Statement von Joachim M. Schmitt BVMed-Geschäftsführer & Mitglied des Vorstands Es gilt das gesprochene Wort Ethische Bedenken und Lösungsvorschlag der Verbände Anrede, im Dezember 1998 wurde die Erstattungsfähigkeit von Trink- und Sondennahrung ins SGB V aufgenommen. Ziel der damaligen Regelung war es, Rechtsklarheit zu schaffen, ob Krankenkassen Nahrungsmittel bezahlen können. In welchen Fällen nun ausnahmsweise diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke von den Krankenkassen zu bezahlen sind, regelte eine kurze und prägnante Arzneimittel-Richtlinie. Die Selbstverwaltung arbeitet nun im Bundesausschuss seit sechs Jahren an einer Neufassung dieser Richtlinie. Diese Diskussion hat mehr Unsicherheit als Klarheit geschaffen. Der neue Entwurf führt zu erheblichen Versorgungslücken bei den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft: chronisch Kranken und alten Menschen. Erstaunlich ist, dass der Gemeinsame Bundesausschuss mit der Neufassung der Richtlinie die Möglichkeit sieht, einen Markt zu regulieren, der seiner Meinung nach von wenigen Herstellern und Vertreibern dominiert sei. Ziel des G-BA ist es damit vor allem, die Ausgaben der Krankenkassen zu reduzieren. Meine Damen und Herren, es ist nicht die Aufgabe des G-BA, Marktsituationen zu verändern. Wir wehren uns vehement gegen dieses Rollenverständnis. Die Arzneimittel-Richtlinien richten sich an den verordnenden Arzt und nicht an die Hersteller. Der Arzt trägt die medizinische, rechtliche und ökonomische Verantwortung für die Behandlung seiner Patienten. Die Regressdrohung bei Überschreitung der Richtgrößenvereinbarungen sind hier ein ausreichender Kontrollmechanismus, um Überversorgung zu vermeiden. Wir haben eher mit dem umgekehrten Problem zu kämpfen: Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hat erst kürzlich in einer Studie festgestellt, dass viele der enteral ernährten Patienten in Pflegeheimen unterversorgt sind. Das Bundesgesundheitsministerium hat seine erneute Beanstandung der Neufassung im Februar 2004 unter anderem damit begründet, dass auch die ethischen Fragen - wie Sondennahrung bei Sterbenden und bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz - diskutiert werden sollen. Die gewünschte fachliche Tiefe der Diskussion blieb jedoch aus. Die formalen Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Stellungnahmen waren tabellarisch angelegt und bezogen sich auf die bereits abschließend zu verstehende Indikationslistung. Damit war kein Raum für ethische Grundsatzfragen gegeben. Der mehrfachen Bitte, eine mündliche Anhörung durchzuführen, um genau diese Probleme zu erörtern, kam der G-BA leider nicht nach. Der jetzt bekannt gewordene Beschluss zeigt dementsprechend auch, dass den Forderungen des Ministeriums nicht nachgekommen wurde. Worin bestehen die ethischen Bedenken? Das Problem heißt Mangelernährung – und es betrifft viel breitere Bevölkerungskreise, als man gemeinhin glaubt. Das haben bereits die Gesundheitsminister der Europäischen Union erkannt, die im Oktober 2003 zu diesem Thema eine Resolution verabschiedet haben. Der Beschluss sieht die Entwicklung nationaler Richtlinien zur Erfassung des Ernährungszustands und zu Therapiestandards bei Mangelernährung vor. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen betont in einer Stellungnahme zur Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen, dass bei 41 Prozent der untersuchten Heimbewohner Mängel bestehen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin hat kürzlich darauf hingewiesen, dass rund 30 Prozent der Patienten, die in Kliniken eingewiesen werden, mangelernährt sind. Bei Patienten über 70 Jahre sei sogar jeder Zweite betroffen. Selbst in Kinderkliniken ist jedes vierte eingewiesene Kind untergewichtig. Das sind alles Argumente dafür, eine sinnvolle Lösung für die Verordnungsfähigkeit von Trink- und Sondennahrung zu finden. Der Beschluss des G-BA zielt aber in die entgegengesetzte Richtung. Die Mangelernährung wird als Indikation abgelehnt. Die anhörungsberechtigten Verbände haben mehrmals darauf hingewiesen, dass es nicht um die Mangelernährung an sich geht, sondern um die krankheitsbedingte Mangelernährung, die somit medizinisch behandlungsbedürftig ist und in den Leistungskatalog aufgenommen werden muss. Weitere ethische Kritikpunkte in aller Kürze: Mit dem G-BA-Vorschlag kommt es zu Ungleichbehandlungen von Patienten. Während im Krankenhaus Patienten enteral ernährt werden können, muss in vielen Fällen die Weiterbehandlung im ambulanten Bereich abgebrochen werden. Das macht keinen Sinn. Unverständlich ist auch, dass Patienten mit vergleichbaren Erkrankungen und Symptomen ungleich behandelt werden sollen – je nach Grunderkrankung. Erklärbar ist das nur mit dem Missverständnis, enterale Ernährung könne Krankheiten heilen. Richtig ist aber, dass enterale Ernährung den Heilungsprozess von Krankheiten unterstützt, Leben verlängert und die Lebensqualität steigert. Wir halten es auch für unethisch, zur Bewertung der Erstattungsfähigkeit von enteraler Ernährung Studien auf höchstem Evidenzniveau zu fordern. Welcher Patient wird sich freiwillig zur Verfügung stellen, um bei einer randomisierten Doppelblind-Studie der „Placebo-Kandidat“ zu sein, auf die künstliche Ernährung zu verzichten und damit zu verhungern? All dies sind gute Gründe, warum wir zum Wohl der betroffenen Patienten an das Gesundheitsministerium appellieren, die Richtlinie erneut zu beanstanden. Wir kritisieren nicht nur, wir haben auch gemeinsam mit den anderen Verbänden einen konkreten Lösungsvorschlag erarbeitet. Als Lösung schlagen wir ein Therapiestufenschema vor: Erste Stufe: Bei ersten Anzeichen von Mangelernährung erfolgt zunächst eine individuelle Ernährungsberatung. Zweite Stufe: Als nächster Schritt sieht der Vorschlag die Anreicherung der normalen Nahrung vor. Dritte Stufe: Erst wenn diese therapeutischen Maßnahmen nicht greifen, ist als letzter Schritt die künstliche Ernährung angezeigt. Wir stellen Ihnen bei Interesse gerne den detaillierten Vorschlag zur Verfügung, den wir im April 2004 dem Bundesausschuss übermittelt haben. Vielen Dank.