Perspektivierung und Sprachstruktur Christa Dürscheid(Universität zu Köln) [...] ein Satz, das ist so, wie wenn man im dunklen Raum das Licht anknipst. Mit einem Schlag ist eine Szene da [...]. Mit dem Satz oder mit der Szene sind die Rollen festgelegt. abgeändert nach Heringer (1984:49) I. Vorbemerkung Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Annahme, dass ein enger Zusammenhang zwischen der kognitiven und der sprachlichen Perspektivierung von Sachverhalten besteht. So wie der Betrachter einen Sachverhalt immer nur perspektivisch wahrnehmen kann, so kann auch der Sprecher einen Sachverhalt immer nur perspektivisch wiedergeben. Die Subjektivität unserer Wahrnehmung ist allgegenwärtig, auch wenn uns dies als Faktum meist gar nicht bewusst ist: Wir können immer nur eine Seite, einen Teil eines Objekts, einen Aspekt erfassen, wir sind durch unseren jeweiligen Standort, unsere Position in Raum und Zeit, unsere jeweils genetisch und kulturell angelegten Erkenntnisinteressen eingeschränkt (vgl. hierzu ausführlich Köller 1988:369). Mit den Worten von Wilhelm Köller kann man sogar behaupten, dass die „Perspektivität als ein anthropologisches und kulturelles Urphänomen betrachtet werden kann“. (1993:15). Dies gilt nicht nur für das konkrete, visuelle Wahrnehmen, sondern auch für das Konzeptualisieren eines Sachverhalts, das Erinnern an ein zurückliegendes Geschehen, das Imaginieren eines künftigen Geschehens. 8 Im Folgenden geht es nicht um die kognitiven Aspekte dieses Tatbestands (dazu vergleiche neben vielen anderen Arbeiten die grundlegende Studie zu Sprache und Wahrnehmung von G. A. Miller und Ph. N. Johnson-Laird (1976) und der 1997 erschienene Sammelband von J. Nuyts und E. Pederson). Vielmehr steht der Zusammenhang zwischen Perspektivität und Sprache im Mittelpunkt der Betrachtung. Ziel ist, sprachliche Strukturen unter dem Aspekt ihrer Perspektivierungsbedingtheit zu analysieren. Es wird gezeigt, welche Perspektivierungsalternativen in der Sprachstruktur des Deutschen festgeschrieben sind, und dafür plädiert, das Verhältnis von Perspektivierung und Sprachstruktur in die Grammatiktheorie einzubeziehen. Meine Vorgehensweise ist wie folgt: Im ersten Schritt werde ich den theoretischen Rahmen abstecken und die Rolle der Perspektivierung im Sprachsystem erläutern. Anschließend wird die Frage im Mittelpunkt stehen, welche lexikalischen und syntaktischen Mittel das Deutsche zur Perspektivierung, insbesondere zur Perspektivierung semantischer Rollen, bereitstellt. Es wird sich zeigen, dass das, was Hans-Jürgen Heringer in Bezug auf Verben festgestellt hat, mehr noch für Sätze gilt: „[...] ein Satz, das ist so, wie wenn man im dunklen Raum das Licht anknipst. Mit einem Schlag ist eine Szene da.“ (vgl. das dem Text vorangestellte Zitat). II. Theoretischer Hintergrund Ich gehe von der Prämisse aus, dass es syntaktischen Strukturen gibt, die nur dann erklärbar sind, wenn man versucht, sie auf kognitive und kommunikative Prinzipien zurückzuführen. Diese Auffassung steht in der Tradition der Kognitiven Grammatik (vgl. Jackendoff 1983, 1987 und Langacker 1987, 1991, 1997) und der Funktionalen Grammatik, zu denen hier Perspektivierung und Sprachstruktur 9 nicht nur die niederländische ‘Functional Grammar’ (vgl. Dik 1978, 1993) gerechnet wird, sondern auch semantisch-funktional ausgerichtete Ansätze wie die ‘Scenes-and-frames-Semantik’ von Fillmore (1977) oder die Arbeiten von Kuno (1987), Heringer (1984), Storrer (1996) und Welke (1992). Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist der bekannte Umstand, dass sich denotativ gleiche Sätze darin unterscheiden, wie sie den Sachverhalt perspektivisch darstellen. Das Subjekt nimmt in solchen Sätzen jeweils eine andere perspektivische Funktion ein. Ein Beispiel dafür ist das Satzpaar in (1): (1) a. Die Post ist neben der Sparkasse. b. Die Sparkasse ist neben der Post. Hier liegt eine Asymmetrie vor. Diese zeigt sich darin, dass nur die Äußerung (1)a, nicht aber die Äußerung (1)b eine kommunikativ angemessene Antwort auf die Frage Wo ist die Post? ist (vgl. Welke 1994:16). Diese Asymmetrie wurde sowohl in der Kognitiven als auch in der Funktionalen Grammatik herausgestellt. In der Kognitiven Grammatik wird eine Unterscheidung gemacht zwischen „trajector“ und „landmark“ (vgl. zuletzt Langacker 1997), in der Funktionalen Grammatik eine Unterscheidung zwischen „primary vantage point“ und „secondary vantage point“ (vgl. Dik 1993). Ich selbst habe nach dem gestaltpsychologischen Prinzip zwischen Figur und Grund unterschieden und gezeigt, dass Figur-Grund-Konstellationen nicht nur auf Textebene, sondern auch auf Satzebene eine zentrale Rolle spielen (vgl. Dürscheid 1999). Durch den Wechsel von einer Figur-Grund-Konstellation in eine andere ist es zwar möglich, einen Sachverhalt umzuperspektivieren, eine gewissermaßen ‘neutrale’ Präsentation gibt es aber nicht. Klaus Welke vertritt gar die These, dass es einen „Zwang zur Perspektivierung“ gebe. Welke beschreibt dies sehr anschaulich: 10 Wenn wir einen Satz nicht als Aussage/Urteil über einen Gegenstand fassen, sondern als Wiedergabe/Beschreibung einer Handlung oder eines Zustandes, dann ist als eine universelle Bedingung dieser Beschreibung zu konstatieren, daß diese eo ipso aus der Perspektive eines der Handlungsbeteiligten erfolgt. Der Sprecher muß sich auf den Standpunkt eines der Handlungsbeteiligten stellen, sich gewissermaßen in ihn einfühlen (Empathy). Er kann nur sagen: „A ist größer als B.“ oder: „B ist kleiner als A.“ Ein Drittes gibt es nicht. Welke (1992:20 f.) Man kann sogar, Welke weiterführend, von einem doppelten Zwang zur Perspektivierung sprechen: Der Sprecher wird aus einem ontologisch vorgegebenen Rahmen nur bestimmte Entitäten verbalisieren, eben weil er den Sachverhalt nur aus einer, aus seiner Perspektive kognitiviert. Und er muss die ausgewählten Entitäten in eine bestimmte perspektivische Anordnung bringen, das Geschehen sprachlich von einem der Referenten aus darstellen. In Beispiel (1)a ist dieser Referenzausgangspunkt die Post, in (1)b ist es die Sparkasse. Um mit den Worten von Karl Bühler zu sprechen: Der Sprecher muss sein „Koordinatensystem der subjektiven Orientierung“ (Bühler 1934:102), seine Origo auf die Perspektive eines der Referenten übertragen. Dies ist auch der Grund dafür, warum in der Äußerung Paul fuhr nach Paris. Hier gefiel es ihm gut das Lokalisationsadverb hier stehen kann, auch wenn sich der Sprecher an einem anderen Ort befindet: Er überträgt sein „Koordinatensystem“ auf den Ort, von dem in seinem Diskurs die Rede ist.1 1 Dieser Fall liegt auch vor bei komplexen Wegbeschreibungen. Grabowski und Weiß (1996:239) führen als Beispiel die Äußerung „Wenn man aus dem Hauptbahnhof kommt, liegt das Hotel hinter dem Wasserturm.“ an. Der Sprecher legt hier mit der Phrase „Wenn man aus dem Hauptbahnhof kommt...“ einen situationsunabhängigen Betrachterstandpunkt mit eigenen Koordinaten fest. Perspektivierung und Sprachstruktur 11 Von dieser Perspektive des Referenten in der Rekurssituation ist die Perspektive des Sprechers, die durch das Ich-Hier-Jetzt der Äußerungssituation bestimmt ist, zu unterscheiden. In der Literatur wird diese Unterscheidung nicht immer explizit gemacht. Dies sei an folgendem, häufig diskutierten Beispiel gezeigt: (2) a. b. Paul verkauft das Buch an Mary. Mary kauft das Buch von Paul. Wenn Fillmore (1977) hierzu betont, dass in den beiden Sätzen die Transaktion aus der Perspektive des Verkäufers (2a) bzw. des Käufers (2b) dargestellt wird, meint er die Perspektive des Referenten in der Rekurssituation. Wenn Fillmore andererseits feststellt, dass die Aktivität des Verkäufers bzw. die des Käufers „in die Perspektive gerückt wird“, geht es um die Perspektive des Sprechers. Er nimmt damit Bezug auf die aktuelle Origo des Sprechers in der Äußerungssituation. Halten wir fest: Die Perspektivierung in der Rekurssituation ist von der Perspektivierung in der Äußerungssituation zu unterscheiden, erstere ist der innersprachlichen, letztere der außersprachlichen Ebene zuzuordnen. Die Darstellung in (3) fasst die relevanten Aspekte zusammen: (3) Äußerungssituation aktuelle Origo des Sprechers Perspektive des Sprechers Rekurssituation projizierte Origo des Sprechers Perspektive des Diskursreferenten Aktuelle und projizierte Origino fallen nur dann zusammen, wenn der Sprecher sich selbst als Referenzausgangspunkt setzt, wie in der Äußerung Ich 12 bin Lehrerin, in dem das personaldeiktische Subjektpronomen ich die Referenzidentität von projizierter und aktueller Origo anzeigt. Es wäre aber ein Trugschluss zu glauben, dass die beiden Origines in situationsdeiktischen Äußerungen immer kongruent seien. So ist in dem Satz Paul verkauft das Buch an mich der Standpunkt, von dem aus das Geschehen dargestellt wird, der von Paul, nicht der des Sprechers. Es zeigt sich: Die im Verb ausgedrückte Handlung wird in der Regel auf den Subjektreferenten bezogen, und nur wenn dieser mit dem Sprecher koreferent ist – wie beispielsweise in dem Satz Ich kaufe das Buch von Paul – entsprechen sich projizierte und aktuelle Origo. Daran sieht man auch, dass zwischen dem Interessenschwerpunkt, der über eine Empathieskala wie ‘Sprecher > Hörer > 3. Person’ bestimmt wird (vgl. Zubin 1979), und dem Referenzausgangspunkt zu unterscheiden ist. Zwar ist es richtig, dass der Sprecher mit niemandem anderem als mit sich selbst die größte Empathie haben kann (vgl. Kuno 1987:212), doch kann er, auch wenn er die eigene Person explizit nennt, einen anderen Referenzausgangspunkt setzen. An dieser Stelle ist noch wichtig zu betonen, dass der Referenzausgangspunkt nicht mit der bekannten bzw. vorerwähnten Information gleichgesetzt werden darf. Dies soll an folgender Frage-Antwort-Sequenz veranschaulicht werden: (4) a. b. Welche Tagung findet Anfang März statt? Anfang März findet die DGfS-Tagung[Rhema] statt. Die Subjektkonstituente die DGfS-Tagung in (4)b ist der Bezugspunkt, von dem aus das Geschehen innersprachlich perspektiviert wird, sie ist aber, wie der Minimalkontext zeigt, nicht vorerwähnt. Vielmehr stellt sie in diesem Perspektivierung und Sprachstruktur 13 Beispiel das Rhema, die neue Information dar. Zwischen der Thema-RhemaGliederung einer Aussage und der Perspektivierung muss also unterschieden werden.2 Halten wir fest: Das, worüber etwas mitgeteilt wird, korreliert zwar in den meisten, aber eben nicht in allen Fällen mit Faktoren wie Bekanntheit bzw. Vorerwähntheit. Dies betont auch Daneš, einer der wichtigsten Vertreter der Prager Schule. In einem Aufsatz von 1976 führt er ein instruktives – wenn auch in politischer Hinsicht veraltetes – Beispiel an: Ein Beispiel: Die Sätze (1) Die CSSR grenzt an die DDR und (2) An die CSSR grenzt die DDR unterscheiden sich durch die Perspektivisierung auf der Satzebene, aber sind äquivalent auf der Mitteilungsperspektive der Aussage, während die Aussagen (3) Die CSSR grenzt an die DDR und (4) An die DDR grenzt die CSSR unterschiedlich sind, was die Mitteilungsperspektive betrifft, aber gleich sind in ihrer Satzstruktur. – Die wechselseitigen Beziehungen zwischen den zwei genannten Ebenen sind nicht in allen Fällen so einfach und in verschiedenen Sprachen unterschiedlich. Daneš (1976:115) Wie sich auch hier über den Fragetest ermitteln lässt, repäsentiert in Daneš’ vier Beispielsätzen das Vorfeldelement jeweils die vorerwähnte Information, doch nur in dem Satz (3) Die CSSR grenzt an die DDR ist das Vorfeldelement auch dasjenige Element, über das etwas mitgeteilt wird. In Satz (2) ist es die Mittelfeldkonstituente die DDR, in Satz (4) die Mittelfeldkonstituente die CSSR, die als Satzgegenstand, in meiner Terminologie als Referenzausgangspunkt, fungiert. 2 Nur in dem Fall, dass man ‘Thema’ im aristotelischen Sinne als das ‘Zugrundeliegende’, Rhema als das ‘Darüber-Ausgesagte’ definiert, wäre es gerechtfertigt, die Thema-Rhema-Gliederung in Verbindung zur Satzperspektivierung zu bringen. 14 Ein Problem stellt sich hier: Während der Informationswert einer Satzkonstituenten immer über den Kontext ermittelt werden kann, muss auf die vom Sprecher gewählte Perspektivierung satzintern geschlossen werden. Welche Konstituente ist nun jeweils diejenige, die als Referenzausgangspunkt dient? Wenn wir die bisherigen Beispielsätze betrachten, so sehen wir, dass es nicht notwendigerweise das jeweils erststehende Satzglied ist, das diese Funktion übernimmt. Auch auf eine bestimmte semantische Rolle, etwa auf die des Agens, lässt sich der Referenzausgangspunkt nicht festlegen. Dies zeigen die konversen Konstruktionen in (5) und (6), in denen jeweils eine andere semantische Rolle als Referenzausgangspunkt dient. (5) a. Ich[Agens] wasche den Wagen. b. Der Wagen[Patiens] wird von mir gewaschen. (6) a. Ich[Agens] gebe ihm ein Buch über Chomsky. b. Er[Rezipient] bekommt von mir ein Buch über Chomsky. Wir sehen: Es ist jeweils das Subjekt, das als Referenzausgangspunkt dient. Das Subjekt wird zur Origo-Setzung herangezogen, es stellt den Ausgangspunkt der innersprachlichen Perspektivierung dar. III. Perspektivierung in subjekt- und topikprominenten Sprachen: ein Vergleich Vergleichen wir nun mit dem Deutschen, einer in der Typologie von Li und Thompson (1976) subjektprominenten Sprache, das Koreanische, das Merkmale von subjekt- und topikprominenten Sprachen trägt. Welche Satzkonstituente übernimmt die Perspektivierungsfunktion, die im Deutschen im Subjekt Perspektivierung und Sprachstruktur 15 grammatikalisiert ist? Betrachten wir hierzu die folgenden Beispielsätze: (7) haraboji-nun Großvater-P i-ka ap’u-se(shio)-yo. Zahn-P (Sub) wehtun Der Großvater hat Zahnschmerzen. (8) sabinenun Sabine (Ka) gochonumagul choahanda. klassische Musik(Ak) mögen (Ps, De) Sabine mag klassische Musik. (9) ottoga Otto (No) Bsp. aus Lee (1992:249) sabinerul Sabine (Ak) Otto besucht Sabine. Bsp. aus Jun (1993:23) bangmunhanda. besuchen (Ps, De) Bsp. aus Jun (1993:19) In (7) sind zwei funktionale Rollen realisiert: die mit nun markierte Topikkonstituente (Großvater) setzt den Rahmen, die mit der Nominativpartikel -ka markierte Subjektkonstituente (Zahn) fungiert als Referenzausgangspunkt. Würde man den Satz im Deutschen mit einem Pertinenzdativ wiedergeben (vgl. Dem Großvater tut der Zahn weh), dann wären die beiden funktionalen Rollen auch im Deutschen an zwei syntaktischen Positionen platziert: Das Topik stünde im Vorfeld, der Referenzausgangspunkt im Mittelfeld. Weniger geeignet ist hingegen die Übersetzung Was den Großvater betrifft, so tut ihm der Zahn weh. Nur wenn die Topik-Konstituente durch Betonung hervorgehoben ist, ist eine solche Übersetzung adäquat.3 In (8) tritt nur die topikmarkierte Konstituente auf, die nominativmarkierte 3 Eine solch emphatisch-kontrastive Lesart scheint sich im Koreanischen immer dann einzustellen, wenn die Partikel n(un) an eine nicht-satzinitiale Konstituente angefügt wird (vgl. Seong 1999:363). 16 Konstituente fehlt. Dies ist genau dann möglich, wenn der im Satz gesetzte Referenzausgangspunkt (sabine) mit dem Topik, dem Diskursrahmen, kongruiert. 4 Enthält der Satz umgekehrt nur eine nominativ-, keine topikmarkierte Konstituente (vgl. (9)), so entfällt die explizite Rahmensetzung, der Satz ist diskursfunktional neutral. Dies zeigt auch der Vergleich der folgenden Sätze, die sich nur hinsichtlich der nun- bzw. ga-Markierung unterscheiden: Satz (10)a trägt eine kontrastive Lesart. Er drückt aus, dass es regnet, aber nicht z. B. schneit oder hagelt. Satz (10)b hingegen ist thetisch, es gibt hier keine hinsichtlich der Informationsgliederung herausgehobene Konstituente. (10) a. pi-nun on-ta. Regen-Top kommen-dekl. Es regnet b. pi-ga on-ta. Regen-Nom kommen-dekl. Es regnet Bsp. von S. H. Seong (p. c.) Zurück zum Deutschen: Auch im Deutschen werden die zwei funktionalen Rollen in zwei sprachlichen Formen ausgedrückt. Der Topikmarkierung des Koreanischen entspricht im Deutschen die Vorfeldstellung der Satzkonstituenten. Davon ist die Setzung des Referenzausgangspunktes zu unterscheiden. Diese Funktion übernimmt das Subjekt. Nur wenn das Subjekt im Vorfeld steht, fallen beide Funktionen zusammen. Im Englischen ist dies die Regel, da Satzkonstituenten nur durch ihre Subjektivierung in die Erstposition gebracht werden können. Zwar gibt es die Möglichkeit, eine Konstituente – allerdings 4 Die Bezeichnung ‘Rahmen’ übernehme ich von Chafe. Vgl. das folgende Zitat aus Chafe (1976:51): „In fact, „real“ topics (in topic-prominent languages) are not so Perspektivierung und Sprachstruktur 17 unter Beibehaltung der SVO-Stellung – an den Satzanfang zu stellen (vgl. (11)), eine solche Wortstellung ist aber nur bei Kontrastbetonung möglich. (11) Topics, English Style a. Jóhn I saw. b. It was Jóhn I saw. c. The one I saw was Jóhn. Bsp. aus Chafe (1976:49) (12) Topics, Chinese Style a. b. nèi-xie shùmu shù-shen da. those tree tree-trunk big nèi-ge rén yáng ming George Zhang. that person foreign name George Zhang Bsp. aus Chafe (1976:50) Insofern können diese „Topics, English Style“ (Terminus von Chafe 1976) in (11) nicht mit den „Topics, Chinese Style“ in (12) gleichgesetzt werden, sie sind ebensowenig wie die deutschen Linksversetzungen vom Typ Es war John, den ich gesehen habe mit den Topikkonstruktionen in topikprominenten Sprachen funktional äquivalent. Dies betont auch Chafe, wenn er schreibt: Since in those languages there is no requirement that the topic be contrastive, [...] I suggest that it would be a step forward to stop using the term for these English cases of contrastiveness. Chafe (1976:50) Auch syntaktisch unterscheiden sich Strukturen wie in (11) von Topikkon- much „what the sentence is about“ as „the frame within which the sentence holds.“ 18 struktionen wie in (12): In (11) handelt es sich um Herausstellungsstrukturen, in (12) ist das Topik-Element in die Satzstruktur integriert. Ziehen wir eine kurze Zwischenbilanz: Ein Sprecher wird bestimmte Situationsrollen in der Verbalisierung des Sachverhalts nennen, andere ausblenden. Die ausgewählten Rollen wird er sprachlich in eine spezifische Figur-Grund-Anordnung bringen, den Sachverhalt von einem der Geschehensbeteiligten aus darstellen. Von dieser satzbezogenen Rollenperspektivierung zu unterscheiden ist die Thema-Rhema-Gliederung, mit der der Satz nach diskursfunktionalen Gesichtspunkten bestimmt wird. Als Themaposition fungiert im Deutschen das Vorfeld, als Ausgangspunkt der Sachverhaltsdarstellung dient vermutlich universal das Subjekt. Voraussetzung ist natürlich, dass es sich überhaupt um ein referentielles Subjekt handelt. Expletive Subjektelemente, die referenzsemantisch leer sind (vgl. Es regnet), können diese Perspektivierungsfunktion nicht übernehmen. Auch Subjekte in ergativischen Konstruktionen (vgl. Dem Jungen fehlen gute Noten, Dem Lehrer unterläuft ein Fehler) lassen sich nicht unter diese Generalisierung fassen. Kennzeichen dieser Subjekte ist ja gerade, so wird in der generativen Syntaxtheorie argumentiert, dass sie mehr Objekt- als Subjekteigenschaften aufweisen (vgl. Grewendorf 1989). Insofern stellt der Umstand, dass in dem Satz Dem Lehrer unterläuft ein Fehler die Dativ- und nicht die Nominativ-NP den Ansatzpunkt des verbalen Geschehens markiert, keinen Widerspruch zu der Generalisierung ‘Subjekt = perspektivischer Ausgangspunkt’ dar. Perspektivierung und Sprachstruktur 19 IV. Syntaktische Alternativen – perspektivische Alternativen In diesem Abschnitt liegt der Schwerpunkt auf der Frage, welche Mittel dem Sprecher im Deutschen zur Verfügung stehen, um einen Sachverhalt zu perspektivieren. Das wichtigste Perspektivierungsmittel ist zweifellos das Verb. Wie viele semantische Rollen überhaupt in die Perspektive gebracht werden, hängt vom Verb ab. Die Verbmorphologie kann dafür bereits ein Indikator sein. So ist es im Deutschen möglich, kausative und nicht-kausative Konstruktionen am Wechsel des Stammvokals (Typ: setzen – sitzen) oder am Reflexiv-Marker sich zu erkennen (Typ ändern – sich ändern), Applikativund Nicht-Applikativkonstruktionen an der Präfigierung mit dem Präfix be(Typ laden – beladen) oder mit einer Partikel (Typ fahren – durchfahren). Nehmen wir als ein Beispiel für unterschiedliche Rollenperspektivierungen das Verbpaar lügen und belügen. Will der Sprecher den Angelogenen nicht nennen, so wird er sich für das Verb lügen entscheiden. Wählt er das Verb belügen, so macht die be-Präfigierung die Realisierung des Angelogenen als semantische Rolle im Akkusativ erforderlich. Angelika Storrer, von der dieses Beispiel stammt, plädiert zu Recht dafür, einsprachige Wörterbücher so zu gestalten, dass der Benutzer das für die jeweilige Situationsbeschreibung passende Verb auswählen kann, die Verben also nach Situationstypen zu klassifizieren. In ihrer Dissertation von 1992 entwickelte sie auf dieser Basis ein neues lexikographisches Konzept, das gerade für die Fremdsprachendidaktik des Deutschen von großem Nutzen sein kann. Mit einem Verb wird aber nicht nur ein spezifisches Rolleninventar vorgegeben, vom Verb hängt es auch ab, welche Rolle im Aktivsatz als Subjekt realisiert wird und somit in der Sachverhaltspräsentation den Referenzausgangspunkt darstellt. Dies zeigen die lexikalischen Konversen in (13) bis (15): 20 (13) a. b. (14) a. b. (15) a. b. Die Kartoffeln befinden sich im Sack. Der Sack enthält Kartoffeln. Der Freund meiner Nachbarin besitzt einen Mercedes. Der Mercedes gehört dem Freund meiner Nachbarin. Ich fürchte das Gewitter. Das Gewitter ängstigt mich. Was die beiden ersten Beispielpaaren betrifft, so fällt auf, dass im Subjekt jeweils eine definite Nominalphrase steht. Der Grund liegt auf der Hand: Der Referent, von dem aus das Geschehen dargestellt wird, ist in der Regel bereits in den Diskurs eingeführt worden, oder er ist durch den situativen Kontext bekannt. Die Definitheit ist auch der Grund dafür, warum die Satzperspektivierung so häufig mit der Thema-Rhema-Gliederung identifiziert wird, obwohl beide auf verschiedenen Ebenen liegen. Es ist eben nicht immer die definite NP, die den Referenzausgangspunkt darstellt. So ist das definite Subjekt Der Freund meiner Nachbarin besitzt einen Mercedes zwar der Referenzausgangspunkt, es ist aber nicht das Thema, wenn dieser Satz als Antwort auf die Frage Wer besitzt einen Mercedes? geäußert wird. Es wäre nun allerdings nicht korrekt zu sagen, dass der Sprecher allein durch die Entscheidung für ein Verb eine bestimmte Perspektive aufbauen kann. Wenn das Verb mehrere semantische Rollen evoziert, dann gibt es potentiell mehrere Kandidaten für die perspektivisch privilegierte Subjektposition. Es ist vielmehr die syntaktische Konstruktion, die darüber entscheidet, wie das Perspektivierungspotential des Verbs umgesetzt wird. Dies sehen wir am Vergleich von Aktiv-, Passiv-, Mittel- und Ergativkonstruktionen: Im transitiven Aktivsatz wird die Basisperspektive kodiert, die syntak- Perspektivierung und Sprachstruktur 21 tischen Alternativkonstruktionen ermöglichen die Umperspektivierungen. So kann im werden-Passiv das Patiens zum Ausgangspunkt der Sachverhaltspräsentation gemacht werden, im bekommen-Passiv der Rezipient (vgl. Er bekommt den Führerschein entzogen). 5 Mittelkonstruktionen zeichnen sich dadurch aus, dass dem im Subjekt kodierten Patiensreferenten eine Eigenschaft zugesprochen wird (vgl. Das Buch verkauft sich gut). Dies freilich gilt nicht für Mittelkonstruktionen zu intransitiven Basisverben. Sie weisen ein referenzsemantisch leeres Subjekt-es auf (vgl. In Turnschuhen läuft es sich gut), denn bei intransitiven Verben gibt es keine Akkusativ-NP, deren semantische Rolle in der Mittelkonstruktion die Subjektposition besetzen könnte. Ergativkonstruktionen schließlich bezeichnen einen Vorgang, der sich ohne das Dazutun eines handlungsfähigen Agens vollzieht (vgl. Die Wäsche trocknet, Das Wasser kocht). Wie im werden-Passiv wird auch hier der Sachverhalt aus der Perspektive des im Patiens kodierten Diskursreferenten (= projizierte Origo) dargestellt. Der Unterschied zum Passiv liegt darin, dass der Sprecher kein Agens in seine Perspektive (= aktuelle Origo) aufnehmen kann. In bestimmten Kontexten ist es zwar möglich, einen Verursacher des Geschehens anzugeben (vgl. Mir ist ein Glas zerbrochen, Dem Lehrer unterlief ein Fehler), dieser Verursacher hat das Geschehen aber gerade nicht willentlich herbeigeführt. 6 In solchen Konstruktionen stellt sich die Frage, welche Konstituente als Ausgangspunkt des Geschehens fungiert. Ist es der Dativ- oder ist es der Nominativ-Referent? Diese Unsicherheit resultiert aus 5 6 ‘Rezipient’ gilt als Oberbegriff für die semantischen Subrollen ‘Empfänger’ und ‘Verlierer’. Drossard (1991:473) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verschiebung ins Unabsichtliche“ und merkt an, dass diese ‘Unabsichtlich-Variante’ in Sprachen des Nominativtyps gewissermaßen der ‘Absichtlich-Variante’ in Sprachen des Ergativtyps entspricht. 22 der syntaktischen Ambivalenz der Dativ-NP, die eben nicht nur Objekt-, sondern auch Subjekteigenschaften aufweist. Hier entscheiden tatsächlich die Faktoren Definitheit und Erststellung darüber, welcher NP die Perspektivierungsfunktion zugesprochen werden kann. Halten wir fest: Im Deutschen repräsentiert das Agens-Actio-Schema, das prototypischerweise mit Handlungsverben im transitiven Aktivsatz kodiert ist, die Basisperspektive. Die Dominanz dieses Schemas ist so stark, dass Sprecher auch Geschehnisse, die sich agenslos vollziehen, als agensgesteuerte Tätigkeiten perspektivieren. Köller bringt dafür die Beispiele Die Welle kommt und Der Wind weht und stellt fest, daß das Agens-Actio-Schema dazu verführen kann, „Prozesse sprachlich nach diesem Modell zu objektivieren, die ontologisch eigentlich ganz anders objektiviert werden müßten.“ (Köller 1993:28). Grammatikalisiert ist die Basisperspektive in der isomorphen Zuordnung von Kasus, syntaktischer Funktion und semantischer Rolle. Diese ist in (16) dargestellt: (16) Basisperspektive Nominativ Akkusativ Dativ Subjekt direktes Objekt indirektes Objekt Agens Patiens Rezipient Umperspektivierungen operieren auf dieser Struktur. Sie führen zu Rollenverschiebungen, die im Falle der Passiv-, Ergativ- und Mittelkonstruktionen die Subjektfunktion tangieren. Daneben gibt es solche Konstruktionen, in denen ohne ein Diathesenwechsel eine Umperspektivierung erfolgt. In der Regel wird bei diesen lexikalischen Konversen keine semantische Rolle ausgeblendet, die vorhandenen Rollen werden lediglich anders angeordnet. Perspektivierung und Sprachstruktur 23 Was sich in allen Konstruktionen ändert, ist, mit welcher semantischen Rolle der jeweilige Referenzausgangspunkt belegt ist. Dies aber ist nicht die Folge, sondern der Grund für die Wahl einer bestimmten Konstruktion. Der Sprecher möchte jeweils eine andere semantische Rolle als Ausgangspunkt der Sachverhaltsdarstellung setzen. V. Schlussbemerkung Dass es in jeder Sprache Perspektivierungs- und Umperspektivierungsmuster der eben beschriebenen Art gibt, ist zu vermuten. So unterscheiden sich Nominativ- und Ergativsprachen systematisch darin, welche Perspektive sie als Basisperspektive kodieren, welches also die für einen Situationstyp normale, erwartbare Perspektivierung ist: In Nominativsprachen wird das Verbalgeschehen vom Agens aus dargestellt, in Ergativsprachen steht die Objektveränderung im Mittelpunkt. Gerade der Sprachenvergleich bietet die Möglichkeit, einzelsprachspezifische Perspektivierungsmuster aufzudecken und sich damit der Perspektivierungszwänge der eigenen Sprache bewusst zu werden. Eine genaue Bestandsaufnahme der sprachlichen Mittel, mit denen Einzelsprachen solche Perspektiven aufbauen, steht aber noch aus. In der Grammatiktheorie sollte der Relevanz dieses Faktors weitaus mehr Rechnung getragen werden, als dies bisher der Fall ist. Davon könnte auch die Fremdsprachendidaktik profitieren: Den Lernern müssen Hinweise an die Hand gegeben werden, welche Konstruktionen sie wählen können, um einen außersprachlichen Sachverhalt nicht nur grammatisch korrekt, sondern auch situationsangemessen zu verbalisieren. Ein Wörterbuch der Situationsvalenz, eine Grammatik der Situationsperspektivierung könnte diesen Erfordernissen gerecht werden. 24 Abschließend sei noch einmal betont, dass es sich bei der Perspektivierung zwar um ein einzelsprachlich parametrisiertes, doch universales Phänomen handelt, das allen Sprachen zugrunde liegt. Insofern bietet es sich an, in einer umfassenden typologischen Studie die Perspektivierungsmuster der einzelnen Sprachen gegenüberzustellen. Dies bleibt künftiger Forschung überlassen. Ich musste mich hier auf einige wenige vergleichende Bemerkungen zum Deutschen, Englischen und Koreanischen beschränken. Literatur Bühler, K. (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 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