Samba und Synagoge 04.12.2011 Tonio Schibel und Pavel Haitov konzertierten im Jüdischen Gemeindezentrum DuisburgMülheim-Oberhausen / Von L. Joseph Heid Wer an jüdische Musiker denkt, dem fallen vor allem geniale Interpreten wie Jascha Heifetz oder Vladimir Horowitz ein. Wie aber klingt die Musik jüdischer Komponisten? Das haben sich der Geiger und Konzertmeister der Duisburger Philharmoniker Tonio Schibel und der Pianist Pavel Haitov gefragt. Sie wollten wissen, wie jüdische Musik eigentlich klingt, und sind dabei auf eine Vielfalt ganz unterschiedlicher Kompositionen gestoßen, die einen erkennbar jüdischen Tonfall haben. Das Ergebnis ist ein außergewöhnliches Programm von hebräischen Melodien, „Freilachs“ bis zu Samba-Rhythmen. Am 4. Dezember 2011 gaben diese beiden erstklassigen Musiker im Jüdischen Gemeindezentrum Duisburg-MülheimOberhausen eine Konzert-Premiere unter dem Titel „Samba und Synagoge“. Pavel Haitov stammt aus Estland, Tonio Schibel ist der Sohn einer aus Südkorea stammenden Mutter und eines deutschen Vaters, ist in Kanada geboren und in Deutschland aufgewachsen. In Aix-en-Provence gibt es eine bekannte Familie namens Milhaud, aus der ein berühmter Komponist stammt: Darius Milhaud verbrachte als junger Mann einige Jahre in Rio de Janeiro, und so verwundert es nicht, dass einige seiner Werke brasilianisch angehaucht sind. Das Stück „Brasileira“ überschrieb Milhaud mit „Mouvement de Samba.“ Schibel/Haitov boten also eine original brasilianisch-französisch-jüdische Samba. Der Gemeindesaal war bis auf den letzten Platz gefüllt und es waren nicht nur Gemeindemitglieder erschienen. Wieder einmal hat die Jüdische Ruhrgebiets-Gemeinde ihren Anspruch bestätigt, ein kultureller Kristallisationspunkt für die allgemeine Gesellschaft zu sein. Es war ein Konzert zweier Virtuosen, das die Zuhörer zum Teil mit Ovationen bedachte. Das galt auch der informativen Conférence, mit der die einzelnen Stücke angesagt wurden. Da erfuhr das Publikum z.B., dass Bernstein seine West-Side-Story ursprünglich als „East-SideStory“ anlegen wollte, eine Auseinandersetzung zwischen ostjüdischen Zuwanderern aus dem Schtetl und italienischen Einwanderern. Doch Bernstein verwarf die ihm zu altmodisch erscheinende Idee, christlich-jüdische Probleme auf die Bühne zu bringen. „Meditation auf ein gebetartiges Thema, das mein Vater in der Dusche sang“, ist der Titel einer frühen Komposition von Leonard Bernstein, dessen Vater chassidische Melodien liebte. Diese Komposition hätten die beiden Musiker gerne gespielt – doch leider ist das Werk verschollen. Stattdessen spielten sie einen Titel aus der West Side Story, die Bernstein berühmt gemacht hat. Ergreifend trugen die beiden Musiker das von John Williams komponierte Thema aus Schindlers Liste vor. Spielberg hatte seinerzeit den berühmten Filmkomponisten und fünfmaligen Oskar-Preisträger John Towner Williams angefragt, für seinen Holocaust-Film die Musik zu schreiben. Williams war von dem Film sehr beeindruckt war und sagte zu dem Regisseur: „Du benötigst für diesen Film einen besseren Komponisten, als ich es bin“. Darauf Spielberg vielsagend: „Ich weiß. Aber die sind alle tot“. Die vorgetragenen Stücke stammten aus unterschiedlichen Epochen und Kulturkreisen, die man im Weitesten unter dem modernen Begriff „Weltmusik“ einordnen könnte, wobei zu fragen wäre, was Felix Mendelssohn Batholdys „Auf den Flügeln des Gesanges“ mit Georges Gershwins „Summertime“ oder Paul Simons „Bridge over troubled water“, einer unvergänglichen Pop-Hymne, auch immer zu tun haben mag. Die Werke im zweiten Teil ihres Programms sind zwar alle von jüdischen Komponisten geschrieben worden, nur klingen sie gar nicht besonders jüdisch. Oder vielleicht doch? Am Anfang des vergangenen Jahrhunderts hielt jemand in Prag eine Rede, in deren Verlauf er sagte: „Ich bin aus dem Judentum ausgetreten“, worauf jemand aus dem Publikum rief: „Aber das Judentum nicht aus ihnen.“ In einem ähnlichen Dilemma befand sich auch Gustav Mahler: Er war zum Katholizismus übergetreten, um Direktor der Wiener Hofoper werden zu können. Richtig froh wurde er darüber nicht, die Kritiker sprachen nun von der „Judifizierung“ der Oper und musikalischem „Gemauschel“. Vor 100 Jahren starb Mahler, nur 50 Jahre alt. Das Adagietto aus seiner 5. Symphonie ist eine musikalische Liebeserklärung an ein junges Mädchen namens Alma Schindler. Offenbar fand es Gehör bei ihr, denn sie wurde später seine Frau. Mahlers „Adagietto“ benötigt eigentlich ein riesiges Orchester mit vielen Streichern, aber auch mit Violine und Klavier klingt es zart und nicht weniger berührend. Das eingangs interpretierte Lied „Oyfn Pripetchik“ halten viele für ein jiddisches Volkslied, dabei ist es in Wirklichkeit eine Komposition von Mark Warshawsky. Dieser Komponist verstand es, das Schicksal seines vom Zaren unterdrückten, armen Volkes in einfachen und direkten Liedern auszudrücken. Im diesem Lied geht es um einen Rabbi, der seinen Schülern das Alphabet beibringt. Zitat: „Wenn ihr älter werdet, werdet ihr verstehen, wie viele Tränen in diesen Buchstaben liegen und wie viel Weinen.“ Das spielt auf ein jiddisches Sprichwort an, wonach die Geschichte der Juden „in Tränen“ geschrieben ist. Zum Weinen schön war auch das Konzert von Schibel/Haitov, das insgesamt achtzehn Stücke umfasste, wobei sich das Publikum weitere Zugaben erklatschte. Die letzte Zugabe galt dem aus der Kleinstadt Bacharach am Rhein stammenden amerikanischen Komponisten Burt Bacharach und seinem Oscar gekrönten Song „Raindrops keep fallin’ on my head“.