Jüdische Existenz in Deutschland

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Jüdische Existenz in Deutschland
Zur Gegenwart vieler offener Fragen
Hanno Loewy1
Im Januar 1996 hielt der israelische Staatspräsident im Deutschen Bundestag eine
vielbeachtete Rede. Vorgetragen im Ton eines persönlichen Bekenntnisses,
entstammte diese Rede gleichwohl der Feder des bekannten israelischen
Schriftstellers Meir Shalev. Doch das „Ich“, in dessen Namen Weizman zu den
Deutschen und zu den in Deutschland lebenden Juden sprach, erweist sich als „Wir“.
Als israelischer Präsident sprach er im Namen der Juden der Welt. „Ich bin nicht
mehr der in allen Wegen der Welt wandernde, vom einen Exil ins andere vertriebene
Jude. Aber jedem Juden in jeder Generation ist es auferlegt, sich so zu sehen, als sei
er dort gewesen.“
Die Thora schreibt allerdings vor, sich im Exil daran zu erinnern, dass „wir“ schon
einmal befreit worden sind, dass es folglich Hoffnung für die Juden gibt. In wessen
Namen also sprach der Präsident, wessen Präsident sprach hier? Bei einem Treffen
mit deutschen nichtjüdischen wie jüdischen Studenten anlässlich seines Besuches in
Deutschland drückte Weizmann sich deutlicher aus: Er könne „sich über im Ausland
lebende Juden nicht freuen“, und er stellte fest, dass „das einzige Land, in dem ein
Jude als Jude leben kann, das Land Israel (sei). Die Errungenschaft des jüdischen
Volkes liegt nicht in der Rückkehr von Juden nach Deutschland. Für mich
repräsentieren die Juden in Deutschland nicht das jüdische Volk, sondern lediglich
die in Deutschland lebenden Juden.“
Der israelischen Tageszeitung „Ha’aretz“ blieb es vorbehalten, darauf hinzuweisen,
dass „der Präsident (sich) keine Gedanken darüber gemacht (habe), dass auch er mit
seinen Worten bestenfalls die jüdischen Bürger des Staates Israel repräsentierte,
dass er darüber hinaus als Präsident des Staates Israel nicht unbedingt zum
Präsidenten aller Juden der Welt werde.“2
Die Frage, ob es seine Pflicht als israelischer Staatspräsident sei, auch für die
arabischen Bürger Israels zu sprechen, soll uns noch beschäftigen. Wer spricht hier
also für wen, mit welchem Recht?
Für viele Juden in Deutschland, ob sie sich nun selbst lapidar als in Deutschland
lebende Juden, als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens oder als deutsche
Juden bezeichnen, war Weizmans Rede eine Provokation. Und das nicht, weil in ihr
etwas völlig Neues zum Ausdruck gekommen wäre, sondern weil Anlass und
Zeitpunkt dieser Rede eine hohe symbolische Wirkung besaßen. Es war der erste
Staatsbesuch eines israelischen Präsidenten in Deutschland, eine Rede vor dem
Bundestag, die Ansprache vor dem Souverän. Und es war eine Rede zu einem
Zeitpunkt, als Bewegung in die Juden Deutschlands gekommen war, weil die jüdische
Gemeinschaft in Deutschland sichtbar zu wachsen und in sich zu differenzieren
begonnen hatte.
Die Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft, allen voran Ignaz Bubis,
versuchten, den Affront zu mildern und sparten zugleich nicht mit klaren Worten –
die Zeit für Belehrungen dieser Art sei vorbei.
1
2
Direktor des Fritz-Bauer-Institutes
Roy Grünwald, „Die Robe des Präsidenten“, in Ha’aretz. 22.1.1996
1
STANDORTE
Wie viel Irritation von Weizmanns Rede und der Haltung, die sie zum Ausdruck
brachte, ausgegangen war, dies lässt sich gerade von ihrer Wirkung auf junge Juden
in Deutschland ablesen, die über unterschiedliche Identitäten und Stellungnahmen zu
Deutschland und Israel nachdenken, über ihren jeweils eigenen Weg.
Vielleicht nicht immer „repräsentative“, aber in ihrer Bandbreite höchst
aussagekräftige Momentaufnahmen aus ihrer Sicht hat Micha Brumlik in dem
Sammelband „Zuhause, keine Heimat?“ zusammengetragen. Viele dieser Beiträge, ja
der Sammelband insgesamt, sind durch Weizmans Rede entstanden.
Das Bild einer sich in kaum aufgelösten Widersprüchen bewegenden Selbstfindung,
das aus diesen Versuchen hervorgeht, hinterlässt offene Fragen und wenig
beruhigende Antworten. Den eigenen Standort, oder besser, die augenblickliche
Position „unterwegs“ zu bestimmen, dazu werden immer wieder dieselben
Koordinaten bemüht und dennoch höchst unterschiedlich gedeutet. Wie soll dies
auch anders sein in einer jüdischen Wirklichkeit, in der so gänzlich verschiedene
Erfahrungen miteinander im Widerstreit liegen: Familien, die im Holocaust nahezu
total ausgelöscht und nach 1945 mühsam und fragmentarisch neu geschaffen
wurden, Emigranten vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, deren reale
Erfahrungen mit dem Kommunismus zumeist prägender waren als die mit „den
Deutschen“, Kinder schließlich von Emigranten aus aller Welt, zum Teil aus Familien
mit deutsch-jüdischer Herkunft.
Für die meisten von ihnen besitzt der deutsche Antisemitismus eine besonders
beunruhigende Qualität. Für sie ist der Holocaust keineswegs eine längst vergangene
Katastrophe, auch dann nicht, wenn er für viele nur noch eine Erzählung, eine
Erinnerung anderer darstellt.
Für sie ist Israel selbstverständlich ein Land, zu dem eine besondere Verbundenheit
besteht, eine Verbundenheit mit Menschen und Orten, die durch regelmäßige
Besuche, durch familiäre Bande und emotional unvergängliche Erfahrungen
gegenwärtig bleibt, eine Verbundenheit mit einer politischen Vision, die zugleich
immer geringere Bedeutung für den eigenen Lebensentwurf besitzt. Die Rede vom
„sicheren Hafen“ wird fast gebetsmühlartig wiederholt. Doch einstweilen fühlt man
sich in Europa oder in den USA real sicherer als im Nahen Osten. Weizmans Rede hat
vor diesem Hintergrund schmerzhafte Ambivalenzen im jeweils eigenen Bewusstsein
wachgerufen. Kaum einer, der sie gerade deshalb nicht beinahe wütend abgelehnt
hat, und zugleich seiner Loyalität zu Israel nicht dennoch demonstrativ Tribut zollte.
Fragil und tabugeladen ist erst recht das Verhältnis zu dem Land, in dem wir leben.
Doch es sind gerade die Details, in denen immer wieder deutlich wird, wie sehr sich
junge Juden in Deutschland als Teil dieser Gesellschaft verstehen, selbstbewusst und
mit dem Anspruch, dieses „deutsche“ Gemeinwesen als Bürger mitzugestalten, nicht
nur als „Mitbürger“.
Von „jüdischen Deutschen“ zu sprechen, fällt vorerst noch schwerer, als von „nichtjüdischen Deutschen“, doch es meint dasselbe: eine Nation, in der verschiedene
„Identitäten“, verschiedene ethische oder religiöse Gruppen durch einen
gemeinsamen Bezug auf Verfassung und politisches System, durch das
Zusammenleben auf einem bestimmten Territorium, durch gemeinsame Teilhabe an
der Gesellschaft, zu einem Ganzen verbunden sind. Der Prozess der Verständigung
dieser Gesellschaft darüber, er hat gerade erst begonnen. Er ist noch lange nicht
2
entschieden. Es gehört zu den Widersprüchen jüdischer Existenz in Deutschland,
dass ebenjene Kette politischer Ereignisse 1989 und 1990, die zugleich eine reale
Chance auf eine Wiederbelebung jüdischen Lebens in Deutschland eröffnete – aus
Gründen, die unideologischer, unerwarteter und pragmatischer nicht hätten sein
können.
BEWEGUNG
Bis 1990 blieb die Zahl der in Deutschland lebenden Juden mehr als drei Jahrzehnte
lang fast konstant bei rund 30.000 Menschen.
Dies änderte sich erst, als 1990, nach dem Fall des eisernen Vorhangs und mit der
einsetzenden Auswanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion Deutschland
zu einem Einwanderungsland für Juden wurde. Juden in Deutschland sind nun,
seitdem eine relevante Zahl von Menschen ihre Koffer packt, um nach Deutschland
auszuwandern, vollends zu einem Symbol für die Fortexistenz der Diaspora
geworden. Sind für Weizman und mit ihm für viele jüdische Israelis Juden „im
Ausland“ ohnehin nur Juden zweiter Wahl, oder besser: Juden, die eben „noch
nicht“ nach Israel gegangen sind, so waren schon jene, die nach der Schoa in
Deutschland blieben, unter fortwährenden, oft aggressiven Rechtfertigungszwang
gestellt. Dass dies für die Überlebenden der Vernichtung so war, ist verständlich.
Dass ein Staat, der Deutschland offiziell gerne zu seinen „besten Freunden“ zählt,
freilich so agiert, verwunderte auch Roy Grünwald, der in seinem schon zitierten
Kommentar in „Haaretz“ schrieb: „Das „andere Deutschland“ gibt es nur für Israelis,
nicht für Juden, die in diesem Deutschland leben wollen.“
Anders als die jüdischen Gemeinden in den USA, mit deren Existenz man sich in
Israel offenbar abgefunden hat, ist die Existenz jüdischer Gemeinden in Deutschland,
erst recht die bewusste Entscheidung für Deutschland, offenbar per se ein Skandal
für jeden, der die Diaspora mit der Gründung des Staates Israel als ein historisch
überwundenes Kapitel der jüdischen Geschichte betrachtet, an das die Juden sich
nun „erinnern“ sollen.
Die „russische Einwanderung“ kam zugleich zu einem Zeitpunkt, als die meisten
Juden in Deutschland die vielbeschworenen „Koffer“ selbst ausgepackt hatten.
Politisches Engagement wie angesichts der Ehrung der SS-Gräber von Bitburg durch
Helmut Kohl und Roland Reagan, das selbstbewusste Auftreten gegen die Premiere
von Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ und die Besetzung der letzten
Überreste des jüdischen Ghettos in Frankfurt am Main, die einem Neubau der
Stadtwerke weichen sollten, symbolisierten einen neu gewachsenen Willen, sich
einzumischen, nicht nur eigene Rechte zu verteidigen, sondern diese Gesellschaft
mitzugestalten.
Mittlerweile sind Juden in Deutschland zwar politisch selbstverständlich aktiv, doch
nach wie vor mit der Bürde belastet, als lebende Mahntafeln zu gelten. Ignatz Bubis
hat in der „Süddeutschen Zeitung“ vor einiger Zeit eher resignierend seine
fortwährende Ausgrenzung als „Israeli“ kommentiert und dies auch im Gespräch mit
TRIBÜNE nochmals betont. Wie er sich gesehen fühlt? „Israeli, Fremder, Ausländer,
Gast.“ Eine Zukunft für Juden in Deutschland? „Vielleicht in zwei Generationen. Wenn
Opfer und Täter und die ersten Nachkriegsgeneration nicht mehr leben.“ Keine neue
Blütezeit für ein deutsches Judentum? „Ich sehe schwarz. Die Mehrheit will es nicht
3
akzeptieren. Im Moment jedenfalls nicht. Jüdische Nostalgie ist in. Man hörte gerne
Klezmer-Musik, weil es sie nicht mehr gibt.“3
Der Spagat zwischen dem tiefempfundenen Bedürfnis, sich selbst die Existenz in
diesem Land durch Mahnung und Einforderung von Erinnerung und Gedenken zu
legitimieren, und dem Wunsch, als Staatsbürger in diesem Gemeinwesen auch als
Individuum, nicht länger nur als Exempel, als Vertreter des Kollektivs und der
Geschichte oder, wo Antisemitismus sich offen artikuliert, als Exemplar der
„jüdischen Art“ wahrgenommen zu werden, dieser Spagat wird mit der Zeit größer
und nicht kleiner. Deshalb ist an „Normalität“, so sehr und je mehr sie subjektiv auch
von Juden gewünscht werden mag, kaum zu denken.
Und doch: In den wenigen Jahren seit 1990 hat sich die jüdische Gemeinschaft in
Deutschland mehr als verdoppelt. 40.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion
sind gekommen, wenig zwar im Vergleich zu der Immigration nach Israel und in die
USA und doch genug, um die Zahl der Juden in Deutschland enorm ansteigen zu
lassen. Schließlich ist es angesichts von 130.000 Ausreisewilligen in den GUSStaaten, die bei den deutschen Konsulaten gemeldet sind, nur eine Frage der Zeit,
bis die jüdische Gemeinschaft in Deutschland mehr als 100.000 Menschen betragen
wird, um dann, nach Frankreich und England, wieder die drittgrößte in West- und
Mitteleuropa zu sein.
Zugleich wird diese jüdische Gemeinschaft in Deutschland im Vergleich zu anderen
Minoritäten von Arbeitsimmigranten, die ihren Weg in die deutsche Gesellschaft zu
finden versuchen und finden müssen, auch in Zukunft nur eine kleine Gruppe sein.
All das, was die jüdische Gemeinschaft mit und zum Teil wegen der Hypothek der
Geschichte in Deutschland nach 1945 erreicht hat, wird dann auch für diese Minorität
ein Maßstab sein, ob wir dies wollen oder nicht.
PLURALISIERUNG
Die demographische Veränderung der jüdischen Gemeinden in Deutschland im
vergangenen Jahrzehnt hätte radikaler nicht sein können. Die Zahl der
Gemeindemitglieder hat sich nicht nur mehr als verdoppelt, gut die Hälfte stammt
nun aus der ehemaligen Sowjetunion und besitzt einen völlig anderen
Erfahrungshintergrund als die meisten bisherigen Mitglieder. Ihr Bildungsniveau ist
ausgesprochen hoch, viele von ihnen haben in der ehemaligen Sowjetunion
akademische und technische Berufe ausgeübt. „Die wenigsten Einwanderer, die vor
Verelendung und Pogromstimmung fliehen“, so schreibt Daniel Krochmalnik,
„verbinden ihre Einreise mit dem Wunsch, das Judentum in Deutschland kennnen zu
lernen. Für sie war das Jude sein oft nur ein nationaler Makel, dem sie entfliehen
wollten, aber
keine
geistige
Herausforderung. Größtenteils
sind die
russischsprechenden jüdischen Einwanderer gebildet, belesen und kultiviert. Sie
legen viel Wert auf Kultur, haben aber gar kein Verständnis für den Kultus.“4 Dies gilt
sicherlich nicht für alle Neuankömmlinge, doch es trifft das Gesamtbild. Für viele sind
die jüdischen Gemeinden zunächst einmal soziale Organisationen, von denen sie Hilfe
3
Süddeutsche Zeitung, 21.9.1998
Daniel Krochmalnik, „Der beschwerliche Weg zum Judentum. Zu der religiösen Umkehr russischer Juden,
ihren Anpassungsproblemen und unserer Unfähigkeit, ihnen dabei zu helfen.“, In: Frankfurter Jüdische
Nachrichten, Nr. 97, September 1998.
4
4
erwarten. Oft bilden sie zugleich längst die Mehrheit, viele neue Gemeinden sind ja
durch ihre Einwanderung erst entstanden. Zugleich hat in den jüdischen Gemeinden
in den neunziger Jahren ein Pluralisierungsprozess begonnen. In verschiedenen
Städten entstehen Gemeinschaften, die in unterschiedlicher Form liberales oder
konservatives Judentum, liturgische Praxis und Ritual neu entwickeln wollen, ohne
dabei allzu eng an die Traditionen des deutschen Judentums anzuknüpfen, dessen
furchtbares Ende wie ein Menetekel erscheint. Dabei spielt natürlich auch der
selbstverständliche Anspruch der Frauen eine Rolle, am rituellen Leben der
Gemeinschaft gleichberechtigt teilzuhaben. Eine konservative Rabinerin in Oldenburg
ist das sichtbarste Zeichen dieser unumkehrbaren Entwicklung. Die Suche nach
zeitgemäßeren Formen des Gottesdienstes orientiert sich vor allem an Vorbildern in
den USA. So sind auch viele Mitglieder der neuen reformierten Vereinigung Juden
aus den USA, die in Deutschland leben. Erst recht sehen viele, die in sogenannten
„Mischehen“ leben, in den neuen liberalen Gemeinschaften einen Weg, ihre
persönlichen Lebensentwürfe mit dem Wunsch nach einer stärkeren Verbindung zum
Judentum in Einklang zu bringen.
Für die Mehrheit der Juden in Deutschland ist bislang gleichwohl die Angehörigkeit
zur Einheitsgemeinde und auch die Verbindung von strengem Ritus in der Synagoge
und liberaler Alltagspraxis die attraktivere Form. Dies mag oft Bequemlichkeit und
Gewohnheit sein, vielleicht aber auch Ehrfurcht vor dem Numinosen, das dem
orthodoxen Kultus anhaftet und das, wenn schon die Religionsausübung sich vor
allem auf die Feiertage konzentriert, für viele die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft
sinnfälliger zu symbolisieren vermag.
Der Prozess der Differenzierung wird dennoch weiter gehen. „Diese Pluralisierung
trägt“, wie Micha Brumlik schreibt, „geographische, generationelle und ethnische
Züge, die sich mit Entwicklungen im Bereich der Religion und politischen
Institutionen überschneiden und überlappen.“ In Hannover und München
beispielsweise hat dies zur Spaltung geführt. In München gibt es jetzt auch eine
große liberale Gemeinde mit mehr als vierhundert Mitgliedern. In anderen Städten
wie z.B. in Frankfurt scheint einen Pluralisierung jüdischer Religiosität auch innerhalb
der Gemeinden möglich zu sein, die auf eine Trennung von Verband, also politischer
und sozialer Organisation, und Kultus hinauslaufen würde. Konfliktfrei wird dieser
Prozess sicherlich nicht verlaufen. Doch er trüge der Realität Rechnung, dass nur
noch für einen kleineren Teil des Judentums der Kern des jeweiligen
Selbstverständnisses durch aktive Religionsausübung bestimmt wird.
IDENTITÄT
Über jüdische Identität zu schreiben, bedeutet gerade in Deutschland ein
doppelbödiges Unterfangen. „Jüdisches“ dingfest zu machen, jüdische Existenz
positiv und eindeutig zu bestimmen, entspricht nicht nur dem Bedürfnis nach einem
„sicheren Ort“. Es steht zugleich im Schatten des Versuches, das „Jüdische“ von
außen zu definieren, um es ein für allemal vernichten zu können. Oft genug ist
hervorgehoben worden, dass das Judentum sich sowohl als Volk als auch als Religion
bestimmt. Das eine bedingt das andere. Doch was dies nun heißt, ist weniger
selbstverständlich denn je. Dass ein Volk, also eine „Herkunftsgemeinschaft“, sich als
gemeinsamer Glaube konstituiert und umgekehrt, im jüdischen Verständnis also
5
einen Bund bedeutet, der sich über das Bekenntnis zum einen Gott und zur Annahme
seiner Gesetzte stiftet, setzt Menschen zueinander in Beziehung, deren „Identität“
höchst „unidentisch“ sein kann. Nur die Geschichte, mit der sie ringen, haben sie
gemeinsam. Dieses Ringen ist der Kern dessen, was wir so oft emphatisch „jüdische
Erinnerungskultur“ nennen. Bei Lichte besehen, bildet sie allerdings das gemeinsame
Problem, nicht dessen Lösung. Auch für agnostische Juden, erst recht für die große
Zahl jener, in deren Leben praktizierte Religiosität nur eine marginale Rolle spielt, ist
die gemeinsame Geschichte konstitutiv für das eigene Verständnis zur Welt: Eine
gemeinsame Geschichte, in deren Mittelpunkt das Ringen mit Gott und seinen
Gesetzen steht, aus der Verfolgung auf der einen und Erhaltung des Bundes auf der
anderen Seite nicht wegzudenken ist. Seit der Schoa haftet dem Gedanken an eine
„Flucht aus dem Judentum“ (wiewohl von vielen versucht) immer etwas Frivoles an.
Es gehört zu den bitteren Absurditäten der Geschichte, zu welcher Koinzidenz es in
diesem Jahrhundert, ja innerhalb eines Jahrzehntes gekommen ist: Der Versuch,
alles Jüdische restlos auszulöschen, fiel zusammen mit der Gründung eines
„normalen“ jüdischen Staatsvolkes. Doch ist daraus tatsächlich eine „Normalität“
erwachsen?
Der Zionismus trat ein ins politische Leben Europas als Versuch der „Lösung der
jüdischen Frage“. Der Zionismus hatte, so schien es, die Energie des europäischen
Antisemitismus am ehesten verstanden. Die Vernichtung der europäischen Juden gilt
bis heute als undiskutierbare Legitimation eines „jüdischen Staates“ im Nahen Osten,
Israel ist legitimer Erbe einer unwiderruflich überwundenen bzw. zerstörten Diaspora.
Bis heute bildet das „Recht auf Rückkehr“, also das Angebot einer automatischen
„Einbürgerung“ aller Juden, die „heim“-kehren wollen, den Kern der staatlichen
Verfasstheit Israels. Bis heute definiert jenes Gesetz jeden Juden, ob er dies will oder
nicht, als „Exil-Israeli“, als „Noch-nicht-Israeli“. Doch das Ergebnis solcher
„Staatlichkeit“ ist nicht die „Normalität“ geworden, von der Herzl träumte. Im
Gegenteil: Die damit vollzogene Staatlichkeit auf ethnisch-religiöser Grundlage hat
sich als permanenter Ausnahmezustand erwiesen.
Die Verbindung von „israelischer Identität“, Schoa (als Symbol für die Zerstörung der
Diaspora) und Allijah wird in den politischen und semi-sakralen Ritualen Israels
immer wieder kollektiv beschworen. So entzünden jedes Jahr am Jom Hashoa sechs
Neueinwanderer in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem die Flammen zur
Erinnerung an die sechs Millionen Toten. Sie besiegeln damit zugleich symbolisch ihre
Verwandlung in Bürger des souveränen Staates Israel.
Jene „Lösung der jüdischen Frage“ durch die jüdische Staatsgründung hat, so zeigt
sich seit vielen Jahren, gerade für Deutschland, für die nicht-jüdischen Deutschen,
eine auffallende Attraktivität. Die israelische Definition der Juden als „Exil-Israelis“
macht es leichter, mit den eigenen, wie auch immer realen oder irrealen
Schuldphantasien zu leben – als ließe sich der „Katastrophe“ noch im nachhinein just
jener Sinn unterschieben, den sie doch für die Nazis von Beginn an gehabt hatte: Ein
„Endkampf“, der die jüdische Existenz als solche beendet. Die Verwandlung von
Juden in Israelis, vom „auserwählten Volk“ zum Staat kommt den verschiedensten
Entlastungsversuchen entgegen. Zu nennen sind die Entlastung von der Bürde der
Verantwortung, die Entlastung von der Gegenwart der überlebenden Opfer und ihrer
Nachkommen, die Entlastung von der Notwendigkeit, endlich selbst von der Idee
eines ethnisch exklusiven Staates auf deutschem Boden Abschied zu nehmen.
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Doch die Definition eines „jüdischen Staates“ ist eine Chimäre, so schmerzhaft es ist,
dies auszusprechen, so bitter es einer allzu verständlichen Hoffnung auf Neuanfang
in Sicherheit und gefestigter Identität widerspricht.
Der Zionismus hat keines der Probleme gelöst, um derentwillen er angetreten ist. Er
hat die Rettung der europäischen Juden nicht befördert. So hellsichtig viele Zionisten
gegenüber der drohenden Gefahr des Antisemitismus waren, so wenig haben sie
erkannt, dass die Gefahr der Vernichtung aus Deutschland drohte, wo der Gedanke
einer ethnischen Nation die fatalste Wirksamkeit entfaltete, als Traum nämlich von
der Weltherrschaft. Die nationalen Ambitionen, die sich auf die Einwanderung nach
Palästina konzentrierten, haben nicht dazu beigetragen, möglichst viele Juden an
einen sicheren Ort zu bringen, egal wohin – in einer nicht-jüdischen Welt, die jeder
jüdischen Einwanderung ohnehin Steine in den Weg legte. Und über den Umgang
der zionistischen Organisation mit den Überlebenden nach 1945 ist, gerade in Israel,
in den letzten Jahren genug Kritisches gesagt und publiziert worden. Vor allem aber
hat die jüdische Staatsgründung mit ihrem hypothetischen Ziel der „Heimführung“
aller Juden die Bipolarität von „Volk“ und „Religion“ nicht aufgelöst, sondern nur
einen dritten Pol, nämlich den der Staatsnation, hinzugefügt.
Da die Staatsgründung das Judentum nicht abgeschafft hat, steht die Definition des
„jüdischen Staates“ quer zur erhofften „Normalisierung“ eines modernen israelischen
Staatsvolkes, das über eine gemeinsame Religion nicht gebildet werden kann.
Israelische Politik wird so zur Geisel der jeweils radikalsten religiösen „Autorität“ oder
dessen, was sich dafür ausgibt. Sie wird von diesem inneren Widerspruch zwischen
der formal rechtsstaatlich-säkularen Verfasstheit und der ethisch-theologischen
Gründung des Staates bestimmt. Ein Widerspruch, der nicht aufzulösen ist. So nimmt
es nicht wunder, dass vor diesem Hintergrund, aus dieser „Verfasstheit“ bis heute
keine schriftliche kodifizierte Verfassung geworden ist. Die freiwillige Preisgabe der
Souveränität durch einen säkularen Staat an religiöse Autoritäten – wir kennen sie
aus den islamischen „Gottsstaaten“, aber nicht aus zivilen Gesellschaften. Die
Definition der Staatsbürgerschaft – also die Frage „wer ist Jude?“ – wäre wohl kaum
in die Buchstaben einer modernen Verfassung zu pressen. Die Aufnahme in diese
Staatsbürgerschaft bleibt daher den Rabbinern überlassen, und zwar weltweit (nicht
nur denen in Israel). Dies wird so bleiben, solange Israel ein „jüdischer Staat“ sein
soll und umgekehrt. Wir leben in einem Schwebezustand, dessen Wirkungen in
jedem Augenblick auch die jüdische Gemeinschaft in Deutschland erfassen. Und so
gibt es einen modernen demokratischen Staat im Nahen Osten, gebildet nicht nur
von „orthodoxen“ wie säkularen Juden, sondern auch von nicht-jüdischen Israelis, ob
muslimisch oder christlich, agnostisch oder der Bahai-Religion zugewandt. Anderseits
gibt es den Ausnahmestaat fundamentalistischer Sektiener, die niemand stoppen
kann, weil ihre Existenz, ja ihre Autorität, in den inneren Widersprüchen Israels
zementiert ist. Mit ihrer Utopie eines Gottesstaates können sie die Mehrheit der
Israelis, auch der jüdischen Israelis nahezu ungestört terrorisieren.
Es ist dies eine Utopie, die mit jüdischer Orthodoxie im Grund nichts zu tun hat –
statt demütigen Wartens auf den Messias eine höchst weltliche Selbstüberhebung.
Israel als politisches System wird zwischen diesen beiden Polen unaufhörlich
zerrieben. Neben der Perspektive des Fundamentalismus, der die Nation als
rechtsstaatliches Gebilde parasitär aushöhlt und zersetzt, steht real schon längst
nicht mehr die Perspektive der Gründungsväter, die einen ethisch verfassten
Sozialismus, das „Jüdische“ als soziale Gemeinschaft erträumt hatten, sondern eine
andere.
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Es sind die liberalen Kräfte der israelischen Gesellschaft, die für einen wirklich
säkularen Staat mit einer modernen Verfassung kämpfen, die das „Recht auf
Rückkehr“ durch ein ziviles Staatsbürgerschaftsrecht ersetzten wollen, die sich von
der kommenden Zweistaatlichkeit Israels und Palästinas auch einen Weg zur
Zivilisierung der jeweils eigenen Gesellschaft erhoffen, so mühevoll der Weg dahin
auch zu sein scheint. Sie haben längst akzeptiert, dass jüdische Existenz auch in
Israel selbst sich wieder mit der Diaspora verbinden wird, selbst dann, wenn eine
große Mehrheit der Bürger Israels selbstverständlich jüdische Wurzeln besitzen wird,
und dass zugleich der Staat Israel als politisches Gebilde seinen Platz in der Region,
im Nahen Osten finden muss.
IN DEUTSCHLAND…
Es bleibt nicht aus, dass sich zwischen den Koordinaten Volk, Religion und Nation
auch das Selbstverständnis von Juden in Deutschland wieder auf einen selbständige
Interessendefinition besinnt, dass der zionistische Lippendienst, dem wir überall und
jeden Tag begegnen, die eigenen Widersprüche und die eigene Verunsicherung
darüber, im „Lande der Täter“ nicht nur zu leben, sondern dadurch auch dazu
beizutragen, dass es sich zu etwas anderem verändert, dass all diese
Ungleichzeitigkeiten nicht länger geleugnet, besänftigt und überspielt werden.
Erwartungen an eine posttraumatische Integration in eine neu zu definierende
Gesellschaft melden sich seit Jahren mit wachsender Eloquenz zu Wort. Dass die
deutsche Gesellschaft seit der Vereinigung sich selbst wieder auf der Suche nach der
„eigenen Mitte“ befindet, ist dabei ein verstörender Kontext.
Nun ist mit dem Regierungswechsel im Deutschen Bundestag der Weg frei zu einer
Neudefinition des Staatsbürgerschaftsrechtes. Eine Änderung, die dazu ausreichen
würde, auch in der Verfassung den entsprechenden Paragraphen 106 dem Vorbild
moderner westlicher Gesellschaften entsprechend (d.h. im Sinne eines jus solis und
nicht eines jus sanguinis) umzugestalten, ist dagegen noch nicht in Sicht. Es wird
sich zeigen, ob diese Gesellschaft bereits ist, die Gesetzesinitiative der neuen
Regierung zu tragen und in gelebte Wirklichkeit zu verwandeln. Schon werden
Stimmen laut, die den Untergang des christlichen Abendlandes oder der deutschen
„Kulturnation“ prophezeien. Sie wollen nicht wahrhaben, dass es nicht „Barbarei“
war, die den Weg zum Holocaust geebnet hat, sondern eben jene Hybris einer
„Kulturnation“, die sich aufmachte, die Welt „an ihrem Wesen genesen“ zu lassen.
Die Staatsbürgerschaft aus dem Joch ihrer bis heute nicht überwundenen völkischen
Definition zu befreien, die in der Zweistaatlichkeit gewachsene Realität einer
Einwanderungsgesellschaft nachzuvollziehen und politisch zu gestalten, dies ist kein
bloßer Gesetzesakt, sondern eine Revolution der nationalen Identität. Sie holt nach,
was selbst die gescheiterten „Revolutionäre“ von 1848 kaum versucht haben,
nämlich die deutsche Nation auf die Grundlage eines Gesellschaftsvertrages und
nicht auf Blutsbande zu stellen. Damit wird freilich auch das Verhältnis dieser
Gesellschaft zu ihrer Geschichte noch einmal gründlich in Frage gestellt werden.
„Entweder wir müssen Barbaren sein, und die Juden bis auf den letzten Mann
austreiben, oder wir müssen sie uns einverleiben.“ So schrieb Heinrich Laube, einer
der Vorkämpfer von 1848, dieser „Revolution“ ein Jahr zuvor ins Stammbuch. Die
Idee der „deutsch-jüdischen Symbiose“ hatte von Beginn an zwei Seiten. Sie meinte
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die Hoffnung darauf, dass Deutsche und Juden, deutsche und jüdische Kultur zu
etwas „Höherem“ verschmelzen könnten, und sie meinte zugleich, jedenfalls
unterschwellig, eine Aggression, eine Drohung. Es war ausgerechnet Richard
Wagner, aus dessen Feder (1850 in seiner Schrift „Das Judentum in der Musik“) die
Worte stammen, es gebe nur zwei Auswege aus dem „Verfall unserer Kultur“, der
durch den Einfluss der Juden hervorgerufen sei: „die gewaltsame Auswerfung des
zersetzenden fremden Elements“ oder „dass dieses Element uns in der Weise
assimiliert, dass es mit uns gemeinschaftlich der höheren Ausbildung unserer edleren
menschlichen Anlage zureife.“5
Die deutsch-jüdische Symbiose, es ist dies oft genug betont worden, war vor allem
eine jüdische Hoffnung, eine weitgehend unerwiderte Liebe. Doch auch aus
deutscher Perspektive, so scheint es, spielte auf dem Weg zur Bildung der deutschen
Nation die Phantasie einer gewissen „Verwandtschaft“ zu den Juden eine irritierende
Rolle – weniger freilich zu den wirklichen Juden als zu dem Bild, das man sich von
den Juden machte. Eine Projektionsfläche für eigene Größenphantasien.
In Hermann Rauschnings Buch „Gespräche mit Hitler“, das 1939 erschien und dessen
Authentizität zu Recht in Zweifel gezogen wurde, heißt es an einer Stelle (und es ist
gar nicht so entscheidend, ob diese Worte nun tatsächlich genau so von Hitler gesagt
oder von seinem Gefolgsmann Rauschning zu diesem Wortlaut paraphrasiert worden
sind): „Der Jude sitzt immer in uns. Aber es ist leichter, ihn in leiblicher Gestalt zu
bekämpfen, als den unsichtbaren Dämonen… Ist ihnen nicht aufgefallen, wie der
Jude in allem und jedem das genaue Gegenspiel der Deutschen ist und ihm doch
wieder so verwandt ist, wie es nur zwei Brüder sein können… Es kann nicht zwei
auserwählte Völker geben, Wir sind das Volk Gottes.“6
Der Massenmord, der Vernichtungsfeldzug gegen die „Gegen-Rasse“, der die
Deutschen als solche erst vollends zusammenschmieden, ihre Einheit neu und ein für
allemal erschaffen sollte, der Weltkrieg war gerade drei Monate beendet, als Robert
Ley, der Führer der „Deutschen Arbeitsfront“ in alliierter Gefangenschaft sein
politisches Testament „An mein Deutsches Volk“ niederlegte und zum Frieden mit
„dem Juden“ aufrief: „Wir müssen das Misstrauen beseitigen, indem wir mit offenem
Herzen und auf klarer Basis dem Juden begegnen. Wir müssen unser gegenseitiges
Verhältnis bereinigen. Ohne Vorbehalte und ohne innere Hemmung müssen der
Deutsche und der Jude wieder zueinander finden, sich gegenseitig aussöhnen… im
Interesse des Weltfriedens und des Weltwohlstandes… Der Jude sollte sich
Deutschland und Deutschland sich den Juden zum Freund machen. Dann wird davon
ein Segen für die übrige Welt ausgehen… Deutsches Volk! … Versöhne dich mit dem
Juden und lade ihn ein, bei dir seine Heimat zu finden. … Wird der Jude sich dieser
Einsicht verschließen, so nimmt die Weltkatastrophe… ihren unerbittlichen Lauf.
Würde aber Deutschland diese Frage lösen und daran gesunden, gesundet die ganze
Welt. … eine Heimat müssen die Juden bekommen, Deutschland ist reif dazu, in sich
und bei sich diese Heimat zu geben.“
Ein groteskes Dokument, doch es lässt tiefe Einblicke zu in das, was Saul Friedländer
erst jüngst als „Erlösungsantisemitismus“ bezeichnet hat. Nichts, und dies war den
Nationalsozialisten durchaus bewusst, vermochte so sehr Gemeinschaft herzustellen
wie ein gemeinsames Tabu, wie die gemeinsame unaussprechliche, oder mit den
5
Richard Wagner, Das Judentum in der Musik. Leipzig 1869, S. 57 (Das Zitat stammt aus dem Nachwort zu
dem schon 1850 erschienen Pamphlet).
6
Hermann Rauschning. Gespräche mit Hitler. Zürich/ New York, 1940, S. 223f.
9
Worten Himmlers „niemals zu schreibende“, Geschichte, die gemeinsame Teilhabe an
einem Verbrechen.
Jeder Versuch, heute symbolisch im Namen der deutschen Nation an den Holocaust
zu erinnern, bewegt sich in einem unauflösbaren, in einem wahrhaft furchtbaren
Widerspruch: zwischen der Notwendigkeit, an das „Unaussprechliche“ zu erinnern, es
auszusprechen und der Unmöglichkeit, nationale Identität auf dieses Geschehen zu
gründen, ohne das Projekt einer ethnischen Nation fortzusetzen und zu zementieren.
Auch das Denkmal in Berlin könnte Ausdruck einer neuen „deutsch-jüdischen“
Symbiose nur sein um einen hohen, einen zu hohen Preis: Ein solches Denkmal
stellte Deutschland tatsächlich in der Nachfolge des „auserwählten Volkes“, eines
doch noch mit Sinn unterlegten Geschehens der Schoa. Es wird für diesen Konflikt
keine Lösung geben, aber vielleicht doch wenigstens ein Eingeständnis, ein
beschämendes Zurücktreten von den großen symbolischen Lösungen, vor allem von
der eitlen Hoffnung, es könnte ein „gemeinsames Symbol“ geben. An diesem Ort
selbst wäre das ehrlichste, das eindruckvollste Denkmal tatsächlich das offene
Eingeständnis der Leere, der Verzicht und seine Kenntlichmachung, verbunden mit
einer eindeutigen politischen Entscheidung, die vorhandenen Gedenkstätten auf
Dauer zu sichern. Den Mut zu solch einem Denkmal, dessen Radikalität allen
Identifikationsbedürfnissen,
allen
Bedürfnissen
nationaler Repräsentativität
zuwiderlaufen würde, ihn wird leider, so ist anzunehmen, keiner der Verantwortlichen
zeigen.
Nun statt dessen das Gelände einer jüdischen Einrichtung zu übergeben, die weltweit
die Stimmen der Überlebenden hörbar macht, was sie über ihre Überleben, über die
Toten und über die Täter zu sagen haben, ist vielleicht der letzte mögliche
Kompromiss, ob es ein guter ist, sei dahingestellt. Eine solche Einrichtung, für die
sich freilich passendere Orte in Berlin finden ließen als ausgerechnete das
Wettbewerbsgelände, könnte immerhin eine Brücke bilden: zwischen dem, was
geschehen ist, und denen, die heute leben, „nicht-jüdischen Deutschen“, aus der
Türkei stammenden Deutschen, „In Deutschland lebenden Juden“, ausländischen
Besuchern. Dies zu tun und auf die großartige symbolische Inszenierung bewusst
und demonstrativ zu verzichten, wird schwer fallen. Aber warum sollte hier auch
irgendetwas leicht sein.
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