1. Literatur und Gedächtnis. Zur Zielbestimmung.

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Deutsche Geschichte und deutscher Alltag in
Christoph Heins Landnahme
Inhaltsverzeichnis
Seite
1. Literatur und Gedächtnis. Zur Zielbestimmung.......................................5
2. Methodologischer Ansatz und Forschungsstand.......................................7
2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen........................................................................7
2.1.1 Kollektives Gedächtnis als Forschungsobjekt.................................................7
2.1.2 Gedächtnisdiskurs in der sozialen und materiellen Dimension.......................8
2.1.3 Erinnerungsorte im Kontext des kollektiven Gedächtnisses.........................10
2.1.4 Kulturelles Gedächtnis als Forschungsfeld...................................................11
2.1.5 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis im Vergleich ........................12
2.1.6 Gedächtnis als Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis......................14
2.1.7 Erinnerungskulturen als das Konzept des Gießener
Sonderforschungsbereichs 434......................................................................15
2.2 Topos der verlorenen Heimat..................................................................................17
2.2.1 Zum Begriff „Heimat“..................................................................................17
2.2.2 Erinnern, Vergessen, Verdrängen und Erinnerungskulturen........................18
2.2.3 Verlorene Heimat im historischen Kontext..................................................19
2.3 Literatur in narratologischer Perspektive................................................................21
2.3.1 Erzählen im Bereich der dichterischen Rede................................................21
2.3.2 Doppeltbesetzte Kommunikation.................................................................22
2.3.3 Unterscheidung zwischen dem Erzählen und dem Erzählten.......................23
3. Deutsche Geschichte und deutscher Alltag im Roman Landnahme von
Christoph Hein............................................................................................26
3.1 Figuren und Figurenkonstellationen.......................................................................26
3.1.1 Ereignishaftigkeit figurenperspektivischer Erfahrungen.............................26
3.1.2 Motivierung..................................................................................................30
3.2 Erzählinstanz...........................................................................................................32
3.3 Raumentwurf..........................................................................................................33
3.3.1 Semantisierung von Räumen in narratologischer Sicht................................33
1
3.3.2 Raumsemantik im Roman Landnahme von Christoph Hein........................34
3.4 Zeitliche Situations – und Ereignisrahmen.............................................................37
3.4.1 Grundtypen narrativer Anachronien.............................................................37
3.5 Das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten – Fazit.......................38
4. Zusammenfassung.......................................................................................39
5. Praktischer Teil – und Didaktisierungsvorschläge..................................40
5.1 Didaktisierungsvorschlag 1......................................................................................40
5.2 Didaktisierungsvorschlag 2......................................................................................44
6. Literatur......................................................................................................49
2
1. Literatur und Gedächtnis. Zur Zielbestimmung.
In der heutigen Welt, in der Gegenwart wird ein wachsendes Interesse konstatiert, das sich
nicht nur auf wissenschaftlich orientierte Öffentlichkeit an der Erinnerungs- und
Geschichtskultur bezieht. Sowohl die individuellen und kollektiven Identitäten als auch
relevanten Identifikationsbezügen, die durch Jahrzente gestaltet und formiert worden sind,
resultieren aus der historischer Wirkung, aber auch aus der Vergegenwärtigung verschiedener
vergangener
Gegenwarten
oder
Ereignissen
durch
Überwindung
der
Tabuisierungswiderstände. In den Blick geraten einzelne Texte und Autoren, wobei die Frage
nach der Weise von Darstellung der generationsspezifischen Erfahrungen und Erinnerungen
entsteht. Dabei handelt es sich um die Inszenierung von Erinnerung in literarischen Texten
zwischen Autobiographie und Roman, zwischen Allgemeinliteratur und Kinder- und
Jugendliteratur (Nationalsozialismus und Krieg, Holocaust, Flucht und Vertreibung). Das
„Prinzip Erinnerung“ stellt eine Art Verbindung zwischen sehr verschiedenen Texten,
Gattungen und auch Generationen her. Die Literatur weist damit eine maßgebliche Funktion
auf, weil literarische Texte nicht nur in kulturwissenschaftlicher Perspektive „als Medien des
‘kommunikativen’ wie des ‘kulturellen’ Gedächtnisses“ betrachtet werden sollen.1 Im Laufe
der Zeit werden verschiedene Untersuchungen zum Phänomen „kollektives Gedächtnis“
geführt und entstanden immer neue und besser ausgearbeitete Theorien. Das Gedächtnis hat
einen prozesshaften Charakter und ist nicht etwas Statisches, sondern etwas Dynamisches,
deshalb entwickelt es sich zwischen Erinnern und Vergessen. Das Gedächtnis basiert immer
auf der Geschichte, die man als ein Konstrukt definieren kann. Jede Geschichte wird nämlich
von der Gesellschaft konstruiert.
Der Begriff „Heimat“ verbindet sich in den letzten Jahren vor allem mit Emigration. Der
Topos der verlorenen Heimat bezieht sich am meisten auf solche Begriffe wie die
Vertreibung, Flucht und Zwangsausweisung.
Die Literatur in narratologischer Perspektive spielt eine sehr wichtige Rolle, weil man bei der
Analyse von verschiedenen Texten bestimmte Aspekte berücksichtigen sollte. Es handelt sich
1
Gansel, Carsten: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989, unter: www.zmi.unigiessen.de/pdf/KommVVWS0708.pdf
3
hier vor allem davon, was uns erzählt wird, aber auch wie uns erzählt wird. Um eine gute
Einstellung gegenüber dem Text einzunehmen, muss man unbedingt diese zwei Ebenen
verstehen und auch voneinander unterscheiden.
Diese Diplomarbeit befasst sich mit dem Thema: Das „Prinzip Erinnerung“ und zeigt u.a., wie
unser Gedächtnis funktioniert und welche Arten des Gedächtnisses es gibt. In meiner Arbeit
beschreibe ich auch, wie das Gedächtnis uns beeinflussen kann, erkläre das Phänomen
„Heimat“, narratologische Perspektive der Literatur und ich werde auch versuchen, Beispiele
zu zeigen, was die Untersuchungen und Ergebnisse bestimmter Phänomene aufgewiesen
haben.
Meine Diplomarbeit wurde in drei Teile geteilt. Im ersten Teil versuche ich die
Untersuchungen und die ausgearbeiteten Theorien zum Gedächtnis darzustellen, sich mit dem
Topos der verlorenen Heimat auseinanderzusetzen und die Literatur in narratologischer
Perspektive zu beschreiben. Der zweite Teil meiner Arbeit wird sich nach bestimmten
Kriterien mit der Analyse des Romans „Landnahme“ von Christoph Hein verbinden. Im
dritten und letzten Teil meiner Diplomarbeit, also im praktischen Teil zeige ich, auf welche
Art und Weise kann man dieses aktuelle Thema im Unterricht darstellen.
4
2. Methodologischer Ansatz und Forschungsstand
2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen
2.1.1 Kollektives Gedächtnis als Forschungsobjekt
Wenn von der Erfindung des kollektiven Gedächtnisses gesprochen wird, soll damit gezeigt
werden, dass eine Forschungsgeschichte zusammenfassend wiederholt wird und nicht eine
Sachgeschichte. Die Begriffe wie Stiftung, Pflege und Reflexion des kulturellen Erbes gelten
als die anthropologische Grundausstattung des Menschen. Die Sachgeschichte des kollektiven
Gedächtnisses ist nämlich bis in die Antike zurückzuverfolgen. Am Anfang des. 20
Jahrhunderts begann man sich mit diesen Begriffen, Phanomänen zu beschäftigen. Es wurden
Formen des kollektiven Bezugs auf Vergangenheit bewusst beobachtet und aufgrund dessen
wurde kulturwissenschaftliche Theorie gebildet. Zur dieser Theoriebildung hat die
Konstruiertheit
menschlicher
Sinnwelten
und
Erinnerungen
beigetragen,
die
kulturwissenschaftlich angenommen wurde. Und jede theoretische Annahme, die sich auf die
Inhalte oder Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses bezieht, ist selbst ein Konstrukt
und betrifft mehr eine wissenschaftliche Erfindung2.
Die heutige Forschung zum Gedächtnis verbindet sich eng mit dem französischen Soziologen
Maurice Halbwachs und seinen soziologischen Studien zur „mémoire collective“, aber auch
mit dem deutschen Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg, der an einem europäischen
Bildgedächtnis gearbeitet hat. Beide haben sich also mit Begriff Gedächtnis beschäftigt und
waren die ersten, die den Begriff, das Phänomen „kollektives Gedächtnis“ systematisch
untersucht haben.
In den 1980er Jahren begann man sich wieder für das Gedächtnis-Thema in der
kulturhistorischen Forschung zu interessieren. Pierre Noras, der französische Historiker hat
das Konzept „lieux de mémoire” entwickelt, das sich international verbreitete. Aleida und Jan
Assmann haben mit dem kulturellen Gedächtnis auch ein Konzept entwickelt, das im
2
Erll, Astrid: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen
Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid (Hg.): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar:
J.B. Metzler 2005, S. 13
5
deutschsprachigen Raum und im internationalen Vergleich am besten ausgearbeitet wurde.
Der Gießener Sonderforschungsbereich 434 hat ein Modell für kulturwissenschaftliche
Gedächtnisforschung gebildet, das Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und Pluralität der
kulturellen Erinnerung in Vordergrund rückt.3
2.1.2 Gedächtnisdiskurs in der sozialen und materiellen Dimension
Bei der Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis stützt man sich auch heute auf
Halbwachs’ Schriften, die aber in der Vergangenheit keine besondere Bedeutung gehabt
haben. Man unterscheidet drei Richtungen der Forschung zum kollektiven Gedächtnis, die
Maurice Halbwachs in seinen Studien „mémoire collective“ gefasst hat:
1. die soziale Bedingtheit individueller Erinnerung;
2. seine Untersuchungen, die sich auf Formen und Funktionen des zwischen den
Generationen gebildeten Gedächtnisses beziehen;
3. seine Ausweitung des Begriffs der mémoire collective auf das, was heute mit der
Terminologie Aleida und Jan Assmann als „kulturelles Gedächtnis“ bezeichnet wird.4
Damit zeigt Halbwachs zwei grundlegende Konzepte von kollektivem Gedächtnis:
1. „kollektives Gedächtnis als organisches Gedächtnis des Individuums, das sich im
Horizont eines soziokulturellen Umfeldes herausbildet”5
2. „kollektives Gedächtnis als der durch Interaktion, Kommunikation, Medien und
Institutionen innerhalb von sozialen Gruppen und Kulturgemeinschaften erfolgende
Bezug auf Vergangenes”.6
Das von Halbwachs ausgearbeitete Konzept der „cadres sociaux” ist der Ausgangspunkt
seiner Theorie des kollektiven Gedächtnisses. Auf ihm basiert die These von der sozialen
Bedingtheit individueller Erinnerung. Soziale Rahmen sind für Halbwachs vor allem die
Menschen, die uns umgeben. Der Mensch ist nach Maurice Halbwachs ein soziales Wesen. Er
muss also mit anderen Menschen einen Kontakt aufnehmen, weil er nur auf diese Art und
3
Ebd., S. 13
Ebd., S. 14
5
Ebd., S. 14
6
Ebd., S. 15
4
6
Weise den Zugang zu kollektiven Phänomenen wie Sprache oder Sitten, aber auch zum
eigenen Gedächtnis haben kann. Er macht die Erfahrungen im Kreis anderer Menschen, die
ihm dann helfen können, die bestimmten Ereignisse zu erinnern.
„Jeder Mensch ist ein „Zeuge“ und das Zusammenbringen der „Zeugenaussagen“
beeinflussen unser Gedächtnis. Gedächtnis ist sozial bedingt, d.h es gibt kein
individuelles Gedächtnis welches ohne seinen sozialen Bezugsrahmen bestehen
könnte”.7
Besonders wichtig ist für Halbwachs die Tatsache, dass uns durch Interaktion und
Kommunikation mit unseren Mitmenschen, Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeitund Raumvorstellungen vermittelt werden. Wir können also vergangene Ereignisse verorten,
deuten und auch erinnern, wenn wir an einer kollektiven symbolischen Ordnung teilhaben.
Für diesen Soziologen spielt die soziale Gruppe eine große Rolle, weil ohne sie keine
Sinnwelten entstehen und weitergegeben werden können.
Unsere individuellen Erinnerungen sind sozial geprägt, unsere Wahrnehmung ist
gruppenspezifisch. Jeder Mensch gehört mehreren Gruppen an: der Familie, der
Religionsgemeinschaft, der Belegschaft am Arbeitsplatz usw. Er macht dadurch
unterschiedliche gruppenspezifische Erfahrungen. Er verfügt auch über bestimmte
Denksysteme. Sowohl die Erinnerung als auch die Kombination der Gruppenzugehörigkeiten
und Erinnerungsformen und – inhalte, die daraus resultieren, sind das wirklich Individuelle,
das die Gedächtnisse einzelner Menschen voneinander unterscheidet.
Ein typisches intergenerationelles Gedächtnis ist für Halbwachs z.B. das Familiengedächtnis.
Seine Träger sind die Familienmitglieder, die ihre Erfahrungen im Familienkreis austauschen.
Ein kollektives Gedächtnis entsteht also durch soziale Interaktion (durch gemeinschaftliche
Handlungen
und
geteilte
Erfahrungen)
und
durch
Kommunikation
(wiederholtes
gemeinsames Vergegenwärtigen der Vergangenheit). Wenn jemand z.B. bei Familienfesten
erzählt, haben auch diejenigen am Gedächtnis teil, die das Erinnerte nicht selbst erlebt haben.
Auf diese Art und Weise kommt zum Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen
und Nachkommen. Und wie sich die ältesten Mitglieder der sozialen Gruppe zurückerinnern
können, so weit reicht das kollektive Generationengedächtnis.8
7
Halbwachs, Maurice: Die soziale Konstruktion der Vergangenheit, unter: www.phil.unipassau.de/soziologie/ss2007/folien/PS_erinnerungsorte/Halbwachs.ppt / 2007
8
Ebd., S. 16
7
Erinnerungen auch persönlicher Art entstehen nur durch Kommunikation und
Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen. Wir erinnern nicht nur, was wir von
anderen erfahren, sondern auch ,was uns andere erzählen und was uns von anderen
als bedeutsam bestätigt und zurückgespiegelt wird. Vor allem erleben wir bereits im
Hinblick auf andere, im Kontext sozialer vorgegebener Rahmen der
Bedeutsamkeit.9
Maurice Halbwachs unterscheidet zwei Formen der Vergangenheitsbildung: Geschichte und
Gedächtnis. Er trennt das Generationsgedächtnis von der Zeitgeschichte. Diese beiden
Formen schließen sich einanander aus. Halbwachs meint, dass „die Geschichte im
allgemeinen Punkt beginnt, an dem die Tradition aufhört – in einem Augenblick, an dem das
soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt“.10 Das kollektive Gedächtnis basiert auf zeitlich
und räumlich begrentzte Gruppen, deren Erinnerung stark wertend ist. Die Geschichte ist
universal. Als Zentrum ihres Interesses gelten Gegensätze und Brüche. Im Rahmen
kollektiver Gedächtnisse spielt Identitätsbildung eine große Rolle. Es wird das erinnert, was
einer bestimmten Gruppe entspricht und wofür sich diese Gruppe interessiert. Wenn man am
kollektiven Gedächtnis teilnimmt, das zeugt davon, dass man zur Gruppe gehört.
Der zweite Wissenschaftler, Kunst- und Kulturhistoriker, der sich auch mit einer Theorie des
kollektiven Gedächtnisses beschäftigt hat, ist Aby Warburg. Er untersucht zwei
kunsthistorische Probleme: die Kontinuität einer Sternsymbolik und das Nachleben der
Antike in der Frührenaissance. Diese Phänomene hat er besser verstanden, indem er die
Wiederaufnahme bildhafter Details in verschiedenen Epochen und Kulturräumen untersucht
hat. Seine kunsthistorische Forschung hat er später mit einer Theorie des kollektiven
Gedächtnisses verbunden. Aby Warburg hat Wiederkehr künstlerischer Formen beobachtet
und interpretierte sie nicht so sehr als Ergebnis einer bewussten Aneignung der Antike durch
Künstler späterer Epochen, sondern führte sie auf die erinnerungsauslösende Kraft kultureller
Symbole zurück.
Nach Warburg ist das Symbol eine kulturelle Energiekonserve. Und die Kultur basiert auf
dem Gedächtnis der Symbole. Aby Warburg hat ein Konzept des kollektiven
Bildgedächtnisses entwickelt, das er auch als soziales Gedächtnis bezeichnete. Für seinen
Gedächtnisbegriff benutzt er auch den „des europäischen Kollektivegedächtnisses“11 und das
9
Zimmermann, Johannes: Kontexte des Erinnerns und kollektives Gedächtnis, unter:
www.textfeld.ac.at/download/225.pdf
10
Ebd., S. 16
11
Ebd., S. 20
8
bedeutet eine enorme Ausweitung der Trägerschaft. Das ist möglich, weil Warburg als
zentrales Medium des Kollektivgedächtnisses nicht die mündliche Rede , sondern das
Kunstwerk annimmt.12
2.1.3 Erinnerungsorte im Kontext des kollektiven Gedächtnisses
Untersuchungen zum kollektiven Gedächtnis hat auch der französische Historiker Pierre
Noras ausgerichtet. Sein Werk „Les lieux de mémoire” verbreitet die Halbwachs’sche
Trennung zwischen Geschichte und Gedächtnis. Nora betont im Sinne Halbwachs:
„Gedächtnis und Geschichte: keineswegs sind dies Synonyme, sondern in jeder Hinsicht
Gegensätze“. Er geht nicht von der Existenz kollektiver Gedächtnisse aus, wie Halbwachs,
sondern resümiert mit Blick auf unsere Zeiten: „Nur deshalb spricht man so viel vom
Gedächtnis, weil es keines mehr gibt“.13 Als Gegenstand seiner Reflexion gelten
„Erinnerungsorte“. Sie können geographische Orte, Gebäude, Denkmäler und Kunstwerke
umfassen aber auch historische Persönlichkeiten, Gedenktage, philisophische und
wissenschaftliche Texte oder symbolische Handlugen. Erinnerungsorte werden von Nora als
eine Art künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene, natürliche kollektive
Gedächtnis bezeichnet,
weil sich für Nora die heutige
Gesellschaft in
einem
Übergangsstadium befindet, in dem die Verbindung zur lebendigen, gruppen- und
nationspezifischen, identitätsbildenden Vergangenheit abreißt.14
Nora stellt in seinen theoretischen Vorüberlegungen die Voraussetzungen dar, die ein Ereignis
oder Gegenstand erfüllen muss, um als Erinnerungsort bezeichnet zu werden. Nach Norra
können drei Dimensionen der Erinnerungsorte unterschieden werden: eine materielle, eine
funktionale und eine symbolische.

Materielle Dimension: sie betrifft kulturelle Objektivationen bei den Erinnerungsorten.
Hier werden nicht nur fassbare Gegenstände, wie Gemälde oder Bücher gemeint, sondern
auch vergangene Ereignisse oder Schweigeminuten, die eine materielle Dimension
aufweisen und nach Nora ein materieller Ausschnitt einer Zeiteinheit sind.

Funktionale Dimension: Solche Äußerungsformen müssen in der Gesellschaft eine
Funktion erfüllen, z.B. berühmte Bücher.
12
13
Ebd., S. 19
Ebd., S. 23
9

Symbolische Dimension: die Objektivationen müssen neben ihrer Funktion noch eine
symbolische Bedeutung haben, z.B. wenn Orte mit einer symbolischen Aura umgeben
sind.15
Nach Nora handelt es sich bei den Erinnerungsorten um einen Objektbereich, der die
Vertreter unterschiedlichster Disziplinen zu Untersuchungen anzuregen vermag.
2.1.4 Kulturelles Gedächtnis als Forschungsfeld
Der Begriff „das kulturelle Gedächtnis” wurde unter anderem von Aleida und Jan Assmann
Ende
der
1980er
Jahre
geprägt.
Er
verbindet
sich
mit
dem
Konzept
der
kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, über das die Forscher und Wissenschaftler
lange diskutiert haben. Die Theorie, die uns Assmann präsentiert, betont die Akzentuierung
des Zusammenhangs von kultureller Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer
Legitimierung. Mit diesen Phänomenen beginnen sich auch seit den 1980er Jahren die
Kulturwissenschaften zu beschäftigen. Durch die Entwicklung verschiedener, etablierter
Disziplinen,
Forschungsgegenständen
und
Methoden
entsteht
ein
gemeinsames
Forschungsfeld, das sich mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses verbindet.
Die
unterschiedlichen
akademischen
Fächer
wie
Geschichtswissenschaft,
Altertumswissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft oder
Soziologie können jetzt zusammengefügt werden. Diese Theorie des kulturellen
Gedächtnisses ist eine gute Voraussetzung für eine Übersicht verschiedener Felder durch ein
gemeinsames Erkenntnisinteresse.16
2.1.5 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis im Vergleich
Bei der Auseinandersetzung mit einer Art Gedächtnis unterscheidet man zwei Register des
kollektiven
Gedächtnisses.
Einerseits
basiert
das
kollektive
Gedächtnis
auf
Alltagskommunikation, andererseits auf vergegenwärtigte Erinnerung. Zwischen den beiden
Registern gibt es signifikante Unterschiede, auf die man aufmerksam machen muss. Der erste
14
Ebd., S. 23
Ebd., S. 24
16
Ebd., S. 27
15
10
„Gedächtnis – Rahmen“ heißt das kommunikative Gedächtnis und der zweite das kulturelle
Gedächtnis. Jan Assmann weist typische Merkmale dieser Gedächtnisse auf, um zu zeigen,
dass sich Inhalte, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger zwischen ihnen grundlegend
unterscheiden:
-
Das kommunikative Gedächtnis stützt sich auf die Alltagskommunikation. Es entsteht
durch Alltagsinteraktion, verfügt über die Erfahrungen der Geschichte, die zeitgenössisch
sind. Kennzeichnend für das kommunikative Gedächtnis ist die Begrenzung des
Zeithorizonts von ca. 80 bis 100 Jahren. Die Inhalte dieses Gedächtnisses verbinden sich
mit Veränderbarkeit, d.h. sie können sich verändern, aber auch keine feste
Bedeutungszuschreibung erfahren. Das gleiche Kompetenz jeden, der gemeinsame
Vergangenheit erinnern und deuten will, ist ein wichtiger und dominierender Faktor.
-
Das kulturelle Gedächtnis dient nämlich als Oppositionsbegriff zum kommunikativen
Gedächtnis. Es bezieht sich auf die vergegenwärtigte Erinnerung, was bedeutet, dass
bestimmte Ereignisse aus einer fernen Vergangenheit stammen müssen (wie z.B. der
Auszug aus Ägypten oder Kampf um Troja). Diese Ereignisse kann man also als mythisch
bezeichnen. Zwischen diesen zwei unterschiedlichen Registern, genauer gesagt zwischen
der im Rahmen erinnerten Zeit dieser Gedächtnisse besteht eine Lücke.
Man unterscheidet noch die sogenannten zentralen Merkmale, dank deren kann man besser
und genauer den Gebrauch des Begriffs „kulturelles Gedächtnis” verstehen:
-
Identitätskonkretheit bedeutet, dass soziale Gruppen ihre Identität aufgrund des kulturelles
Gedächtnisses bilden.
-
Rekonstruktivität bedeutet, dass das kulturelle Gedächtnis ein retrospektives Konstrukt ist,
d.h. es bezieht sich auf die Vergangenheit.
-
Geformtheit ist das signifikante Merkmal zur Unterscheidung zwischen kulturellem und
kommunikativem Gedächtnis. Kennzeichnend für das kulturelle Gedächtnis ist die
Kontinuierung von Sinn anhand fester Ausdrucksformen und –medien.
-
Organisiertheit bezeichnet die Institutionalisierung des kulturellen Gedächtnisses und die
Spezialisierung ihrer Trägerschaft.
-
Aus der Verbindlichkeit des kulturellen Gedächtnisses resultiert für die Gruppe eine
„klare Wertperspektive und ein Relevanzgefälle“.
-
Reflexivität lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass das kulturelle Gedächtnis
die Lebenswelt der Gruppe, ihr Selbstbild und auch sich selbst reflektiert.17
17
Ebd., S. 28
11
Um die Merkmale zwischen dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis zu
veranschaulichen, hat sich Assman einer Tabelle18 bedient, die der Vergleich, die
Gegenüberstellung dieser beiden Gedächtnisarten enthält.
Inhalt
Formen
Medien
Zeitstruktur
Träger
kommunikatives Gedächtnis
Geschichtserfahrungen im Rahmen
indiv. Biographien
informell, wenig geformt,
naturwüchsig, entstehend durch
Interaktion, Alltag
lebendige Erinnerung in organischen
Gedächtnissen, Erfahrungen und
Hörensagen
Kulturelles Gedächtnis
mythische Urgeschichte, Ereignisse
in einer absoluten Vergangenheit
gestiftet, hoher Grad an Geformheit,
zeremonielle Kommunikation, Fest
feste Objektivationen, traditionelle
symbolische
Kodierung/Inszenierung in Wort,
Bild, Tanz usw.
80-100 Jahr, mit der Gegenwart
absolute Vergangenheit einer
mitwandernder Zeithorizont von 3-4 mythischen Urzeit
Generationen
unspezifisch, Zeitzeugen einer
spezialisierte Traditionsträger
Erinnerungsgemeinschaft
2.1.6 Gedächtnis als Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis
Indem man sich mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses beschäftigt, muss man sich auf
zwei Arten Gedächtnis stützen: Funktions- und Speichergedächtnis. Beide sind verantwortlich
für die Prozesse der Aktivierung und des Vergessens von Inhalten, deshalb spielt diese
Unterscheidung eine besonders wichtige Rolle. Nach Assmann wird das Funktionsgedächtnis
als das „bewohnte Gedächtnis“ definiert. Es besteht aus „bedeutungsgeladenen Elementen”,
die eine kohärente Geschichte bilden können und durch „Gruppenbezug, Selektivität,
Wertbindung und Zukunftsorientierung“ kennzeichnend sein.19
Der Speichergedächtnis hingegen wird von Assmann als das „unbewohnte Gedächtnis“
bezeichnet, das aus „ungebundener, bedeutungsneutraler Elemente” besteht, die sich nicht
vital auf die Gegenwart beziehen.
18
19
Ebd., S. 29
Ebd., S. 31
12
Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und
fremd Gewordene, das neutrale, identitäts – abstrakte Sachwissen, aber auch das
Repertoire verpaßter Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter
Chancen. Beim Funktionsgedächtnis dagegen handelt sich um ein angeeignetes
Gedächtnis, das aus einem Prozess der Auswahl, der Verknüpfung, der
Sinnkonstitution [...] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden
Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden
ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem
Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.20
Das Funktionsgedächtnis spielt eine sehr wichtige Rolle in der Gestaltung unserer Identität
oder Legitimierung einer bestehenden Gesellschaftsform. Das Speichergedächtnis hat auch
wichtige Aufgaben zu erfüllen. Es dient als „Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse“,
als „Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens“ und damit als „Bedingung der
Möglichkeit kulturellen Wandels“. Zwischen den beiden Gedächtnissen besteht auch die
Möglichkeit, dass alle Elemente des Speichergedächtnisses in das Funktionsgedächtnis
übergehen können, wenn sie für die Gesellschaft eine zusätzliche Sinndimension bekommen.
Zwischen ihnen ist der Grad der Durchlässigkeit entscheidend und nicht nur Inhalte der
beiden Gedächtnisebenen. Er ermöglicht, die Veränderung und Erneuerung zu bestimmen.
Um eine vergleichende Übersicht der Merkmale vom Speicher- und Funktionsgedächtnis
darzustellen, hat sich Assmann einer Tabelle21 bedient, die uns alle typischen Merkmale zeigt.
Speicher-Gedächtnis
Inhalt
Struktur
Formen
Medien und
Institutionen
Träger
Funktions-Gedächtnis
Das Andere, Überschreibung der
Gegenwart
Das Eigene, Fundierung der
Gegenwart auf einer bestimmten
Vergangenheit
anachron: Zweizeitigkeit, Gestern
diachron: Anbindung des Gestern an
neben dem Heute, kontrapräsentisch das Heute
Unantastbarkeit der texte,
selektiver = strategischer,
autonomer Status der Dokumente
perspektivischer Gebrauch von
Erinnerungen
Literatur, Kunst, Museum,
Feste, öffentliche Riten kollektiver
Wissenschaft
Kommemoration
Individuen innerhalb der
Kollektivierte Handlungssubjekte
Kulturgemeinschaft
Dank dieser Unterscheidung kann man „Wandlungsmöglichkeiten und –prozesse des
kulturellen Gedächtnisses“ gut erklären. Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses nach
20
21
Ebd., S. 31
Ebd., S. 32
13
Aleida Assmann zieht im weiteren Sinne eine große Ausweitung des Gegenstandsbereichs
nach sich. In den Blick geraten alle Objektivationen einer Kultur, die unsere Gesellschaft
aufbewahrt, also nicht nur die zentralen Wiedegebrauchs-Texte, -Bilder und –Riten, sondern
auch Dokumente, die sich im Archiv befinden, längst vergessene Kunstwerke, kaum
beobachtete Bauwerke usw. Das Merkmalsbündel, das Jan Assmann im Jahre 1988 aufgestellt
hat und das sich nur auf den Funktionsbereich bezieht, hat das Funktions- und
Speicherbereich umfassende Kulturgedächtnis nur noch das Merkmal der Geformtheit
gemeinsam.
2.1.7 Erinnerungskulturen als das Konzept des Gießener Sonderforschungsbereichs 434
Im Jahr 1997 ist an der Justus – Liebig – Universität der Sonderforschungsbereich (SFB) 434
„Erinnerungskulturen” entstanden, der vor allem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft
gefördert wurde. Der SFB beschäftigt sich mit der Untersuchung von Inhalten und Formen
kultureller Erinnerung von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Daran arbeiten ca. 30
Hochschullehrer/innen und ca. 70 Mitarbeiter/innen aus elf kulturwissenschaftlichen
Diszipllinen.
Ziel des SFB stellt sich folgendes: „eine konsequente Historisierung der Kategorie der
historischen Erinnerung”.22 Dem Modell des kulturellen Gedächtnisses, der von Assmann
angelegt wurde, wird damit ein Konzept gegenübergestellt, das Dynamik, Kreativität,
Prozesshaftigkeit und vor allem die Pluralität der kulturellen Erinnerung in den Vordergrund
rückt. Dieses Bestreben bezieht sich erstens auf die Privilegierung des Erinnerungs – Begriffs
vor dem Gedächtnis – Begriff, d.h. der Begriff „Erinnerung“ wird vor dem Begriff
„Gedächtnis“ bevorzugt. Zweitens weist die Verwendung des Plurals – Erinnerungskulturen –
die Vielfalt und historisch – kulturelle Variabilität von Erinnerungspraktiken und – konzepten
auf:
22
Ebd., S. 34
14
Der Begriff [Erinnerungskulturen] verweist auf die Plurarität von
Vergangenheitsbezügen, die sich nicht nur diachron in unterschiedlichen
Ausgestaltungen des kulturellen Gedächtnisses manifestiert, sondern auch synchron
in verschiedenartigen Modi der Konstitution der Erinnerung, die komplementäre
ebenso wie konkurrierende, universale wie partikulare, auf Interaktion wie auf
Distanz- und Speichermedien beruhende Entwürfe beinhalten können (Sandl
2005).23
Es wurde auch ein Modell zur Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen im
Rahmen des SFB „Erinnerungskulturen” gebildet.
Auf einer ersten Ebene werden Rahmenbedingungen des Erinnerns dargestellt, die durch vier
Faktoren bezeichnet sind:
-
die Gesellschaftsformation, bzw. den Typus der Gesellschaft, innerhalb der erinnert wird
(z.B. Adelsgesellschaft, bürgerliche Gesellschaft, funktional differenzierte Gesellschaft
der Postmoderne),
-
ihre Wissensordnung, im Sinne einer epochalen Diskursformation mit eigenen Regeln,
-
ihr Zeitbewusstsein, das von dem Umfang, der Geschwindigkeit aber auch der Art des
historischen Wandels gestaltet wird,
-
ihre Herausforderunglage: Es sind hier Krisen über überkommenen Erklärungs- und
Interpretationsmustern angesichts gesellschaftlicher Umbrüche gemeint.
Auf
einer
zweiten
Ebene
handelt
es
sich
um
die
Ausformung
spezifischer
Erinnerungskulturen. Hier unterscheidet man auch vier Aspekte:
-
die Erinnerungshoheit in einer Gesellschaft, deren jeweilige Ausprägung entlang einer
Skala mit den Polen „hegemoniale Erinnerungskultur” und „Konkurrenz von
Erinnerungskulturen” zu konzipieren ist,
-
die Erinnerungsinteressen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen; sie können
miteinander konkurrieren, aber auch nebeneinander existieren, sich überlagern und
durchdringen,
-
die Erinnerungstechniken, die mnemotechischen Strategien, Kommunikationsweisen und
Gedächtnismedientechnologien einer Gesellschaft,
-
die Erinnerungsgattungen, verschiedene Darstellungsformen von Vergangenheit (wie etwa
Historienbild, Geschichtsfilm, historischer Roman oder Histographie).
Mit der dritten Ebene verbinden sich die Aüßerungsformen und Inszenierungsweisen des
Sinns, der sich auf die Vergangenheit bezieht, bzw. das konkrete Erinnerungsgeschehen:
23
Ebd., S. 34
15
-
Gedächtnis und Erinnerung sind auf dieser Ebene voneinander abzugrenzen. Kollektives
Gedächtnis gilt hier als eine diskursive Formation und Erinnerung als Abruf und
Neukonstitution von Wissen über Vergangenheit.
-
Der Typus der Erinnerungsarbeit reicht dabei von wissenschaftlich-diskursiven bis zu rein
imaginativ-fiktiven Strategien.
-
Eine besondere Rolle spielt die Unterscheidung zwischen erfahrener und nicht-erfahrener
Vergangenheit, also zwischen Vergangenheit als individuelle Lebenserfahrung und der
Aneignung eines Erinnerungsraums jenseits der Erfahrungsschwelle.
-
Ein weiteres Aspekt ist die Rezeptionsgeschichte der Objektivationen, d.h. der
Gegenstände und Medien des kulturellen Gedächtnisses.24
2.2 Topos der verlorenen Heimat
2.2.1 Zum Begriff „Heimat“
Wenn von der „Heimat” gesprochen wird, muss zuerst erklärt werden, was dieser Begriff
eigentlich bedeuten kann und mit was er sich verbindet. Richard Herzinger meint, dass das
deutsche Wort „Heimat“ mehr als die landsmannschaftliche, regionale oder lokale
Zugehörigkeit, mehr als den Ort der Herkunft oder den angestammten Wohnsitz eines
Individuums beschreibt. Wer von seinem Herkunftsort als von seiner Heimat spricht, drückt
damit zugleich aus, dass es Kräfte gibt, die sie ihm streitig machen – dass sie entweder bereits
verloren wurde oder verloren zu gehen versucht. Die Heimat befindet sich immer in Gefahr.
Es handelt sich hier um die Bedrohung nicht unbedingt nur von konkreten oder eingebildeten
Feinden aus – von fremden Eroberern oder unerwünschten Zuwanderern. Ernst Bloch schrieb
in seinem Hauptwerk „das Prinzip Hoffnung”, dass die Heimat ein U-Topos, ein Nichtort ist,
der so verlockend wirkt, weil niemand ihn gesehen hat, jeder aber felsenfest glaubt, dorthin
zu gehören. Die Heimat ist eine Chiffre für Ursprünglichkeit und Unschuld, suggeriert
Geborgenheit und Identität. Als solche repräsentiert sie eigentlich imaginäre Erinnerung an
24
Ebd., S. 35
16
eine gute alte Zeit, an eine statische, vorgeschichtliche Welt mit unbebauten Bergen, Hügeln
und Wiesen, mit Dörfern und kleinen Städtchen. 25
Nach Rudolf Chmel verbindet sich die Heimat in den letzten Jahren vor allem mit Emigration.
Emigranten waren damals Menschen „ohne Vaterland”, heute kehren sie in die Heimat
zurück, einige schließlich, um in der Heimat auszuruhen.26
Siegfried Lenz definiert diesen Begriff folgendes: Heimat ist der Ort, wo sich der Blick selbst
näßt, wo das Gemüt zu brüten beginnt, wo Sprache durch ungenaues Gefühl ersetzt werden
darf.27
2.2.2 Erinnern, Vergessen und Verdrängen und Erinnerungskulturen
Bei der Beschäftigung mit dem Topos der verlorenen Heimat, aber auch mit den
Erinnerungskulturen muss man zuerst betonen, dass das Gedächtnis einen prozesshaften
Charakter hat. Davon zeugt die Tatsache, dass sich unser Gedächtnis die ganze Zeit ändert.
Man kann es also als etwas Dynamisches und nicht als etwas Statisches bezeichnen. Das
Gedächtnis entwickelt sich zwischen Erinnern und Vergessen, d.h die Vergangenheit wird
erzeugt, wenn man sich erinnert. Jeder Mensch hat immer einen Zugang zur Vergangenheit
über das Erinnern. In Abhängigkeit davon, wie man sich erinnert oder an welche Sachverhalte
man sich erinnert, bildet sich das Kulturgedächtnis. Bei jeder Erinnerung gestaltet man auch
die Vergangenheit.28
In der Welt gibt es verschiedene Erinnerungskulturen. Jedes einzelne Land hat seine
Erinnerungskultur. Und wir als Menschen, als ein Kollektiv, als Polen besitzen eine ganz
bestimmte Identität, aufgrund der Tradition, Kultur und Geschichte, die sich eng mit der
geschlossenen aber auch offenen Gesellschaft verbindet. Die erste bezieht sich auf den
Kommunismus und die zweite auf die Demokratie. In den geschlossenen Gesellschaften
herrscht eine Allianz von Herrschaft und Vergessen. Das bedeutet, dass mit der Herrschaft die
Herzinger, Richard: Worin noch niemand war. In: „Kafka” Nr.2 von 2001, S. 48-54
Vgl. Chmel, Rudolf: Vaterland. Eine slowakische Geschichte. In: „Kafka” Nr.2 von 2001, S. 41
27
Orłowski, Hubert: Der Topos der verlorenen Heimat. In: Kobylińska, Ewa / Lawaty, Andreas / Rüdiger
Stephan (Hg.): Deutsche und Polen 100 Schlüsselbegriffe. München, R. Piper GmbH & Co. KG 1992, S. 189
28
Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat - Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945. In:
Carsten Gansel (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des Real - Sozialismus
zwischen 1945 und 1989. Göttingen : V&R unipress, 2007, S. 75-91
25
26
17
Leute gemeint sind, die Einfluss auf das Gedächtnis haben können. In den offenen
Gesellschaften herrscht nämlich eine Allianz zwischen Herrschft und Gedächtnis, oder
zwischen Herrschaft und Erinnern, d.h Erinnerungskulturen entstehen aufgrund verschiedener
Aushandlungsstrategien, bei denen die Herrschenden Einfluss auf die Gestalt unseres
Gedächtnisses haben.29
Mit dem Heimatverlust verbinden sich fast immer folgende Begriffe: die Vertreibung, Flucht
und Zwangsausweisung, weil wenn es zur Vertreibungen kommt, so kommt es auch zum
Heimatverlust und die Leute müssen ihre Häuser aufgrund von politischen Entscheidungen
verlassen. Die Vertreibung bedeutet kein einfaches Weggehen. Sie vollzieht sich immer unter
Zwang. Man kann sagen: wenn von der Vertreibung gesprochen wird, dann steckt immer eine
vertreibende Macht dahinter. Das Wort „Heimat“ war in Deutschland nach dem II. Weltkrieg
ein sehr konservativer Begriff, der ideologisch missbraucht wurde. In den ersten
Nachkriegsjahren waren solche Begriffe wichtig, wie Wiederaufbau und Wirtschaftswunder.
Man hat sich auf sie besonders konzentriert und mit Heimat wollte sich niemand beschäftigen.
2.2.2 Verlorene Heimat im historischen Kontext
Der „Vertreibungskomplex“ ist ein gutes Beispiel für Erinnerungskulturen, die um den Besitz
von Vergangenheit miteinander konkurrieren. Es gibt keine homogene Erinnerungskultur, es
gibt konkurrierende Erinnerungskulturen, d.h. sich nicht bekämpfende. Es soll ganz einfach
darauf hingewiesen werden, dass man zu der Vergangenheit eine völlig andere Einstellung
haben kann – Deutsche sehen die Geschichte aus einer völlig anderen Perspektive. Ein sehr
gutes Beispiel dafür ist das Zentrum gegen Vertreibungen. Von daher bedeutet die Geschichte
und das Gedächtnis keine unveränderbare Größe, sondern sie entsteht aufgrund der
Kommunikation und Interaktion, d.h. eine bestimmte Form des Kulturgedächtnisses entsteht
aufgrund der Kommunikation und Interaktion aber auch aufgrund des Austausches mit
anderen Kulturgedächtnissen.30
Nicht nur Peter Burke optiert dafür, dass man unangenehme Erfahrungen aus der eigenen
Geschichte nicht aus dem Weg gehen sollte, sondern diese Meinung wird auch von Jörn
Rüsen repräsentiert. Jörn Rüsen hat für eine „beschweigungsfreie Geschichtskultur” optiert.
29
30
Ebd., S. 75
Ebd., S. 75-91
18
Sie ist in geschlossenen Gesellschaften problematisch, aber in offenen Gesellschaften ist sie
gerechtfertigt und sollte praktiziert werden. Diese beschweigungsfreie Geschichtskultur ist die
Geschichtskultur ohne Tabus, ohne Verdrängungsprozesse. Man sollte bereit sein, über
Themen zu sprechen, die auch ziemlich unangenehm sein können.31
Włodzimierz Borodziej und Klaus Ziemer haben sich zu Ereignissen und auch Folgen des II.
Weltkrieges geäußert und folgende Tatsachen genannt:
-
Polen bekommt wesentliche Teile der ehemaligen Ostprovinzen (Ostpreußen, Breslau,
Stettin),
-
Polen wird auf Kosten Deutschlands für die Verluste im Osten entschädigt,
-
die Grenzen Polens verschieben sich westwärts aufgrund einer politischen Entscheidung,
-
im Sommer 1945 leben in polnischen Gebieten etwa fünf Millionen Deutschen,
-
nach der Potsdamer Konferenz spricht man von der Zwangsausweisung, vor der
Konferenz von wilden Vertreibungen.
Man sollte alle diesen Tatsachen mindestens zur Kenntnis nehmen. Es nützt nicht, wenn man
diesen Aspekt total verdrängt und aus dem Gedächtnis löscht.
Der „Vertreibungskomplex“ darf nicht in historischer Isolliertheit betrachtet werden, sondern
es muss im historischen Kontext betrachtet werden. Dazu gehören folgende Aspekte:
1. Man darf nicht vergessen, was der deutsche Aggresor gemacht hat, welche Politik er
geführt hat: Das war die Politik des Lebensraumes und der Rassenideologie.
2. Schon 1939 wurden Polen aus den Gauen „Wartheland“ und „Danzig – Westpreußen“ ins
Generalgouverment übergesiedelt. Deutsche wollten Platz für Ostdeutsche haben,
demzufolge wurden polnische Familien aus diesen zwei Gauen zwangsausgesiedelt. Es ist
wichtig daran zu erinnern, dass die Vertreibung der deutschen Bevölkerung auch die
Vertreibung der Polen vorausgegangen ist.
3. Die Verschiebung der polnischen Grenze westwärts auf Kosten des besiegten
Detuschlands hängt mit dem Hitler-Stalin-Pakt zusammen, d.h. die Sowjetrussen und
Deutsche haben Polen in Einflusszonen geteilt. Stalin wollte nach dem II Weltkrieg diesen
Pakt nicht rückgängig machen. Er wollte seine westliche Grenze am Bug entlang haben.
4. Die Potsdamer Konferenz – man bekam ein relativ legales Instrument, um sich für die
Verbrechen der Deutschen zu rächen. Das war eine Möglichkeit sich auf dem ehemaligen
deutschen Ostprovinzen zu bereichern.
Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat - Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945. In:
Carsten Gansel (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des Real - Sozialismus
zwischen 1945 und 1989. Göttingen : V&R unipress, 2007, S. 75-91
31
19
5. Die kommunistischen Regierungen wollten zuerst ihre Macht ausspielen und stärken und
dann weiter zu festigen. Man wollte eine ethnische Homogenität haben und wollte nicht,
dass es in Polen Deutsche gibt. Man sollte potenzielle Konflikte der Vorkriegszeit und
Gefährdungen durch national unzuverlässige Minderheiten zu vermeiden.
2.3 Literatur in narratologischer Perspektive
2.3.1 Erzählen im Bereich der dichterischen Rede
Im Rahmen der dichterischen Rede unterscheidet man in Bezug auf das Erzählen folgende
Begriffe:
-
fingiert,
-
fiktional,
-
fiktiv.
Oft benutzt man sie synonymisch, was falsch ist, denn jeder dieser Begriff bedeutet etwas
anderes. Bei der Auseinandersetzung mit dem Erzählen in Rahmen der Literatur soll man
feststellen, inwieweit sich diese Bezeichnungen voneinander unterscheiden:
1. „Fingiert“ – verwenden wir im Sinne von [vor]täuschen. Obwohl die Welt im Rahmen
der Literatur eine fingierte Welt ist, ist die Lüge, Vortäuschung kein Zweck der Literatur.
Die Verbreitung von Lügen ist kein Zweck der Literatur.
2. „Fiktional“ – steht im Gegensatz zu faktual, authentisch und bezeichnet den
pragmatischen Status einer Rede. Die fiktional erzählten Welten sind pragmatisch
fiktional, weil die Literatur nichts mit der Pragmatik zu tun hat. Literarische Welten sind
fiktionale Welte, denn sie spielen mit Fiktionen, mit Möglichkeiten. Sie können sich zwar
auf die Wirklichkeit beziehen, aber spielen mit Wirklichkeit nicht. Von daher sind sie
keine faktualen Welten.
3. „Fiktiv“ – nimmt auf den ontologischen Status des in dieser Rede Ausgesagten. Erzählte
Welten sind fiktionale Welten und das Ausgesagte ist fiktiv, nicht real. Es wird von
20
fiktiven Vorgängen erzählt, die nicht wirklich stattgefunden haben. Erzählen im Bereich
der fiktionalen Welten ist ein fiktives Erzählen.32
2.3.2 Doppeltbesetzte Kommuniaktion
Im Bereich der faktualen Texte hat man mit der realen Kommunikation zu tun, d.h ein realer
Autor schreibt einen realen Text, der von einem realen Leser gelesen wird. Dieser Text
enthält tatsächliche Behauptungen des Autors und auf diese Art und Weise sollen die Sätze
verstanden werden (z.B. im Zeitungsbericht über einen Verkehrsunfall – der Autor =
Journalist berichtet über ein reales Geschehen, so wei es war). Das ist also reale
Kommunikation und keine imaginäre Kommunikation im Bereich der nichtdichterischen
Rede. Die Sätze des Textes sind tatsächlich die Sätze des Textproduzenten, des Autors.
Im Bereich der dichterischen Rede, unterscheidet man zwei Figuren:
-
einen realen Autor
-
einen fiktiven Erzähler als vom Autor geschaffene Figur.
Fiktionale Texte sind auch ein Teil der realen Kommunikation (so wie faktuale Texte), weil
der Autor eine reale Person ist. Aber die fiktionalen Texte sind in Hinblick auf die
Kommunikation komplexer als faktuale Texte, weil:
-
zum einen gibt es reale Kommunikation, denn ein realer Autor produziert einen Text,
-
zum anderen ist dieser Text ein Teil der imaginären Kommunikation.
Was diese zwei Figuren (den Autor und den Erzähler) betrifft, lässt sich folgendes feststellen:
-
der reale Autor schreibt von erfundenen, erdichteten, fiktiven Vorgängen und nicht von
Wirklichkeit. Die Sätze, die er produziert, sind aber keine Behauptungen des Autors – sie
erheben keinen Anspruch wahr zu sein. Er spielt mit fiktiven Welten, schreibt Sätze, stellt
aber keine Behauptung auf die Wirklichkeit.
Der reale Autor als Erzähler, als konkreter Autor produziert reale Sätze, aber diese sind
nicht authentisch, denn sie können nicht als Behauptungen des Autors gelten, als seine
Ansichten. Er schreibt nicht mit dem Anspruch auf das Wahrheitsgehalt.
32
Martinez, Matias / Scheffel Michael: Merkmale fiktionalen Erzählens. In: Martinez, Matias / Scheffel
Michael(Hg.): Einführung in die Erzähltheorie. (6. Aufl.). München, C.H.Beck 2005, S. 9 - 25
21
Die reale Kommunikation zwischen dem Autor und dem Leser ist indirekt, weil der Autor
den Leser nicht vor Augen hat und umgekehrt. Das ist keine unmittelbare
Kommunikation.
-
der fiktive Erzähler agiert in der fiktionalen Welt. Er wird vom Autor geschafft. Die Rede
und die Sätze des fiktives Erzählers sind authentisch. Sie gelten als Behauptungen des
Erzählers im Rahmen der fiktionalen Welt. Die Sätze des Erzählers sind also als
authentische aufzufassen, aber sie sind imaginär, weil sie sich im Rahmen einer
imaginären
Welt
befinden.
Das
ist
keine
Wirklichkeit,
keine
Face-to-Face
Kommunikation, sondern eine imaginäre Kommunikationssituation. 33
Die Kommunikation in fiktionalen Texten nennt man also doppeltbesetze Kommunikation.
2.3.3 Unterscheidung zwischen dem Erzählen und dem Erzählten
Beim Lesen fiktionaler Texte hat man immer als ein bewusster Leser eine bestimmte
Einstellung zur Fiktionalität, zu dem was erzählt wird. Das Problem der ästethischen
Illusionsbildung hat im Laufe der Jahrunderte viele Theorien hervorgerufen, die sich nicht
erst in der Erklärung, sondern bereits in der Beschreibung des Phänomens sehr voneinander
unterscheiden. In Bezug auf einen bewussten Leser lassen sich zwei Positionen
heraussondern:
-
Die erste Position nach Scheffel und Martinez ist eine identifizierende Einstellung zum
Erzählten, d.h. der Leser sollte sich in die erzählte Welt imaginativ hineinversetzen, für
den Augenblick der Lektüre sein Bewusstsein ausschalten und sich mit Fiktionen
beschäftigen. Er sollte sich auf das fiktionale Spiel einlassen und die Welt der Lektüre für
real annehmen, weil er nur dann überhaupt den Text verstehen kann. Diese Meinung
vertrat der französische Kritiker Nocolas Boileau, der darauf hingewiesen hat, dass den
menschlichen Verstand nichts beschäftigt, was er nicht glaubt.
-
Die zweite Position nach Wolfgang Iser ist es, beim Umgang mit fiktionalen Texten eine
notwendige Distanz einzunehmen. Man sollte bewusst sein, dass der Text fiktional und
nicht faktual ist. Iser spricht auch von einer Dialektik von Illusionsbildung und
33
Ebd., S. 17
22
Illusionsdurchbrechung, denn wenn man einen fiktionalen Text liest, entsteht immer eine
Art der Illusion.34
Bei der Analyse von fiktionalen Texten sollte man auch solche Begriffe wie das Erzählen und
das Erzählte berücksichtigen, anders gesagt die Ebene des „Was“ und die Ebene des „Wie“.
Die Ebene des „Wie“ bedeutet das erzählerische Medium
– Darstellungsform,
Präsentationsweise. Die zweite Ebene (des Was) bezeichnet das Erzählte – die Geschichte, die
erzählte Welt. Diese zwei Ebenen unterscheiden sich voneinander und es ist oft so, dass man
das „Wie“ ausspart und das „Was“ exponiert. Man konzentriert sich auf das, was erzählt wird
und blendet die Art und Weise, wie die Geschichte vermittelt wird. Man identifiziert sich mit
bestimmten Figuren, nimmt an ihrem Schicksal teil und sieht von den Worten, dem Stil, den
Erzählverfahren ab. Diese Haltung ist aber falsch und wird leider von vielen praktiziert. Nach
Scheffel und Martinez ist das Zusammenspiel zwischen diesen zwei Ebenen sehr sinnvoll und
muss berücksichtigt werden. Als ein gutes Argument könnte man anführen, dass die
Präsentationsweise der Geschichte einen Einfluss auf die Wirkung haben kann. Das Erzählte
wirkt auf den Leser in Abhängigkeit von der Erzählweise, obwohl es sich um das gleiche
„Was“ handelt, obwohl das Erzählte dasselbe bleibt. Als ein Beispiel kann Goethes Werther
gelten. Goethe musste Werthers Schicksal nicht unbedingt in der Ich-Perspektive der
Briefform gestalten, wodurch er aber eine Verstärkung der Subjektivität erreicht hat, was
später zur Nachahmung von Werther und schließlich zum „Werthers Fieber” führte. Diese
Darstellungsform könnte natürlich auch anders sein z.B. distanzierter Bericht eines ironischen
allwissenden Erzählers. Dann würde sie aber völlig anders auf den Leser wirken.35
34
35
Ebd., S. 21-22
Ebd., S. 20-21
23
3. Deutsche Geschichte und deutscher Alltag im Roman
Landnahme von Christoph Hein
3.1 Figuren und Figurenkonstellationen
3.1.1 Ereignishaftigkeit figurenperspektivischer Erfahrungen
Bei der Auseinandersetzung mit dem Roman Landnahme von Christoph Hein muss man
zuerst darauf aufmerksam machen, dass seine DDR-Geschichte aus fünf verschiedenen
Perspektiven erzählt wird. Die Hauptfigur Bernhard Haber bekommt deshalb ihre Konturen
durch die Berichte der Anderen. Er wird durch die Augen seines Banknachbarn Thomas
Nicolas, seiner Freundin Marion Demutz, seines Kollegen Peter Koller, seiner lebenlustigen
Schwägerin Katharina Hollenbach und seines Jugendfreundes Sigurd Kitzerow geschildert.
Bernhard Haber, die Hauptfigur dieses Romans kommt mit seinen Eltern 1950 aus Breslau in
eine sächsische Kleinstadt Guldenberg, wo man Vertriebene und Ausgebombte nicht gern
sieht und auch toleriert. Als Zwangsvertriebener wird er in der Schule wie ein Aussätziger
behandelt. Seine Mitschüler nennen ihn „Polacke“ und „Holzwurm“.
Die Vertriebenen galten in der Stadt nicht als richtige Deutsche, hinter ihrem
Rücken beschimpfte man sie als Polacken, oder man sagte, es seien die anderen
Russen, womit man sie von den richtigen Russen, den Besatzungssoldaten,
unterscheiden wollte. Und Bernhard war eben ein Polacke. In unserer Klasse
nannten wir ihn so, freilich nur dann, wenn er nicht im Raum war, denn keiner von
uns verspürte die geringste Lust, sich mit ihm anzusprechen.36
Auch der Lehrer Voigt bringt ihm bei, dass er nicht aus Breslau, sondern aus Wrocław
stammt. Die Familie Haber ist im neuen Umkreis unerwünscht und hat besonders schwer in
weiterem Leben. In der Nachkriegszeit werden in Guldenberg zwar Handwerker gebraucht,
und Bernhards Vater ist Tischler, aber die Einheimischen bestellen ihre Möbel natürlich nicht
bei dem Fremden. Später wird seine Werkstatt auch in Flammen stehen.
Thomas Nicolas, Sohn des Apothekers war ein Klassenkamerad und Banknachbar von
Bernhard Haber. Nach Jahrzehnten kommt er ins heimische Guldenberg zurück und sieht
36
Hein, Christoph: Landnahme. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 2004, S. 35
24
einen Mann, den er wiedererkennt, wenn dieser dem Prinzenpaar auf dem Marktplatz
während des Karnevals symbolisch den Schlüssel zum Rathaus übergibt. Es ist Bernhard
Haber, der eben jetzt vor dem Rathaus das Sagen hat.
Früher war Bernhard als Sohn eines schlesischen Aussiedlers ein Ausgestoßener in der
kleinen Stadt und hatte nicht leicht in seinem Leben. Nur Thomas Nicolas lernte ihn als
Banknachbar besser kennen und später, als die Scheune von Bernhards Vater angezündet und
sein Hund Tinz vergiftet wurde, schwor Bernhard Rache, fiel in der Schule ab und wurde
nicht mehr versetzt, sodass Thomas ihn aus den Augen verliert. Als „Fremder“ spricht er
Bernhard nun an, aber dieser erkennt ihn nach all der Zeit nicht wieder und so bleibt Thomas
Nicolas allein mit seinen Erinnerungen – eben nur ein Fremder, der seiner Heimatstadt einen
Besuch abstattet.
Die nächste Figur, die über Bernhard Haber zu erzählen beginnt, ist die ehemalige
Mitschülerin Marion Demutz, die in Schulzeiten besonders viel Zeit mit Bernhard verbracht
hat. Ihre Geschichte mit Bernhard Haber und eigentlich alles, was eine wichtigere Rolle in
ihrem Leben spielt, erzählt sie ihrer verstorbenen Schwester Susanne, die sie nicht gekannt
hat. Nachdem Bernhard sitzen geblieben war, kam er in die Klasse von Marion. Beide lernen
aber schlecht und werden zu Banknachbarn und später ein Paar. Marion spricht über Bernhard
aüßerst treffend.
Bernhard war so einer. Mit dem Kopf durch die Wand, das war genau sein Fahrplan
für das Leben, das konnte man schon damals erkennen, als er noch zur Schule ging
oder mit der Lehre begann. Mit Bernhard war nicht zu reden. Wenn er von etwas
überzeugt war, dann konnte ihn der Klügste nicht vom Gegenteil überzeugen, und
auch kein Stärkerer. Er nahm die Bestrafung, ganz egal, ob es eine schlechte Note
war oder eine andere Buße, und man konnte ihm nie ansehen, ob er sich darüber
ärgerte. Man wusste nicht einmal, ob es ihm etwas ausmachte. Umstimmen
jedenfalls ließ er sich von keinem. Die einzige Ausnahme war ich. Ich konnte ihn
manchmal überreden, weil ich wusste, wie man es bei ihm anfangen muss.37
Nach dem Schulabschluss beginnt Marion eine Lehre im Frisiersalon und Bernhard bei einem
Tischler. Es wird auch von einer Heirat gesprochen, aber plötzlich kommt es zum Bruch, weil
Marion erfährt, dass ihr zukünftiger Mann zu der Genossenschaft gehört, zu der Gruppe, die
den Bauern Griesel zu überzeugen versucht, in sie einzutreten. Marion gefällt diese Tatsache
nicht, denn sie weiß, dass Bernhard und seine Eltern nach ihrer Umsiedlung aus Schlesien bei
Griesel untergekommen waren. Deshalb stellt sie Bernhard zur Rede und macht mit ihm
37
Ebd., S. 92-93
25
Schluss. Aber auch die Einheimischen sind empört und der Hass auf die Aussiedler flammt
wieder auf.
Auch Peter Koller erinnert sich an Bernhard Haber, an ihre Schulzeiten, als sie sehr
befreundet waren und viel Zeit miteinander verbrachten und unter anderem einige Werkzeuge
aus der Baustelle gestohlen haben. Aber das Wichtigste, was Koller erwähnt, sind ihre
gemeinsamen, illegalen, aber sehr einträglichen Geschäfte, wenn beide zahlende Fahrgäste
nach Westberlin bringen. Eines Tages wird aber Peter Koller erwischt und muss für fünf Jahre
ins Gefängnis, während sich Haber mit dem Geld in seiner Wahlheimat Guldenberg
niederlässt, heiratet, eine große Tischlerei eröffnet und schließlich zu einem angesehenen und
respektierten Bürger wird. Bernhard überwindet damit das Pech seiner Familie, denn man
kann sagen, dass auf Bernhard Lebensweg immer öfter etliche glückliche Fügungen
erscheinen.
Auch Katharina Hollenbach denkt an Bernhard Haber. Sie ist eine lebenslustige junge Frau,
die sich selbstständig machen will und auch von ihren Eltern befreien will. Sie kann in Spora
nicht mehr aushalten. Sie strebt nach etwas Neues zu erleben. Aus der Erinnerung erzählt sie
von sich, von Bernhard, der in Spora eine Lehre macht, und natürlich von ihrer Schwester
Rieke, die später Bernhards Frau wird.
Wie Mutter wurde sie nie laut und verlangte nichts für sich, und wenn sie mal etwas
außer Reihe bekam, dann hatte ich ihr dabei geholfen. Reike war eben ein Seelchen,
was ja vielen Männern gefällt und besonders denjenigen, die im Leben nichts zu
sagen haben und eine Frau brauchen, um ein ganzes Kerl zu sein.38
Als Katharina erfährt, dass ihre Schwester mit einem Jungen aus Guldernberg befreundet ist,
einem Tischlerlehrling namens Bernhard Haber, sieht sie ihre Chance, von Spora und den
Eltern loszugehen.
Als ich mitbekam, dass Rieke einen Freund hatte, und ich sie ausquetschte und
erfuhr, dass er aus Guldernberg stammt, aus der Stadt, wohin ich gehen wollte,
redete ich so lange auf sie ein, bis ich sie so weit hatte, mit mir nach Gulderberg zu
gehen. Es war nicht schwer, sie zu überreden, denn sie liebte ihren Bernhard
abgöttisch und wäre vor ihm sprach und die Augen verdrehte, hätte man meinen
können, er habe einen vergoldeten.39
38
39
Ebd., S.257
Ebd., S.257
26
Beide Schwestern Hollenbach finden in Guldenberg Unterkunft. Eigentlich läuft alles gut,
aber die lebenslustige Katharina mischt sich in das Leben von Rieke und Bernhard. Sie
verführt sogar ihn und später nimmt sich auch noch Katharinas beste Freundin Babsy
Bernhard zum Geliebten.
Ich weiß nicht, wie es Babsy gelang, Bernhard für sich zu gewinnen, andererseits
hatte sie die ganze Stadt bezirzt, und da war Bernhard für sie das Sahnehäubchen
auf dem Kuchen. Verwundert war keiner, dass sie mit einem Jungen aus unserer
Stadt etwas anfing, überrascht war man nur, dass er Bernhard war.40
Rieke trennt sich von Bernhard, weil sie das nicht mehr aushalten kann. Erst dann, wenn er
sich entschuldigt und ihr ewige Treue schwört, sind sie wieder zusammen. Babsy
verschwindet aus Guldenberg und auch Katharina, die alles erzählt, lebt ihr Leben in einer
anderen Stadt.
Die nächste Figur, die von Bernhard Haber erzählt, der mittlerweile die größte Tischlerei in
Guldenberg hat, ist Sigurd Kitzerow, Inhaber des einziges Sägewerks in Umgebung. Er ist
auch Bernhard Habers Nachbar und sein guter Freund. Er kennt natürlich die Geschichte
Bernhards und weiß, wie sie als Aussiedler und Fremde verhasst waren und angefeindet
wurden.
[...] von den anderen Familien hörte ich schlimme Geschichten über die
Flüchtlinge. Sie würden Strom klauen und Lebensmittel aus dem Eisschrank und
dem Keller und wären nicht besser als die Zigeuner. Und auch, wer nicht solche
unangenehmen Erlebnisse hatte, wusste nicht viel Gutes von ihnen zu erzählen.41
Sigurd weiß auch, dass Bernhards Vater eines Tages erhängt in seiner Werkstatt gefunden
wurde, erhängt mit einer Drahtschlinge wie sein Hund Tinz, der getötet wurde, als sie alle
noch Kinder waren. Bernhard ist das ganze Leben überzeugt, dass es Mord war, obwohl die
Untersuchungen der Polizei über den Tod des alten Habers im Sand verlaufen.
Kitzerow führt dann auch Bernhard ins Leben eines honorigen Kegelklubs ein, wo nicht nur
die Lokalpolitik, sondern auch alle städtischen Geschäfte verhandelt werden. Aber nicht alle
Mitglieder sind damit einverstanden, besonders Bernhards Konkurrent Beuchler, deren
Tischlerei später auch brennt.
40
41
Ebd., S.281
Ebd., S. 35
27
Eine solche Beobachtung von fünf Stimmen ermöglicht verschiedene Seiten der Hauptfigur
zu zeigen und ein Bild Habers subjektiv zu beleuchten, denn jede Person erzählt alles, was sie
mit Bernhard Haber erlebt hat.
3.1.2 Motivierung
Bei der Auseinandersetzung mit den literarischen Texten sollte auch Motivierung von
Ereignissen berücksichtigt werden. Unter Motivierung versteht man den Inbegriff der
Beweggründe für das in einem erzählenden oder dramatischen Text dargestellte Geschehen.
Nach der Position von Matias Martinez und Michael Scheffel lassen sich drei Arten der
Motivierung heraussondern:
1. „Naturalistisch – kausale“ – bezieht sich auf die Ursache – Wirkung, Ursache – Folge –
Relation. Dazu gehören noch Figurenhandlungen, Geschehnisse (nichtintendierte
Zustandsveränderungen),
Gemengelagen
sich
überkreuzender
Handlungen,
nicht
intentionales Geschehen und auch Zufälle.42
2. „Final – numinose“ – ist dann, wenn der Handlungsverlauf von Beginn an festgelegt ist
und von einer numinosen Instanz beherrscht wird.43
3. „Kompositorisch – ästhetische“ – betrifft ganz andere Dimension narrativer Texte, indem
sie nicht empirischen, sondern künstlerischen Kriterien folgt. Boris Tomaševskij betont
hier, dass Ereignisse und Details im Rahmen der Gesamtkomposition eine Funktion
umfassen.44
„Ihr Prinzip ist die Ökonomie und Zweckmäßigkeit der Motive. (...) Nicht ein
Requisit darf in der Fabel ungenutzt, nicht eine Episode ohne Einfluß auf die
Situation der Fabel bleiben“. (...)45
Kompositorische Motivierung erfüllt eine künstlerische Funktion und ist für die
Gesamtheit des Textes von Bedeutung. Es werden sowohl verknüpfte als auch freie
Motive
motiviert.
Verknüpfte
Motive
sind
Ereignisse,
die
unmittelbar
handlungsfunktional sind, d.h sie tragen zum Fortgang der Handlung bei. Bei den freien
42
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S.111
Ebd., S. 111
44
Ebd., S. 114
45
Ebd., S. 114
43
28
Motiven besteht eine semantische Relation zwischen dem einzelnen Motiv und der
Gesamtheit der Handlung.46
Solche Differenzierung von Arten der Motivation ist eine wichtige Voraussetzung, denn sie
integriert die Ereignisse in einen Erklärungszusammenhang. Motivierung stellt also eine
Kohärenz von Erzählungen her und ist ein allgemeines Merkmal narrativer Texte.
Im Roman Landnahme von Christoph Hein dominiert die erste Art von Motivierung, diese
naturalistiche – kausale Motivierung. Die Hauptfigur Bernhard Haber erlebt in seinem Leben
schon als Kind sehr viele unangenehme und schwierige Ereignisse, die einen großen Einfluss
auf sein weiteres Verhalten, auf sein weiteres Leben haben. Das alles reicht, um seinen Willen
auf ein einziges Ziel zu richten - es Guldenberg zu beweisen. Und das gelingt ihm auch. Am
Ende steht Bernhard Haber auf der Rathaustreppe und hat das Sagen. Er ist eine wichtige
Person in seiner Stadt, ein Villenbesitzer, Unternehmer mit überfliegendem Geschäftserfolg.
Die Wende hat ihn reich gemacht, seinen Platz im Mittelstand in Guldenberg, das es
offensichtlich auch in der DDR gab, befestigt.
Im Gespräch mit Peter Koller erzählt Bernhard davon, wie er und seine Familie behandelt
wurden, als sie in Guldenberg angekommen sind.
Ich habe es ihnen nicht vergessen. Ich weiß noch heute, wie wir hier ankamen. Wie
sie uns schon ansahen. Wenn ich in einen Laden ging, schauten sie auf jede meiner
Bewegungen, alle, nicht nur die Ladenbesitzerin. Und wenn ich bezahlte, sah ich
ihnen an, dass sie hinter meinem Rücken reden werden. Woher hat der Junge Geld,
sicher gestohlen. Weißt du Koller, ich hatte mir geschworen, mich zu rächen. Für
die waren wir die ganzen Jahre die Hungerleider, und so haben sie uns behandelt.
Und plötzlich waren sie es. Die sollten es mal erleben, alles zu verlieren. Da
brauchte man mich nicht lange bitten, ich war sofort dabei. Wie Dreck hatten sie
uns behandelt.47
Wie in diesem Zitat steht, spricht Bernhard über Rache. Und diese Rache resultiert daraus,
dass Bernhard schwer im Leben hatte und alle auf ihn mit Fingern gezeigt haben. Das ist für
diesen jungen Menschen eine große psychische Belastung, die dazu führt, dass Bernhard
schwört, sich zu rächen und anderen zu zeigen, was er kann. Und das erreicht er nach einigen
Jahren und gewinnt viel Respekt in Guldenberg.
Die Motivation ist im Bernhards Leben ein wichtiger Faktor, denn ihm die ganze Jugendzeit
das Unglück begleitet. Er wird ständig von anderen erniedrigt und schließlich kann er das
46
47
Ebd., S. 114
Ebd., S.239
29
nicht mehr aushalten, was dazu beiträgt, das er mit dem Kopf durch die Wand will. Er will
also besonders viel in seinem Leben tun und er macht das. Er zeigt anderen Menschen, dass
Vertriebene auch etwas erreichen können.
3.2 Erzählinstanz
Im Vergleich zu Alltagserzählungen sind literarische Erzählungen durch ein vielfältiges
Zusammenspiel unterschiedlicher Erzählstrukturen gekennzeichnet. Nach der Position von
Stanzel unterscheidet man drei typischen Erzählsituationen: die ich-bezogene, auktoriale und
personale. Wenn man sich dem Stanzels Modell48 genauer anschaut, stellt man fest, dass er
sich auf zwei Dimensionen reduzieren lässt. Gefragt werden kann:
1.
Aus
welcher
Position
wird
die
Geschichte
erzählt?
Aus
der
Sicht
eines
Handlungsbeteiligten oder aus einer mehr oder weniger großen Distanz, wie sie dem
implizit bleibenden Er-Erzähler zugeschreiben werden kann?
2.
In welchem Erfahrungsmodus werden das dargestellte Geschehen vom Erzähler
verarbeitet und die Geschichte konstruiert? Wird die Geschichte vom Erzähler reflektiert
wahrgenommen und begrifflich und logisch kohärent erzählt? Oder wird sie aus der Sicht
einer Person wiedergegeben, welche ihre Wahrnehmungen und Erlebnisse nicht
reflektiert bzw. nicht bewußt wahrnimmt?49
Im Roman Landnahme erzählt Christoph Hein die Lebensgeschichte Bernhard Habers über
fast fünfzig Jahre aus der Sicht und mit den Stimmen von fünf Wegbegleitern.
Sein Leben wird von denen erzählt, die Bernhard persönlich gekannt haben und hier ähnlich
wie Zeugen beim Gericht Auskunft geben: sein Banknachbar Thomas Nicolas, seine erste
Freundin Marion Demutz, sein Fluchthelfer Peter Koller, seine Schwägerin Katharina
Hollenbach und sein Nachbar und guter Freund. So entsteht ein Geflecht von Lebensberichten
und -beichten, ein Sittenbild der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft mit allen erdenklichen
erotischen, ökonomischen und kriminellen Verwicklungen.
Die Geschichte Bernhard Habers wird aus der Sicht eines Handlungsbeteiligten erzählt, denn
jede erzählende Person in diesem Roman stellt die Ereignisse dar, die sie selbst mit Haber
48
Schülein, Frieder/ Stückrath, Jörn: Erzählen. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein
Grundkurs. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996, S.66
49
Ebd., S.66
30
erlebt hat, in die handelnd verstrickt war. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass Bernahard
selbst in seiner eigenen Geschichte nicht zu Wort kommt.
Wenn man sich dem Erfahrungsmodus näher anschaut, dann stellt man fest, dass die
Geschichte vom Erzähler reflektiert wahrgenommen und begrifflich und logisch kohärent
erzählt wird.
3.3 Raumentwurf
Bei der Beschäftigung mit der Erzählung muss man auch auf den Raumentwurf
Aufmerksamkeit lenken. Nach der Position von dem estnischen Literatur- und
Kulturwissenschaftler Jurij M. Lotman spielt der Begriff „Raumsemantik“ eine besonders
wichtige Rolle bei der Analyse von Texten. Seiner Meinung nach ist die räumliche Ordnung
zentral für die Bedeutungskonstituierung narrativer Texte, weil jede kulturelle Ordnung der
Welt, jede menschliche Welt topologisch strukturiert ist:
Die allgemeinsten sozialen, religiösen politischen und moralischen Modelle der
Welt, mit Hilfe derer der Mensch in den verschiedenen Etappen seiner
Geistesgeschichte das ihn umgebende Leben begreift, sind stets mit räumlichen
Charakteristika versehen.50
3.3.1 Semantisierung von Räumen in narratologischer Sicht
In Bezug auf Semantisierung von Räumen unterscheidet man drei grundlegende Merkmale
von narrativen (sujethaften) Texten, die nach Lotman erfüllt werden müssen:
-
die erzählte Welt muss zwei komplementäre Teilräume beinhalten, die ein sogenanntes
binäres Oppositionsprinzip bilden z.B. Himmel und Hölle;
-
zwischen diesen Teilräumen muss es eine fest markierte, klassifikatiorische Grenze geben,
die unter normalen Umständen impermeabel ist (d.h. es gibt keinen Übergang), aber sich
dann im Laufe der Handlung für den Helden als durchlässig erweist;
-
Es muss auch einen Helden geben, der die Handlung trägt und auch die
Grenzüberschreitung vollzieht.
50
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S.140-144.
31
Indem man über diese Grenze spricht, muss man auch erwähnen, dass Lotman sujethafte
Texte in restitutive und revolutionäre einteilt. Revolutionäre Texte sind solche, in denen die
Grenzüberschreitung vollzogen wird. Restitutive hingegen werden in zwei Unterklassen
geteilt: solche, in denen man versucht, Grenze zu überschreiten, aber dieser Versuch scheitert
und solche, wo die Grenzüberschreitung vollzogen, aber dann wieder rückgängig gemacht
wird.51
Die Raumstruktur verbindet sich mit Eigenschaften, die den Teilräumen zugeschrieben
werden. Sie wird eng mit der Platzierung von Räumen zusammengefügt. Man unterscheidet
drei Ebenen, auf denen sich der komplämentere Gegensatz der Teilräume entfaltet:
-
topologisch ist der Raum der erzählten Welt durch Oppositionen wie hoch vs. tief, innen
vs. außen, links vs. rechts differenziert;
-
semantisch verbindet er sich mit den Wertungen und Hierarchien wie z.B. gut und böse,
vertraut vs. fremd, natürlich vs. künstlich
-
topographisch kann der Raum konkretisiert werden, z.B. Berg vs. Tal, Stadt vs. Wald oder
Himmel vs. Hölle.52
Wenn man sich diesen drei Ebenen anschaut, stellt man fest, dass sie nach diesem binären
Oppositionsprinzip dargestellt werden. Die Präsentation des Raumes kann konkret (mit
genauen Angaben) oder abstrakt (mit allgemeinen Kategorien) erfasst werden. Räume können
dabei funktionalisiert werden, d.h ein Raum kann als gestimmter Raum auftauchen und sich
demnach mit Stimmungen, Emotionen und Einstellungen verbinden. Die Orte und
Gegenstände, die in einem Text dargestellt werden, gelten als atmosphärische und
symbolische Ausdrucksträger.
Zum Schluss kann der Raum auch als Aktionsraum betrachtet werden, d.h. als Schauplatz der
Handlung, der den Bedingungsrahmen für die Handlungen von Figuren setzt.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass es sich lohnt, in narrativen Texten die
Raumgestaltung zu analysieren, weil nach Lotman jede menschliche Welt topologisch
strukturiert ist, also das sogennante binäre Ordnungsprinzip ist immer vorhanden.
51
52
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S.142
Ebd., S. 140-141
32
3.3.2 Raumsemantik im Roman Landnahme von Christoph Hein
Bei der Analyse des Raumes, der räumlichen Kulisse eines literarischen Textes ist es
notwendig zu zeigen, wie bestimmte Schauplätze, Landschaften, Naturerscheinungen,
Gegenstände und Situationen gestaltet werden. Der Schauplatz im Roman Landnahme ist eine
Kleinstadt Guldenberg, wobei muss betont werden, dass er sich sehr selten ändert. Er bleibt
eher die ganze Zeit konstant.
Als Beispiel kann fast das ganze Leben des jungen Habers in Guldenberg angegeben werden,
wo er und seine Eltern nach ihrer Umsiedlung wohnen. Bernhard beginnt hier die
Grundschule zu besuchen und muss sich schon ganz am Anfang mit verschiedenen Problemen
rechnen, wie z.B seine hänselnden Klassenkameraden vom Hals zu halten. Auch die erste
Liebe fängt in Guldenberg an, wo Bernhard und Marion Demutz viel Zeit miteinander
verbringen und für ein Paar angesehen werden. Der Schauplatz ändert sich zum ersten Mal,
wenn sie beide zusammen mit Sylvie und ihrem Norbert an dem Süßen See zelten und auch
dann, wenn Bernhard als Tischler bei seinem Lehrmeister in Spora lernt. Die Freundschaft
Habers mit Peter Koller, mit Katharina Hollenbach und Sigurd Kitzerow ist auch auf
Guldenberg zurückzuführen. Dank Kitzerow wird Bernhard zum einem angesehenen und
respektierten Bürger in Guldenberg.
Aufgrund dieser Beispiele stellt sich heraus, dass der Schauplatz eigentlich unverändert
bleibt. Zur Änderung kommt aber vor allem erst dann, wenn ein Wegbegleiter, eine Figur
nicht von Bernhard erzählt, sondern über sein Leben und seine Erfahrungen, wie z.B. Peter
Koller. Er wohnt auch in Guldenberg, aber sein mißlungenes Leben mit Gitti zwingt ihn,
diese Stadt zu verlassen. Er fährt deshalb nach Berlin in der Hoffnung, alles von Anfang an zu
beginnen.
Im Roman Landnahme von Christoph Hein werden auch die Lebensbedingungen und die
allgemeine Situation in Guldenberg, aber auch in Deutschland nach dem II. Weltkrieg
dargestellt.
Wenn man die erzählte Welt im Roman Landnahme betrachtet, stellt man fest, dass es zwei
komplementäre Teilräume gibt, die Gegensatz bilden. Der erste ist deutsche Kleinstadt
Guldenberg, wo Familie Haber nach 1950 wohnt und der zweite ist die Stadt Breslau, von der
sie vertrieben wurde.
Die topologische Ebene wird hier vom Gegensatzpaar Westen vs. Osten bezeichnet, die
topographische Inland vs. Ausland, Heimat vs. Fremdes. Die semantische Ebene wird aus der
Sicht und mit den Stimmen von fünf Wegbegleitern bestimmt. Guldenberg ist für Bernhard
33
Haber kein Ort der Freundschaft, der menschlichen Nähe, sondern eine ungemütliche Stadt.
Er fühlt sich hier nicht wohl und total fremd. Davon zeugt sein Gespräch mit Marion Demutz,
die nach seinem Vater fragt, der in Vergangenheit seinen Arm verloren hat:
Du musst ihm viel helfen? Bernhard nickte. Es ist blöd mit einem Arm, besonders
wenn man Tischler ist und zwei Hände braucht, sagte ich, als wir über den Anger
liefen. In Guldenberg ist es auch blöd, wenn man zwei Arme hat, sagte Bernhard
finster.53
Eine solche Einstellung von Bernhard kann man noch besser verstehen, wenn die Werkstatt
seines Vaters verbrannt wird und man spricht von einer Brandstiftung. Auch wenn sein Hund
Tinz während der Sommerferien mit einer Drahtschlinge getötet wird. Diese Ereignisse
reichen, um ein Kind, einen Jugendlichen so misstrauisch, verstockt, zäh und aggressiv zu
machen, wie Bernhard es ist. Am ersten Schultag, nach zwei Monaten spricht er mit Thomas
Nicolas über den Tod von Tinz und reagiert folgendes:
Dann schwieg er und fixierte mich böse. Ich bemühe mich, seinem Blick
standzuhalten und sagte möglichst gelassen: Warum flüsterst du? Wenn du es allen
sagen willst, musst du schon lauter sprechen. Er atmete tief durch und sagte dann
genauso leise: Hör zu. Denjenigen, der Tinz umgebracht hat, den bringe ich um.
Sag das den anderen.54
Bernhard sagt es so leise und kalt, dass man überzeugen sein könnte, er würde seine
Ankündigung machen. Diese Tatsachen verursachen, dass der junge Haber die Stadt
Guldenberg und die Menschen, die hier leben, hasst. Wenn er die Grundschule beginnt, hat er
lange Zeit keinen Freund außer seinen einzigen Tinz. Er spricht mit seinen Klassenkamerden
nur lakonisch. Erst nach Jahren, wenn er erwachsen ist, ändert sich sein Leben und er gewinnt
einige wahre Freunde und schließlich wird zu einer der wichtigsten Person in Guldenberg.
Wie sich Bernhard in seiner Heimat in Breslau fühlte, ist es schwer festzustellen, weil er
darüber gar nicht erzählt. Vielleicht ist das damit verbunden, dass Hein das Schweigen über
diese Seite der Vertriebenen-Problematik, über die Bernhards Heimat eine "Tabuisierung als
Selbstschutz"55 nennt. Auch in der Stadt Guldenberg will man die Geschichten von
Vertriebenen und Umsiedler nicht hören und das trägt wahrscheinlich zum Schweigen über
früheres Leben und Heimat von Familie Haber, von Bernhard Haber bei.
53
Ebd., S.81
Ebd., S.57
55
Hein, Christoph: Landnahme, unter: www.mdr.de/kultur/literatur/1179265.html
54
34
Fortwährend sprachen sie darüber, was sie alles verloren hatten, und davon wollte
keiner in der Stadt etwas hören, denn gut ging es in den Jahren nach dem Krieg
auch denen nicht, die man nicht vertrieben hatte. Selbst jene, die keinen
Bombenschaden oder andere Verluste durch den Krieg zu beklagen hatten, mussten
sehen wie sie zurechtkamen.56
Man kann nur glauben, dass das Leben von Familie Haber in Polen, in Schlesien viel besser
und glücklicher als in Guldenberg war.
Der semantische Gegensatz der Teilräume bildet also keinen Kontrast. Es wird eigentlich nur
eine Seite, diese schlechte gezeigt. Die zweite funktioniert überhaupt nicht.
Dank diesen Beispielen stellt sich heraus, dass die Räumlichkeit eine besonders wichtige
Rolle spielt und ein Kriterium ist, das man immer berücksichtigen muss, um einen besseren
Blick auf den Text zu bekommen.
3.4 Zeitlicher Situations- und Ereignisrahmen
Die narrativen Texte sollte man auch unter dem Aspekt der Zeitgestaltung analysieren und
auch feststellen, ob die Zeitsprüngen erscheinen, denn es gibt in jeder Handlung den
zeitlichen Situations- und Ereignisrahmen.
3.4.1 Grundtypen narrativer Anachronien
Im Vergleich zum alltäglichen Erzählen, wo die Geschichte mehr oder weniger der
chronologischen Reihenfolge der Ereignisse folgt, „verfügt der literarische Erzähler ungleich
freier und artistischer über die Zeitachse“57.
Die Zeitsprungen, die in narrativen Texten Anachronien genannt werden, können in Form von
Analepsen und Prolepsen erscheinen:
-
Analepse wird als „nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der
Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat, als dem, den die Erzählung
bereits erreicht hat“ definiert.58 Sie stellt einen Zeitsprung, eine Rückwendung in die
56
Ebd., S.34
Schülein, Frieder/ Stückrath, Jörn: Erzählen. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein
Grundkurs. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996, S.65.
58
Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe,
a.a.O., S.15.
57
35
Vergangenheit dar. Ein gutes Beispiel für diese Erzähltechnik ist der Kriminalroman, bei
dem oft der eigentliche Anfang, nämlich das Verbrechen, am Schluss erzählt wird.
-
Eine Prolepse kommt dann vor, wenn der Leser kurze Sprünge in die Zukunft erlebt, also
späteres
wird
früher
erzählt.
Von
Bedeuting
ist
also
eine
Vorausdeutung,
zukunftsorientierte Projektion, ein Zeitsprung in die Zukunft.59
Als ein gutes Beispiel für ein Prolepse gelten schon die ersten sieben Seiten Christoph Heins
Landnahme, wo zu einem Zeitsprung in die Zukunft kommt, weil Bernhard Haber schon ein
angesehener und respektierter Bürger ist, der ber der Vorbereitung des Karnevals hilft und vor
dem Rathaus als eine der wichtigsten Personen in Guldenberg das Sagen hat. Erst dann
kommt zur Unterbrechung der Erzählung über das Karneval und es folgt weiter die ganze
Lebensgeschichte Bernhard Habers über fast fünfzig Jahre, die aus der Sicht und mit den
Stimmen von fünf Wegbegleitern erzählt wird. Die zwei letzten Seiten dieses Romans sind
eine kurze Fortsetzung zu dem, was am Anfang erzählt wurde. Sie führt nämlich wieder auf
das Karneval zurück. Dieses Ereignis wird also nicht in der chronologischer Reihenfolge
dargestellt.
Auch Analepsen lassen sich heraussondern. Ein Beispiel dafür ist das Treffen Thomas
Nicolas mit Bernhard Haber während des Karnevals, wenn Bernhard Thomas nach vielen
Jahren nicht erkennt und Nicolas versucht ihm an gemeinsame Schulzeiten zu erinnern: „Der
Pillendreher. Das war meine Spitzname. Thmoas Nicolas heiße ich. Wir waren
Banknachbarn“.60 Dieser Zeitsprung in die Vergangenheit ist in diesem Fall sehr deutlich.
Nach diesen Worten geht die Handlung weiter und die beiden führen das Gespräch über die
Stadt Guldenberg.
3.5 Das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten – Fazit
Bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten ist es besonders wichtig, zwischen der
Art und Weise der Vermittlung und dem vermittelten Inhalt zu unterscheiden, denn man
meint von dem vermittelten Inhalt die Realität der erzählten Welt - unabhängig von der Frage,
ob der Leser glaubt, dass diesem Inhalt Tatsachen in der Wirklichkeit entsprechen. Die
Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe,
a.a.O., S. 552
60
Ebd., S.12
59
36
Unterscheidung zwischen der Ebene des „Was“ (dem Erzählten) und der Ebene des „Wie“
(dem Erzählen) ermöglicht und zeigt die Analyse der dargestellten Handlung und der Welt, in
der sie stattfindet, als „eigenständiger Bedeutungsschicht von Erzähltexten mit spezifischen
Elementen und Strukturen“61.
Es
lohnt
sich
auch
narrative
Texte
unter
dem
Aspekt
der
Erzählinstanz,
Figurenkonstellationen, aber auch des Raumentwurfes oder des zeitlichen Situations – und
Ereignisrahmens zu analysieren, weil man nur durch eine solche genaue Analyse der
bestimmten Kriterien imstande ist, einen besseren und ganz anderen Blick auf den Text zu
bekommen und das Verhalten von Figuren zu verstehen.
4. Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien zum Begriff
Gedächtnis und Erinnerung. Das Prinzip „Erinnerung” ist in der deutschsprachigen Literatur
nach 1989 ein immer aktuelles Thema, denn es stellt eine Verbindung zwischen den
verschiedenen Gattungen und Generationen her. Da die Zeitzeugengeneration des
Nationalsozialismus verschwindet, gewinnen heute fiktionale Formen der Erinnerung an
großer Bedeutung. In dieser Arbeit wird deshalb berücksichtigt, was der Begriff Gädachtnis,
Heimat und Erinnerung beinhaltet und inwieweit er sich in der Erzählung entwickelt.
Das zweite Kapitel enthält verschiedene Theorien, die sich auf das kollektive Gedächtnis,
aber auch auf andere Arten vom Gedächtnis, wie z.B. kommunikatives und kulturelles
Gedächtnis, Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis beziehen. Es wird hier noch das
Konzept von Erinnerungskulturen angedeutet. Als nächster Aspekt gilt der Topos der
verlorenen Heimat und die narratologische Perspektive der Literatur.
Im dritten Kapitel wird der Roman Landnahme von Christoph Hein analysiert. Beschrieben
werden die Figurenkonstellationen, Erzählinstanz, Semantisierung von Räumen und der
Zeitliche Situations – und Ereignisrahmen. Die größte Aufmerksamkeit wird aber auf die
Hauptfigur Bernhard Haber gelenkt. Es wird seine Lebensgeschichte über fast fünfzig Jahre in
der Kleinstadt Guldenberg in der Nachkriegszeit erzählt.
61
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S.22
37
Im fünften Kapitel werden Didaktisierungsvorschläge für den DAF-Unterricht dargestellt. Die
Stundenentwürfe zeigen, wie man mit dem Topos der verlorenen Heimat und mit dem Begriff
Gedächtnis im Unterricht arbeiten kann und auch wie man diese Begriffe in einen Unterricht
einbeziehen kann.
5. Praktischer Teil – und Didaktisierungsvorschläge
5.1 Didaktisierungsvorschlag 1
Gruppe: I Jahr
Schule: Fremdsprachenlehrerkolleg
Thema: Meine Heimat
Zeit: 90 Minuten
Ziele:
a) pragmatische:
-
Üben der Sprechfertigkeit
-
Üben der Schreibfertigkeit
-
Teilnahme an der Diskussion
b) kognitive:
-
eine Wahl treffen können
-
Erlernung des neuen Wortschatzes
-
eine Stellung nehmen
-
Kenntnis der Probleme der verlorenen Heimat
c) sozial-affektive:
-
Lösung der Probleme, die mit der Heimat in Verbindung stehen
38
Aufmunterung:
Der Lehrer schreibt an die Tafel den Begriff „Heimat“ und fragt die Studenten, was sie mit
diesem Wort assoziieren. Er schreibt die Vorschläge an die Tafel.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich soll mich auflockern und auf deutsche Sprache konzentrieren
Zeit: 4 Minuten
Thema und Zielangabe:
Der Lehrer schreibt das Thema an die Tafel und fragt die Studenten nach dem Ziel.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich weiß, womit ich mich während dieser Stunde beschäftigen werde
Zeit: 1 Minute
Einführungsphase:
Der Lehrer verteilt den Studenten ein Blatt mit dem Text über Heimat. Sie lesen diesen Text
leise und im zweiten Schritt erklärt der Lehrer gemeinsam mit den Studenten den neuen
unbekannten Wortschatz.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich verstehe den Text
Zeit: 25 Minuten
Übungsphase:
Der Lehrer stellt den Studenten einige Fragen zum Text, wie z.B. Wie wird der Begriff
„Heimat“ von den Jugendlichen verstanden und auch bezeichnet? Was ist eigentlich Heimat
ihrer Meinung nach? Warum ist so schwer, den Begriff Heimat zu definieren? Inwieweit
unterscheidet sich das Wort „Heimat“ von dem Wort „Vaterland“? Und wie geht unsere
Generation mit Heimat um?
Im nächsten Schritt verteilt er den Studenten ein Blatt mit vielen Zitaten verschiedener
Autoren, die sich auf mit dem Begriff „Heimat“ auseinandersetzt haben. Jeder Student wählt
zwei Zitate und begründet schriftlich, warum er es gewählt hat.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich kenne das Problem der Heimat aus der Perspektive von anderen.
Zeit: 30 Minuten
39
Anwendungsphase:
Die Studenten begründen schriftlich aufgrund der schon bekannten Informationen und
Schlussfolgerungen, was für sie der Begriff „Heimat“ bedeutet. Sie können sich auch auf die
kennengelernte Zitate stützen.
Sozialform: Einzelarbeit
Feinziel: Ich kann begründen, was der Begriff „Heimat“ für mich bedeutet
Zeit: 15 Minuten
Testphase:
Die Studenten präsentieren ihre Ergebnisse vor der Klasse.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich kann mich zum Thema „meine Heimat“ äußern
Zeit: 15 Minuten
Anlage 1
Heimat
Da, wo ich mich wohl fühle
Wie geht unsere Generation mit Heimat um? Wir haben 170 Jugendliche zwischen 18
und 24 befragt.
„Da, wo ich mich wohl fühle, geborgen und verstanden, da, wo ich aufgewachsen bin“. So
allgemein umschreiben es die meisten Jugendlichen. „Heimat ist kein Territorium, eher ein
Gefühl“, sagen vage die einen; unsicher: „Vielleicht das Haus oder die Stadt, in der ich lebe,
weil hier meine Freunde sind“, die anderen. Kaum einer, der „Deutschland“ nennt. Was macht
es uns so schwer, Heimat so zu bestimmen, wie es unsere Eltern und Großeltern noch
konnten? Warum fällt uns bei Heimat weder der Michel ein noch die Zugspitze, weder das
Brandenburger Tor noch der Rhein?
Wir sind in Neubauvierteln großgeworden, mit Cola und Cornflakes, mit Michael Jackson
und „Sesamstraße“. Wir wollten nicht mehr Polizist werden oder Prinzessin, sondern Filmstar
oder Ölmilliardär. Wir sind mit sieben schon auf Mallorca gewesen und haben die Familie im
Stockwerk über uns nicht gekannt. Wir konnten mit zwölf schon Englisch und verstanden
Omas Dialekt nicht mehr. Wir haben lieber Gameboy gespielt als Räuber und Gendarm. Wir
lernten von vielen Kulturen und kennen die eigene am wenigsten. Wir arbeiten mehr mit
Computern und Maschinen als mit Menschen.
Heimat hat viel zu tun mit Geborgenheit, mit dem Gefühl, zusammenzugehören. Das finden
nahezu alle Jugendlichen, mit denen wir gesprochen haben.
Aber: Die Anonymität der Städte, die Hektik, der wachsende Egoismus lassen für
Gemeinschaft nicht viel Platz. Die Kirchen sind nur Heiligabend voll, Stadtteilvereine und
Straßenfeste können die dörfliche Wärme kaum ersetzen. Ohne die Verbundenheit mit Ort
und Menschen kann aber auch kein Heimatgefühl entstehen.
Deshalb greifen wir auf den begrenzten Raum der Wohnung, des Zimmers zurück, auf den
engsten Kreis von Freunden und Verwandten. Was für unsere Eltern noch unvorstellbar war,
40
ist für uns Realität: Heimat ist verschiebbar. Weil wir Kindheitserlebnisse nicht mehr an Orte,
sondern vielmehr an Menschen knüpfen, können wir Heimat quasi in den Umzugskarton
packen und am neuen Wohnort herausholen, sie es nun Kiel oder Tokio.
Selbst Sprache ist, seitdem Dialekte nur noch selten zu hören sind und Englisch
allgegenwärtig ist, als Bindeglied zur Nebensache geworden. Ist das aber noch Heimat? So
unsicher, wie Deutschlands Jugend bestimmt, was Heimat ist, so sicher kann sie sagen, was
nicht: das Vaterland nämlich. Vaterland (oder Geburtsland, was für uns besser klingt, weil
„Vaterland“ den faschistischen Beigeschmack noch lange nicht verloren hat), das ist
Deutschland. Nur, weil man hier geborgen ist. „Heimat muss nicht unbedingt im Geburtsland
liegen“. – „Vaterland ist ein konkreter Ort, Heimat eher ein Gefühl“.
Sicherlich, uns geht es viel besser als den Generationen vor uns. Wir können reisen, wohin
wir wollen, wohnen, wo es uns passt (gesetzt den Fall, dass es noch Wohnungen gibt). Wir
brauchen nur auf einen Knopf zu drücken, schon können wir wählen zwischen Spielfilm,
Talk-Show, Quiz und Nachrichten – uns die Welt ins Wohnzimmer holen. Wir können
aussehen, wie wir möchten, tragen, was uns gefällt. Wir leben leicher, bequemer und länger
als unsere Großeltern. Wir können vieles haben, was man kaufen kann. Nur Heimat nicht.
Anlage 2
... Die Heimat
Ist also wohl das Teuerste, was Menschen
Besitzen. ...
Im schönsten Wiesengrunde
Ist meiner Heimat Haus.
Volkslied von W. Ganzhorn
Schiller, Jokasta und Polynice
Denn nichts ist doch süßer als unsre Heimat und Eltern,
Wenn man auch in der Fern` ein Haus voll köstlicher Güter,
Unter fremden Leuten, getrennt von den Seinen, bewohnet.
Homer, Odyssee
Der ist in tiefster Seele treu,
Wer die Heimat liebt wie du.
Theodor Fontane, Archibald Douglas
In der Fremde erfährt man, was die Heimat wert ist,
Und liebt sie dann um so mehr.
Wichert, Heinrich von Plauen
Nirgends ist der Himmel so hoch und die Erde so groß,
Nirgends sind die Wälder so ohne Ende ...
Siegfried von Vegesack. Nordische Heimat
Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache.
Wilhelm von Humboldt
41
In die Heimat möcht` ich ziehen,
In das Land voll Sonnenschein
E. Geibel. Der Zigeunerbub im Norden
Hier ist keine Heimat – jeder treibt
Sich an dem andern rasch und fremd vorüber
Und fraget nicht nach seinem Schmerz.
Schiller, Wilhelm Tell
5.2 Didaktisierungsvorschlag 2
Gruppe: II Jahr
Schule: Fremdsprachenlehrerkolleg
Thema: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsorte – Formen der Vergangenheitsbildung
Zeit: 90 Minuten
Ziele:
d) pragmatische:
-
Üben der Sprechfertigkeit
-
Üben der Lesefertigkeit
-
Teilnahme an der Diskussion
e) kognitive:
-
eine Wahl treffen können
-
Erlernung des neuen Wortschatzes
-
eine Stellung nehmen
f) sozial-affektive:
-
Lösung der Probleme, die mit kollektivem Gedächtnis und Erinnerungsorten in
Verbindung stehen
Aufmunterung:
Der Lehrer hängt an die Tafel zwei Begriffe: Gedächtnis und Erinnerung und fragt die
Studenten, woran sie denken, wenn sie diese zwei Wörter hören. Er schreibt die Vorschläge
an die Tafel.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich soll mich auflockern und auf deutsche Sprache konzentrieren
Zeit: 4 Minuten
42
Thema und Zielangabe:
Der Lehrer schreibt das Thema an die Tafel und fragt die Studenten nach dem Ziel.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich weiß, womit ich mich während dieser Stunde beschäftigen werde
Zeit: 1 Minute
Einführungsphase:
Der Lehrer verteilt den Studenten ein Blatt mit verschiedenen Zitaten, die sich auf Gedächtnis
und Erinnerung beziehen. Die Studenten lesen diese Zitate und der Lehrer fragt sie dann, wie
sie sie verstehen. Er gibt auch Beispiele zu ihnen und stellt den Studenten die Frage, ob sie sie
mit irgendwelchen Ereignissen verbinden können.
Im nächsten Schritt bekommen die Studenten einen Text über kollektives Gedächtnis und
Erinnerungsorte. Sie lesen diesen Text und unterstreichen die unbekannten Wörter, die dann
der Lehrer erklärt.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich kann die Zitate interprietieren und kenne das Problem des kollektiven
Gedächtnisses und der Erinnerungsorte
Zeit: 30 Minuten
Übungsphase:
Die Studenten bekommen ein Arbeitsblatt mit vielen Fragen zum Text, die sie zu zweit
bearbeiten sollen. Im nächsten Schritt ergänzen sie einen Lückentext, in dem die wichtigsten
Informationen zum Thema „kollektives Gedächtnis und Erinnerungsorte“ vorhanden sind.
Zum Schluss prüft der Lehrer gemeinsam mit den Studenten die Aufgaben.
Sozialform: Partnerarbeit
Feinziel: Ich verstehe den Text
Zeit: 25 Minuten
43
Anwendungsphase:
Die Studenten machen sich Gedanken und begründen schriftlich aufgrund des
kennengelernten Textes, verschiedener Theorien und der Diskussion zum Thema „kollektives
Gedächtnis und Erinnerungsorte“, wie sie diese Phanomänen verstehen. Jeder schreibt eine
kurze Zusammenfassung.
Sozialform: Einzelarbeit
Feinziel: Ich kann begründen, was der Begriff „Heimat“ für mich bedeutet
Zeit: 15 Minuten
Testphase:
Die Studenten präsentieren ihre Ergebnisse vor der Klasse.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich kann mich zum Thema „kollektives Gedächtnis und Erinnerungsorte“ äußern
Zeit: 15 Minuten
Anlage 1
Wer ein schlechtes Gedächtnis hat,
dem bleibt keine andere Wahl,
als die Wahrheit zu sagen.
Erinnerung ist eine Form der Begegnung.
Kahlil Gibran
Thomas Lanier Williams
Das Gedächtnis ist ein sonderbares Sieb.
Es behält alles Gute von uns und
alles Übel von den anderen.
Wiesław Brudziński
Ein Kopf ohne Gedächtnis ist eine Festung ohne Besatzung.
Napoleon
Erinnern heißt auswählen.
Günter Grass
44
Anlage 2
Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsorte
Der Begriff kollektives Gedächtnis bezeichnet eine gemeinsame (= kollektive)
Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen. Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses
stammt von dem französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs.
Soziale Rahmen sind für ihn vor allem die Menschen, die uns umgeben. Der Mensch ist nach
Halbwachs ein soziales Wesen. Er muss also mit anderen Menschen einen Kontakt
aufnehmen, weil er nur auf diese Art und Weise den Zugang zu kollektiven Phänomenen wie
Sprache oder Sitten, aber auch zum eigenen Gedächtnis haben kann. Er macht die
Erfahrungen im Kreis anderer Menschen, die ihm dann helfen können, die bestimmten
Ereignisse zu erinnern.
„Jeder Mensch ist ein „Zeuge“ und das Zusammenbringen der „Zeugenaussagen“
beeinflussen unser Gedächtnis. Gedächtnis ist sozial bedingt, d.h es gibt kein
individuelles Gedächtnis welches ohne seinen sozialen Bezugsrahmen bestehen
könnte”.62
Besonders wichtig ist für Halbwachs die Tatsache, dass uns durch Interaktion und
Kommunikation mit unseren Mitmenschen, Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeitund Raumvorstellungen vermittelt werden. Wir können also vergangene Ereignisse verorten,
deuten und auch erinnern, wenn wir an einer kollektiven symbolischen Ordnung teilhaben.
Für diesen Soziologen spielt die soziale Gruppe eine große Rolle, weil ohne sie keine
Sinnwelten entstehen und weitergegeben werden können.
Unsere individuellen Erinnerungen sind sozial geprägt, unsere Wahrnehmung ist
gruppenspezifisch. Jeder Mensch gehört mehreren Gruppen an: der Familie, der
Religionsgemeinschaft, der Belegschaft am Arbeitsplatz usw. Er macht dadurch
unterschiedliche gruppenspezifische Erfahrungen. Er verfügt auch über bestimmte
Denksysteme. Sowohl die Erinnerung als auch die Kombination der Gruppenzugehörigkeiten
und Erinnerungsformen und – inhalte, die daraus resultieren, sind das wirklich Individuelle,
das die Gedächtnisse einzelner Menschen voneinander unterscheidet.
Ein typisches intergenerationelles Gedächtnis ist für Halbwachs z.B. das Familiengedächtnis.
Seine Träger sind die Familienmitglieder, die ihre Erfahrungen im Familienkreis austauschen.
Ein kollektives Gedächtnis entsteht also durch soziale Interaktion (durch gemeinschaftliche
Handlungen und geteilte Erfahrungen) und durch Kommunikation (wiederholtes
gemeinsames Vergegenwärtigen der Vergangenheit). Wenn jemand z.B. bei Familienfesten
erzählt, haben auch diejenigen am Gedächtnis teil, die das Erinnerte nicht selbst erlebt haben.
Auf diese Art und Weise kommt zum Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen
und Nachkommen. Und wie sich die ältesten Mitglieder der sozialen Gruppe zurückerinnern
können, so weit reicht das kollektive Generationengedächtnis.
62
Halbwachs, Maurice: Die soziale Konstruktion der Vergangenheit, unter: www.phil.unipassau.de/soziologie/ss2007/folien/PS_erinnerungsorte/Halbwachs.ppt / 2007
45
Erinnerungen auch persönlicher Art entstehen nur durch Kommunikation und
Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen. Wir erinnern nicht nur, was wir von
anderen erfahren, sondern auch ,was uns andere erzählen und was uns von anderen
als bedeutsam bestätigt und zurückgespiegelt wird. Vor allem erleben wir bereits im
Hinblick auf andere, im Kontext sozialer vorgegebener Rahmen der
Bedeutsamkeit.63
Maurice Halbwachs unterscheidet zwei Formen der Vergangenheitsbildung: Geschichte und
Gedächtnis. Er trennt das Generationsgedächtnis von der Zeitgeschichte. Diese beiden
Formen schließen sich einanander aus. Das kollektive Gedächtnis basiert auf zeitlich und
räumlich begrentzte Gruppen, deren Erinnerung stark wertend ist. Die Geschichte ist
universal. Als Zentrum ihres Interesses gelten Gegensätze und Brüche. Im Rahmen
kollektiver Gedächtnisse spielt Identitätsbildung eine große Rolle. Es wird das erinnert, was
einer bestimmten Gruppe entspricht und wofür sich diese Gruppe interessiert. Wenn man am
kollektiven Gedächtnis teilnimmt, das zeugt davon, dass man zur Gruppe gehört.
Beim kollektiven Gedächtnis wird zwischen dem kommunikativen Gedächtnis und dem
kulturellen Gedächtnis unterschieden. Das kommunikative Gedächtnis liefert mündlich
weitergegebene Erfahrungen/Traditionen; das aber nur in einem Zeitraum von ca. drei
Generationen nach dem Zeitpunkt des Geschehens. Diese Form des Gedächtnis ist somit an
Menschen gebunden, weil es von der Weitererzählung lebt. Im Gegensatz dazu steht das
kulturelle Gedächtnis, welches nicht an Personen gebunden ist. Hierbei werden Erinnerungen
vielmehr niedergeschrieben und somit für die Nachwelt konserviert, auch über die dritte
Generation nach dem Ereignis hinaus. Zum Beispiel zählen vergangene Ereignisse, die in
Schriften für Bibliotheken verfasst wurden, zum kulturellen Gedächtnis.
Erinnerungsorte können geographische Orte, Gebäude, Denkmäler und Kunstwerke
umfassen aber auch historische Persönlichkeiten, Gedenktage, philisophische und
wissenschaftliche Texte oder symbolische Handlugen. Erinnerungsorte werden als eine Art
künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene, natürliche kollektive Gedächtnis
bezeichnet, weil sich die heutige Gesellschaft in einem Übergangsstadium befindet, in dem
die Verbindung zur lebendigen, gruppen- und nationspezifischen, identitätsbildenden
Vergangenheit abreißt.
Pierre Nora
63
Zimmermann, Johannes: Kontexte des Erinnerns und kollektives Gedächtnis, unter:
www.textfeld.ac.at/download/225.pdf
46
6. Literatur
Primärliteratur
Hein, Christoph: Landnahme. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 2004
Sekundärliteratur
Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek b.
Hamburg: Rowohlt 1996
Carsten Gansel: Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des
Real - Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen : V&R unipress, 2007
Chmel, Rudolf: Vaterland. Eine slowakische Geschichte. In: „Kafka” Nr.2 von 2001
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar: J.B.
Metzler 2005
Herzinger, Richard: Worin noch niemand war. In: „Kafka” Nr.2 von 2001
Kobylińska, Ewa / Lawaty, Andreas / Rüdiger Stephan (Hg.): Deutsche und Polen 100
Schlüsselbegriffe. München, R. Piper GmbH & Co. KG 1992,
Martinez, Matias / Scheffel Michael(Hg.): Einführung in die Erzähltheorie. (6. Aufl.).
München, C.H.Beck 2005
Nünning, Ansgar : Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen –
Grundbegriffe, a.a.O.
Internetquellen
Gansel, Carsten: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur nach
1989, unter: www.zmi.uni-giessen.de/pdf/KommVVWS0708.pdf
Halbwachs, Maurice: Die soziale Konstruktion der Vergangenheit, unter: www.phil.unipassau.de/soziologie/ss2007/folien/PS_erinnerungsorte/Halbwachs.ppt / 2007
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Hein, Christoph: Landnahme, unter: www.mdr.de/kultur/literatur/1179265.html
Zimmermann, Johannes: Kontexte des Erinnerns und kollektives Gedächtnis, unter:
www.textfeld.ac.at/download/225.pdf
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Streszczenie
Teoria pamięci i wspomnienia odgrywa ogromną rolę w kształtowaniu się historii. Jest to
niewątpliwie ważny temat a formy wspomnienia zyskują coraz to większe znaczenie, gdyż
w dzisiejszych czasach zanika powoli generacja świadków narodowego socjalizmu. Dlatego
też uwzględniłem w mojej pracy różne teorie i rodzaje pamięci, a także pojęcie ojczyzny
i koncept kultur wspomnienia.
Zasada wspomnienia tworzy istotne połączenie między różnymi tekstami i gatunkami.
Powieść Landnahme, którą napisał Christoph Hein doskonale odzwierciedla życie
w Niemczech po II wojnie światowej. Główną postacią jest młody chłopak Bernhard Haber,
który wraz ze swoją rodziną żyjąc na obczyźnie, musi zmagać się z trudnościami losu,
z tutejszymi mieszkańcami i zwyczajami. Książka przedstawia całą historię Habera
z perspektywy pięciu osób, które osobiście go poznały. Analiza powieści Landnahme została
dokonana m.in. na podstawie takich pojęć, jak konstelacja i motywacja figur, znaczenie
przestrzeni i inne.
W części praktycznej zostały przedstawione konspekty lekcyjne, które ukazują w jaki sposób
można pracować z takimi tematami jak pamięć kolektywna czy moja ojczyzna.
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