Pressezentrum Dokument 2463 Sperrfrist: 17.06.2004; 14:30 Uhr Veranstaltung: Bioethik geht uns alle an, Teil 1 Orientierungen aus christlicher und islamischer Sicht Referent/in: Ilkilic, Dr. Dr. Ilhan Ort: Messegelände Halle 1, Böfinger Str. 50 (Ulm) Programm Seite: 83 Teil 1 Welche theologisch-ethische Orientierung in bio-/medizinethischen Konfliktfragen kann ein Muslim/eine Muslimin in ihrer Religion finden? Die rapiden Entwicklungen im biomedizinischen Bereich ermöglichen einerseits neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, werfen andererseits aber auch neue ethische Fragen auf. Mittlerweile erlangen diese bioethischen Probleme einen globalen Charakter und treffen auf Muslime genauso zu wie auf andere Menschen dieser Welt. Die Diskussionen in der muslimischen Welt um diese Fragen beinhalten viele Ähnlichkeiten und Unterschiede mit den Argumenten, wie sie in Deutschland und Europa vorzufinden sind. Konventionelle Urteile der Rechtsgelehrten, soziopolitische Gegebenheiten, aber auch das islamische Menschenbild sowie das Gesundheits- und Krankheitsverständnis prägen die gesamte Kontroverse. Das islamische Menschenbild Dem Koran zufolge wurde der Mensch in idealer Gestalt erschaffen und mit den besten Weisungen Gottes versehen. Er ist auf der Erde Stellvertreter Gottes' (khalifa) und nimmt bei Gott unter allen Geschöpfen den höchsten Rang ein. Seine hohe Stellung bei Gott erhält er, indem er das ihm anvertraute Gute (von Gott) annimmt. Dieses anvertraute Gut beinhaltet nach Mehrheit der Koranexegeten die von Gott auferlegten Verpflichtungen und Verantwortungen. Nachfolger bzw. Stellvertreter Gottes und Diener Gottes zu sein, bestimmt die Stellung des Menschen auf der Erde. Da die lexikalische Bedeutung von dem Begriff "Islam" die Ergebung des Menschen in den Willen Gottes ist, hat der Muslim sein Leben nach islamischen Normen und Wertvorstellungen zu gestalten. Die Quelle dieser Normen und Wertvorstellungen ist der Koran, das heilige Buch des Islam und die Sunna, d.h. die Lebensweise und Aussprüche des Propheten Muhammed (570-632). Dem Islam ist eine strikte Trennung von religiösem und privatem Leben fremd. Diese beiden Quellen dienen für alle Lebensbereiche eines Muslims, aber auch in medizinethischen Konfliktsituationen als Normquelle und Entscheidungsgrundlage. Um die neu entstandenen Probleme, die weder vom Koran noch vom Propheten Muhammed konkret behandelt worden sind, zu lösen, sind relativ früh im 8. und 9. Jahrhundert die ersten Rechtsschulen entstanden. Diese Rechtsschulen bewahren Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 ihre Gültigkeit und Einfluss noch in der Gegenwart und setzen sich auch mit neuen Problemen auseinander. Fragen nach dem Beginn des menschlichen Lebens und moralischen Status des Embryos Die Frage, wann das menschliche Leben beginnt, ist auch für Muslime für die Beantwortung der bioethischen Fragen sehr zentral. In den Diskussionen über den Beginn des menschlichen Lebens kommt dem Zeitpunkt der Beseelung eine zentrale Bedeutung zu. Im Koran werden drei Entwicklungsstadien bis hin zur Beseelung genannt. Eine konkrete Angabe über den genauen Zeitpunkt der Beseelung und deren moralische Bedeutung können wir aber im Koran nicht finden. Dennoch erlangte die folgende Berechnung in der innerislamischen Diskussion eine gewisse Geltung: Basierend auf einem Prophetenausspruch werden für diese drei Entwicklungsstadien bis hin zur Einhauchung der Seele, also vom Wassertropfen zum Embryo bis hin zum Fötus, jeweils 40 Tage berechnet. Insgesamt sind es somit 120 Tage bis zum Zeitpunkt der Beseelung. Es gibt jedoch auch andere Prophetenaussprüche, die zu anderen Zeitpunkten (40. und 80. Tag) den Embryo als beseelt erklären. Angesichts dieser Unklarheiten in den Hauptquellen gibt es zwischen den Rechtsschulen, aber auch innerhalb einer Rechtsschule, unterschiedliche Meinungen über die Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs. Man kann von drei Hauptpositionen innerhalb dieser Diskussion sprechen: 1. Ein Schwangerschaftsabbruch ist auch ohne triftigen Grund bis zum Zeitpunkt der Beseelung (bis zum 120. Tag der Schwangerschaft) erlaubt. 2. Er ist nur mit triftigem Grund bis zum Zeitpunkt der Beseelung erlaubt. 3. Er ist nach der Befruchtung der Eizelle verboten. Einig sind sich die Rechtsgelehrten darüber, dass es erlaubt ist, eine Schwangerschaft abzubrechen, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist. Dann kann ein Abbruch unabhängig vom Zeitpunkt der Schwangerschaft durchgeführt werden. Außerhalb dieser Notlage ist ein Schwangerschaftsabbruch nach dem 120. Tag durch kein Argument (Lebensplanung, soziale und finanzielle Gründe etc.) legitimierbar. Eine neue und immer stärker werdende Tendenz unter den muslimischen Intellektuellen und Gelehrten setzt den Schwerpunkt auf die Befruchtung der Eizelle. Ab diesem Zeitpunkt beginnt menschliches Leben, und dem Embryo kommt volle Schutzwürdigkeit zu. Danach ist ein Schwangerschaftsabbruch nur dann vertretbar, wenn das Leben der Mutter sonst gefährdet ist. Es ist selbstverständlich, dass diese komplexe Diskussionslage eine praktizierende Muslimin, die vor einer solchen schwerwiegenden Entscheidung steht, überfordert. Gendiagnostik (PND und PID) Gendiagnostik wird in medizinischen Laboren für verschiedene Zwecke durchgeführt. Um die islamischen Argumente zu diesem Verfahren zu klären, ist eine Differenzierung der Zielsetzungen und Diagnosemethoden erforderlich. Zunächst ist zwischen den genetischen Untersuchungen vor und nach der Geburt zu unterscheiden. Vorgeburtliche Untersuchung umfasst wiederum Pränataldiagnostik (PND) durch Amniozenteze oder Chorionbiopsie und Präimplantationsdiagnostik (PID), die Untersuchung der im Labor befruchteten Eizelle auf bestimmte genetische Krankheiten. Neugeborenen-Screening, Gentests in der Gerichtsmedizin, Heterozygotendiagnostik oder präsymptomatische Diagnostik im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen gehören zu den nachgeburtlichen Anwendungsbereichen. Da eine ausführliche Diskussion aller Bereiche den Rahmen meines Vortrags sprengen würde, sollen nun hier nur einige grundsätzliche Argumente zur Gendiagnostik behandelt werden. Wenn eine pränatale Diagnostik nur die Furcht der Eltern vor bestimmten Krankheiten des werdenden Kindes aus dem Weg räumt und damit zu ihrer Beruhigung oder zum inneren Verarbeiten der Krankheit sowie zur vorsorglichen, organisatorischen Vorbereitung beiträgt, Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 so ist aus einer islamischen Perspektive gegen diese Anwendungen nichts einzuwenden. Dient aber eine PND nicht den genannten Zwecken, so ist sie unmittelbar mit einem Schwangerschaftsabbruch verbunden. Denn zur Zeit gibt es in den meisten Fällen keine pränatale Therapie für die pränatal diagnostizierbaren genetisch bedingten Krankheiten. Schließt man jedoch einen Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer genetischen Krankheit wie z.B. Down-Syndrom aus, - eine mehrheitlich vertretene Position unter den muslimischen Gelehrten und Intellektuellen - so werden die Fragen nach dem Sinn und Zweck einer Gendiagnostik nicht leicht zu beantworten sein. Es wird von mehreren muslimischen Gelehrten und Intellektuellen die Ansicht vertreten, dass der Wunsch nach einem gesunden, perfekten Kind nicht mit dem islamischen Menschenbild vereinbar sei. Die Berücksichtigung zusätzlicher Risiken bei diesen Verfahren wie eine mögliche Fehldiagnose oder die nicht auszuschließende Schädigung oder Tötung des Embryos bei einer Amniozenteze oder Chorionbiopsie und andere Risiken würden diesen Standpunkt bekräftigen. Eine ähnliche negative Einstellung zur PID ist ebenso zu vertreten, wenn man die Gefährdung des mütterlichen Lebens als einzigen legitimen Grund für die Tötung des Embryos anerkennt. Berücksichtigt man jedoch andere Positionen, die den menschlichen Lebensbeginn wegen der Beseelung zu einem späteren Zeitpunkt ansetzen, so kommen andere Argumente, die bereits behandelt worden sind, in Frage. Die Positionen, die zur PID eine positive Einstellung haben, stehen unter der Beweislast, warum eine genetische Krankheit ein triftiger Grund für die Verwerfung des menschlichen Embryos sein soll. Die bereits behandelten spezifischen Krankheitsdeutungen machen es aber klar, dass das menschliche Leben im islamischen Glauben nicht erst durch körperliche und geistige Fähigkeiten seinen Wert bekommt. Als edelstes Geschöpf Gottes erlangt das menschliche Leben die Schutzwürdigkeit unabhängig von seinem Gesundheitszustand. Deswegen scheint die Position, die aufgrund einer genetischen Krankheit ein Leben als nicht lebenswert beurteilt, mit einem islamischen Menschenbild nicht vereinbar zu sein. Fokussiert man nur den Zeitpunkt der Beseelung als einzigen Maßstab für den moralischen Status des Embryos, so können PND und PID unterschiedlich bewertet werden. Wegen des relativ frühen Zeitpunktes des Eingriffs, kann die PID als weniger problematisch interpretiert werden als die PND. Der optimale Zeitpunkt für die Chorionzottenbiopsie liegt zwischen dem 70. und 77. Schwangerschaftstag (10.-11. SSW), für die Amniozentese zwischen dem 105. und 129. Tag (15.-17. SSW) und für Fetalblutpunktion ab dem 133. Tag (ab 19. SSW) der Schwangerschaft. Diesbezüglich werden sie von den Positionen, die den 40., 80. oder 120. Tag der Schwangerschaft als Zeitpunkt der Beseelung erklären, dementsprechend beurteilt werden. Es ist jedoch anzumerken, dass es dabei nicht um die Beurteilung des Diagnoseverfahrens geht, sondern um den mit ihm verbundenen Schwangerschaftsabbruch. Gegen die in Deutschland durchgeführten Neugeborenen-Screenings, bei denen die Schäden mancher genetischen Krankheiten, die heute noch nicht geheilt werden können, mit entsprechender Diät oder anderen Behandlungsmethoden minimiert werden können, ist aus einer islamischen Perspektive nichts einzuwenden. Ebenso wenig ist gegen die der Personenidentifizierung dienenden Genomanalysen im Strafverfahren etwas einzuwenden. Die bekannten und berechtigten Bedenken zum Missbrauch der durch Gendiagnostik erlangten Erkenntnisse durch den Staat, Lebensversicherer oder Arbeitgeber sind ebenso aus einer islamischen Perspektive zu unterstreichen. Ein allgemeiner Konsens herrscht in der islamischen Welt über die Verwerflichkeit der Geschlechtswahl durch PND oder PID. Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem innerislamischen und dem christlichen Diskurs in bioethischen Fragen Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 4 Zweifelsohne sind die Intensität und der Charakter der genethischen Diskussionen in den muslimischen Ländern durch ökonomische und soziopolitische Verhältnisse bestimmt. Sowohl die ungünstige wirtschaftliche Lage als auch das mangelnde wissenschaftliche Knowhow bzw. die nicht vorhandene Infrastruktur verhindern, dass diese Themen wichtigster Gegenstand öffentlicher Diskussionen werden. Solange die finanziellen Ressourcen für die notwendige medizinische Versorgung fehlen, scheint es nicht sinnvoll zu sein, sie in zukunftsorientierte Forschung zu investieren. Handelt es sich nur um die Bekämpfung genetisch bedingter Krankheiten, könnte man mit geringer finanzieller Investition und geringem Aufwand konkrete Erfolge erzielen. Geplante und gut strukturierte Aufklärungskampagnen in der Öffentlichkeit würden die Anzahl der Verwandtschaftsehen senken und somit die Häufigkeit der dadurch bedingten genetischen Krankheiten verringern. Außerdem sind genetische Krankheiten Statistiken zufolge nicht die häufigste Todesursache. Nicht zuletzt wegen diesen Praxisbedingungen wurden die Chancen und Risiken der gentechnischen Anwendungen in der Humangenetik in der Öffentlichkeit kaum thematisiert. Im Gegensatz zu europäisch US-amerikanischen Diskussionen kann von einer etablierten Technikfolgenabschätzungsdebatte nicht gesprochen werden. Falls das Missbrauchpotential dieser Techniken in den Veröffentlichungen thematisiert wird, werden die gesetzlichen Regelungen, ohne detaillierte Angaben zu machen, zur ausreichenden Maßnahme für die Hinderung eines Missbrauchs erklärt. Neben diesen praxisbedingten Unterschieden lassen sich auch Differenzen im Argumentationsinhalt zwischen innerislamischen und christlichen Argumenten feststellen. Bemerkenswert ist dabei die unterschiedliche Interpretationen der monotheistischen Argumente. Das in der christlichen Debatte zentrale Argument "Playing God" wurde von den muslimischen Gelehrten und Intellektuellen anders verstanden und interpretiert. Die Muslime vermeiden es, die menschlichen Tätigkeiten im Bereich Gentechnik als Anmaßung und Hochmut gegenüber Gott zu interpretieren. Sie differenzieren eindeutig - auch beim reproduktiven Klonen - die göttliche Schöpfung und den menschlichen Anteil in diesem Prozess. Der Mensch ist von seinem Wesen her nicht in der Lage, Gott zu spielen. Auch das reproduktive Klonen geschieht mit Wissen und Erlaubnis Gottes. Die zentrale Fragestellung dabei ist nicht, ob der Mensch durch diese Handlung an die Stelle Gott tritt, sondern ob diese Handlung von Gott gebilligt oder verdammt wird. In den philosophischen und theologischen Argumenten der europäisch US-amerikanischen genetischen Diskussionen bekommen normative Begriffe wie Menschenwürde, Integrität und Individualität der Person u.a. eine zentrale Bedeutung. Dieselben philosophischtheologischen Begriffe mit normativ geprägter Argumentationsweise lassen sich innerhalb der innerislamischen Diskussion in derselben Art und Weise nicht wieder finden. In der islamischen Urteilsfindung, geprägt durch konventionelle Methoden der islamischen Rechtslehre, gewinnt die kasuistische Argumentationsweise mehr Gewicht als die normative. Durch diese Eigenschaft erlangt sie eine starke Praxisbezogenheit und liefert viel schneller und konsequenter Handlungsoptionen. Auf der anderen Seite weist jedoch diese klassische Urteilsmethodik Schwächen auf, wenn es um völlig neue Fragestellungen geht, die in der Geschichte der islamischen Rechtslehre unbekannt sind. Da erscheint eine etablierte normative theologisch-philosophische Diskussion basierend auf eine islamische Anthropologie wünschenswert und erforderlich. Fazit: Die Besonderheit der neuen bioethischen Fragestellungen einerseits und die spezifische Urteilsfindung des Islam andererseits sorgten für ein breites Spektrum der Argumente in den bioethischen Diskussionen. Die Intensität und der Inhalt dieser Argumente wurde jedoch auch von den soziopolitischen und ökonomischen Gegebenheiten des jeweiligen Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 5 muslimischen Landes geprägt. Diese relativ neuen Diskussionen sind noch nicht etabliert und eine klare Polarisierung im Dissens ist zur Zeit nicht in Sicht. Die Frage "Was bedeuten diese Argumente für einen in Deutschland lebenden Muslim?" ist sicherlich berechtigt. Abhängig von seiner Religiositätsform, seiner Betroffenheit, und den technischen Möglichkeiten sowie den gesetzlichen Regelungen seines Lebensortes ergeben sich unterschiedliche Entscheidungs- und Handlungs-optionen. Die Meinungsvielfalt in der innerislamischen Diskussion räumen dem einzelnen muslimischen Individuum mehr Spielraum für seine Gewissensent-scheidungen ein und ermöglichen ihm somit eine Handlungsflexibilität. Gleichzeitig erschwert jedoch diese Sachlage eine Entscheidungsfindung und ist für ihn eine Herausforderung, die eine intensive individuelle Auseinandersetzung mit der Thematik voraussetzt. Sowohl in den öffentlichen Diskussionen als auch innerhalb der Gremien, die eine Beratungsfunktion für die Politik darstellen, wurden die Präferenzen und Interessen der Muslime bis jetzt kaum berücksichtigt. Ebenso waren sie nicht Gegenstand der politischen, juristischen und ethischen Debatten. Die jetzige Sachlage in Deutschland spricht dafür, dass in den genannten Bereichen ein Handlungsbedarf vorliegt, wenn man die "multikulturelle Gesellschaft" vom bloßen Nebeneinanderexistieren der Kulturen und Religionen retten will und ihr in der Gesellschaft eine Präsenz verleihen will. Teil 2 Die interkulturelle Praxis zu bioethischen Themen in einer wertpluralen Gesellschaft Deutschland ist schon längst kein geschlossener Weltanschauungsstaat mehr. In Deutschland leben ca. 7,5 Millionen "ausländische Mitbürger", 3,4 Millionen davon sind Muslime. Angesicht dieser Wirklichkeiten ist es nicht angemessen, die bioethischen Konfliktfelder auf einer monokulturellen Ebene zu behandeln und als innere Angelegenheit einer Nation zu betrachten. Es gibt gute Gründe, in den deutschen bioethischen Debatten die interkulturellen und interreligiösen Aspekte zu berücksichtigen. Die Interessen und Prioritäten der ausländischen Mitbürger wurden leider auch in der heißesten Phase der bioethischen Diskussionen sowohl in den öffentlichen Diskussionen als auch in den wissenschaftlichen Publikationen kaum thematisiert. Es ist in einem demokratischen Staat nicht vertretbar, dass die Interessen und Wertesysteme der Menschen - mit oder ohne Stimmrecht -, die seit 40 Jahren in diesem Land leben und weiter leben werden, in den essentiellen Entscheidungsprozessen gleichgültig sind. Denn die erlassenen Gesetze betreffen jeden Menschen, unabhängig von seinem Pass und seiner Religion. Für eine gelungene interreligiöse und interkulturelle Praxisumsetzung zu bioethischen Themen in einer wertpluralen Gesellschaft sind die folgenden Thesen von zentraler Bedeutung: These 1: Ein säkularer Rechtsstaat soll die Religionsfreiheit garantieren und freie Räume für die Entfaltung der individuellen Religiosität schaffen "Vielmehr hat der säkulare Rechtsstaat seinen Sinn im Menschenrecht auf Religionsfreiheit. (...) Die beste Verteidigung des säkularen Rechtsstaats besteht darin, die Religionsfreiheit als Auftrag ernst zu nehmen und möglichst konsequent zur Geltung zu bringen. Wie alle Menschenrechte zielt auch die Religionsfreiheit auf Gleichberechtigung." 1 Diese Gleichberechtigung impliziert Möglichkeiten für die Muslime zur Mitgestaltung dieser Gesellschaft. Die Teilnahme an Diskursen über ethische Probleme neuer Technologien der Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 6 Lebenswissenschaften und Partizipation an entsprechenden Entscheidungsprozessen sind Komponenten dieser Mitgestaltung. These 2: Eine gelungene Partizipation erfordert eine effektive Informationspolitik Es versteht sich von selbst, dass eine Beteiligung an einem Diskurs über die ethischen Probleme der neuen Biomedizin eine Entscheidungs- und Reflektionskompetenz voraussetzt. Dafür sind wiederum die entsprechenden wissenschaftlichen Kenntnisse nötig. Die jüngsten wissenschaftlichen Studien belegen jedoch, dass ein Informationsdefizit über die Themen der Humangenetik und neuen biotechnischen Verfahren in der deutschen Bevölkerung groß ist. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, sprachliche und kulturelle Barrieren u.a. verschlechtern zusätzlich die Qualität der Informationsmöglichkeiten für die Muslime in Deutschland. Deswegen sollten sie mit entsprechenden Maßnahmen verbessert werden. These 3: Eine effektive Informationspolitik soll religiös-kulturelle Aspekte berücksichtigen Es reicht nicht aus, ein für das deutsche Publikum herausgegebenes Informationsmaterial in die türkische, arabische oder bosnische Sprache zu übersetzen. Auch wenn es didaktisch und sprachlich gut aufbereitet ist, sollte es zusätzlich kulturell-religiöse Aspekte berücksichtigen. Zu beachten ist dabei, dass die vorhandenen Positionen neutral dargestellt werden. Denn diese Materialien sollen für eine Urteilsbildung nötige Informationen liefern und nicht das eigene Urteil des Lesers präjudizieren. These 4: Es soll zwischen Laien und Experten eine kultursensible Brücke geschlagen werden Informationsmaterialien können nur bis zu einem gewissen Grad die Informationslücke eines Laien schließen und können nicht ein interaktives Gespräch und individuelle Beratung ersetzen. Durch Aufklärungsseminare in den Moscheen oder muslimischen Vereine können vor Ort Brücken geschlagen werden zwischen Laien und Experten und konkrete Fragen beantwortet werden. Eine Telefon-Hotline oder - für die junge Generation - ein Internetportal kann ebenso einen interaktiven Dialog fördern. Dabei ist jedoch die Sprachbegabung des Laien und die naturwissenschaftliche sowie interkulturelle Kompetenz des Experten zu beachten. These 5: Bei der Ausbildung der Gesundheitsberufe soll "interkulturelle Kompetenz" berücksichtigt werden Die unausreichende Thematisierung der bioethischen Probleme im Medizinstudium ist bekannt. In diesem mangelhaften Ausbildungskonzept haben interkulturelle Aspekte in bioethischen Konfliktfeldern kaum einen Raum, auch wenn die Medizinstudenten später in ihrem Berufsleben -abhängig von ihren Dienstort- öfter mit diesen Problemen konfrontiert werden. In den Pflegeschulen werden vielleicht unter dem Begriff "interkulturelle Pflege" diese Probleme thematisiert, jedoch in einer unausreichenden Form. Die Erfahrungen und wissenschaftlichen Diskussionen zeigen, wie schwierig die Gewährleistung einer "Nichtdirektivität" und "Neutralität" in der genetischen Beratung ist. Neben diesen Schwierigkeiten belegen wissenschaftliche Studien mehrere Lücken in der Praxis. Das ganze wird umso dramatischer, wenn die zu beratende Person Angehörige einer anderen Kultur und Religion ist. Die eindeutig hohe Geburtenrate bei der muslimischen Bevölkerung in Deutschland und die unübersehbare Menge an Verwandtschaftsehen erhöhen unmittelbar - zumindest statistisch - die Dringlichkeit der genetischen Beratung. Die Vermittlung von Grundkenntnissen über den muslimischen Glauben fehlen in der Ausbildung der Fachkräfte, die in der genetischen Beratung tätig werden, gänzlich. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 7 These 6: Interkulturelle und interreligiöse Diskussionsforen über bioethische Themen können den interreligiösen Dialog und die Völkerverständigung fördern Interkulturelle und interreligiöse Diskussionsforen über bioethische Themen können einen organisierten gesellschaftlichen Meinungsaustausch leisten. Ebenso werden sie zu einer gegenseitigen Verständigung zwischen andersgläubigen und andersdenkenden Menschen beitragen und Räume für mehr Verständnis und Toleranz schaffen. Ist man von der Bedeutung eines gesellschaftlichen Diskurses und der Partizipation überzeugt, so sollte man bereit sein, seinen eigenen Anteil zu leisten. Die Bildung einer eigenen Meinung und die Teilnahme an solchen Diskussionen setzen einige Informationen über die Funktion und Zielsetzung dieser Techniken voraus, welche ohne Bereitschaft und Mühe nicht zu erlangen sind. Jeder sollte die nötige Dialogbereitschaft mitbringen, die den Respekt vor der Meinung des Anderen und das Interesse für andere Sichtweisen beinhalten. Schließlich geht es nicht um das Diktieren der eigenen Meinung, sondern darum, voneinander zu lernen, die eigene Position zu klären und kritisch darüber nachzudenken. 1 Bielefeldt, Heiner: Muslime im säkularen Rechtsstaat - vom Recht der Muslime zur Mitgestaltung der Gesellschaft, in: Muslime im säkularen Rechtsstaat, T. Hartmann u. M. Krannich (Hrsg.), Berlin 2002, S. 73. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.