Sein und Zeit

Werbung
Sein und Zeit
§69: Die Zeitlichkeit des In-der Welt-seins und das Problem der Transzendenz der Welt
und hier: §69a) Die Zeitlichkeit des umsichtigen Besorgens
Urs Espeel
Zusammenfassung
Der §69 in „Sein und Zeit“ hat das Ziel „das Besorgen seinerseits ausdrücklich aus der Sorge bzw.
Zeitlichkeit“ zu begreifen, nach dem im vorherigen Schritt „die Sorge selbst ontologisch umgrenzt
und auf ihren existenzialen Grund, die Zeitlichkeit, zurückgeführt ist.“ (351) Da das Besorgen
zeitlich aus der Sorge begriffen werden soll, führt Heidegger einen neuen Begriff eine, der sich von
der Zeitlichkeit unterscheidet. Wie das Besorgen aus der Sorge verstanden werden will, so ist der
existenziale Grund der Sorge in der Zeitlichkeit nicht identisch mit der zeitlichen Interpretation des
Besorgens: diese wird viel mehr mit dem Wort „Zeitigung der Zeitlichkeit“ (353) gefasst.
Während die Zeitlichkeit eine streng formale Struktur darstellt, die die drei Ekstasen der Zeit in
einen Zusammenhang bringt und damit die Bedingung der Möglichkeit des Besorgens überhaupt ist
(350), zeigt sich nun die Zeitigung der Zeit als weltliche Interpretation dieser Struktur, die sich
dadurch auszeichnet, den konkreten Umgang mit den Dingen so zu reflektieren, dass die Welt dem
Dasein durchsichtig wird und in systematischer Perspektive immer schon ist.
Mit anderen Worten: durch die zeitliche Interpretation des Besorgens tritt das Dasein der Welt als
prinzipiell erschlossene gegenüber, die ihre Spitzenformulierung am Ende des Abschnittes §69 a)
findet: „das faktisch existierende Dasein“ kennt sich „auch in einer fremden »Welt« immer schon in
gewisser Weise aus.“ (356). Dabei gilt, dass es sich dabei „um ein vorontologisches,
unthematisches Verstehen“ (ebd.) handelt, dass sich vor allem der noch genauer zu bestimmenden
Bewandtnis verdankt. (353)
Abschnitt a) ist ein Zwischenglied hin zur ontologischen Interpretation des Besorgens und steht
unter der Fragestellung: „in welcher Weise ist so etwas wie Welt überhaupt möglich ... ?“ (351) Erst
von hier aus können dann die beiden weiteren Fragen, nach dem Sinn der Welt und ihrer
Transzendenz angegangen werden.
Ist diese Beschreibung richtig, dann erinnert der §69 an einen grundlegenden Terminus aus der
„Metaphysik“ Aristoteles', der Definition des Gerunds τò ϑαυμάζειν aus Kapitel I,2. Ein Blick in
diesen kurzen Abschnitt kann helfen, den Text zu verdeutlichen, so dass dann auf die genauere
Auslegung Heideggers eingegangen werden kann.
Das Staunens – τò ϑαυμάζειν
Das Staunen ist der Beginn der Philosophie. Weil Menschen staunen, philosophieren sie. (Met. I,2
982b) Durch zwei Bestimmung zeichnet sich nun der Grund des Philosophierens besonders aus:
1. Im Staunen glaubt der Mensch unwissend zu sein und
2. Philosophie als Antwort auf dieses Staunen wird als Flucht vor dem Unwissen beschrieben.
Interessant ist an dieser Stelle, dass „unwissen“ hier unterschiedlich und auf einander aufbauend
verwendet wird. Bei genauem Lesen stellt sich heraus, dass das Unwissen immer schon auf ein
Vorwissen angewiesen ist: im Staunen „glaubt [der Mensch] unwissen zu sein“. Durch sein
Vorwissen dann kann dann das Unwissen philosophierend bewältigt werden. Dabei legt Aristoteles
großen Wert darauf, dass das Unbekannte durch das Philosophieren nicht verzwecklicht wird.
Philosophieren ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit, dass das Unbekannte verzwecklicht
werden könnte.
In eine ganz ähnlich Richtung ist meiner Meinung nach auch Heidegger zu lesen. Die Neugier wird
im §68 explizit dem „Verfallen“ zugeordnet (also vornehmlich einer Ekstase), also der
präsentischen Ekstase. Heidegger unterschiedet sich an diesem Punkt deutlich von seinem Lehrer
Husserl, der die Neugier noch als ein Moment des Staunens begreifen kann. Unter einer
existenzialen Fragestellung aber, läuft die Neugier immer Gefahr, sich an den Dingen zu verlieren
und so das Seinkönnen zu verdecken. (347)
Im Staunen des Aristoteles geht es also ganz ähnlich wie im §69 a) um die prinzipielle
Möglichkeit, wie das Dasein entdeckend in der Welt ist, ohne sich von den zuhandenen Dingen her
zu verstehen. Jedes zweckgerichtetes Machen droht diese Fragestellung zu verdecken.
Die Bewandtnis - gewärtig-haben
Der Ausschluss der Neugier aus der existenzialen Fragestellung ist also kein Ausdruck mönchischer
Biederkeit oder gar eine Absage an die kindliche Neugier als Motor des Lernens. Noch weniger
wird dadurch die Möglichkeit einer Entwicklung oder Veränderung thematischen Wissens
verhindert, sondern gerade konstituiert.
Es ist die zeitliche Interpretation der Bewandtnis, die das wichtigste Moment des Staunens
herausarbeitet und das Dasein vor der zu schnellen Neugier bewahrt. Wie das Staunen ein
Unbekanntes liegen lassen muss, will es seiner gewahr werden, so zeichnet sich die Bewandtnis
gerade dadurch aus, das Zuhandene nicht ontisch zu verstehen, es also zu vereinnahmen. In den
Worten Heideiggers: „Das Gewärtigen des Wozu ist weder ein Betrachten des »Zwecks«, noch ein
Erwarten des bevorstehenden Fertigwerdens des herzustellenden Werkes. Es hat überhaupt nicht
den Charakter eines thematischen Erfassens.“ (353)
Die zeitliche Interpretation der Bewandtnis ist das Gewärtigen. Im Gewärtigen entsteht so etwas
wie Welt, die ihrerseits nur in einem Modus auftreten kann, in welchen die drei zeitlichen Ekstasen
vereint sind. Gewärtigen ist ein Modus der Zeitigung der Zeitlichkeit. (ebd.)
Die Einheit der drei Ekstasen geben über ihre Verschiedenheit dann die Gliederung des Textes im
weiteren Verlauf wieder. Das Gewärtigen, welches im Behalten die Möglichkeit zum
Gegenwärtigen hat, weil nur im gewärtigen Behalten die Zeit als Einheit auftreten kann, ist nun in
der Lage Arten des Zuhandenen zu erklären, die Welt erfahrbar machen:
1. Das Vermissen: etwas war mal da.
2. Das Überraschtwerden: so etwas war noch nicht da.
3. Die Ungeeignetheit: das geht nicht mehr.
Alle drei Arten sind Unterbrechungen, in denen etwas fraglich wird. Die Reihenfolge ist dabei
nicht beliebig. Das Vermissen geht dem Überraschtwerden voraus, da das Vermissen „den
»horizontalen« Spielraum“ erschließt, „innerhalb dessen Überraschendes das Dasein überfallen
kann.“ (355) Desweiteren geht das Überraschtwerden der Ungeeignetheit voraus. (356) Der Grund
hierfür wird verständlich unter der Perspektive des Buches, welches über die Idee einer
Fundamentalontologie eine Struktur entwirft wie Neues oder Anderes in der Welt erscheinen kann,
selbst aber auf strukturelle Ebene solche Kategorien fern hält.
So führt das Vermissen das (gegenwärtige) Ungewärtig-sein eines Zeugs im Zeugganzen ein,
welches die Voraussetzung dafür ist, dass Unbekanntes als Verschärfung des Ungewärtigen
überhaupt erst als überraschend wahrgenommen werden kann. Und so ruht dann auch das
Ungeeignete auf der Überraschung. Das umsichtige Besorgen kann nun forstschreiten.
Kritik
Die große Stärke einer solchen Analyse liegt meiner Meinung vor allem darin, alles Esoterische in
der Philosophie zu verbannen. Dadurch dass Welt in einer Erschlossenheit durch das Zuhandene
gründet, ist sie prinzipiell erforschbar ohne dogmatische Grenzen zu ziehen. Das Auseinanderhalten
des Seins und des Seinenden eröffnet ethische Fragestellungen, die ihre Verantwortung nicht auf
eine Struktur außerhalb ihrer selbst dogmatisch zu beziehen sucht. Weil Heidegger sich im
Zusammenhang mit der Frage: wie so etwas wie Welt überhaupt möglich ist, nur auf das
Zuhandene bezieht, bleibt die Idee einer „Schöpfung“ unberührt, die gerade darin ihren Sinn haben
könnte über das Zuhandene hinaus zu gehen, ohne sie zu falsifizieren.
Kritisiert werden müsste meiner Meinung nach nur, wenn über die Welt nicht hinausgedacht
werden dürfte noch müsste. Wäre dem so, dann müsste danach gefragt werden, wie es denn denkbar
ist, dass eine Strukturbeschreibung seine Unterbrechung ausschließt. Anders gesagt: Die
Verbindung zwischen Phänomenologie und Hermeneutik, kann diese die Idee der Schöpfung
erreichen? Und hier ist vor allem danach zu fragen, wie eine Idee im Denken Heideggers seinen
Raum findet.
Ganz in dieser Linie erscheint die Vorschaltung des Vermissens und des Überraschtwerdens vor die
Ungeeignetheit eines Zeugs für „Welt“ besonders ertragreich. Darüberhinaus, dass alle drei
Beschreibungen Unterbrechungen sind und damit „Welt“ nicht als etwas selbstverständliches gelten
kann, zeigt die Analyse, dass die Wahrnehmung eines Zeugs als ungeeignet nicht etwa das
objektive Ergebnis eines objektiven Zwecks, sondern kontextabhängig ist. Ein so gewonnener
Weltbegriff ist kritisch und tritt aller bestes Erbe an.
Der letzte Punkt, den ich noch nennen möchte, macht sich an der zeitlichen Interpretation des
Besorgens fest. Durch die zeitliche Interpretation versucht Heidegger eine polaren Unterscheidung
zwischen aktiv und passiv gerade zu umgehen. Das Besorgen darf nicht als Aktivität gedeutet
werden. Dadurch wird die volle Bandbreite des Daseins wenigstens prinzipiell ermöglicht, so dass
auch Welt nicht als etwas dem Dasein gegenüber tritt, dass in einem Gegenüber dämonisch zu
werden droht. Wie die Transzendenz der Welt in einem solchen Gebäude gewahrt wird, muss sich
dann noch zeigen. Eins ist aber sicher, Transzendenz kann nicht „unerforschlich“ bedeuten.
Herunterladen