht nach 1945 im Zentrum öffentlicher Debatten. In der Wissenschaft gibt es vielfältige Auffassungen zum Begriff ‚Heimatʼ. Dem Grimmschen Wörterbuch nach bedeutet ‚Heimatʼ 1) das Land oder auch nur den Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat, 2) den Geburtsort oder ständigen Wohnort, 3) selbst das elterliche Haus und Besitztum, 4) in freier Anwendung: a) dem Christen ist der Himmel 29 Ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 35. 31 Ebd., S. 35. 32 Ebd., S. 35. 33 Ebd., S. 36. 34 Vgl. ebd., S. 35. 30 10 der Heimat, b) dichterisch, c) Redensarten.35 Heimat ist nicht nur das Land, mit dessen historisch-kulturellen Erbe sich der Mensch identifiziert, nicht nur die Landschaft, in der er geboren und erzogen wird, nicht nur Sitz der Vorfahren, Elternhaus, Gut, Besitz, nicht nur das Terrain, das die psycho-physische Entwicklung des Menschen beeinflusst, sondern auch die menschliche Gemeinschaft, die die Entfaltung seiner Persönlichkeit steuert, ‚das innere Miteinanderseinʼ. Oft wird Heimat als Mother- oder Vaterland verstanden.36 Stanisław Ossowski z. B. definiert den Begriff ‚Heimatʼ wie folgt: Heimat ist kein geografischer Begriff, der sich ohne Bezug auf die psychische Haltung einer Gemeinschaft charakterisieren lässt. Ein Gebiet wird zur Heimat nur, wenn es eine Menschengruppe gibt, die einen bestimmten Bezug zu ihm hat und sein Bild auf eine bestimmte weise gestaltet. Dann gewinnt jener Außenwirklichkeitsbereich bestimmte eigenartige Werte, die ihn zur Heimat machen. 37 Der Begriff ‚Heimatʼ wird immer aktuell, wo irgend Bevölkerungen in Massen emigrieren müssen oder vertrieben werden. So wird er nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Niedergang des Dritten Reiches, aktuell, wenn Millionen von Deutschen aus den Ostgebieten ausgesiedelt wurden und eine Art von Sicherung verloren haben.38 Erzwungene Migrationen und der ‚Vertreibungskomplexʼ gehören - so wie spätere Umgang mit dieser traumatischen Vergangenheit - zu den Folgen des Zweiten Weltkrieges.39 Die aus den Ostgebieten Ausgesiedelten haben ihre Heimat, ihr Gut, ihre Wurzeln verloren – ihre Sozialkultur.40 Włodzimierz Borodziej und Klaus Ziemer schreiben in der Einleitung Deutsch-polnische Beziehung 1939 – 1945 – 1949 Folgendes: […] es hat nach dem 8. Mai 1945 kein Ende der Geschichte und nicht einmal eine Unterbrechung gegeben. In dem neuen Polen, das fast die Hälfte seines Staatsterritoriums im Osten (180.000 km2) an die Sowjetunion abtreten musste und in Postdam mit 103.000 km2 deutscher Ostprovinzen entschädigt wurde, lebten im Sommer 1945 wahrscheinlich etwa fünf Millionen Deutsche bzw. deutsche Staatsbürger. Die Geschichte der Verdrängung der Mehrheit dieser Menschen aus ihrer bisherigen Heimat, die nun zum Westen und Nordosten Polens geworden war, stellte eine Konsequenz des Zweiten Weltkriegs dar. Sie gehört daher ebenso in den Rahmen der Darstellung der Folgen dieses Krieges wie der damalige und spätere Umgang mit dieser traumatischen Vergangenheit, der heute zutreffend als ‚Vergangenheitspolitikʼ bezeichnet wird.41 35 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 10, München 1991, S. 864 ff. Mazurkiewicz, Jolanta: Zwischen deutsch-polnischem Grenzland und verlorener Heimat. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 1998, S. 22. Wcięcie na linijce dla lepszej widoczności przypisu – ujednolicić! 37 Vgl. Ossowski, Stanisław: Analiza socjologiczna pojęcia ojczyzny. In: Dzieła, t. III. Warszawa 1967, S. 203. 38 Vgl. Mazurkiewicz, Jolanta: Ebd., S. 36. 39 Vgl. Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2007, S. 39. 40 Vgl. Mazurkiewicz, Jolanta: Ebd., S. 28. 41 Borodziej, Włodzimierz/ Ziemer, Klaus (Hg.): Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949. Eine Einführung. In: Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. S. 39 f. 36 11 Durch die Aussage von Borodziej und Ziemer wird herausgestellt, dass die historischen Ereignisse und Vorgänge des Heimatverlustes nicht isoliert betrachtet, sondern im historischen und kontextualisierenden Umfeld dargestellt werden sollten.42 Bei dem Heimatverlust-Komplex ist es für die deutsche und polnische Mentalitätsgeschichte wichtig, dass „die Vertreibungen und Zwangsausweisungen der polnischen Zivilbevölkerung aus dem ehemaligen Osten Polens um die Vertreibung und Zwangsausweisung der deutschen Zivilbevölkerung aus den ehemaligen deutschen Ostprovinzen infolge des Zweiten Weltkrieges ergänzt werden.“43 Der ‚Vertreibungskomplexʼ ist ein guter Beispiel für Erinnerungskulturen, die sich teilweise um den Besitz von Vergangenheit in Konkurrenz befinden. Das zeigt, dass keine homogene Erinnerungskultur im Sinne des geschlossenen Konzeptes vorhanden ist, sondern nur konkurrierende Erinnerungskulturen. Das Vorhandensein konkurrierender Erinnerungskulturen ist eine Voraussetzung für die Modifizierung des sozialen und kulturallen Gedächtnisses.44 Auf diese Weise unterliegt die Geschichtskultur einem Wandel. Die Heimatproblematik wurde zu einem relativ häufigen Thema in der deutschen Literatur der Nachkriegsjahre. Sie stellt Schicksale und Haltungen der Einzelnen dar. Dabei werden sich die Veränderungen erforschen, die im geschichtlichen Bewusstsein infolge der nach dem Zweiten Weltkrieg sich installierenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung vollzogen werden. Die Nachkriegsliteratur zeigt die Störungen des gesellschaftlichen Bewusstseins auf.45 Die Vertreibungsliteratur war und ist umfassend, reichhaltig und vielfältig. Das Thema wird sowohl von den gegenwärtigen deutschen Schriftstellern (u. a. Günter Grass, Olaf Müller, Reinhard Jirgl, Artur Becker) als auch von den polnischen Schriftstellern (u.a. Leonie Ossowski, Piontek, Janosch, Dąbrowski) aufgegriffen. Jörg Bernard Bilke berichtete, dass im Jahre 2003 auf der Leipziger Buchmesse acht neue Titel zu diesem Thema zu entdecken waren, davon fünf Romane aus der Enkelgeneration.46 Im Jahre 2003 erschienen u. a. Olaf Müllers Roman Schlesisches Wetter und Reinhard Jirgls Die Unvollendeten. Bodo Heimann wies nämlich in einem leitenden Überblick über Das Schicksal der Vertreibung in der deutschen Nachkriegsliteratur darauf hin, dass sich etwa 100 deutsche Autoren mit dem 42 Vgl. ebd., S. 40. Ebd., S. 40. 44 Vgl. ebd., S. 41. 45 Vgl. Mazurkiewicz, Jolanta: Ebd., S. 10. 46 Vgl. http://www.wikipedia.de/ Stand: 10.09.09 43 12 Thema befasst haben.47 „Das Phänomen der verlorenen Heimat ist jedoch in der Literatur auf verschiedene Art und Weise thematisiert worden. Sie findet ihre Erklärung in dem politischen Klima, in der Negierung der Erinnerung an die ehemaligen deutschen Ostgebiete.“48 Das Phänomen der verlorenen Heimat greift Olaf Müller in dem analysierenden Buch Schlesisches Wetter auf, in dem er deutsch-polnische Beziehungen darstellt.49 Müllers Werk gehört zu der sogenannten ‚Vertreibungsliteraturʼ. Das ist ein Roman über Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien. Das Schicksal der Vertriebenen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Ostgebieten flohen, erfährt seit einigen Jahren immer stärker öffentliche Aufmerksamkeit.50 Die Hauptfigur des Romans - Aleksander Schynoski fährt in das schlesische Dorf, aus dem seine Familie stammt und wird dort mit den Folgen der Vertreibung und dem heutigen Polen konfrontiert. In Schynoskis Familiengeschichte spiegelt sich bruchstückhaft deutsche Nachkriegsgeschichte wider. Müllers Roman gehört zu den Büchern, die als ‚Erinnerungsliteraturʼ gekennzeichnet werden. Das Buch zeichnet die Erinnerung an die Erinnerung auf. In dem analytischen Teil dieser Arbeit wird das Phänomen ‚Heimatʼ und der ‚verlorenen Heimatʼ und der Art und Weise der Darstellung der Polen und Polens besprochen. Darüber hinaus wird der Versuch unternommen, das literarische Bild einer Nation ‚im Spiegel der Literatur einer anderen Nationʼ51 darzustellen. Gemeint ist das Bild von Polen in der deutschen Nachkriegsliteratur, die die Frage der Heimat und der verlorenen Heimat betrifft. Um die analysierten Aspekte genauer zu veranschaulichen, werden die angeführten Probleme mit zahleichen Zitaten bzw. Anmerkungen und Verweisungen auf die entsprechenden Textstellen versehen. 2.3 Komparatistische Imagologie und Stereotypenforschung Die Rolle der Literatur in der Gesellschaft wird von Schriftstellern, Kritikern und Literaturwissenschaftlern unterschiedlich gesehen. Vor der Analyse der einzelnen Werke werden Möglichkeiten einer theoretischen Annäherung an das Problem der 47 Vgl. http://www.wikipedia.de/ Stand: 10.00.09 Mazurkiewicz, Jolanta: Ebd., S. 10. 49 Vgl. ebd., S. 9. 50 Vgl. ebd., S. 8 ff. 51 Ebd., S. 14. 48 13 Wahrnehmung des Fremden erörtert. Sozial- und literaturwissenschaftliche Ansätze wie Stereotypenforschung, komparatistische Imagologie werden in diesem Kapitel kurz vorgestellt, um die Vielfalt der Theorien und Betrachtungsperspektiven zu zeigen. Die Literatur hat eine besondere Rolle bei der Entstehung und Tradierung von Fremdenbildern. Das hat dazu geführt, dass sich im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Komparatistik in der Mitte des 20. Jahrhunderts die komparatistische Imagologie als eine der jüngsten Forschungsgebiete herauskristallisierte. Diesen Vorgang beschreibt Angelika Cirbineau-Hoffmann in ihrem Buch Einführung in die Komparatistik. Stereotypen sind nämlich relativ starre, überindividuell geltende Vorstellungsbilder. Diese beziehen sich auf Nationen, Ethnien, Rassen, soziale Gruppen, Religionen und Regionen.52 Imagologie wird meistens als literaturwissenschaftliche Disziplin gesehen und oft mit der literarischen Komparatistik in Verbindung gebracht. Der imagologische Aspekt betrifft vor allem Vorstellungen von anderen Völkern, insofern sie in der Literatur oder in anderen Dokumenten festgehalten worden sind. Imagologie enthält Vorurteile und Stereotype, die im gesellschaftlichen Bewusstsein existieren.53 Ein zeitgenössischer belgischer Theoretiker der Imagologie, Hugo Dyserinck, knüpft dabei an die französische Forschungstradition an, wonach unterschieden werden muss zwischen dem Vorstellungstyp ,images’ und den ,mirages’. Letztere kennzeichnet eine besonders illusionäre Abweichung von der Wirklichkeit.54 Zu dieser Traditionsrichtung gehören auch sowjetische Literaturwissenschaftler, besonders Viktor Žirmunskijs und Michail Chrapczenkos, deren typologische Methode die Abhängigkeit literarischer Urteile von historischen und gesellschaftlichen Analogien im Leben verschiedener Völker aufgezeigt hat.55 Die Aufgaben der Imagologie sind unter anderen vom westdeutschen Forscher Manfred Fischer formuliert worden. Nach seiner Auffassung geht es in dieser Disziplin keineswegs um die Erarbeitung der so genannten Nationalcharaktere, weil ihre Existenz illusionär ist und weil Merkmale, die manchmal als nationale Eigenschaften angesehen werden, in der Regel Zweifel und Kontroverse hervorrufen. Daher soll die Falsifikation imagologischer Erscheinungen als Hauptziel betrachtet werden, unter Berücksichtigung ihrer Entstehung, Einwirkung und 52 Vgl. Cirbineau-Hoffmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik. Köln. Schmidt Erich Verlag 2004, S. 97. 53 Vgl. Klin, Eugeniusz: Deutsch-polnische Literaturbeziehungen. Köln, Wien. 1988, S. 153. 54 Vgl. Dyserinck, Hugo: Zum Problem der “images” und “mirages” und ihrer Untersuchung im Rahmen der vergleichenden Literaturwissenschaft. In: Klin, Eugeniusz: Deutsch-polnische Literaturbeziehungen. Köln 1988, S. 107. 55 Vgl. Klin, Eugeniusz: Ebd., S. 153. 14 gesellschaftlichen Funktionen.56 Angesichts des verbreiteten Auftretens von imagologischen Symptomen schlägt der ungarische Komparatist Jảnos Riesz vor, deren Erforschung nicht auf literarische Werke zu beschränken, sondern ebenfalls die Presse und Literaturkritik sowie andere Dokumente des gesellschaftlichen Bewusstseins imagologisch zu erfassen.57 Diese skizzierten Aufgaben der Imagologie werden im weiteren Teil der Arbeit am Beispiel Olaf Müllers Schlesisches Wetter überprüft und veranschaulicht. 2.3.1 Zum Begriff ‚Stereotyp’ In der Wissenschaft gibt es vielfältige Auffassungen zum Begriff ‚Stereotyp’. Stereotype sind Bilder in unseren Köpfen. Das sind Bilder zu bestimmten Personen, Nationen oder Phänomenen. Mit stereotypen Sprüchen ersetzt man oft das Unwissen und den Mangel an Erfahrungen. Je weniger eigene Erfahrungen man hat, desto mehr neigt man zu Stereotypen. Je erfahrener man ist, desto mehr zieht man die eigene Meinung vor. Viele Sozialwissenschaftler beschäftigen sich mit der Stereotypenforschung. Die Bezeichnung ‚Stereotyp’ wird aber von ihnen unterschiedlich verstanden und beurteilt. In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat Walter Lippmann in seiner frühen Untersuchung die Bildung von Stereotypen mit einer ,Ökonomie des Denkens’ mit notwendigen Verallgemeinerungen und Klassifizierungen verbunden.58 Lippmann versteht Stereotype als „Bilder in den Köpfen“, die sich der Mensch von der Welt außer seiner Reichweite macht.59 Er „stellt die Bildung von Stereotypen als ein rationelles Verfahren des Individuums zur Reduktion der Komplexität seiner realen Umwelt dar.“60 Seit seinen Untersuchungen ist allgemein anerkannt, dass die Stereotype hauptsächlich eine psychologische und keine das Wissen fördernde Funktion haben. Seine Theorie ist von Niklas Luhmann weiterentwickelt worden. Ein anderer Sozialwissenschaftler, Hans Hennig Hahn, fasst dagegen Stereotype vor allem als Integrationsfaktoren, als 56 Ebd., S. 154. Vgl. Riesz, Jảnosz: Zur Omnipräsenz nationaler und ethnischer Stereotypen. In: Komparatistische Hefte,1., Mainz 1980, S. 3 ff. 58 Vgl. Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung. München 1964 (engl. Public Opinion, New York 1922), S. 67. 59 Ebd., S. 27. 60 Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. völlig neu bearbeitete Auflage, Band 26, Leipzig· Mannheim F.A.: Brockhaus, 2006, S. 431. 57 15 identitätsstiftende Elemente. Er begreift die Stereotypenforschung als eine Art „Brückenschlag“ zwischen Mentalitätsgeschichte, Politikgeschichte, Nationalismusforschung und der Geschichte interkultureller Kontakte. Stereotypen sind keine Spiegelungen der Welt. Sie stellen selbst aufgrund ihrer Existenz in den Köpfen der Menschen und in zwischenmenschlichen Beziehungen eine gesellschaftliche Realität dar.61 Nach dieser Auffassung sind Stereotype „Grundlagen menschlicher sozialer Existenz“ und sollen als ein relevanter Wirkungsfaktor betrachtet und untersucht werden.62 Psychologisch betrachtet ist der Begriff ‚Stereotyp’ eine „häufige, in Form und Inhalt gleichartig motorische oder sprachliche Äußerung eines Individuums.“63 In der Sozialpsychologie werden damit Vorstellungen gemeint, die „eine Gruppe von sich oder anderen Auffassungen, die innerhalb einer Gruppe eine relativ geringe Streuung aufweisen und deshalb für diese Gruppe charakteristisch sind.“64 Stereotypen können als Auto-Stereotypen (als Selbstbild oder Auffassung über die eigene Gruppe auftreten) oder als Hetero-Stereotypen (als Fremdbild, als Auffassung über Fremdgruppen oder als Bild vom anderen). 65 „Stereotype Vorstellungen von sich selbst und von anderen sind von daher auch wahrnehmungsprägende Schemata, sie sind schwer beeinflussbar und damit von langer Dauer.“66 Von „Stereotypen der langen Dauer“ spricht Hubert Orłowski. In seinem Buch Die Lesbarkeit von Stereotypen spricht er davon, dass der kognitive Status von Stereotypen als eine Bewussteinsform im allgemeinen Sprachgebrauch definiert wird und führt zur Vereinfachung der Wirklichkeit. Diese Einstimmigkeit schwindet allerdings, sobald einzelne Vertreter den Rang, die Tragweite und den Charakter dieser Vereinfachung zu bestimmen versuchen. Orłowski gibt auch einige Definitionen von Stereotypen an. Im populärwissenschaftlichen Lexikon The Fontana Dictionary of Modern Thought wird der Terminus wie folgt definiert: „Ein Stereotyp ist „ein vereinfachtes Denkbild (von) einer bestimmten Kategorie von Menschen, Institutionen oder Ereignissen, das – betreffs der wichtigsten Merkmale – von einer großen Anzahl von Menschen geteilt wird. Stereotype werden von Vorurteilen begleitet, d. h. von 61 Vgl. Hahn, Hans Henning: Einleitung. In: Hahn, Hans Henning (Hg.): Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Oldenburg 1995, S. 12 ff. 62 Vgl. ebd., S. 191. 63 Clauß, Günter (Hg.): Wörterbuch der Psychologie. VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1981, S. 254. 64 Ebd., S. 254. 65 Vgl. ebd., S. 254. 66 Zimniak, Paweł: Nachbarn literarisch. Zu Polenbildern in der neuesten deutschen Literatur. In: Kolago, Lech (Hg.): Studien zur Deutschkunde. Warszawa 2007, S. 197. 16 positiven oder negativen Stellungen gegenüber einem jeden Mitglied, das zu der jeweiligen Kategorie gezählt wird.“67 Die populäre Encarta Enzyklopädie Professional 2003 definiert den Begriff ‚Stereotypʼ als die Verewigung eines vereinfachten Bildes einer Kategorie von Personen, Institutionen oder Kulturen. Dieser Ausdruck hat jedoch auch eine negative Bedeutung.68 „Es degradiert das individuelle Denken zur Repetition vorgeformter Auffassungen, die sich der kritischen Beurteilung verweigert. Es ist eng mit dem Vorurteil verbunden“.69 Das Große Wörterbuch der Deutschen Sprache gibt an, unter ‚Stereotyp’ ein „vereinfachendes, verallgemeinerndes, stereotypes Urteil, unhaltbares Vorurteil über sich oder andere oder eine Sache; festes, klischeehaftes Bild“70 zu verstehen. Generell ist das ,Stereotyp’ als eine Bewusstseinsform zu verstehen, die der Erfahrung grundsätzlich fern steht.71 „Daher wird auch der individuellen Wahrnehmung der Umwelt eine geringere Bedeutung zugemessen als der gesellschaftlichen Überlieferung, der Tradition. Umso stärker wird der Charakter der subjektiven Selbstverständlichkeit herausgehoben.“72 Den Begriff ‚Stereotyp der langen Dauer’ führte ein polnischer Sprachwissenschaftler Marcin Kula ein, darin dem Schöpfer des Interpretationsmodells ,la longue durée’, Fernand Braudel, folgend.73 Bestimmte ,Stereotype’ werden von Kula zu den Strukturen der langen Dauer gezählt. „Die Strukturen der ,langen Dauer’ werden von Überlagerungen der Folgen historischer Vorkommnisse gebildet, die viel dauerhafter sind als die Ursachen, auf die sie zurückzuführen sind.“74 Die Untersuchung von ‚Stereotypen der langen Dauer’ haben gezeigt, dass ihre Beschaffenheit nicht darin liegt, dass sie lange und in praxi ununterbrochen funktionieren, sondern dass sie in jedem geeigneten Moment wieder zum Leben berufen werden können.75 Diese Beobachtung lässt sich auf das Stereotyp ‚polnische Wirtschaft’ ‚Opfer-Stereotyp’ und das Stereotyp der ¸schönen Polin’ übertragen. Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. Wrocław-Görlitz: Neisse Verlag 2005, S. 14. Vgl. Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003© 1993-2002 Microsoft Corporation . In: Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. S. 14. 69 Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003© 1993-2002 Microsoft Corporation . In: Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. S. 14. 70 © 2000 Dudenverlag, Sat_Wolf, Bayern. In: Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. S. 14. 71 Vgl. Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. S. 14. 72 Ebd., S. 14 ff. 73 Vgl. ebd., S. 148. 74 Ebd., S. 148. 75 Vgl. ebd., S. 18 ff. 67 68 17 Die Auffassungen und Überlegungen zu diesen Begriffen werden in dem nächsten Teil dieses Kapitels dargestellt. Es werden auch ausgewählte Polen-Bilder bzw. Stereotypen in historischer Sicht gezeigt. 2.3.2 Polenbilder in der deutschen Literatur Literarische Texte lassen eine Untersuchung von konstruierten Vorstellungen über das Eigene und das Fremde als sinnvoll erscheinen. Die historische Verortung polenbezogener Stereotype ist eng in historischer Perspektive mit einer Komprimierung verbunden. In Auseinandersetzung mit der Sekundär- und Primärliteratur sind folgende Polen-Stereotype zu unterscheiden: 1) An der ersten Stelle befindet sich das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ. Es wird auch als Misswirtschaft verstanden. Hierbei geht es im deutsch-polnischen Erfahrungsbereich wie in literarischen Texten um Stereotyp ,der langen Dauer’. Dieses Stereotyp ist fast schon zu einer Kategorie bei der Wahrnehmung von Welt geworden. Es hat in Abhängigkeit von deutschen Interessen und Bedürfnissen eine propagandistische Funktion besessen, ist instrumentalisiert worden und diente der Konstruktion eines Feindbildes.76 Die Funktion dieses Stereotyps ließe sich am besten mit dem Begriff ¸Makrodefinition’ umschreiben. Das moderne deutsche Bild Polens und der Pole stehen in einem festen Bezugssystem zu dem Begriff ,polnische Wirtschaft’. „Gemeinsam mit den Begriffen wie ‚Unregierbarkeit’, ‚Anarchie’ und dem so genannten ‚polnischen Reichstag’ erfüllt die ‚polnische Wirtschaft’ gelegentlich die Funktion einer regionalhistorischen Metapher.“77 Die semantische Sozialisation dieses Stereotyps ist auf historische Prozesse des 18. und 19. Jahrhunderts und auf folgende Faktoren zurückzuführen: a) „das Stereotyp ist mit dem Ende der polnischen Biographie des polnischen Staates (der Adelsrepublik) entstanden. Es ist b) in den Prozess der Entstehung der Nationalstaaten eingebettet und hängt c) mit der Modernität des Begriffs ,Wirtschaft’ zusammen.“78 Der Kern dieses Stereotyps liegt in der Verurteilung der unwirksamen Handels, der Machtlosigkeit also. Die Eigenschaft der Vgl. Zimniak, Paweł: tu skrócony tytuł, jeśli Pani już cytowała z pelnymi danymi bibliograficznymi – ujednilicić tez w innych miejsczach, S. 197. 77 Orłowski, Hubert: ., S. 149. 78 Zimniak, Paweł:., S. 198. 76 18 Unordentlichkeit fördert lediglich das unwirksame Handeln. Die heute bereits klassische Definition des Begriffs ‚Stereotyp’, die von Walter Lippmann stammt, beschreibt ihn als ‚eine erkenntnis-ökonomische Abwehreinrichtung gegen die notwendigen Aufwendungen einer umfassenden Datailerfahrung’.79 „Das Stereotyp ,polnische Wirtschaft’ wird, Lippmann folgend, als eine ökonomische ‚Kurzform des Sich-Orientierens’ begriffen.“80 2) In den vergangenen Jahrhunderten entstand auch das zweite grundlegende PolenStereotyp, das so genannte ,Opfer-Stereotypʼ. Hierbei geht es darum, dass Polen bzw. die Polen als Opfer gesehen werden. Dieses Stereotyp hat eine historische Unterlage. Es ist auf folgende Faktoren zurückzuführen: a) im 18. Jahrhundert drei Teilungen Polens, in Konsequenz verschwindet Polen im Jahre 1795 von der politischen Landkarte und b) der einsetzende Kampf gegen die Fremdherrschaft, der bis 1918 andauerte. In diesen Zeiten gehörten Polen nie zu denen, die Geschichte machten. Sie waren immer auf der Seite der Verlierer, die Geschichte zu erdulden hatten. Vor allem die Lyrik des Vormärz hat im Zusammenhang mit dem Freiheitskampf der Polen eine Art Polenbegeisterung ausgedrückt und dabei das polnische Volk gleichzeitig als Opfer gesehen.81 3) Das dritte maßgebliche Stereotyp bezieht sich auf das Stereotyp der ‚schönen Polin’. Dieses Stereotyp wird im historischen Kontext des Nationalitätenstreits verortet und mit dem Imagotyp der polnischen Frau als Patriotin und ¸Mutter aller Rebellion’ verbunden.82 Das Bild der ‚schönen Polin’ wiederholt sich in vielen Werken der deutschen Gegenwartsliteratur. Die deutschen Schriftsteller erblicken die polnischen Frauen sehr schön und entwerfen ihr Bild als ‚Weichsel- Aphrodite’. Es wurden drei Stereotype der ‚langen Dauer’ herausgestellt. Das Wesen dieser Stereotype liegt darin, dass sie in jedem geeigneten Moment wieder zum Leben gerufen werden können. In dem nächsten Teil der Arbeit wird die Frage gestellt, inwieweit die historisch herausgestellten Stereotype über Polen und die Polen in der deutschen Gegenwartsliteratur eine Rolle spielen. Bezug genommen wird auf das Buch Olaf Müllers Schlesisches Wetter. Durch die Analyse dieses Buches wird herausgestellt, Vgl. Orłowski, Hubert: Ebd., S. 151. Ebd., S. 151. 81 Vgl. ebd., S. 198. 82 Vgl. Zimniak, Paweł: Ebd., S. 198 ff. 79 80 19 inwieweit der entworfene literarische Polen-Raum stereotypisiert wird oder eben nicht. Ausgewählte Figuren werden auch herausgestellt und gewertet. 2.4 Literatur in narratologischer Perspektive Die Erzähltheorie gehört seit den frühen sechziger Jahren zu den zentralen Anliegen der internationalen Literaturwissenschaft.83 Schon im frühen 20. Jahrhundert beschäftigten sich viele Literaturwissenschaftler mit dem Begriff ‚Erzähltheorieʼ. Wichtige Beiträge zur Erzählforschung kamen u. a. von Käte Friedemann, Henry James und Percy Lubbock. Die deutschsprachige Erzähltheorie erreichte ihren ersten Höhepunkt in den fünfziger Jahren, als einige der noch heute gelesenen Klassiker der Erzählforschung veröffentlicht worden sind: Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung (1957), Franz Karl Stanzels Die typischen Erzählsituationen im Roman (1955) und Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens (1955). Sie lieferten wesentliche Impulse für die weitere, auch die strukturalistische, Erzählforschung und stellten systematische Beschreibungsmodelle und terminologische Kategorien zur Verfügung. Die Arbeiten von Lämmert und Stanzel sind bis heute literaturwissenschaftliche Standardtexte. Ihre Typologien sind auch noch in der deutschen Erzählforschung der Gegenwart aktuell.84 Mit dem Begriff ‚Erzähltheorieʼ beschäftigt sich zurzeit Monika Fludernik, eine österreichische Anglistin und Literaturwissenschaftlerin. Sie hat ein Buch Erzähltheorie. Eine Einführung geschrieben. In ihrem Buch verbindet sie den Begriff ‚Erzähltheorieʼ mit dem international anerkannten Terminus ‚die Narratologieʼ (engl. narratology, frz. narratologie). Sie spricht davon, dass ‚Erzähltheorie´ die Wissenschaft vom Erzählen ist. Es handelt sich hierbei um die Untersuchung der Erzählung als Gattung mit dem Ziel, ihre typischen Konstanten, Variablen und Kombinationen zu beschreiben. Dabei werden auch die Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften narrativer Texte innerhalb von theoretischen Modellen (Typologien) thematisiert.85 Fludernik beschreibt auch den Begriff ‚Narratologieʼ. Sie verdeutlicht, dass ‚die Narratolgieʼ „traditionell eine Unterdisziplin der Literaturwissenschaft gewesen ist und besonders enge Bindungen an die Poetik und Gattungstypologie sowie die 83 Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München.: C.H.Beck 2007, S. 7. Vgl. Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesselschaft 2008, S. 19 ff. 85 Vgl. ebd., S. 17. 84 20 Literatursemiotik bzw. – semiologie hat.“86 Einerseits befasst sich die Erzähltheorie mit Gattungsaspekten und andererseits gehört eine historische, typologische und thematische Betrachtungsweise narrativer Gattungen zu den Grundvoraussetzungen jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit. Fludernik betont auch, dass die Narratologie große Ähnlichkeiten mit Poetik und Semiotik aufweist, aber die engsten Beziehungen unterhält die Erzählforschung mit der Komparatistik und der Textlinguistik.87 2.4.1 Faktuales und fiktionales Erzählen Die Erzählforschung hat in den letzten Jahren ihre Interessen über die theoretische Frage „Was ist eigentlich Erzählung?“. In der Literaturwissenschaft gibt es vielfältige Auffassungen zu diesem Begriff. Fludernik, Martinez und Scheffel beschäftigen sich mit der Bezeichnung ‚Erzählungʼ. Fludernik erwähnt vielmals diesen Begriff ‚Erzählungʼ in ihrem Buch. Sie weist darauf hin, dass ‚Erzählenʼ eng mit dem Sprechakt des Erzählens verbunden ist und somit mit der Figur eines Erzählers. 88 Martinez und Scheffel verstehen hingegen den Begriff ‚Erzählenʼ als „eine Art von mündlicher oder schriftlicher Rede, in der jemand jemandem etwas Besonderes mitteilt“.89 Sie betonen auch, dass ‚Erzählungʼ eine Rede ist, wenn diese Rede einen ihr zeitlich voraus liegenden Vorgang vergegenwärtigt, der als ‚Geschehnisʼ oder ‚Begebenheitʼ bestimmt werden kann.90 Der Begriff ‚Erzählenʼ ermöglicht Unterschiede in der Verwendung des Wortes zu benennen, die für eine Theorie des literarischen Erzählens offenbar von Bedeutung sind. Diese Unterschiede betreffen einerseits den Realitätscharakter dessen, was erzählt wird, und andererseits die Redesituation, in der eine Erzählung erfolgt. Erzählungen lassen sich mit Hilfe der Merkmalspaare <real. vs. fiktiv> und <dichterisch vs. nichtdichterisch> spezifizieren. Die Form der authentischen Erzählung von historischen Ereignissen und Personen werden als <faktuale> Erzählung bezeichnet. Der Begriff <faktual> bzw. <authentisch> steht im Gegensatz zu <fiktional> und bezeichnet den pragmatischen Status einer Rede. Der Begriff <fiktiv> steht im Gegensatz zu <real> und bezeichnet den ontologischen Status des in dieser Rede 86 Ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 18 ff. 88 Ebd., S. 10. 89 Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 7. 90 Vgl. ebd., S. 9. 87 21 Ausgesagten. Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, in der das reale Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von einem realen Leser gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden werden. Fiktionale Texte sind ebenfalls Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Der Autor produziert also Sätze, die zwar <real>, aber <inauthentisch> sind, denn sie sind nicht als Behauptungen des Autors zu begreifen. Dem fiktiven Erzähler hingegen sind dieselben Sätze als <authentische> Sätze zuzuschreiben, die aber <imaginär> sind, denn sie werden vom Erzähler behauptet, jedoch nur im Rahmen einer imaginären Kommunikationssituation. Durch das reale Schreiben eines realen Autors entsteht so ein Text, dessen imaginär authentische Sätze eine imaginäre Objektivität schaffen, die eine fiktive Kommunikationssituation, ein fiktives Erzählen und eine fiktive erzählte Geschichte umfasst. Die fiktionale Erzählung ist zugleich Teil einer realen wie einer imaginären Kommunikation und besteht deshalb, je nach Sichtweise, aus realinauthentischen oder imaginär-authentischen Sätzen.91 Der Autor entwirft beim Schreiben eines Romans die fiktive Welt und produziert gleichzeitig die Geschichte und den erzählten Diskurs samt Erzähltext. Fludernik definiert ‚Erzählungʼ auch als eine Selektion. Jede Geschichte ist zudem grundlegend perspektivisch. Die Geschichte verrät den Blickwinkel des Autors, seine Nationalität und Herkunft, den Hintergrund des Zeitalters, in dem er schreibt/schieb, und die Geschichte ist auf ein Publikum zugeschnitten, das gewisse Vorurteile, ideengeschichtliche Überzeugungen und Erwartungshaltungen hat. Leserinnen und Leser konstruieren aus dem Erzähltext eines Romans die Geschichte (Figuren, Ort und Handlung, Ereignisse).92 In diesem Kapitel wurden fiktionale (erfundene) und nicht fiktionale Erzählungen dargestellt. Bezug genommen wird auf das Buch Olaf Müllers Schlesisches Wetter. In dem analytischen Teil versuche ich hinsichtlich der theoretischen Ansätze auf folgende Fragen Antworten zu finden, 1) „Wie ist die Erzählung in dem Roman Olaf Müllers Schlesisches Wetter zu werten, in dem offensichtlich erfundene Figur namens Aleksander Schynoski die Geschichte seiner Familie erzählt, die an historischen Orten in Schlesien spielt und eng verflochten ist mit historischen Ereignissen?“ Es ist jedoch unumstritten, dass der Roman Schlesisches Wetter ein Werk der erzählenden Dichtung 91 92 Vgl. ebd., S. 10 ff. Vgl. Fludernik, Monika: Ebd., S. 11 ff. 22 ist. 2) Was aber bedeutet das im Hinblick auf die zwei besprochenen Merkmalspaare <fiktional/ faktual und fiktiv/ real>? Meine Auffassungen und Überlegungen zu diesen Fragen werden in dem analytischen Teil der Arbeit dargestellt. 2.4.2 Das <Was> und das <Wie> eines narrativen Textes In diesem Kapitel wird der fundamentale Gegensatz zwischen dem <Wie> und dem <Was> von Erzählungen dargestellt und der Unterschied zwischen dem erzählerischen Medium mitsamt den jeweils verwendeten Verfahren der Präsentation einerseits und dem Erzählten (die Geschichte, die erzählte Welt) andererseits. Beim Lesen eines narrativen Textes kann der Leser eine bestimmte Einstellung gegenüber dem Text einnehmen, in der er von den Worten, dem Stil oder den Erzählverfahren absieht, mit denen ihm die Geschichte vermittelt wird. Die Umstände der Vermittlung treten dann in der Wahrnehmung zurück zugunsten der erzählten Welt, die der Text beschreibt. In dieser Einstellung identifiziert der Leser sich mit bestimmten Figuren, nimmt Anteil an ihrem Schicksal und beurteilt ihr Verhalten. Wenn und solange der Leser eine solche Lesehaltung einnimmt, konzentriert er sich auf das, <was> ihm erzählt wird, und blenden die Art und Weise, <wie> die Geschichte vermittelt wird, aus dem Bereich seiner Aufmerksamkeit aus.93 Die Unterscheidung zwischen dem <Was> und dem <Wie> eines Erzähltextes wird häufig mit dem Russischen Formalismus formulierten Gegensatz von <fabula> und <sjužet> in Zusammenhang gebracht. 94 In Theorie der Literatur (1925) „bestimmte Boris Tomaševskij <fabula> als die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen, kausaltemporalen Verknüpfung und <sjužet> als die Gesamtheit derselben Motive in derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorliegen.“95 In den sechziger Jahren griff der strukturalistische Erzähltheoretiker Tzvetan Todorov in Frankreich das Begriffspaar auf und übersetzte es mit <histoire> vs. <discours>. In Todorovs Definition evoziert die in einem Text erzählte Geschichte <histoire> eine bestimmte Realität, Ereignisse, die stattgefunden haben, Personen, die, aus dieser Perspektive betrachtet, sich mit solchen aus dem wirklichen Leben vermischen. Die Ebene des <discours> wird von Todorov folgendermaßen bestimmt96: „Es gibt einen Erzähler, der die Geschichte erzählt und es gibt ihm gegenüber einen 93 Vgl. Martinez, Mattias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 22. 95 Edb., S. 22. 96 Vgl. edb., S. 23. 94 23 Leser, der sie aufnimmt. Auf dieser Ebene zählen nicht die erzählten Ereignisse, sondern die Weise, wie der Erzähler dafür gesorgt hat.“97 In Bezug auf Tomaševskijs <fabula> und Todorovs <histoire> unterscheidet man die ‚erzählte Weltʼ (oder Diagese) von dem engeren Begriff ‚der Handlungʼ, der sich nur auf die Gesamtheit der handlungsfunktionalen Elemente der dargestellten Welt bezieht. Die andere Seite der Opposition, die Art und Weise der Vermittlung der erzählten Welt, bezeichnet man als ‚Darstellungʼ.98 Im Bereich der Handlung (verstanden als die Gesamtheit der handlungsfunktionalen Elemente des Erzählens) unterscheidet man vier Elemente:99 1)Ereignis (Motiv). Das Ereignis oder Motiv ist die kleinste, elementare Einheit der Handlung und wurde als erzähltheoretischer Terminus vom Boris Tomaševskij definiert. Formal gesehen, sind Motive nämlich aus Subjekt oder Prädikat zusammengesetzt, wobei als Subjekte Gegenstände oder Personen und als Prädikate Geschehnis-, Handlungs-, Zustands- und Eigenschaftsprädikate verwendet werden. Motive, oder Ereignisse können eine dynamische oder eine statische Funktion haben, je nachdem, ob sich die Situation verändern oder nicht.100 2) Geschehen. Auf einer ersten Integrationsstufe erscheinen Ereignisse zu einem Geschehen aneinandergereiht, indem sie chronologisch aufeinander folgen. 3) Geschichte. Das Geschehen als eine Reihe von Einzelereignissen wird zur Einheit einer Geschichte integriert, wenn die Ereignisfolge zusätzlich zum chronologischen auch einen kausalen Zusammenhang aufweist, so dass die Ereignisse nicht nur aufeinander, sondern auch auseinander folgen. 4) Handlungsschema. Das Handlungsschema ist ein aus der Gesamtheit der erzählten Ereignisse abstrahiertes globales Schema der Geschichte, das nicht nur für den einzelnen Text, sondern für ganze Textgruppen charakteristisch sein kann. Durch die Integration in ein Handlungsschema erhält die Geschichte eine abgeschlossene (Anfang, Mitte, Ende) und sinnhafte (z. B. archetypische) Struktur.101 Auf der Seite der ,Darstellung´ unterscheidet man nämlich zwei Aspekte: 5) Erzählung. Die erzählten Ereignisse in der Reihenfolge ihrer Darstellung im Text. Die Erzählung unterscheidet sich von der chronologisch rekonstruierten Handlung vor allem durch die Gestaltung und zeitliche Umgruppierung der Ereignisse im Text (Erzähltempo, 97 Ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 24. 99 Vgl. ebd., S. 25. 100 Ebd., S. 122. 101 Vgl. ebd., S. 25. 98 24 Rückwendung, Vorausdeutung).102 6) Erzählen. „Die Präsentation der Geschichte und die Art und Weise dieser Präsentation in bestimmten Sprachen, Medien (z. B. rein sprachliche oder audio-visuelle) und Darstellungsverfahren (z. B. Erzählsituation oder Sprachstil).“103 Gérard Genette „baut seine Erzähltheorie auf strukturalistischen Prinzipien auf. Er unterscheidet drei Ebenen (narration, discours, historie) der Erzählung und in Analogie dazu drei Kategorien, in der die Beziehungen zwischen diesen drei Ebenen kategorisiert werden“104: 1) Genus/ Stimme. Der Akt des Erzählens, der das Verhältnis von erzählendem Subjekt und dem Erzählten sowie das Verhältnis von erzählendem Subjekt und Leser umfasst. 2) Tempus. Das Verhältnis zwischen der Zeit der erzählten Geschichte und der Zeit der Erzählung im Sinne die Fragen: „In welcher Reihenfolge?“ „Wie lange?“ und „Wie oft?“.105 3) Modus. Der Grad an Mittelbarkeit und die Perspektivierung des Erzählten. Es bietet sich an, nach zwei Leitfragen zu differenzieren und die unterschiedlichen Präsentationsformen des erzählten nach beiden Parametern ‚Distanzʼ und ‚Fokalisierungʼ zu erfassen.106 „Genettes Typologie trifft auf bestechende Weise Unterscheidungen, die terminologisch einprägsam und stringent sind, und dass sein Modell durch freie Kombinierbarkeit keine Aussagen zu Kompatibilität bzw. Inkompatibilität zwischen den Kategorien macht.“107 Das ist ein großer Vorteil gegenüber Stanzels Typologie, die in dem nächsten Kapitel dargestellt wird. Die Handlung eines narrativen Textes ist Teil der erzählten Welt, in der sie stattfindet. Jeder fiktionale Text entwirft eine eigene Welt.108 Erzählte Welten werden jedoch im weiteren Kapitel der Arbeit besprochen. Diese dargestellten Aspekte der Handlung und der Darstellung werden bei der Analyse Olaf Müllers Schlesisches Wetter genau überprüft und veranschaulicht. Es werden auch dafür entsprechende Beispiele dargestellt und in Bezug auf diese Kategorien besprochen. 102 Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 25. 104 Fludernik, Monika: Ebd., S. 113. 105 Vgl. ebd., S. 32. 106 Vgl. ebd., S. 47. 107 Ebd., S. 117. 108 Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 123. 103 25 2.4.3 Franz Stanzels Typologie von <Erzählsituationen> Franz Karl Stanzelunterscheidet folgende Erzählsituationen: 1) Die auktoriale Erzählsituation. Das auszeichnende Merkmal dieser Erzählsituation ist die Anwesenheit eines persönlichen, sich in Einmengung und Kommentaren zum Erzählten kundgebenden Erzählers. Dieser Erzähler scheint auf den ersten Blick mit dem Autor identisch zu sein. Bei genauer Betrachtung wird jedoch fast immer eine eigentümliche Verfremdung der Persönlichkeit des Autors in der Gestalt des Erzählers sichtbar.109 „Dieser auktoriale Erzähler ist eine eigenständige Gestalt, die ebenso vom Autor geschaffen worden ist, wie die Charaktere des Romans. Wesentlich für den auktorialen Erzähler ist, dass er als Mittelsmann der Geschichte einen Platz sozusagen an der Schwelle zwischen der fiktiven Welt des Romans und der Wirklichkeit des Autors und des Lesers einnimmt.“110 Die der auktorialen Erzählsituation entsprechende Grundform des Erzählens ist die berichtende Erzählweise.111 2) Die Ich-Erzählsituation unterscheidet sich von der auktorialen Erzählsituation darin, dass hier der Erzähler zur Welt der Romancharaktere gehört. Er hat selbst das Geschehen erlebt, miterlebt oder beobachtet, oder unmittelbar von den eigentlichen Akteuren des Geschehens in Erfahrung gebracht. Hier herrscht auch die berichtende Erzählweise vor, der sich szenische Darstellung unterordnet. 3) Die personale Erzählsituation. Bei der personalen Erzählsituation handelt es sich, dass der Erzähler auf Einmischungen und Kommentare verzichtet.112 „Für den Leser entsteht hier die Illusion, er befände die dargestellte Welt mit den Augen einer Romanfigur, die jedoch nicht erzählt, sondern in deren Bewusstsein sich das Geschehen gleichsam spiegelt. Damit wird diese Romanfigur zur ‚personaʼ, zur Rollenmaske, die der Leser anlegt.“113 Stanzel betrachtet seine drei Erzählsituationen als drei ‚Typenstellenʼ auf einem ‚Typenkreisʼ, zwischen denen „breite Zonen des Übergangs, der Mischformen und der 109 Vgl. Stanzel, K. Franz: Typische Formen des Romans. Göttingen: Vandenhoeck und Rupenrecht 1993, S. 16. 110 Ebd., S. 16. 111 Vgl. ebd., S. 16. 112 Vgl. ebd., S. 16. 113 Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 90. 26 abgewandelten Typenformen anzunehmen sind.“114 In seinem Typenkreis ist etwa der Weg von der auktorialen zur Ich-Erzählsituation dadurch gekennzeichnet, dass sich der Erzähler der erzählten Welt mehr und mehr annähert, um schließlich als Figur in sie einzutreten. Genau die entgegengesetzte Bewegung zeigt sich dagegen, wenn man den Typenkreis in Richtung der personalen Erzählsituation abschreitet. Hier zieht sich der Erzähler mit seinen Kommentaren und Reflexionen mehr und mehr vom Erzählvorgang zurück, bis er schließlich so weit hinter die Figuren zurückgetreten ist, dass die Illusion der Unmittelbarkeit entsteht.115 In den siebziger Jahren hat Stanzel den Systemcharakter seines Entwurfs zu festigen und zu einer Theorie des Erzählen auszuarbeiten versucht, indem er seinen Typenkreis durch das Einbeziehen anderer Ansätze differenzierte. Es wurden folgenden ‚Konstituentenʼ eingeführt: 1) die Konstituente ‚Person´ (Identität vs. Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren), 2) die Konstituente ‚Modusʼ (Erzähler vs. Reflektorfigur) und 3) die Konstituente ‚Perspektiveʼ (Außenperspektive vs. Innenperspektive).116 In seiner überarbeiteten Form hat der Typenkreis mit seinem System von dominanten und subdominanten Konstituenten und binären Oppositionen diese Anschaulichkeit allerdings weitgehend eingebüßt. Der Typenkreis, der nur das <Wie> oder die Darstellung, nicht aber das <Was> oder die Handlung narrativer Texte erfasst, berücksichtigt wichtige Parameter wie <Ordnung, Dauer, Frequenz, Ort und Zeitdauer> des Erzählens gar nicht oder nur am Rande. Zudem liegen systeminterne Nachteile von Stanzels Typologie zwischen den Positionen von <Sprecher> und <Wahrnehmendem> sowie in dem von der Kreisform hervorgerufenen Zwang zu einseitigen Determinationen.117 Der Vorteil von Stanzels Typologie liegt darin, dass er erkennbare Typen von Romanen, die auch historisch relevant sind, am Typenkreis verortet. Seine drei Erzählsituationen und Übergangsformen zwischen den Erzählsituationen stellen bekannte Romantypen dar. Genette hingegen kann systematisch einiges kombinieren, ohne jedoch dadurch einen richtigen Typus entstehen zu lassen, dessen Eigenschaften im Gesamtkontext sinnhaft wären.118 Obwohl Stanzel seine Typologie erstmals Ende der fünfziger Jahre entwickelte, spielt sie heute eine wesentliche Rolle im deutschen Sprachraum. Sein Modell gehört zu den 114 Ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 91. 116 Vgl. ebd., S. 91 ff. 117 Vgl. ebd., S. 93. 118 Vgl. Fludernik, Monika: Ebd., S. 117. 115 27 wichtigsten Erzählmodellen der Narratologie. Die Kenntnis der Analysekategorien Stanzels Topologie und das Verständnis der semantischen und funktionalen Eigenschaften von Erzähltexten sind sehr wichtig für die wissenschaftliche Untersuchung jedes literarischen Werkes. 2.4.4 Erzählte Welten in narratologischer Sicht Martinez und Scheffel behaupten: „um einen narrativen Text zu verstehen, konstruiert man im Akt der Lektüre die Totalität einer erzählten Welt. Diese Konstruktionsleistung erfolgt auf der Grundlage der expliziten Aussagen des Erzählers und der Figuren, geht aber über sie hinaus.“119 In dem analytischen Teil wird genau überprüft, ob Olaf Müller die erzählte Welt mit der realen Welt in seinem Buch verknüpft hat, oder nicht. Reale Zeitangaben, Ortsnamen und Ländernamen werden dabei auch eine wesentliche Rolle spielen. Die Konstruktion der erzählten Welt erfolgt im Leseakt ‚inklusivʼ und ,exklusivʼ. Das bedeutet, dass der unthematische Horizont nicht nur vorgibt, was in der erzählten Welt vorhanden ist, sondern auch, was aus ihr ausgeschlossen ist. Der Leser ist stets bestrebt, die erzählte Welt als eine stabile und konsistente Totalität zu konstruieren. Man unterscheidet vier Formen der Komplexität. 1) Homogene vs. heterogene Welten. „Bei den ‚homogenen erzählen Welten´ ist das zugrunde liegende System von Möglichem, Wahrscheinlichem und Notwendigem jeweils einheitlich.“120 Unterschiedliche Systeme von Möglichkeiten vereinigen in sich. 2) Uniregionale vs. pluriregionale Welten. Eine zweite Form von Komplexität findet man in den Werken, die in verschiedenen Abschnitten verschiedene Weltsysteme präsentieren und insofern ‚pluriregionalʼ genannt werden können – im Gegensatz zu ‚uniregionalen Weltenʼ mit einem einzigen System. Besonders Erzähltexte mit extradiegetischen Rahmen- und intradiegetischen Binnengeschichten bieten sich für die Konstruktion ‚pluriregionalen Weltenʼ an.121 3) Stabile vs. instabile Welten. „Als eine ‚stabile Weltʼ wird die Vermischung von phantastischen Grundmotiv und realistischem Kontext verstanden, die bereits im ersten 119 Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 124. Ebd., S. 127. 121 Vgl. ebd., S. 127. 120 28 Satz des Textes eingeführt wird und dauert bis zum Ende an.“122 Andere Texte präsentieren ‚instabile Weltenʼ, insofern der Leser im Verlauf der Lektüre sich die Handlung nach wechselnden Kriterien der Notwendigkeit und der Möglichkeit erklären muss. 4) Mögliche vs. unmögliche Welten. In der Literaturwissenschaft begegnet man dem Begriff der ‚möglichen Weltenʼ heute vor allem im Zusammenhang von einigen Fiktionalitätstheorien. Auf der Grundlage der entwickelten Bestimmung von fiktionaler Rede erscheint es grundsätzlich irreführend, das Phänomen der Fiktionalität mit Hilfe von ‚möglichen Weltenʼ zu erklären.123 In Bezug auf diese theoretischen Ansätze wird Olaf Müllers Schlesisches Wetter im weiteren Teil der Arbeit analysiert. Man kann jedoch feststellen, dass das Buch Schlesisches Wetter eine ‚heterogene erzählte Weltʼ darstellt. Diese vorhandenen erzählten Welten werden aber bei der Analyse genauer erläutert und an Beispielen präsentiert. 122 123 Ebd., S. 127. Vgl. ebd., 128 ff. 29 3 Olaf Müllers Schlesisches Wetter – Roman als Erinnerungsraum 3.1 Tabuisiertes Familiengedächtnis– Zur Vertreibungsgeschichte der Familie Schynoski in Olaf Müllers Schlesisches Wetter In Olaf Müllers Schlesisches Wetter wurde eine deutsche Familiengeschichte dargestellt. Der Autor beschrieb eine fiktive Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem schlesischen Dorf vertrieben wurde. Olaf Müller zeigte damit das Schicksal der deutschen Vertriebenen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Ostgebieten fliehen mussten. Familiäre Wurzeln der vom Autor dargestellten Familie sind eng mit Polen verbunden, weil sie bis zum November 1946 auf dem heutigen polnischen Gebiet lebte. Olaf Müller stellte das Schicksal der deutschen Familiengeschichte im und nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Die Familie stammte aus Schlesien. Als Handlungsorte wählte der Autor schlesische Städte: Breslau und Bischwitz. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das östlich der Oder–Neiße-Linie gelegene Gebiet Schlesiens unter polnische Verwaltung gestellt und ihre deutschen Ortsnamen wurden polonisiert. Breslau hieß Wrocław und Bischwitz hieß Biskupice Orławskie. Historisch gesehen war Wrocław von 1919 bis 1945 die Hauptstadt der neu gebildeten preußischen Provinz Niederschlesien, davor preußische Residenzstadt und Hauptstadt der Provinz Schlesien, dann in der Zeit der Nationalsozialismus außerdem Hauptstadt des Gaus Nieder- und Mittelschlesien. Nachdem Wrocław 1945 dem polnischen Staat angeschlossen worden war und anstelle der vertriebenen deutschen Bewohner polnische Siedler und Zwangsumgesiedelte, zum Teil aus Lemberg und anderen Städten des bisherigen Ostpolens, gekommen waren, ist es Woiwodschaftshauptstadt – erst der gleichnamigen, seit 1999 der Woiwodschaft Niederschlesien.124 Schynoskis Familie floh nach dem Kriegsende nach Leipzig, wo die Hauptfigur des Romans, Alexander Schynoski, geboren wurde. Als Kind war Alexander nie in Polen. Er lernte Polen kaum nur von den geringen Erzählungen seiner Mutter und Großmutter kennen. Er wuchs mit der Überzeugung, dass „seine Kindheit lang es ,Alte Heimatʼ hieß.“125 „Erzählungen der Großmutter über die Vergangenheit begannen und endeten 124 125 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Breslau (Stand: 04.09.2009) Müller, Olaf: Schlesisches Wetter. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003, S. 23. 30 oft damit.“126 Seine Großmutter behauptete, dass „die Alten haben es durchgemacht und die Heimat verloren.“127 Seine Großmutter, Mutter und Tanten mussten sechzig Jahre früher aus den Ostgebieten fliehen, und wie aus der Erzählung seiner Mutter folgte, ließen sie sich nach der Vertreibung in Leipzig nieder. Sie schweißte jedoch zusammen, was sie während der Kriegs- und Nachkriegszeiten durchmachen mussten. Schynoski erinnerte sich an seine Herkunft folgendermaßen: Unser schlesisches Blut. Das nicht von besonderem Wert ist. Ein lebenserhaltener Stoff dennoch, scheint es. Der Begriff existiert nur in meinem Kopf. In der Familie nahbrak man ein solch schwerwiegendes Wort nicht in den Mund. 128 (tu widać jak na dłoni Tabuisierung, Verdrängung …. Z drugiej strony nosi w głowie… Analizować cytaty, one nie mogą funkcjonowac w powietrzu!!!Schynoskis Familiengeschichte wird in Schlesisches Wetter nur ein einziges Mal durch die Stimme von Schynoskis Mutter in Erinnerung gebracht. Das geschah am Vorabend von Schynoskis Reise nach Polen. An diesem Abend erinnerte er sich auf diese Weise: Sie hatte auch in meiner Kindheit nicht besonders häufig mit mir allein gesprochen, selten ausführlich, niemals über Fürsten – Altgut oder ihre, Jugend. Es war wahrscheinlich, dass sie es auch diesmal nicht tun würde […] Dann schien es sich plötzlich zu einem Anfang durchgerungen zu haben. 129 Seine Mutter rief sich ihre Vergangenheit ins Gedächtnis. Sie erinnerte sich an die Vertreibung und Flucht ihrer Familie aus der alten Heimat. Sie gedachte ihrer Jugend, ihrer Familie, ihres Hauses, ihres Dorfes, in dem sie die Kindheit verbrachte. Ihre Herkunft beschrieb sie in der folgenden Art: „Die Oma war eine geborene Krieg, ein seltsamer Name […]. Die Uroma, die ist von polnischem Uradel gewesen, die waren verarmt und haben sich dann umbenannt. Man konnte so einen Titel verkaufen.“130 Seine Mutter erzählte ihrem Sohn, dass sie mit ihrer Familie vor und im dem Zweiten Weltkrieg in Bischwitz lebte. Dieses schlesische Dorf lag 30 Kilometer östlich von Breslau. Der Autor verband den Ort am stärksten mit Schynoskis Familiengeschichte, aus der sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben wurde. Die Geschichte der Vertreibung prägte die Kindheit des Haupthelden. Schynoski brachte das in den folgenden Ausdruck: „[…] die Großmutter, die ich liebte, stopfte mich mit ihren 126 Ebd., S. 23. Ebd., S. 22 ff. 128 Ebd., S. 106. 129 Ebd., S. 127. 130 Ebd., S. 128. 127 31 Bildern, dem Erzählten, stopfte mich aus, bis ich in die Welt ihrer Entschuldigungen passte. Bis ich verstummte. Weil ich nicht in ihre Erzählungen gehörte.“131 Seine Mutter erinnerte sich an die Zeiten vor dem Krieg. Sie erzählte, dass sein Großvater auf dem Bau arbeitete und die Ziegel und alles Material auf das Gerüst hochtrug. Seine Großmutter arbeitete bis 1938 beim Arbeitsdienst. Sie wusch Wäsche und half beim Bauern aus. 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Sein Großvater war Soldat und hatte immer Pferde unter sich. Er war nicht an der Front. Er war, „man sagte, Nachschub“.132 Die erste schlimme, mit dem Krieg verbundene Erinnerung war für Schynoskis Mutter das Verschwinden ihres Vaters. Diese Situation brachte sie in Erinnerung auf diese Weise: „Er war bei den Amerikanern, wir wissen nicht, ob er in Polen etwas Schreckliches getan hat, eigentlich hat er immer nur die Pferde unter sich gehabt. Das war eben eine schlechte Zeit“.133 Das Verschwinden ihres Vaters war für sie die schmerzhafte Erfahrung. Sie liebte ihn sehr. Die Frau erinnerte an ihn folgendermaßen: Ich konnte meinen Vater nicht leiden, ich habʼs ihm aber nicht gesagt. Geschlagen hat er uns nie, der war der beste Vater von der Welt […] Ich war zwölf Jahre alt, da habe ich Zahnschmerzen, und er hat mich auf den Arm getragen und mich getragen, bis ich einschlafen war; er hat unsere Räder geputzt, er hat unsere Schuhe geputzt […] Also mit uns Kindern war er gut.134 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das östlich der Oder–Neiße-Linie gelegene Gebiet Schlesiens 1945 unter polnische Verwaltung gestellt. Das Gebiet, in dem Olaf Müller seine deutsche Familie setzte, wurde administrativ in den polnischen Staat eingegliedert. Schynoskis Mutter rief ins Gedächtnis die damalige Situation, die im Dorf herrschte. Sie beschrieb sie in der folgenden Art: „die Polen haben alles genommen, die haben alles in Besitz genommen, die ganzen Wohnungen. Alle. […] Die Polen haben nur die Häuser genommen, wo es eine Landwirtschaft dazu gab.“ 135 Die Frau erzählte auch davon, dass die Leute, die in den Häusern gewohnt haben, in die kleinste Kammer gesteckt wurden und mussten sich damit zufriedengeben. Ihre Familie verlor auch damals ihre Landwirtschaft. Die Mutter erinnerte sich an die Polen folgendermaßen: „die Polen haben uns nicht vergewaltigen wollen, die haben uns nur schikaniert […] sie haben uns zermürbt, die haben uns beschimpft.“136 131 Ebd., S. 23. Ebd., S. 137. 133 Ebd., S. 135. 134 Ebd., S. 137. 135 Ebd., S. 141. 136 Ebd., S. 143. 132 32 Nach Übernahme der Verwaltung durch polnische Stellen wurden die deutschen Ortsnamen polonisiert und die deutsche Bevölkerung größtenteils vertrieben. Mit dem Zusammenbruch der Ostfront kam für die Deutschen im Osten eine schreckliche Zeit. Ein Teil der damals 4,5 Millionen Menschen Schlesier floh ab Anfang 1945 vor der anrückenden Roten Armee. Die von Olaf Müller dargestellte Schynoskis Familie musste im Januar 1945 auch aus dem Ostgebiet fliehen. Der Autor vermittelte das in der folgenden Art: Mama hat uns genommen, und wir sind los, wir hatten Glück, dass es schon warm; Im Januar; als wir aus Fürsten – Altguth weg mussten, hatte es zwanzig Grad minus und es stürmte, am neunzehnten Januar ʼ45 hieß es noch, wir sollen alle dableiben, weil die Front nicht kommt, in der Nacht zum zwanzigsten hieß es dann: wir müssen weg, raus, sofort.137 Die Flucht Schynoskis Familie beschrieb Olaf Müller folgendermaßen: Auf dem Weg sah es furchtbar aus. Das war ja nicht so ordentlich zugegangen. Überall waren Sachen vertraut im Schnee, auch die tote Kinder, die zurückgeblieben waren, und überall Puppen von den Kindern. Man hat das nicht so genau sehen können, ob das Puppen waren oder tote Kinder, aber toten Kinder waren auch dabei.138 Die Frau brachte in Erinnerung, dass ihre „Familie nach der Tschechoslowakei geflüchtet war, als die Front kam“139. In der Tschechoslowakei wohnte sie bei einer Familie Hupka. Am achten Mai war der Krieg zu Ende und ihre Familie „am neunten oder am zehnten musste raus aus dem Dorf und alles abgeben“.140 Da die neue polnische Verwaltung zu diesem Punkt noch keineswegs gefestigt war, konnten im Sommer 1945 viele geflohene Schlesier zunächst in ihre Heimat zurückkehren. Diese Situation beschrieb der Autor auf diese Weise: Die haben ja fünf oder sechs Jahre mit deutscher Besatzung leben müssen. Als sie uns im Sommer ʼ46 weggeholt haben, die polnischen Milizen, die in Schlesien gewütet haben, was denkst du, wie die Polen gelacht haben. Wir mussten zum Russen. Im Schweinestahl arbeiten. 141 Schynoskis Familie kehrte im Sommer 1945 nach Schlesien nach Fürsten–Altguth zurück. Jedoch schon im November 1946 erfolgte ihre zweite Zwangsaussiedlung, weil in den Jahren 1946 und 1947 die Deutschen von den Ostgebieten endgültig vertrieben wurden. Schynoskis Mutter erinnerte, wie folgt, sich an dieses Ereignis: „Im November ʼ46, sind wir mit dem Viehwagon gefahren, man hat uns getrennt, ich bin nach Riesa 137 Ebd., S. 148. Ebd., S. 149. 139 Ebd., S. 147. 140 Ebd., S. 148. 141 Ebd., S. 143. 138 33 gekommen und die Mama nach Görlitz, wir haben uns erst Anfang ʼ47 in Leipzig wiedergefunden.“142 Die Frau erzählte ihrem Sohn die Familiengeschichte nur ein einziges Mal am Vorabend von Schynoskis Reise nach Polen. Schynoski fuhr in das schlesische Dorf, aus dem seine Familie stammte und wurde dort mit den Folgen der Vertreibung konfrontiert. Olaf Müller nahm sich in Schlesisches Wetter dieses wichtigen Themas an. Das ist ein Roman über Flucht und Vertreibung aus Schlesien. In Schynoskis Familie spiegelte sich bruchstückhaft verdrängte deutsche Nachkriegsgeschichte wider. Die Erinnerungen seiner Mutter und Großmutter schilderten das Schicksal der deutschen Vertriebenen. Müllers Roman gehört zu den Büchern, die als ,Erinnerungsliteraturʼ gekennzeichnet werden. Die Heimatproblematik wurde zu einem relativ heutigen Thema in der deutschen Literatur der Nachkriegsjahre. Sie stellt Schicksale und Haltungen der Einzelnen dar. Der Begriff ‚Heimatʼ ist aktuell für viele Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Ostgebieten vertrieben wurden. Das Phänomen der verlorenen Heimat greift Olaf Müller in seinem Roman auf, in dem er deutsch-polnische Beziehungen darstellt. Olaf Müller ist ein Vertreter der dritten Generation. Als ein Schriftsteller des Jahrgangs 1962 wagte er sich in Schlesisches Wetter das Schicksal der Vertriebenen zu beschreiben, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Ostgebieten fliehen mussten. 3.2 Stereotype Vorstellungen über das Eigene und das Fremde in Olaf Müllers Schlesisches Wetter „Die Lautsprecherwarnung vor Taschendieben verstand ich nur zum Teil. Der dazugehörige Polenwitz fiel mir nicht ein.“143 Dem deutschen Journalisten Alexander Schynoski, der zugleich der homodiegetische Erzähler ist, geht dieser Gedanke auf dem Berliner Hauptbahnhof durch den Kopf, als er zwei polnische Journalisten abholt. Während des Gesprächs mit den Polen rief Schynoski seine erste Polenreise ins Gedächtnis. Die Polen-Reflexion brachte er folgendermaßen in Erinnerung: „Ich kannte 142 143 Ebd., S. 149. Ebd., S. 57. 34 Polen kaum, hatte nur Stettin für wenige Tage besucht, stattete einmal Gubin eine kurze nächtliche Visite ab […]. Diese Grenzgegenden hatte ich nie verlassen.“144 Olaf Müller konfrontierte seine Hauptfigur schon am Anfang der Geschichte mit den stereotypen Vorstellungen über Polen (Taschendieben, Polenwitzen). Der Leser stellt sich die Frage: Was für ein Bild über Polen stellte Olaf Müller in seinem Roman dar? Inwieweit ist sein Roman stereotypisiert? Olaf Müller stellte seine Hauptfigur in einem Polen-Raum dar und ließ sie mit der polnischen Realität und den deutschen Polen zusammenstoßen. Infolge der Konfrontation bildeten sich in Schynoskis Kopf seine eigenen Bilder über Polen. Werden seine Bilder mit den negativ orientierten und schematisierten stereotypen Vorstellungen, die am Anfang der Geschichte dargestellt wurden, bestätigt? Inwieweit wird der entworfene literarische Polen-Raum in Olaf Müllers Schlesisches Wetter stereotypisiert oder nicht? Inwieweit spielen die historisch herausgestellten Stereotype über Polen und die Polen eine Rolle in der Gegenwartsliteratur? Die genaue Analyse von Stereotypen über Polen und die Polen in Bezug auf Müllers Schlesisches Wetter ermöglicht, auf die dargestellten Fragen eine Antwort zu finden. Die historisch herausgestellten folgenden Stereotypen: Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ, ,Polen-Opfer-Stereotypʼ und das Bild der ,schönen Polinʼ werden in Betracht gezogen und genau besprochen. Die ausgewählten Beispiele werden herausgesucht und veranschaulicht. 3.2.1 Wrocław als Polenraum des Stereotyps der ,polnischen Wirtschaftʼ Takie wartościujące historyjki nie mają co szukać w pracy o walorach naukowych.In diesem Kapitel wurde Wrocław als Polenraum des Stereotyps der ,polnischen Wirtschaftʼ gesehen. In Olaf Müllers Schlesisches Wetter wurde diese Stadt sehr ausführlich unter verschiedenen Aspekten beschrieben. Der Autor schilderte ihr Bild vor dem Zweiten Weltkrieg und in Nachkriegszeiten. Ausführliche Beschreibungen des Hotels, des Bahnhofs, der Straßen sind im Buch festzuhalten. Die im Buch genannten Straßennamen (Kościuszki-, Sienkiewicza-, Świdnickastraße) und Hotelnamen (Polonia, Monopol) sind heute auf dem Stadtplan von Wrocław zu finden. Auf dem 144 Ebd., S. 18. 35 Hintergrund der Beschreibungen kann der Leser versuchen, sich direkt das Polenbild zu schildern. Aufgrund der genauen Stadtdarstellung kann man annehmen, dass Olaf Müller Wrocław sehr gut kennte. Dem Leser kam jedoch die Frage: Woher kennt der Autor so gut Wrocław? War er schon in der Stadt? Erfuhr er über Wrocław und die Polen von anderen, oder basiert er auf den Schreibformen über Polen? Aus seinem Lebenslauf folgte, dass er Forschungsaufenthalte an der Jagiellonen- Universität in Krakau im Jahr 1996 machte. Man kann voraussetzen, dass er die Polen und die polnischen Städte schon damals kennen lernte und es in Schlesisches Wetter wagte, dieses Polenbild darzustellen. Vertreibung und Flucht der Deutschen aus den Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg sind Themen des Buches. In den Hintergrund stellte der Autor das Polenbild. Die historische Verortung polenbezogener Stereotype ist eng in historischer Perspektive mit einer Komprimierung verbunden. Zu den historisch herausgestellten Stereotypen über Polen und die Polen gehört das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ. Es ist das bekannteste deutsche Stereotyp, das Polen anbetrifft. Es wird als Misswirtschaft verstanden und in der sozialen Kommunikation mit den Begriffen wie ,Unordnungʼ und ,Unregierbarkeitʼ in enge Verbindung gesetzt. In dem vorliegenden Kapitel wird herausgestellt, in welchem Grad der entworfene literarische Polen-Raum durch das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ in Olaf Müllers Schlesisches Wetter geprägt wird oder nicht. Ausgewählte Buchabschnitte werden herbeizitiert und analysiert. Olaf Müller ließ seine Figuren im polnischen Raum nieder, im schlesischen Dorf, in dem sie vor und in den Kriegszeiten lebten. Nach dem Kriegsende wurden sie aus ihrem Familiendorf, Bischwitz, vertrieben, weil dieses Gebiet unter polnische Verwaltung gestellt wurde. Der deutsche Journalist, Alexander Schynoski, bereiste Polen in Müllers Schlesisches Wetter als homodiegetischer Erzähler. Er machte sich nach Polen auf, um seine schlesischen Wurzeln zu finden. Bei Schynoskis Bezug auf den fremden nationalen Träger und Auslöser seiner Wahrnehmungsperspektiven flossen bereits bildhafte Vorstellungskomponenten des deutschen Umfeldes ein. Er ist in seiner Polenwahrnehmung durch seine bisherige Sozialisation geprägt.145 Schon am Anfang der Geschichte, während der Zugsreise nach Polen, begegnete er der polnischen Realität. Er „saß im langsamsten Zug, den es auf dieser Strecke überhaupt gibt“. 146 Seine ersten Bemerkungen drückte er folgendermaßen aus: 145 146 Vgl. Zimniak, Paweł: Ebd., S. 201. Müller, Olaf: Ebd., S. 161. 36 Es war nicht lange, Liegnitz war erreicht, ein Ort direkt aus meinen schwärzesten Phantasien. Vorwerke waren verwelkt; geborstene Dächer nicht repariert, ich ortete Brücken, die nicht an ihrem Platz waren, und wunderte mich zwischen Liegnitz und Breslau über die merkwürdige Vermehrung der Schrebergärten, über deren Vordringen bis ins Innere Breslaus. Willkürlich waren Hochhäuser und Hochhaussiedlungen gepflanzt worden. Mitten in die Schrebergärten hinein. Nichts entsprach mehr meinem siebzig Jahre alten Stadtplan. Überall Schrebergärten. Nichts entsprach mehr meinem siebzig Jahre alten Stadtplan […] Die Gärten ringsherum waren die ersten Schrebergärten der Welt. 147 Schynoski brachte in Erinnerung, dass er nach der Ankunft in Wrocław vor sich Unordnung, Verfall, mangelnde Sauberkeit bemerkte. Schynoski brachte das in folgender Form zum Ausdruck: „Schließlich Breslau-Zentrum […]. Das Abstoßendste nach meiner Ankunft: Der Gestank nach Scheiße in der Bahnhofshalle. Die durchgerosteten Pfeiler der Hallenkonstruktion drohten einzuknicken. Ich beeile mich, rauszukommen.“148 Die weitere Bewegung Schynoskis durch Wrocław war mit dem Wahrnehmen des Zerfalls verbunden: „rußige Fassaden säumten die Piłsudskistraße. Bürgerhäuser […]. Grau, wie jene und ebenso befallen vom Werbetafelschimmel, der sich hier noch gefährlicher und unüberschaubarer an den Fassaden empor zu fressen schien, so dass an einigen Stellen das Mauerwerk, die Fenster oder der Putz nicht mehr zu erkennen waren.“149 Während seines Aufenthaltes im Hotel ,Poloniaʼ lenkte er die Aufmerksamkeit auf die Matratze im Zimmer. Er beschrieb sie folgendermaßen: „Die Matratze hing fast bis zum Boden durch. Seit der Einweihung des Hauses war sie nicht ausgetauscht worden, hatte Generationen von Gefangenen beherbergt.“ 150 In der Nähe der Stadtmitte schenkte er dem „lautstarken Hundegebell unter den Straßenlärm […], obwohl weit und breit kein Hund zu sehen war. Wie von Hofhunden.“151 Auf dem Weg nach Bischwitz, zum Heimatdorf seiner Mutter und Großmutter, rief er sich den Zug, mit dem er sich bewegte, ins Gedächtnis. Der Zustand des öffentlichen Verkehrsmittels beschrieb er auf diese Weise: „Der Zug war drinnen wie draußen vollkommen verdreckt. Ich war gezwungen, an jeder Station die Tür zu öffnen, um mit Mühe den Namen des jeweiligen Dorfes zu entziffern. In einem Wagen lief die Heizung, im nächsten wieder nicht.“152 147 Ebd., S. 159. Ebd., S. 165 ff. 149 Ebd., S. 167. 150 Ebd., S. 177. 151 Ebd., S. 168. 152 Ebd., S. 198. 148 37 Schynoski als Journalist hörte schon in der Redaktion in Berlin von der Unsicherheit und Angstzustände, in denen sich Polenbesucher befinden. Er hörte „von den mafiösen Zuständen in Polen […] vom erbarmungslosen Beute-Machen bei deutschen Touristen, von spurlosem Verschwinden.“153 Angst überkam Schynoski in Wrocław, als ihm auf dem Kościuszkiplatz drei Männer entgegentreten. Er erinnerte sich wie folgt an dieses Ereignis: „drei Männer traten mir entgegen, die sich nur mühsam auf den Beinen halten konnten […]. Ich konnte ihren faulig alkoholisierten Atem bereits riechen.“154 Schynoski erinnerte sich an seinen Aufenthalt in einem Geschäft, das auf ihm einen negativen Eindruck machte. Er brachte das in folgender Form zum Ausdruck: „Ich inspizierte sogar den düsteren Laden. Es roch säuerlich nach Käse…außer einer Verkäuferin und einer Frau, die ich mitten im Plausch gestört hatte, war das Käsegeschäft leer.155 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die herbeizitierten Buchabschnitten das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ schildern. Damit zeigte Olaf Müller im Schlesisches Wetter negative Komponenten der Polenwahrnehmung. Diese im Buch erhaltenen Beschreibungen: der Gestank in der Bahnhofshalle, schmutzige Matratze im Hotelzimmer, das Hundegebell unter den Straßenlärm, schlechter Zustand der Züge, geborstene Dächer und endlich das erbarmungslose Beute-Machen bei den Polenbesuchern, stellen jedem Leser ein negatives Bild über Polen dar. Das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ wird als Stereotyp der ,langen Dauerʼ bezeichnet und dient zur Konstruktion des Feindbildes. Es ist mit den Folgen historischer Vorkommnisse verbunden, die viel dauerhafter als die Ursachen sind, auf die sie zurückzuführen sind. Durch die Analyse des Buches lässt sich ableiten, dass die vermeintlichen, kollektiv gültigen und negativ konnotierten Vorstellungen über das Fremde in die individuelle Wahrnehmung einflossen. Sie werden aber in die individuelle Wahrnehmung letztlich dekonstruiert. „Im weiteren Handlungsbereich zeigt sich, dass die ,Überbleibselʼ des Stereotyps der ,polnischen Wirtschaftʼ durch die Entwicklung auf der Ebene der Geschichte nicht bestätigt werden. Die mitschwingende Latenz stereotypen Denkens wird auf der Ebene des Diskurses insoweit kritisch hinterfragt, als Bewegung durch den 153 Ebd., S. 172. Ebd., S. 171. 155 Ebd., S. 186. 154 38 literarischen Polen-Raum das Bewertungsmuster: Die Polen lassen alles verfallen, verrotten und vergammeln“156 Am Anfang des Kapitels wurde die Frage gestellt, ob der entworfene literarische PolenRaum in Bezug auf das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ in Olaf Müllers Schlesisches Wetter stereotypisiert ist oder nicht. Die herbeizitierten Buchabschnitte weisen jedoch eindeutig darauf hin, dass sich Olaf Müller in seinem Roman auf das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ beruft und es sich in seinem entworfenen literarischen Polen-Raum auf verschiedene Art und Weise schildern lässt. 3.2.2 Deutsch-polnische Wahrnehmung des Geschichtsraumes Jede Geschichte lässt sich auf verschiedene Weise erzählen. Die Darstellung eines Geschehens kann nicht nur aus unterschiedlicher Distanz, sondern auch aus verschiedenen Blickwinkeln erfolgen und mehr oder weniger eng an die besondere, mehr oder weniger eingeschränkte Wahrnehmung einer erlebenden Figur gekoppelt sein.157 Im Sinne von Genette sollte man bei der Darstellung einer Geschichte seine Aufmerksamkeit auf zwei Fragen lenken: <Wer sieht?> und <Wer spricht?>. In Bezug darauf lässt sich der in Olaf Müllers Schlesisches Wetter entworfene deutsch-polnische Geschichtsraum aus den verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Die Darstellung der kriegsbezogenen Geschichte erfolgt einerseits durch die polnische Stimme der Figur der Frau Misiak und andererseits durch die Stimme der deutschen Mutter, die ihrem Sohn die eigene Geschichte erzählte. In diesem Kapitel werden entsprechende Textausschnitte im Hinblick auf die Perspektivierung des Erzählten herausgestellt und das historisch entstandene Polen-Opfer-Stereotyp analysiert. Der deutsch-polnische Geschichtsraum wurde von Olaf Müller erzählerperspektivisch als eine Individualisierung der Schicksale im Kontext des zweiten Weltkriegs dargestellt. Das Stereotyp von den ,Polen als Opferʼ bezieht sich auf polnische MisiaksFamilie. Frau Misiak, siebzigjährige polnische Frau, erinnerte sich an ihre Geschichte folgendermaßen: Die Misiaks lebten immer in Warschau. […] Die Misiaks hatten zu den angesehensten Warschauer Familien gehört. […] Bis die Deutschen kamen. […] Erst `44 haben wir uns auf dem Lande versteckt. Erst in einem Kloster. Dann bei 156 157 Zimniak, Paweł: Ebd., S. 202. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Ebd., S. 63. 39 einem Bauern. In Warschau wurde es für uns zu gefährlich. Der Aufstand lag in der Luft. […] Die Eltern meines Mannes waren im Lager. Die Mutter in einem Lager in Deutschland. […] Die Eltern sind nicht zurückgekommen. Nach dem Krieg, gleich ` `45 kamen wir nach Breslau.158 Die heutige Stadt Breslau beschrieb die Frau auf folgende Weise: „die Stadt ist voller Deutscher: Im November, im Winter fallen sie nicht auf. Aber im Frühjahr und erst im Sommer zählt man sie zu Tausenden. Auch wenn sie in kleinen Gruppen spazieren, könnte man denken, sie wären zu einer Demonstration nach Breslau gekommen.“159 Gefühle der polnischen Frau werden von dem Autor in dem folgenden Textstück erfasst: „Die Deutschen mögen mit ihren Polen-Besuchen wenigstens warten, bis die Generation der Hauptbetroffenen tot ist.“160 Das Polen–Opfer-Stereotyp bekommt in der kriegsbezogenen Analepse in Müllers Auffassung ein Gegengewicht, das auf dem Beispiel Schynoskis Familiengeschichte zu sehen ist. Die deutsche Mutter erinnerte sich an ihre Familiengeschichte folgendermaßen: Die Polen haben alles genommen, die haben alles in Besitz genommen, die ganzen Wohnungen. Alles. […] Die Polen haben nur Häuser genommen, wo es eine Landwirtschaft dazu gab. […] Die Polen haben uns nicht vergewaltigen wollen, die haben uns nur schikaniert, früh wurden wir zur Arbeit eingeteilt, vergewaltigt haben sie uns nicht, sie haben uns zermürbt, die haben uns beschimpft.161 Durch die parallele Darstellung der beiden Familiengeschichten versuchte Olaf Müller in seinem Buch stark, vereinfachte, feststehende Stereotype zu vermeiden. Er zeigte dabei, dass die Generationendifferenz eine bedeutende Rolle spielt. Die Generation der Söhne und Enkel weist auf eine andere kognitiv-emotionelle Einstellung zur Geschichte hin, die im Buch im Verhältnis von ,Historieʼ und ,Diskursʼ zu bemerken ist. Der junge deutsche Autor wagte sich, die kriegsbezogene Geschichte einerseits einer polnischen und andererseits einer deutschen Familie zu zeigen. Die ausgewählten Buchabschnitte schildern, dass beide Nationen als Opfer des Krieges gesehen werden können. Die Perspektivierung der Darstellung spielt eine gewisse Rolle bei der Darlegung einer Geschichte. Der von Müller entworfene Polen-Raum betrachtet die funktionierende Behauptung der deutsch-polnischen Nachbarschaft nicht mehr als problematisch. Olaf Müller zeigte an dem Beispiel den jungen deutschen Journalisten, dass zwischenmenschliche Kontakte unter den beiden Nationen einen positiven Charakter haben können. 158 Müller, Olaf: Ebd., S. 195 f. Ebd., S. 196. 160 Ebd., S. 197. 161 Ebd., S. 141 f. 159 40 3.2.3 Das Bild der ,schönen Polinʼ in Müllers Auffassung Bei der Analyse Olaf Müllers Schlesisches Wetter wird das Stereotyp der ,schönen Polinʼ in Betracht gezogen. In der polnischen Geschichte war die Stellung der Frau immer schon sehr stark. Insbesondere in schwierigen Momenten spielten die Frauen immer eine wichtige Rolle, nicht nur die traditionelle Rolle als Hüterinnen des häuslichen Herdfeuers, sondern auch als Wächterinnen der Erinnerung, der nationalen und familiären Identität. Die Polinnen waren immer schon diejenigen, die zur Arbeit gingen und für den Familienunterhalt sorgten, sie verwalteten des Vermögen während der Abwesenheit der Männer, die an den Fronten kämpften. Heute scheint die polnische Frau die Elemente der Moderne und der Tradition zu übernehmen, die ihr entsprechen: Ehrgeiz und Entschlossenheit zur Selbstverwirklichung, aber auch Verbundenheit mit dem Haus und der Familie. Das Bild der ,schönen Polinʼ wurde im Schlesisches Wetter dargestellt. Der Autor präsentierte Begegnungen zwischen dem deutschen Erzählerfigur und polnischen Frauenfiguren. Die polnischen Frauen sind nicht wie in den vergangenen Jahrhunderten in den Nationalitätenstreit eingebettet. Ihr Anderseins lässt sich in der Fähigkeit zur Erzeugung eines positiven emotionalen Zustands zwischenmenschlicher Beziehungen bemerken. Olaf Müller erblickt die polnischen Frauen sehr schön und entwirf ihr Bild als ,Weichsel-Aphroditeʼ. Die Hauptfigur des Buches, Aleksander Schynoski, begegnete auf ihrem Weg drei junge Polinnen: Beata, Dorota und Agnieszka. Diese polnischen Frauen beschrieb er nur mit positiven Komponenten, die in diesem Kapitel herbeizitiert werden. Die erste Begeisterung der polnischen Frau folgte schon auf dem Berliner Ostbahnhof. Nach Berlin kamen damals zwei polnische Journalisten, Beata und Witek, aus der Breslauer Redaktion der Tageszeitung Gazeta wyborcza, den Schynoski vom Bahnhof abholen musste. Beata, die schöne Polin, und Witek verbrachten über drei Wochen in Berlin und Schynoski „fühlte sich wohl unter den Polen“162. Er erinnerte sich an Beata folgendermaßen: „Beata reichte mir kaum zur Schulter. Der Begriff grazil genügt zur Beschreibung ihrer Zerbrechlichkeit nicht.“163 Er wollte auch „ihr ein Komplement für 162 163 Ebd., S. 122. Ebd., S. 53. 41 ihr hervorragendes Deutsch zu machen […]. Die deutsche Sprache schien ihr eine Selbstverständlichkeit zu sein.“164 Seine Begeisterung drückte er in kurzer Form auf diese Weise aus: „Beata gefiel mir sehr.“165 Während der Zugsreise nach Polen begegnete Schynoski der zweiten schönen Polin, Dorota. Seine Reaktion wurde in dem folgenden Textstück beschrieben: „Sie sah so deutsch aus […]. Und mit einem Mal sah sie sehr polnisch aus. Für mich. Ausgesprochen polnisch. Slawisch. Ihre Wagenknochen wurden immer polnischer und vor allen Dingen ihre Augen.“166 Über die Stimme des Erzählers zeigte Müller seine Erfassung des fremden Landes. Polnische Frauenfiguren lassen sich als neu, unerwartet und bedeutsam für das Denken, Fühlen und Handeln einstufen. An diese Reisebekanntschaft erinnerte sich Schynoski in der folgenden Art: Fast hatte ich sie übersehen. Wenn sie nicht so ausgesprochen polnisch ausgesehen hätte. Und ich erzählte ihr von Maureen, obwohl es mir ganz und gar zuwider war Maureen in London. Maureen in meiner Nähe oder irgendwo. Dorota sah mich aufmerksam und verwundert an. Sie hatte mich registriert. Eine Antwort oder einen Kommentar über meine Beziehung zu Maureen empfing ich nicht. Ein Nicken. Möglicherweise Verständnis. Immerhin ein Nicken.167 Am Ende seiner Reise im Dorf Bischwitz, aus dem Schynoskis Familie stammt, traf der Erzähler die nächste junge Polin, Agnieszka. Der Berliner Journalist verliebte sich in die weibliche Schönheit. Schynoski beschrieb Agnieszka folgendermaßen: Agnieszka konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Ihr merkwürdig rundes Gesicht faszinierte mich. Wie ihre Augen. Noch runder. […] Agnieszka fiel aus dem dörflichen Rahmen. In eine Bank passte ihre strenge Erscheinung, die nur von ihrem runden Gesicht kontrastiert wurde, besser. Sie hatte sonst nicht die Spur einer Bäuerin an sich. Und keine Spur von Maureen. Agnieszka war, mir fiel aus nicht Treffenderes ein, berückend, und anders als Dorota schien sie unbestreitbar zu existieren.168 Agnieszka arbeitete in einer Bank im Zentrum Breslaus. Ihr Wochenende verbrachte sie beim Großvater in Bischwitz und während der Woche wohnte sie bei ihren Eltern. Die junge Polin mochte die Stille, deswegen besuchte sie jede Woche ihrem Großvater. Nach seiner Ansicht war „Breslau zu hektisch und zu laut.“169 Schynoskis Begeisterung für Agnieszka führte dazu, dass er sich entschloss, in Polen zu bleiben. Diese polnische Frauengestalt ist die bedeutendste Frauenfigur in Olaf Müllers Schlesisches Wetter. Auf ihrem Beispiel kann man sehen, wie polnische Frauen im 164 Ebd., S. 54. Ebd., S. 56. 166 Ebd., S. 161. 167 Ebd., S. 165. 168 Ebd., S. 222 ff. 169 Ebd., S. 224. 165 42 deutschen literarischen Raum aktuell gesehen werden. Bei der Figurenkonzeption gelten polnische Frauen in Schlesisches Wetter als Helferinnen bei der Meisterung krisenhafter Situationen und Trägerinnen neuer ,Beheimatungsmöglichkeitenʼ im Fremden.170 Diese entworfenen neuen Bilder der ,schönen Polinʼ beziehen sich auf folgende Beispiele: Agnieszka half dem dickleibigen und frustrierten deutschen Journalisten Schynoski bei der Bewältigung seiner Lebenskrise. Schynoski wurde aus seiner Lethargie hochgetrieben und fand am Ende seinen Frieden. An die Begegnung mit Agnieszka erinnerte er sich auf diese Weise: „Wenn sie, Agnieszka, weggegangen wäre, ohne mich zu begrüßen, säße oder längst wieder in Berlin.“171 Agnieszka trug neue ,Beheimatungsmöglichkeitenʼ für Schynoski. Durch die gezogene Bindung an die polnische Frauenfigur wird eine Projektion der eigenen Existenz nach Polen eingeschlossen. Schynoskis Ankunft nach Bischwitz beschrieb der Autor folgendermaßen: An der Bushaltestelle von Fürsten-Altguth, vielleicht nur ein par Schritte vom Geburtszimmer meiner Mutter entfernt […] erkannte ich, dass ich bei aller überlegten Technik der Annäherung mich auf nichts weiter als den Zufall verlassen musste, wenn ich eine Chance haben wollte, der polnischen Geliebten künftig näher zu kommen.172 Im weiteren Handlungsbereich „radebrach Schynoski die ersten Brocken Polnisch.“173 Sein Zustand, in dem er sich befand, wurde in dem folgenden Textstück folgendermaßen dargestellt: „Ich […] wurde von einem sagenhaften Glücksgefühl, dem es nicht mehr auf das Gedächtnis ankam, erfasst.“174 Olaf Müller schildert in seinem Buch das Bild der ,schönen Polinʼ, die im gegenwärtigen literarischen deutschen Polen-Raum existiert. Der Autor stellt die polnischen Frauenfiguren als die Personen, die fähig sind, einen positiven emotionalen Zustand zwischenmenschlicher Beziehungen zu erzeugen. Agnieszka, Schynoskis Geliebte, wird auf der Ebene der Geschichte und auf der Ebene des Diskurses individualisiert. Einerseits war sie imstande, ein positives Verhältnis zur Fremde zu schaffen und andererseits stellte sie eine äußere und auch eine innerpsychische Realität der deutschen Erzählerfigur dar. Vgl. Zimniak, Paweł: Ebd., S. 204. Müller, Olaf: Ebd., S. 222. 172 Ebd., S. 222. 173 Ebd., S. 234. 174 Ebd., S. 234. 170 171 43 3.3 Alexander Schynoski und seine Polenwahrnehmung Olaf Müllers Roman schilderte eine Familiengeschichte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg aus einem schlesischen Dorf vertrieben wurde. Infolgedessen ließ sie in Leipzig nieder. Der Autor stellte diese Geschichte als die Ich-Erzählung dar, und näherte den Leser durch Schynoskis Worte zur Geschichte seiner Familie. Die Hauptfigur, Alexander Schynoski bekam eines Tages einen letzten Auftrag von Berliner Redaktion, der ihn auf die Spuren seiner Familiengeschichte führte. Seine Familie stammte aus dem schlesischen Dorf, Bischwitz, aus dem sie nach dem Kriegsende fliehen musste. Schynoski entschloss sich nach Polen zu fahren, um mit den Folgen der Vertreibung und dem heutigen Polen zu konfrontieren. Aus Schynoskis Erzählungen erfuhr der Leser, als der Journalist das fremde Land und seine Leute erblickte. Einige seine Bemerkungen über Polen wurden schon in dem analysierten Teil der vorliegenden Arbeit im Kapitel Wrocław als Polenraum des Stereotyps der ,polnischen Wirtschaftʼ. Er erinnerte an den Gestank in der Bahnhofshalle, schmutzige Matratze im Hotelzimmer, das Hundegebell unter den Straßenlärm, schlechten Zustand der Zügen, geborstene Dächer und erbarmungslose Beute-Machen bei den Polenbesuchern. In diesem Kapitel werden andere Beispiele herausgesucht und veranschaulicht, die dem Leser Möglichkeit geben, mit den Polenbilder bekannt zu machen. Diese Polenbilder wurden in Schynoskis Erinnerung gebracht. Als der Journalist nach Polen kam, kollidierte er mit der polnischen Realität im Hotel ,Poloniaʼ in Breslau. Ins Gedächtnis rief er folgendes Ereignis, als er seine Rechnung mit der deutschen Währung zahlen wollte: <Mark nehme ich nicht>, sagte die Frau empört und verwies mich an die Wechselstube, die sich um die Ecke in einer Boutique befände. Tags darauf begriff ich, welche immense Bedeutung die Wechselstuben für die Breslauer Wirtschaft haben, in jeder Boutique fand sich ein gläserner Schalter, in dem der für das Geldwechsel zuständige Mitarbeiter saß; Institute, wie ich sie so noch nie gesehen hatte.175 Schynoski erinnerte sich an das polnische Radio, das es im Hotelzimmer gab. Er drückte das folgendermaßen aus: Ein Radio mit dem Namen Wanda Zwei […]war ein schwarzer Plastikkasten, kaum größer als ein Schuhkarton und in der Lage, Frequenzen der Mittelwelle und der Ultrakurzwelle zu empfangen…und ich entdeckte wie ausländische Filme in Polen synchronisiert werden: Ein Mann oder auch eine Frau lesen zum Film, der in 175 Ebd., S. 174. 44 Originalsprache gezeigt wird, die immer gut zu hören ist, das Drehbuch mit unbewegter, sonorer Stimme vor.176 Der deutsche Journalist übernachtete im Hotel in Breslau und sein Hotelzimmer beschrieb er auf diese Weise: „Ein Blick aus dem Fenster in den matt beleuchteten Hof und die Gitter an den Fenstern der Nachbarzellen verhießen nichts Gutes. Der Preis meiner Zelle war sicher auf die fehlenden Gitter zurückzuführen.“177 Durch Schynoskis Stimme wurde dem Leser der Zustand der polnischen Gastronomie in Breslau geschildert. Als er am späteren Abend Hunger hatte, ging er aus dem Hotel raus und suchte nach einer Restauration. Er fand nur McDonaldʼs, das leider geschlossen war. Seine Verwunderung wurde vom Autor in der folgenden Art beschrieben: „Vom Hunger getrieben, suchte ich nach einem Restaurant […] wenigstens McDonaldʼs wäre Tag und Nacht geöffnet, beruhigte ich mich […] Endlich vor dem McDonaldʼs ankommen, las ich das Schild, welches verkündete, dass dieses Lokal Tag und Nacht geschlossen sei.“178 Olaf Müller zeigte in dem folgenden Textstück, dass eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der polnischen Wirtschaft schon in 90er Jahren die Außeneinflüsse spielten. Während eines Spazierganges durch Breslau bemerkte Schynoski Kioske, die er wahrscheinlich früher nie sah. Er brachte in Erinnerung das Ereignis in der folgenden Art: „An einem kleinem Platz gab es eine Reihe dieser Kioske, wie sie in der gesamten Stadt zu finden sind. Würfel mit abgeschrägten Ecken, aus denen heraus so ziemlich alles verkauft wurde, was man gebrauchen konnte.“179 In Breslau lenkte er Aufmerksamkeit auf den Zustand der polnischen Häuser und ihre Umgebung. Der Autor brachte das in folgender Ausdruck: „Die Häuser waren es nicht wert gewesen, wiederaufgebaut zu werden. Ställe. Schuppen […] Eine halbe Parkbank, Treffpunkt gelangweilter Jugendlicher. Ein paar Kinder warfen Bälle an eine sterbensgraue Mauer. Die rückwärtigen Fassaden waren nie aufgeputzt worden, wie das auf der Straßenseite gründlich geschehen war.“180 Sein Aufenthalt im Theater brachte Schynoski in Erinnerung auf diese Weise: „Der Zuschauerraum war kleiner als unsere Redaktion. Ich hätte nicht genau sagen können, 176 Ebd., S. 176. Ebd., S. 176. 178 Ebd., S. 177. 179 Ebd., S. 183. 180 Ebd., S. 188. 177 45 wie viele Zuschauer er fasste, dafür war es so kurz vor der Vorstellung zu dunkel. Die fortgeschrittene Dämmerung gehörte anscheinend schon zur Inszenierung.“181 Das letzte Beispiel, das in dem Kapitel veranschaulicht wird, bezieht sich auf die polnische Stimme. Schynoskis Bemerkung drückte Olaf Müller folgendermaßen aus: „Die polnischen Lieder klangen wie die des russischen Sängerdichters […] aber ich hütete mich, das laut zu sagen, weil man ja weiß, wie die Polen zu Russen stehen.“182 In diesem Textstückt bezieht sich der Autor auf die Politik und die Beziehungen zwischen Polen und Russen auf. Davon zeugte der letzte Satz „[…] wie die Polen zu Russen stehen.“183 Die dargestellten Beispiele zeigen, wie der deutsche Journalist das polnische Land während seiner Polenreise erblickte. Der Autor präsentierte jedoch noch Begegnungen zwischen dem deutschen Erzählerfigur und polnischen Figuren. Schon am Anfang der Geschichte lernte Schynoski in Berlin zwei polnischen Journalisten aus Breslauer Redaktion der Tageszeitung Gazeta wyborcza kennen. Er verbachte mit ihnen über drei Wochen und „fühlte sich wohl unter den Polen“184. Sie schenkten ihm einen Bildband mit Stadtansichten Breslaus aus der Zeit vor 1945: „Ein Bildband über Breslau […] In deutscher Sprache. Aber aus einem polnischen Verlag. Auf dem Titelbild eine Kirche, wie ich dutzendfach von überbelichteten und fehlkolorierten Postkarten kannte.“185 Dieses Geschenk beeindruckte den deutschen Journalisten. Der Autor beschrieb das folgendermaßen: Ein gelbstichiges Foto hielt mich fest. Was mich an dem Bild gefangen nahm, war schwer zu erklären. Möglicherweise hatte es mit einer Geschichte meiner Großmutter zu tun. Obwohl es ein schlechtes Foto war. Dennoch sah ich wie gebannt auf sich von einem Platz entfernende Straßenzüge und suchte in meinem Gedächtnis nach der Entsprechung. Einer Begründung. 186 Die polnischen Frauen wurden von Olaf Müller nur mit positiven Komponenten beschrieben. Schynoski begegnete auf seinem Weg drei junge Polinnen: Beata, Dorota und Agnieszka. Am Ende der Geschichte verliebte er sich in der polnischen Frau, Beata. Der Autor präsentierte auch Schynoskis Bekanntschaft mit dem polnischen Journalisten, Witek. Er lernte ihn in Breslau kennen aber begegnete wieder in Breslau. Witek lud Schynoski zu sich und seiner Mutter. Schynoskis Reaktion auf die polnische Einladung 181 Ebd., S. 200 ff. Ebd., S. 80. 183 Ebd., S. 80. 184 Ebd., S. 122. 185 Ebd., S. 71. 186 Ebd., S. 71. 182 46 brachte der Autor in folgender Ausdruck: „Seine Mutter würde für mich kochen.“187 Am Beispiel von Misiaks Familie zeigte Olaf Müller die polnische Gastlichkeit. Der Autor präsentiert in Schlesisches Wetter noch eine polnische Eigenschaft, die er folgendermaßen beschrieb: „ […] einen Handkuss […] Von dieser polnischen Eigenart hatte ich gehört.“188 Die dargestellte polnische Realität kollidierte mit den Fantasien Schynoskis. Olaf Müller zeigte das gemütliche Wrocław, das unter dem ängstlichen unsicheren Blick des Ostdeutschen in ein chaotisches Nest verwandelt wurde. Schynoskis Polenliebe wuchs mit jeder Seite des Buches. Olaf Müller stellte den Osten als der Ort der Gemächlichkeit, Besinnung, als sicheren Hafen vor der rauhen Wirklichkeit dar. Ihre Bewohner assoziiert er mit Gastlichkeit und Höflichkeit und die polnischen Frauenfiguren betrachtet als weibliche Schönheiten. 3.3.1 Alexander Schynoski als autodiegetischer Erzähler In dem analytischen Teil versuche ich hinsichtlich der theoretischen Ansätze auf folgende Fragen Antworten zu finden: Wer spricht in dem Roman? In welchem Maß ist der Erzähler am Geschehen beteiligt? Wie ist die Erzählung in dem Roman Olaf Müllers Schlesisches Wetter zu werten, in dem offensichtlich erfundene Figur namens Aleksander Schynoski die Geschichte seiner Familie erzählt, die an historischen Orten in Schlesien handelt und eng verflochten ist mit historischen Ereignissen? In dem Kapitel werden dazu entsprechende Beispiele dargestellt und überprüft. Hinsichtlich der theoretischen Ansätze lässt sich Müllers Roman als fiktionale Erzählung bezeichnen. Der Autor stellt fiktiv die Geschichte einer Familie dar, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem schlesischen Dorf vertrieben wurde. In Müllers Roman spielt der Ich-Erzähler eine bedeutende Rolle. Der Ich-Erzähler, Alexander Schynoski, ist klar homodiegetisch, aber die Frage ist, ob er auch autodiegetisch ist. Seine Position wird in dem Kapitel jetzt genauer geprüft und analysiert. Der Roman Schlesisches Wetter beginnt folgendermaßen: 187 188 Ebd., S. 183. Ebd., S. 54. 47 Man gewöhnt sich nicht daran. Einer der Liebesbeweise Maureens bestand darin, sich an der Tür umzudrehen und Schynoski! zu rufen. Als wüste ich nicht, wer ich bin. Maureen ahnte nicht, was ihre Mahnung anrichtete. Ihr Ruf drang in meinem Gehörgang ein und explodierte dort. Schynoski! Ich preßte beide Hände auf meine Ohren. […] Journalist bin ich geworden, weil ich damals keine Ahnung hatte, was eine Zeitung ist. Heute bin ich im Grunde nicht besser dran. Hellhöriger Schynoski.189 Schon in den ersten Versen kommt Schynoski, der deutsche Journalist, als Figur in seiner eigenen Geschichte vor. Der Ich-Erzähler verwendet die grammatische erste Person. Das Geschehen des Romans wird aus seiner Sicht präsentiert. Die Figur des IchErzählers wird im Buch auf diese Weise dargestellt: Ich trug von früh an stärke Gläser. […] Ich war kaum einundfünfzig hoch und wog keine vierzig Kilo. Ein dürrer, unscheinbarer Junge. […] Ich war nur eine Randfigur. Ein Journalist aus der dritten Reihe, der zu spät erfuhr, was Tage vorher verabredet worden war. […] Mein Englisch war erbärmlich. […] Ich wog weit über einhundert zwanzig Kilo. […] Ich wurde täglich fetter und löste mich dennoch zunehmend auf.190 Die Handlung des Romans beginnt in Berlin in einer Wohnung, in der Schynoski mit seiner englischen Lebensgefährtin, Maureen, zusammenlebt. Er brachte sie in Erinnerung auf diese Weise: Maureen verdiente bei Moritz & Schlesinger für uns beide. Sie nannte sich Gastarchitektin. […] Maureen entwarf Häuser. Sie zeichnete. Sie rechnete. Ihr Büro trieb Experimente in der Stadt. […] Sie investierte jeden Penny in ihr Studium. Sie wollte vorwärts kommen. […] Sie gefiel mir.191 Schynoskis Liebesabenteuer mit Maureen endete in dem Moment, in dem er zu einer Entscheidung kommen müsste, nach London mit Maureen zu fliegen oder in Berlin zu bleiben. Die Reise nach London war mit Maureens Traumjob verbunden und der Aufenthalt in Berlin mit einem Auftrag von seiner Redaktion, den er nach zwei Jahren seiner Lethargie bekam. Schynoski entschloss sich in Berlin zu bleiben und um zwei polnische Gastjournalisten, Beata Szewińska und Witek Misiak, zu kümmern. Seine Entscheidung drückte Müller folgendermaßen aus: „Kein Wort mehr über London. Ich werde nie wieder darüber nachdenken, dass ich jemals dort hätte ankommen können. Diese Entscheidung hat mir das Leben gerettet.“192 Den Auftrag führte Schynoski auf die Spuren seiner Familiengeschichte, infolgedessen sein Leben eine plötzliche Wende erfuhr. Die beiden Polen, Beata und Witek, stoßen seine Polen-Reflexion an. Müller brachte das in den folgenden Ausdruck: „Ich kannte 189 Ebd., S. 5. Ebd., S. 6 ff. 191 Ebd., S. 30 ff. 192 Ebd., S. 97. 190 48 Polen kaum, hatte nur Stettin für wenige Tage besucht, stattete einmal Gubin eine kurze nächtliche Visite ab und kannte den polnischen Zipfel Usedoms flüchtig.“193 Schynoskis Mutter erzählte ihm von der Familiengeschichte und er entschloss sich, nach Schlesien zu reisen. Die Mutter erzählte ihm von der Flucht aus der alten Heimat, von der Vertreibung ihrer Familie nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien. Schynoski fuhr nach Breslau und in das schlesische Dorf, aus dem seine Familie stammte. Seine Gedanke bei der ersten Fahrt nach Breslau beschrieb Olaf Müller in der folgenden Art: „Der Bahnhof von Leignitz war schon vorüber. Der nächste Halt würde in Breslau sein. Ich kam zum ersten Mal an. Ich erinnere mich an die Frage Dorotas: Woher ich käme? Und dass ich darauf keine Antwort wusste. Weil ich mich daran nicht erinnern wollte. Damals.“194 Schynoski wird dort mit den Folgen der Vertreibung und dem heutigen Polen konfrontiert. Die Realität kollidierte mit seinen Fantasien. Am Ende seiner Reise begegnete er schließlich Agnieszka und entschloss sich, in Polen zu bleiben. Alexander Schynoski erzählte im Roman von seiner Familiengeschichte und ist am erzählten Geschehen unmittelbar beteiligt. Er ist zugleich die Hauptfigur des Werkes und steht in einer engen Beziehung zu allen Figuren in der erzählten Welt. Den IchErzähler, der in seiner eigenen Geschichte vorkommt und zugleich auch die Hauptfigur ist, wird in der Erzähltheorie als autodiegetischer Erzähler bezeichnet. Nach den theoretischen Ansätzen ist Alexander Schynoski ein Beispiel des Erzählers eines Romans, der homodiegetisch und zugleich autodiegetisch ist. Die Textanalyse weist darauf hin, dass Müllers Schlesisches Wetter ein Werk der erzählenden Dichtung ist. Alexander Schynoski ist homodiegetischer und zugleich autodiegetischer Erzähler. Das Geschehen des Romans wird aus seiner Sicht präsentiert und dargestellt. 3.3.2 Heterogene erzählte Welt im Roman Schlesisches Wetter In dem vorherigen Kapitel wurde es klargestellt, dass Olaf Müllers Schlesisches Wetter eine fiktionale Erzählung ist. In dem analytischen Teil wird jetzt genauer die erzählte Welt überprüft, die Müllers Roman darstellt. Es wird analysiert, auf welche Weise Olaf Müller die erzählte Welt in seinem Buch konstruiert und ob er die erzählte Welt mit der 193 194 Ebd. S. 18. Ebd. S. 35. 49 realen Welt verknüpft hat, oder nicht. Die im Roman vorhandenen erzählten Welten werden in dem Kapitel genauer erläutert und an einigen Beispielen präsentiert. In Bezug auf theoretische Ansätze kann man feststellen, dass in Schlesisches Wetter eine heterogene erzählte Welt dargestellt ist. Die Familiengeschichte, die in dem Roman dargestellt wird, wird auf dem Hintergrund der realen historischen Ereignisse präsentiert. Olaf Müller nahm in seinem Buch das wichtiges Thema an. Er beschäftigte sich mit den Kriegserfahrungen der Großelterngeneration, ihr Umgang mit der Angst, mit Vertreibung, Flucht und Tod. Alle im Roman geschilderten Figuren sind fiktional und werden aus Sicht des autodiegetischen Erzählers präsentiert. Der Autor beschrieb Schynoskis Familienherkunft folgendermaßen: Die Oma hatte noch vier Geschwister, die Tante Merthe, den Onkel Hans, die Tante Gertrud, vier Geschwister, der Onkel Hans, die Tante Jaschke, also von der Mathilde die Mutter, ja, also die waren vier Geschwister, und die Mama war die Jüngste. Und die Oma war eine geborene Krieg, ein seltsame Name, nickt wahr? Die Uroma, die ist von polnischem Uradel gewesen, die waren verarmt und haben sich dann umbenannt. Man konnte so einen Titel verkaufen. Wer weiß, was man dafür bekommen hat, nicht viel, glaube ich. Die hat geheiratet und hieß dann Krieg; das Gut kriegt immer der Älteste, das war der Onkel Hans, der ist aber in Oberschlesien im Bergwerk gewesen, und da hat sie das bekommen, und den Onkel hat sie bewundert, weil er so weit weg war, weil man sich Geschichten erzählt hat, sagte sie.195 Olaf Müller zeigte in seinem Buch fiktive Reaktionen der dargestellten Figuren, durch die die Verbindung zwischen fiktionaler und realer Sphäre hergestellt wird. Er verknüpft die fiktive Welt mit der realen Welt. Obwohl die Handlung sich in der Gegenwart abspielt, die Hauptfigur des Romans, Alexander Schynoski, ruft die Geschichte seiner Familie hervor. Er verwendet reale Zeitangaben, Orts- und Ländernamen, die eine wesentliche Rolle im Buch spielen. Als Handlungsorte wählte der Autor reale Städte: Berlin, London, Leipzig, Breslau und Bischwitz. Die verwendeten Ortsnamen sind eng mit zahlreichen historischen Ereignissen verflochten. Im Schlesisches Wetter gibt es viele Textabschnitte, in denen reale und fiktive Welten zusammenstoßen. In dem ersten Absatz beschrieb Olaf Müller Leipzig am Ende der sechziger Jahre. In Leipzig setzte er die Kindheit des Haupthelden. Mit dieser Stadt sind Schynoskis erste Kindheitserinnerungen verbunden. Bei der Stadtbeschreibung vermischte der Autor zwei Welten. 195 Ebd., S. 128. 50 Einerseits rief Müller den realen Ortsnamen Leipzig, und historische Ereignisse, die mit der schlesischen Stadt und der damaligen politischen Situation verflochten sind, ins Gedächtnis. Er beschrieb Leipzig am Ende der sechziger Jahre folgendermaßen: Tatsächlich wäre es sehr gefährlich gewesen, halbblind durch die Ruinen zu stolpern, in denen wir noch Ende der sechziger Jahre in Leipzig gespielt haben. Unter dem Schutt lagen überall Eingänge zu feuchten Kellerlöchern. Ein falscher Schritt, und wir wären metertief in die Abgründe gestürzt, die der Krieg hinterlassen hatte. Überwucherter Krater, heimtückische Gruben, Fallen. 196 Der Autor rief auch das folgende Ereignis, das Schynoskis erlebt, ins Gedächtnis: „Direkt meinem Haus gegenüber lagen die Trümmer der Dosenfabrik Köhler, die an ein Ruinengrundstück grenzte, wo vor der Bombardierung ʼ43, als meine Familie noch in Fürsten-Altguth saß, ein Wohnhaus gestanden hatte.“197 In den Kriegsjahren existierte die Dosenfabrik Köhler und der Autor verwendet sie als ein Element der realen erzählten Welt. Der Textabschnitt stellte auch fiktive Beschreibungen vor. Dazu gehören Beschreibungen: Schynoskis Haus und seine Bande. An seine Bande erinnerte sich Schynoski folgendermaßen: In der Bande gab es Jungs, die ausführlich von Horrorfilmen aus dem Westfernsehen erzählten. Dort wurden ihre Phantasien entfacht. Wir träumten davon, in die Katakomben vorzudringen, aber uns fehlten die Werkzeuge. So blieb es dabei, dass wir unsere markerschütternde Entdeckungen erfinden mussten. Eine lange Reihe von Skeletten, die auseinandergesungen auf einer Bank an der Kellerwand sitzen. Bei der ersten Berührung würden ihnen die modrigen Kleider von den weißbleichen Knochen fallen. Das Mumientheater wäre zu Staub zerstoben. Die ganze Vergangenheit.198 In diesem Abschnitt nahm der Autor Bezug auf Kindheitserinnerungen, die ihn mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges konfrontierten. An Schynoskis Beispiel zeigt er fiktive Gefühle der Kriegskinder, die in der damaligen Zeiten aufwuchsen. Olaf Müller brachte auch die reale Körnerstraße in Erinnerung, die bis heute in Leipzig existiert. Bei der Körnerstraße setzte der Autor bei Schynoskis Haus ein: „Irgendwo in Leipziger Süden. In der Körnerstraße. Wir wurden in ein Zimmer gesperrt.“199 Der Autor erinnerte sich im weiteren Teil des Buches auch an Stettin. Er führt die Stadt auf folgende Weise ein: „Ich kannte Polen kaum, hatte nur Stettin für wenige Tage besucht.[…] Stettin empfing mich Ende der siebziger Jahre im rußgrauen Wohnvierteln, die man wahrscheinlich ein Jahrzehnt zuvor in die Stadt an der Oder gewürfelt hatte. 196 Ebd., S. 8. Ebd., S. 8. 198 Ebd., S. 9. 199 Ebd. S. 11. 197 51 Von Stettin war bei Kriegsende nicht viel übriggeblieben. Ich kann mich nur undeutlich erinnern, was ich drei Tage lang dort getan habe.“200 Daneben brachte Müller den polnischen Basar in Erinnerung und beschrieb ihn folgendermaßen: In der Nähe des Hafens, in dem wenigstens eine kleine Flottille polnischer Marineboote zu besichtigen war, die dort ihre grauen Rümpfe auseinanderrieben, hatten die Polen einen Basar aufgezogen, der ausschließlich die Wünsche der DDRler bediente. Überteuerte T-Shirts waren bunt bedruckt mit den komisch entstellten Gesichtern von Abba, den Beatles oder den Stones, Led Zeppelin und Deep Purple. Beeindruckende Offerten, wohin man sah. Vereinswimpel westdeutscher und englischer Fußballmannschaften. Trikots. Am preiswerten erstand man Hemden mit dem Aufdrucks: Argentina ʼ78. Eine Fußballweltmeisterschaft, die lange vorüber war. 201 Der Basar in Stettin wurde so beschrieben, dass der Leser den Eindruck bekommt, er befinde sich direkt in der dargestellten Handlung. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die Verkäufer, die auf dem Basar ihre Waren anboten. Müller zeigte sie auf diese Weise: „Die Verkäufer schienen an ihrer Kunden nicht besonders interessiert zu sein. Gleichgültig und wortlos gaben sie die eingeschweißten Sachen heraus und stopften das Geld in ihre Hosentaschen. Man hatte das Geschäft schauspielerisch im Griff.“202 Im Roman gibt es viele Beispiele, die die soziale und ökonomische Situation des damaligen Polen schildern. Der beschriebene Basar existierte bis in die heutige Zeit in Polen und ist für viele polnische Bürger die geliebte Art des Handels. Mit solchen Beschreibungen brachte der Autor den Leser näher an Polen und die polnische Gesellschaft. In der Beschreibung des Basars verknüpfte Müller zwei verschiedene Welten: reales Vorhandensein von Basaren und fiktive Beschreibung der Waren und Verkäufer. Die polnische Situation der siebziger und achtziger Jahre wird vom Autor am Beispiel des Limonadenverkaufs auf der Straße. Müller beschrieb Schynoskis Reaktion darauf wie folgt: Alle zehn Meter verkaufte man Limonade in grün und rot. Sie war nicht so giftig, wie sie aussah. Die ausgetrunkenen Gläser wurden mit einer kleinen Fontäne, die in den Apparat eingebaut war, sofort gespült und wieder bereitgestellt. Ich kannte diese Vorrichtung bis dahin nicht. Den Polen schienen die Getränke nichts anhaben zu können. Warum sollte es mir anders ergehen? Ich war mindestens so widerstandsfähig wie sie. Also trank ich ein Glas von der roten Limonade. Sie schmeckte stark nach Zucker und einer nicht genau definierbaren Frucht. Ich überlebte die Erfrischung leicht angeschlagen.203 200 Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. 202 Ebd., S. 20. 203 Ebd., S. 20. 201 52 In diesem Abschnitt lässt Müller wieder zwei verschiedene Welten kollidieren: realer Limonadenverkauf auf der polnischen Straße in den siebziger Jahren und daraufhin die fiktive Reaktion Schynoskis. Er konfrontierte die Hauptfigur mit der polnischen Realität der siebziger Jahre. Die Erzählungen von Schynoskis Mutter und Großmutter nähern den Leser an die Vergangenheit der fiktiven Familiengeschichte. Sie gedachten ihrer Jugend, ihrer Familie, ihres Hauses, ihres Dorfes, in dem sie die Kindheit verbrachten. In dem folgenden Textabschnitt erzählte eine fiktive Figur, Schynoskis Großmutter, die politische Situation, in der sich ihre Familie befand. Müller beschrieb das in der folgenden Textpassage: „Großmutter konterte: […] <Sommer ʼ45. Wir waren fast einen Monat wieder zu Hause. Die Russen sind gerade abgezogen. Die Polen waren schon da. Auf der einen Seite sind die Russen raus, auf der anderen kamen die Polen rein. Jedenfalls wollten wir ihn in die Aschengrube werfen. Den hätte keiner gefunden. Die Aschengrube war doch randvoll! Den hätten wir noch reingestopft. […] Die Alten haben es durchgemacht und die Heimat verloren.>204 Durch Schilderungen Schynoskis Großmutter wird dem Leser die fiktive deutsche Familiengeschichte gezeigt, die wegen den Folgen des Zweiten Weltkrieges aus den Ostgebieten fliehen mussten. Die Frau brachte auch in Erinnerung, dass ihre „Familie nach der Tschechoslowakei geflüchtet war, als die Front kam“205. In der Tschechoslowakei wohnte sie bei einer Familie Hupka. Am achten Mai war der Krieg zu Ende und ihre Familie „am neunten oder am zehnten musste raus aus dem Dorf und alles abgeben“.206 Im Schlesisches Wetter schilderte Olaf Müller reale schlesische Städte. Genau beschrieb er Wrocław auf folgende Weise: Schließlich Breslau-Zentrum; die Einfahrt in die Stadt bis zu jenem Hauptbahnhof, von dem meine Familie nicht abgefahren war. Der Transport nach Sachsen begann ʼ47 auf dem Freiberger Bahnhof, der etwas abseits vom Stadtzentrum liegt. […] Rußige Fassaden säumten die Piłsudskiegostraße. Bürgerhäuser, wie sie auch am Bahnhof in Leipzig zu finden waren. Grau wie jene und ebenso befallen vom Werbetafelschimmel, der sich hier noch gefährlicher und unüberschaubarer an den Fassaden empor zu fressen schien, so dass an einigen Stellen das Mauerwerk, die Fenster oder die Putz nicht mehr zu erkennen waren.207 204 Ebd., S. 23. Ebd., S. 147. 206 Ebd., S. 148. 207 Ebd., S. 165 f. 205 53 Bei dieser Beschreibung präsentierte Müller historische Ereignisse, die eng mit dieser schlesischen Stadt verflochten sind. Andere reale historische Ereignisse werden in Erzählungen Schynoskis Mutter und Großmutter dargestellt: Vermutlich sah ich meine Mutter in meinem Kopf um, während sie weitersprach. […] Während sie sprach, fuhr sie mit der Schere unter den Faden der Naht und riss dann die Stoffbahnen wütend und kraftvoll auseinander. <[…] wir hatten in der Tschechoslowakei, wohin wir geflüchtet waren, als die Front kam, da haben wir, Hitler hat das noch, ich weiß nicht genau, wer das angeordnet hat, jedenfalls haben wir da eine ganze Kiste Zucker gekriegt, Würfelzucker, eine ganze Kiste voll, so einen großen Karton; davon haben wir Graupen gekriegt und schwarzes Mehl, und als wir zurück sind, am achten Mai war der Krieg zu Ende, und am neunten oder am zehnten mussten wir raus aus dem Dorf und alles abgeben. Den Zucker. Den Zucker mussten wir abgeben, […] aber die Frau, wo wir gewohnt haben, Hupka hießen sie, die hat uns den Zucker, den wir ihr geschenkt hatten, wiedergegeben.> 208 Diese dargestellten Beispiele zeigen, dass Olaf Müller in seinem Roman Bezug auf zwei Merkmalspaare <real> und <fiktiv> nimmt, die für die erzählte Welt charakteristisch sind. Einerseits rief er reale historische Ereignisse und Daten ins Gedächtnis, die mit den Kriegserfahrungen eng verknüpft sind, und andererseits stellte er Reaktionen und Gefühle der im Roman auftretenden Figuren fiktiv dar. 4 Zusammenfassung Olaf Müllers Schlesisches Wetter gehört zu den Büchern, die als ,Erinnerungsliteraturʼ gekennzeichnet werden. Olaf Müller ist ein Vertreter der dritten Generation. Als ein Schriftsteller des Jahrgangs 1962 wagte er sich das Schicksal der Vertriebenen zu beschreiben, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Ostgebieten fliehen mussten. Der Zweite Weltkrieg war – und ist immer noch – ein unsagbar wichtiges und schwerwiegendes Ereignis unserer Geschichte, woran die Erinnerung und das 208 Ebd., S. 147 f. 54 Gedächtnis unter keinen Umständen abnehmen oder gar verschwinden darf. Olaf Müller beschäftigte sich in Schlesisches Wetter mit Heimatproblematik, die zu einem relativ heutigen Thema in der deutschen Literatur der Nachkriegsjahre gehört. Olaf Müller stellt eine deutsche Familiengeschichte und deutsch-polnische Stereotypik. Der Roman markiert die Übergänge vom kommunikativen Erinnern zum kollektiven Erinnern bis hinein ins kulturelle Gedächtnis. Aleksander Schynoski, die Hauptfigur des Romans, liefert ein mustergültiges Beispiel für seine anfängliche Abhängigkeit vom kollektiven Gedächtniskonstrukt und schließlich seine Befreiung von den damit verbundenen Zwängen. Musterbeispiele der Übermittlung kommunikativer Erinnerung sind Schynoskis Gespräche mit seiner Großmutter und Mutter. Sie bilden einen großen Beitrag von Erinnerungen, von denen Schynoski sich abwenden wird. In Schlesisches Wetter wurden historisch herausgestellte Stereotypen: Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ, ,Polen-Opfer-Stereotypʼ und das Bild der ,schönen Polinʼ in Betracht gezogen. Die analysierten Buchabschnitte weisen eindeutig darauf hin, dass sich Olaf Müller in seinem Roman auf das Stereotyp der ,polnischen Wirtschaftʼ beruft und es sich in seinem entworfenen literarischen Polen-Raum auf verschiedene Art und Weise schildern lässt. Der entworfene Polen-Raum betrachtet die funktionierende Behauptung der deutsch-polnischen Nachbarschaft nicht mehr als problematisch. An dem Beispiel den jungen deutschen Journalisten zeigt Olaf Müller, dass zwischenmenschliche Kontakte unter den beiden Nationen einen positiven Charakter haben können. Die polnischen Frauenfiguren stellt Olaf Müller als die Personen, die fähig sind, einen positiven emotionalen Zustand zwischenmenschlicher Beziehungen zu erzeugen. Erinnerung führt immer zu versuchen, eine Zeit und die Zeiten wiederzugewinnen. Gedächtnis erweist sich dann als das, was aus teilweise verlorenen, teilweise wiedergewonnen und teilweise imaginierten Bausteinen entsteht, die dauernd aufgebaut und wieder abgebaut werden. Daher sind weder die Erinnerung noch das Gedächtnis Konstanten, wie beispielweise die Abkehr von negativen Stereotypen gezeigt hat. Erinnerung und Gedächtnis befinden sich in dauerndem Wandel. Zusammenfassend kann man feststellen, dass Schlesisches Wetter einen großen Beitrag zur Theorie literarischer Darstellung von Erinnerung leistet. 55 5 Anhang – biografische Angaben zu Olaf Müller Olaf Müller (* 23. März 1966) ist ein deutscher Philosoph und Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Müller studierte Philosophie und Mathematik an der Georg-August-Universität Göttingen und der University of California, Los Angeles. Nach Forschungsaufenthalten in Krakau (1996) und an der Harvard University (1997)ist er seit 2003 Professor für Wissenschaftstheorie in Berlin. 56 Müller promovierte 1996 mit einer Arbeit über Willard Van Orman Quine. Gegen Quine argumentiert er, dass sich den Begriffen "Synonymie" und "Analytizität" durchaus ein sprachphilosophischer Sinn abgewinnen ließe. Dieses Ergebnis führt Müller zu einer Kritik an Quines semantischen Skeptizismus, also der naturalistischeliminativen These, dass die Semantik in einer wahren Beschreibung der Welt keinen Platz habe. Müller hat zudem eine allgemeine Kritik am erkenntnistheoretischen Skeptizismus entwickelt. Aufbauend auf dem Gehirn-im-Tank Gedankenexperiment Hilary Putnams versucht er zu zeigen, dass man einen generellen Skeptizismus mit a priori Argumenten widerlegen könne. In der Ethik kritisiert Müller den Utilitarismus und bemüht sich um eine Theorie des Pazifismus. Olaf Müller unterrichtete Philosophie in Mannheim (1994), in Krakau (1996), an der Freien Universität Berlin (1996/97), in Göttingen (1998-2003) und an der LudwigMaximlilians-Universität München (2002/03). Seit Oktober 2003 lehrt er Philosophie (mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie) an der Humboldt-Universität zu Berlin.209 6 Literaturverzeichnis 6.1 Primärliteratur 209 http://de.wikipedia.org/ 57 Borodziej, Włodzimierz; Ziemer Klaus (Hg.): Deutsch-polnische Beziehungen 19391945-1949. Eine Einführung. In: Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Wrocław/Dresden 2007. Cirbineau - Hofmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik. Köln. 2004. Dysernick, Hugo: Zum Problem der „images“ und „mirages“ und ihrer Untersuchung im Rahmen der vergleichenden Literaturwissenschaft. In: Klein, Eugeniusz: Deutsch-polnische Literaturbeziehungen. Köln 1988. 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Wörterbücher Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. Leipzig/München 2006. Clauß, Günter (Hg.): Wörterbuch der Psychologie. Leipzig 1981. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. München 1991. 59