Ethik und Shiatsu Peter Itin Einleitung „Könnten Sie mir eine Rechnung über zwölf Behandlungen ausstellen“, fragte mich einst eine Klientin nach Abschluss der Therapie, obwohl sie nur acht Behandlungen in Anspruch genommen hatte. „Ich zahle so viel an die Krankenkasse und nehme sonst keine Leistungen in Anspruch, und es geht mir finanziell gar nicht gut“, war ihre Begründung. Dies ist ein besonders krasses Beispiel, wie uns der meist konfliktfreie Berufsalltag unerwartet in ein Dilemma stürzen kann, bei dem es gilt, ethisch und moralisch korrekt zu handeln. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie wir in ethisch delikate Situationen kommen können. Die Behandlung von Lebenspartnern und das Ausstellen von Berichten für die Krankenkassen erfordern beispielsweise einen besonders sorgfältigen Umgang mit dem Gebot der Vertraulichkeit von Informationen. Ethisches Verhalten und Bewusstsein sind ein wesentlicher Bestandteil jeder beruflichen Tätigkeit. Die Berufsverbände erlassen deshalb ethische Richtlinien. Jedes Mitglied der Shiatsu Gesellschaft Schweiz hat den Ethik-Codex unterzeichnet. Dieser entspricht in den Gründzügen den ethischen Richtlinien des Dachverbands Xund und jenen des Internationalen Shiatsu Netzwerks. Dies zeigt, dass es einen breiten Konsens über ethische Regeln und moralisch korrektes Verhalten im Shiatsu gibt. Meist sind die Regeln „verinnerlicht“, dass sie erst in Ausnahmesituationen wieder ins Bewusstsein rücken. Dieser Beitrag will auf philosophische Grundlagen und Hintergründe aufmerksam machen. Was will die Ethik? Ziel der Ethik ist die Formulierung von allgemeingültigen Normen und Werten. Die Ethik stellt Regeln für gutes und schlechtes Handeln auf. Allerdings vermag die Ethik nichts über das Handeln im Einzelfall zu sagen. Sie stellt allgemeingültige Grundprinzipien auf, welche nur als „Leitplanken“ des konkreten Handelns dienen können. Ethisches Verhalten besteht in der Verwirklichung ethischer Werte und erfordert Urteilskraft und Geistesschulung. Im Volksmund reden wir davon, „nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln“. Der Neurowissenschafter Francisco Varela postulierte, dass ein wahrhaft positiv ausgerichteter Mensch „nicht nach ethischen Richtlinien handelt, sondern Ethik verkörpert, so wie ein Experte sein Fachwissen verkörpert“. Ursprung des Begriffs „Ethik“ Der Begriff „Ethik“ als Bezeichnung für eine philosophische Disziplin wurde von Aristoteles eingeführt. Er meinte damit die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen (ethos). Hintergrund war die bereits von Sokrates vertretene Auffassung, dass es für ein Vernunftwesen wie den Menschen unangemessen sei, wenn dessen Handeln ausschließlich von Konventionen und Traditionen geleitet wird. Aristoteles war der Überzeugung, menschliches Verhalten sei grundsätzlich einer vernünftigen und theoretisch fundierten Reflexion zugänglich. Philosophische Fragestellungen zur Ethik Die philosophische Disziplin Ethik sucht nach Antworten auf die Frage, wie in bestimmten Situationen gehandelt werden soll (nach Immanuel Kant: Was soll ich tun?) Ihre Ergebnisse bestehen in ethischen Normen, die beinhalten, dass unter bestimmten Bedingungen gewisse Handlungen geboten, verboten oder erlaubt sind. Normen sind mehr als Empfehlungen und Ratschläge. Normen erheben den kategorischen Anspruch des Richtigen, der vernünftig begründet werden kann, und der als Handlungsmaxime Vorrang vor allen anderen Gesichtspunkten hat. Ethik als wissenschaftliche Fragestellung der Philosophie hat auch enge Bezüge zu den Rechts- und Sozialwissenschaften, welche Grundsätze für Gesetzgebung und staatliches Handeln aufstellen und Themen wie Gerechtigkeit, Glück, Wohlfahrt und (Wahl-)Freiheit behandeln. Moral und Ethik - Begriffliche Abgrenzung Die Begriffe Ethik und Moral werden in der Alltagssprache oft synonym verwendet. Der Begriff Moral stammt vom Lateinischen „mos“ ab und heisst Sitte. In der wissenschaftlichen Philosophie wird unterschieden zwischen Moral als das bestehende System von Normen, Regeln und Wertmasstäben der Gesellschaft, und Ethik als der systematischen, philosophischen Reflexion der Moral. Nicht alles was sich als Sitte einbürgert lässt sich nach ethischen Gesichtspunkten rechtfertigen. Typen normativer Ethik Normative Ethik macht Aussagen darüber, was getan und was unterlassen werden soll. Es gibt grundsätzlich verschiedene ethische Systeme und Überlegungen. Sie können zunächst unterteilt werden, ob ein Gott oder ob die Menschen sich das Sittengesetz geben. So wurden die 10 Gebote Moses von einem personalisierten Gott überreicht, der Regeln für die Gottes- und Nächstenliebe aufstellte. Die heute wohl wichtigste Unterscheidung normativ-ethischer Theorien ist diejenige zwischen deontologischen und teleologischen Ansätzen. Deontologische Ethik: Diese vertritt die Haltung, dass es allgemeingültige Masstäbe für Gut und Böse gibt, unabhängig von jeglicher Nützlichkeitsüberlegung. Diese sittlichen Prinzipien lassen sich als Gebote und Verbote formulieren und stellen Verpflichtungen dar. Hierzu gehört der „kategorische Imperativ“ von Kant: „Handle so, als ob die Maxime Deiner Handlung durch Deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“. Der „gute Willen“ steht der Neigung gegenüber. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“, sagt man im Volksmund, um unethisches Verhalten zu rechtfertigen. Die Handlung wird nicht nach dem Inhalt sondern nach ihrem Motiv, den Absichten beurteilt. Sie ist dann ethisch, wenn kein Eigeninteresse dahinter steht. Das was wir tun sollen, ergibt sich nach Kant aus dem Gewissen. Die Kant’sche Pflicht-Ethik orientiert sich an Tugenden, hinter denen das individuelle Glück und Eigeninteresse zurückstehen muss. Pflichterfüllung als absolute Doktrin kann jedoch zum Selbstzweck verkommen. Teleologische Ethik: Die Handlung wird hier ebenfalls nicht als solche beurteilt sondern nach ihren Auswirkungen. Die Handlung soll dem Guten dienen. Eine Handlung ist dabei nicht nur gut oder schlecht, sondern kann einen Wert besser oder schlechter als eine andere erfüllen. Die bekannteste Ausprägung ist der Utilitarismus. Der moderne Utilitarismus wurde im 19. Jahrhundert von Jeremy Bentham und John Stuart Mill begründet und seither weiter entwickelt. Der Staat soll so handeln, dass in der Summe für seine Einwohner der grösste Nutzen entsteht. Dazu muss er Nutzen und Schaden gegeneinander abwägen, was allerdings in der Realität nicht quantifizierbar ist. Der Utilitarismus liefert die ethische Wurzel der liberalen Marktwirtschaft, in welcher der gesellschaftliche Gesamtnutzen aus der Summe individueller Einzelnutzen gebildet wird. Andere moralische Werte wie Gerechtigkeit haben im Utilitarismus keine Bedeutung, und Wohlstandunterschiede lassen sich so begründen. Mit dem Utilitarismus lassen sich auch Folter, Krieg und Todesstrafe rechtfertigen, da sie der Gesellschaft den grössten Nutzen bringen. Aristoteles befürwortete mit gleichen Argumenten die Sklaverei. Werteethik: Was ist das „Gute“? Was als „gut“ und erstrebenswert beurteilt wird ist kulturbedingt. In der Tradition der Menschheit gibt es verschiedene Werte wie zum Beispiel Einheit mit Gott Glück, Wohlbefinden Nutzen, Genuss, Bedürfnisbefriedigung, Sittliche Vervollkommnung, Tugend Individuelle Freiheit Frieden und Mitgefühl/Nächstenliebe Gerechtigkeit, Schutz, Unverletzlichkeit Gesundheit. Handlungen können bezogen auf Werte möglich, notwendig oder unmöglich sein. Es bestehen überindividuelle, institutionellen Werte, aber auch individuell unterschiedliche, subjektive Wertvorstellungen. So kann es zur Erfordernis einer Güterabwägung zwischen privaten und gesellschaftlichen Werten kommen. Die heutige Gesellschaft ist geprägt durch eine Parzellierung und Individualisierung, in der es immer weniger Konsens über gemeinsame Werte gibt. Libertarismus: was sind individuelle Rechte? Mit der Ethik verbunden ist die Festlegung schützenswerter Individualrechte. Dies betrifft zum Beispiel die Menschenrechte (Persönlichkeitsrechte wie z.B. Datenschutz, Freiheitsrechte) und die Bürgerrechte (z.B. Wahl- und Mitbestimmungsrechte). Alltags-Moral Moral als praktisch gelebte Ethik im konkreten Alltag zeigt sich im Verhalten gegenüber anderen Menschen, Lebewesen, der Natur und der Zukunft. Es geht um die Motive wie auch um die Wirkungen des Handelns. Renate Hutterer-Krisch (2007) nennt 4 Typen von Alltagsmoral: Wahrnehmung individueller Rechte (z.B. Menschenrechte, demokratische Rechte) Einhaltung eingegangener Verpflichtungen (z.B. Verträge, Versprechen, Abmachungen) Erfüllung von Pflichten, die mit sozialen Rollen einhergehen Leben von Prinzipien (z.B. Schwächeren in Not zu helfen). Im Zwischenmenschlichen sprechen wir oft von der Regel „was Du nicht willst, was man Dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Der Dalai Lama erläutert, dass wir unser Handeln immer wieder wie folgt hinterfragen müssen: Handeln wir aus Gewohnheit oder entscheiden wir bewusst? Handeln wir aus Angst oder aus Mut? Halten wir uns stur an eine Vorschrift und handeln aus reiner Pflicht, oder entscheiden wir mit Vernunft und Mitgefühl? Beziehen wir die Gesamtsituation mit ein oder nur Teilsaspekte? Betrachten wir die Dinge aus einer kurzfristigen oder aus einer langfristigen Perspektive? Bleibt unser Mitgefühl auf uns und uns nahe stehende Menschen beschränkt oder bezieht sie alle Menschen ein? Dilemmas und „innere Konflikte“ sind im Leben unausweichlich. Klassisch ist der Konflikt des Kriegsdienst-Verweigerers, der Töten als unethisch bezeichnet und dafür einen Rechtsbruch begeht und eine Verurteilung und Kriminalisierung in Kauf nimmt. Immer wieder zeigt das Fernsehen Bilder, wie Menschen in Katastrophensituationen (z.B. bei Erdbeben) Ladengeschäfte plündern, um in der Not zu überleben. In einer Extremsituation müsste man sich dafür entscheiden, einen Menschen zu opfern, wenn man damit mehrere andere retten kann. Berufsethik Therapie-Ethik befasst sich mit der Reflexion des moralisch Gesollten, Erlaubten, Verbotenen, Angemessenen und Zulässigen in der therapeutischen Arbeit mit Menschen, welche gesundheitlich beeinträchtigt und krank sind. Sie befasst sich mit dem adäquaten Verhalten bei Handlungsentscheidungen. Sie bezieht sich auf Motive, Wirkungen und Konflikte. Dilemmas können beispielsweise auftreten im Widerstreit zwischen Eigeninteresse und moralisch Gebotenem, oder bei der Abwägung verschiedener Werte und Prinzipien. Ein Berufskodex ist eine Sammlung von ethischen Richtlinien und Pflichten einer Berufsgruppe. Renate Hutterer-Krisch nennt für die Psychotherapie folgende Prinzipien, die jedem Berufscodex zugrunde liegen: Das Prinzip des Respekts vor der Autonomie der KlientInnen Das Prinzip der Nutzenstiftung Das Prinzip des Nicht-Schadens Das Prinzip der Gerechtigkeit Das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Sie listet insbesondere folgende Inhalte auf, zu denen ein Berufskodex verbindliche Regeln aufstellen soll: fachliche Kompetenz, Vertrauensverhältnis, Aufklärungs- und Sorgfaltspflicht, Auftritt in der Öffentlichkeit, Grundsätze der Zusammenarbeit mit KollegInnen und anderen Berufsgruppen sowie Regelung des Umgangs mit Verstössen gegen die Berufsethik. Der Ethik-Codex der Shiatsu Gesellschaft Schweiz gibt den Mitgliedern Verhaltensrichtlinien im Sinne einer Orientierungshilfe. Er hat aber durchaus auch einen Norm-Charakter und kann als Grundlage dafür dienen, Sanktionen gegen Mitglieder auszusprechen. Er umfasst Verantwortlichkeiten und Verbindlichkeiten: gegenüber KlientInnen gegenüber Allgemeinheit und Gesundheitswesen gegenüber sich selbst, Shiatsu als Beruf und BerufskollegInnen. Die festgeschriebenen Regeln und Prinzipien dienen als Richtschnur des konkreten Handelns. Sie sind jedoch kein Ersatz für die Reflexion und Eigenverantwortlichkeit in konkreten Entscheidungssituationen. Aus diesem Grunde ist es unerlässlich, in der Ausbildung, in Fortbildungen, in Supervision und Intervisions-Gruppen hypothetische und konkrete Fälle zu reflektieren, um eine innere Sicherheit in ethischen Fragen zu erlangen. Im Beispiel, das ich eingangs beschrieben habe, hatte ich der Klientin erklärt, dass ich gegenüber der Krankenkasse in einem Vertrauens- und Vertragsverhältnis stehe und deshalb keine unkorrekten Angaben über die Zahl der Behandlungen mache. Die gegenseitig bindenden Vertragsgrundlagen sind zudem bei Behandlungsbeginn festgelegt worden. Literatur Stichwort „Ethik“: www.wikipedia.org Ethik: Begriff, Geschichte, Theorie, Applikation: M. Düwell, Ch. Hübenthal, M. Werner, in: Handbuch Ethik, Methler-Verlag, 2002 Grundriss der Psychotherapieethik, Renate Hutterer-Krisch, Springer-Verlag, 2008 Peter Itin Autor von Shiatsu als Therapie, BoD 2007 www.peteritin.ch Delegierter des Vorstands der SGS