Zur Inszenierung von Erinnerung in Arno Orzesseks Schattauers

Werbung
Zur Inszenierung von Erinnerung in Arno Orzesseks
Schattauers Tochter
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung....................................................................................................6
2.
Gedächtnistheoretische Konzepte...............................................................9
2.1
Gedächtnis und Erinnerungskulturen....................................................9
2.2
Das kolektive Gedächtnis: Zu Positionen von Maurice
Halbwachs, Aby Warburg und von Pierre Nora.................................12
2.3.
Theorie von Jan und Aleida Assmann.................................................16
2.3.1
Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis im Vergleich.........17
2.3.2
Vier Formen des Gedächtnisses von Aleida Assmann................20
2.3.2.1 Das individuelleGedächtnis...................................................20
2.3.2.2 Das GenerationenGedächtnis................................................21
2.3.2.3 Das kollektive Gedächtnis....................................................23
2.3.2.4 Das kulturelle Gedächtnis......................................................24
3. Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses………………………26
3. 1 Erfahrungshaftiger Modus………………………………………………..27
3. 2 Monumentaler Modus……………………………………........................ 28
1
4. Aspekte der Erinnerung in Arno Orzesseks “ Schattauers Tochter”…...32
4. 1 Das <Was> Ebene………………………………………………………… 32
4. 1 .1 Zum Inhalt…………………………………………………………..34
4. 1. 2 Figurenkonstelation………………………………………………….36
4.1.2.1 Relationen zwischen Marie Eckstein ( Schattauer) und
Hermann Eckstein……………………………….37
4.1.2.2 Relationen zwischen Marie Eckstein und Gustav
Hermann
Eckstein……………………………….............41
4.1.2.3 Relationen zwischen Gustav Hermann Eckstein und
Eduard Manthey………………………………46
4. 2 Das <Wie> Ebene………………………………………………………54
4. 2. 1 Erzählerinstanz……………………………………………………54
4. 2. 2 Zeitdarstellung.................................................................................59
5.
Schlussbemerkungen………………………………………………………………64
6. Anhang..........................................................................................................66
7. Literaturverzeichnis………………………………………………………72
2
“Die Krankheit des schlechten Gedächtnisses (ist) leider zu verbreitet.
Es handelt sich um eine Modekrankheit, und man sollte die >eingebildeten<
Kranken unserer Tage und ihr Erinnerungsvermögen nicht verzärteln.
Was war, darf im Interesse dessen, was werden soll, nicht einfach in die
Schubkästen des Unterbewußtseins verbuddelt werden“
Erich Kästner, Mai 1946
„ Noch nie wie zuvor hat sich eine Zeit, eine Nation, eine Generation so reflektiert
und reflektierend mit sich selber und ihrer Herkunft befaßt.1
„Holocaust und Drittes Reich sind als Weltphänomene so heikel und ungeheuerlich,
dass sich Fiktionen immer der Gefahr aussetzen, in Frivolität umzuschlagen. Das
größere Recht haben zunächst Zeitzeugenberichte beziehungsweise biographische
Romane wie die von Jorge Semprun und Imre Kertész und danach die seriösen
Geschichtswissenschaften.
Andererseits füllen deren Bücher Bibliotheken, seit Eugen Kogon noch im KZ
Buchenwald „Der SS-Staat“ schrieb. Schriftsteller haben glücklicherweise die
Lizenz, auch über Dinge zu schreiben, die sie nicht selbst oder nicht so erlebt haben
– das ist sogar eine Definition ihres Berufes.“
Arno Orzessek
1
Assmann, Aleida/ Frevet, Ute: Geschichtvergessenheit, Geschichtversessenheit, Stuttgart
1999.S. 9
3
1. Einleitung
Man kann in den letzten Jahrzehnten eine
wachsende Beschäftigung mit der
Bearbeitung von Vegangenheit beobachten. Seit den 1970er Jahren treten viel
häufiger neue, bisher nicht zugelassene Geschehnisse hervor, die aus verschiedenen
politischen Gründen nicht ans Licht gelassen werden dürften. Viele aktuelle
Publikationen beschäftigen sich mit der deutschen Vergangenheit zu Zeiten des
Zweiten Weltkrieges. Man spricht heutzutage sogar von einem „ Gedächtnisboom“.
Die vergangene Zeit nach dem 2. Weltkrieg war schon relativ ausreichend, um mal
endlich über Sachen, Geschichte, schon ohne so großen Emotionen zu sprechen. Aus
diesem Grund gab es zuletzt die Möglichkeit den Mund zu öffnen und die Wahrheit
auszusprechen. Die Bearbeitung der Vergangenheit ist oftmals nicht unproblematisch
aber es muss mal geschehen. Langsam sterben die Zeitzeugen, die am Krieg beteiligt,
oder als Zivilisten betroffen waren, aus. Die deutschen Schriftsteller lenken die
Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die Deutschen in dem Weltkrieg auch viel
gelitten haben. In den meisten Büchern werden die Deutschen als Opfer der Tragödie
dargestellt. Mit den traumatischen Erlebnissen, die die Kriegsgeneration erfahren
hatte, wollen sich auch Nachkommen auseinandersetzen. Aus diesem Grund
entstehen immer mehr Texte, die als gegenwärtige
Erinnerungsliteratur oder Erinnerungskultur bezeichnet werden können. Literatur als
eine der Vermittlungsweisen der Geschichte wird immer eine große Rolle spielen.
Sie hinterlässt in den Gedächtnissen den Rezipienten eine bestimmte Vorstellung
von Ereignissen, die in der Vergangenheit stattfanden. Sie hat einen Einfluss darauf,
wovon die Menschen wissen und wie sich diese Informationen erhalten werden. Die
Literatur beeinflusst also das Gedächtnis.
4
Das Hauptziel der Magisterarbeit ist, das Leben von drei Generationen zu zeigen. Es
wurde präsentiert, worüber sie am meisten Gespräche führen, wie sie die
zwischenmenschlichen Beziehungen aufbauen, wie ihr Alltag aussieht, und wie sie
mit ihrer emotionalen Lebenssphäre umgehen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit
wird die Auseinandersetzung mit den Mechanismen von Erinnerung und Gedächtnis
disziplinenübergreifend
dargestellt.
Im
ersten
Schritt
werden
die
gedächtnistheoretische Konzepte beginnend von Maurice Halbwachs ‚kollektive
Gedächtnis’ , Aby Warbug
‚das europäische Bildgedächtnis’ und Pierre Nora
<Lieux de mémoire> über das Konzept Jan Assmannss des ‚kommunikativen
Gedächtnisses’ und des ‚kulturellen Gedächtnisses’ hin zu Aleida Assmanns ‚Vier
Formen des Gedächtnisses’ offen gelegt worden.
Darüber hinaus soll dargestellt werden, wie die Schlüsselerfahrungen der
Nachkriegszeit die Protagonisten beeinflussen. Es soll bewiesen werden, dass
„Schattauers Tochter “ ein Medium des Generationen-Gedächtnisses ist, denn das
Roman ermöglicht den Rezipienten nicht nur Vor-und Kriegszeit kennen lernen, aber
auch die Wirkung auf die Nachkriegsgeneration.
Im nächsten Schritt wird die Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses
präsentiert. Dabei werden zwei Modi ( erfahrungshaftiger, monumentaler Modus )
und ihre Funktionen dargestellt.
Im dritten Schritt wird die Inszenierung von Erinnerung in „Schattauers Tochter“
besprochen. Es werden die folgenden narrativen Parameter wie: der Inhalt, die
Figurenkonstelation, die Erzählerinstanz und die Zeit analysiert.
Um die Unterschiede in der Denkweise, dem Lebensstill der Maneschen innerhalb
von sechs Jahrzehnten zu verstehen, werden die Beziehungen zwischen den
Protagonisten präsentiert. Am Beispiel der Hauptfiguren und ihrer Relationen wird
geschildert, wie die das Leben der Menschen in dieser Zeit aussah. Wie sie lebten ,
dachten, wie letztendlich wie sie miteinander umgegangen sind.
Es werden die folgenden Relationen präsentiert:
5
1. Relation zwischen Marie Eckstein ( Schattauer) und ihr Mann Hermann Eckstein.
2. Relation zwischen Marie Eckstein und ihr Sohn Gustav Hermann Eckstein.
3. Relation zwischen Gustav Hermann Eckstein und seinem Schüler Eduard
Manthey.
Dann wird die Erzählerinstanz analysiert. Im ersten Schritt der Analyse werden die
grundlegenden Begriffe expliziert, die sich auf die Erzählerinstanz beziehen. Dazu
wird die Terminologie von Gerard Genette verwendet. Dann wird präsentiert, mit
welcher Geschichte der Erzähler den Roman anfängt.
Im letzten Schritt des analytischen Teils werden die Zeitparameter erforscht.
Zuerst werden die grundlegenden Termini erklärt, die die narrativen Parameter
betreffen. Nachher konzentriert man sich auf den Textanfang.
In dem Kapitel wird besonders auf die Reihenfolge des Erzählens eingegangen. Es
soll gezeigt werden, dass es „ Schattauers Tochter “ von Analepsen und Prolepsen
überfüllt. Die Schlussbemerkungen werden diese Arbeit vervollständigen und sollen
sie abrunden.
6
2. Gedächtnistheoretische Konzepte
2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen
Viele Wissenschafler unternahmen den Versuch die Termini: Gedächtnis und
Erinnerung zu konkretisieren und sie voneinander zu trennen. Das Gedächtnis ist ein
Vermögen, bedeutet die Fähigkeit die Informationen, Erfahrungen zu speichern, um
sie im entsprechenden Moment abrufen zu können2. Dabei bedeutet das Erinnern
„ den konkreten und bewussten Akt der Vergegenwärtigung spezifischer
Gedächtnisbestände“3. Es werden also bestimmte Erlebnisse, Erfahrungen oder
erworbenes Wissen aktiviert. Der Prozess der Aktivierung entsteht unter
unterschiedlichen Umständen,
kann sowohl äußerlich aber auch intrapsychisch
(emotional) stimuliert werden.4 Das Erinnern beruht nicht nur auf dem Abruf der
Informationen. Das Interesannte dabei steckt in der Überzeugung, dass die Episoden,
Geschehnisse zu der richtigen Geschichte passen und das alles steht
in der
Verbindung mit dem, was früher oder später stattgefunden hat oder was man
inzwischen darüber gedacht hat.5
Das ist der Grund dafür, dass die Einsicht der Kognitionswissenschafler, die das
menschliche Gehirn mit einem Computer, einer „Datenverarbeitungsmaschine“6, die
die Informationen speichert und situationbezogen abruft, nie ausreichend ist.
Ansgar Nüning bezeinet das Gedächtnis als eine “neuronale Funktion“ und die
Erinnerung als „ eine kognitiv-psychische Konstruktion, die bewusst werden muss
und dann sprachlich formuliert werden kann.“7 Im Vergleich zu der Erinnerung soll
das Gedächtnis
nur als eine Aktivität des Gehirns verstanden, die Erinnerug ist
Neumann, Brigit, Erinnerung- Identi ät – Narration, S. 22
Ebd., S.22
4
Vgl.,ebd., S.23
5
Vgl., Schackter, Daniel L., Wir sind Erinnerung, Hamburg 2001, S. 39
6
Ebd.
7
Vgl. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2004 (erweitert und aktualisiert), S. 217.
2
3
7
ein bewusster Prozess, in dem die einzelne Ereignisse, die irgendwann in der
Vergangenheit stattfanden, in die Gedanken und Worte umgebaut werden.
Jeder Mensch hat nämlich den Einfluss auf das was er erinnert und das was er gar
nicht oder sehr selten abruft, kann von ihm vergessen werden. Mit der Zeit haben
sich neue theoretische Konzepte, die das Phänomen genauer untersuchten. Es wurde
bemerkt, dass die Erinnerungen auch von verschiedenem Rang sind, manche
betreffen die Ereignisse des Alltags, andere kann man als traumatische Erlebnisse
bezeichneten, die eine große Anzahl von Menschen betreffen. Mit dieser
Erscheinung beschäftigten sich seit der Beginn des 20. Jahrhunderts viele
Wissenschaftler.
„Die Bedeutung individuellen und kollektiven Erinnerns wird in keinem anderen
Land so augenfällig wie in Deutschland. Über Erinnern konstituiuert sich das
kulturelle Gedächtnis, und dieses ist die Voraussetzung eines offenen, reflektierenden
Umgangs mit der Vegangenheit. Wer sich dem Erinnern verweigert, läuft Gefahr,
dass ihn die Vergangenheit einholt.“8
In Deutschland spricht man heutzutage immer öffter von der Erinnerungkultur. Was
heißt eigentlich “Erinnerungskultur? Anhand verschiedener Publikationen kann man
feststellen, dass dieser Begriff erst im Laufe der 1990er Jahre einen festen Platz in
der Geschichtswissenschaft gefunden hat. Christph Corneließen schreibt in seinem
Beitrag: “ Das Konzept Erinnerungskultur fand tatsächlich erst im Laufe der 1990er
Jahre Eingang in die Geschichtswissenschaft”9
Das heißt aber nicht, dass es früher keine kulturhistorische Tradition des
Nachdenkens über das Erinnern und das Vergessen gab. Jan Assmann spricht in
seiner Arbeit von drei Grundvätern der sozialen Gedächtnisforschung das sind:
Friedrich Nietsche, Aby Warburg und Maurice Halbwachs. J. Assman ist der
8
Mauser Wolfram/ Pfeiffer Joachim, Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Jahrbuch für
Literatur und Psychoanalyse 2004, Vorwort, S. 3
9
Corneließen, Christoph, Was heißt Erinnerungskultur?in: GWU 54, S. 550
8
Meinung, dass erst mit ihren Arbeiten die Begriffsgeschichte von Erinnerungskultur
beginnt10.
Im Jahr1874 hat z. B. Friedrich Nietzsche seine bekannte Kritik an einem Űbermaß
an historischer Bildung ohne konkreten Lebenszug veröffentlicht. Der Philosoph
stellte fest, dass es möglich sei “fast ohne Erinnerung, ja glücklich zu leben, wie das
Tier zeigt” aber gar unmöglich sei “ ohne Vergessen zu überhaupt zu leben” 11.
Nietsche stellt auch fest dass, “das Unhistorische […] gleichermaßen für die
Gesundheit eiens Einzelnen, eines Volkes und einer Kultur nötig ist”12.
In den 1920er Jahren entwickelte Aby Warburg den Begriff der
“ Erinnerugsgemeinschaft” und danach führte Maurice Halbwachs seine
Definition des “ Kollektiven Gedächtnisses” ein. In seiner Auffasung bedeutet
“kollektive Gedächtnis” das
bestimmten
gesellschaftlichen
Gedächtnis einer Gruppe, “ das die in einem
Rahmenkonstruierten
Vorstellungen
über
die
Vergangenheit umfasst” 13
Erinnerugskultur ist ein formaler Oberbegriff “für alle denkbaren Formen der
bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse […]
Der Begriff umschließt also neben Formen des ahistorischen oder sogar
antihistorischen kollektiven Gedächtnisses alle anderen Repräsentationsmodi von
“privaten” Erinnerungen, jedenfalls soweit sie in der Öffentlichkeit Spuren
hinterlassen haben.”14
Die Repräsentanten dieser Kultur sind Individuen, soziale Gruppen, Nationen und
Staaten. Die Erinnerungrkultur hat verschiedene Formen, die sie ausdrücken können.
Zu diesen Ausdruckform der Erinnerungskultur gehören z.B. : Textsorten aller Art,
Bilder, Fotos, Feste, Denkmäler, Grabsteine, historische Dokumenten, Filme,
verschiedene Rituale und gedenkliche Ordnungen usw. Die Literatur ist also auch
10
Jan Assmann: Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und
normative Vergangenheit. In: Kirstin Platt/Mihran Dabag (Hrsg.): Generation und Gedächtnis.
Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen 1995, S. 51-75, hier S. 60f.
11
Friedrich Nietsche: Vom Nutzen und Nachteil der historie für das Leben (1874), hier zit. Nach:
gesammelte Werke. Bd.6: Philosophenbuch, Unzeitgemäße Betrachtungen, Erstes und Zweites Stück,
1872-1875. München 1922, S. 227-327, hier S.234
12
Ebd., S.236.
13
Tomasz Kranz: Die KZ-Gedenkstätten in Polen als Formę institutionalisierter Erinnerung, S.162
14
Christoph Corneließen: Was heißt Erinnerungskultur?, In:GWU 454 CZ, S.555.
9
eine Ausdrucksform der Erinnerungskultur und hat eine große Bedeutung. Sie hält
die Erinnerungen und Geschichte lebendig.
Seit den letzen Jahrzehnt ist die Zahl der Arbeiten zum Thema: Gedächtnis rasant
angewachsen.
Dieser
umfangreicher
und
disziplinübergreifende
systematischer
Forschunsgegenstand
Nachforschungen.
Im
bedarf
Hinblick
auf
psychologische, medizinische, kullturelle und soziologische Untesuchungen lassen
sich mehrere Fragen beantworten und nicht nur aus der psychologischen Schicht,
sondern auch aus dem medizinischen, kulturellen, soziologischen Standpunkt. An
diesem Projekt beteiligen sich sowohl viele Historiker, Politologen, Soziologen als
auch Literatur- und Kulturwissenschaften. Die Ursachen sind vielfältig. Einerseits
braucht man endlich eine gründliche Auseinandersetzung mit der Geschichte
(Vergangenheit),
andererseits
spricht
man
von
altersdemographischen
Veränderungen im Westen.15 Schon in den 1920er und 1930er Jahren der 20.
Jahrhunderts entwickelten sich in der Kulturwissenschaft neue Begriffe, die die
Gedächtnisforschung betreffen. Es handelt sich hier um die soziologische Studie La
mámorie collective von Maurice Halbwachs und um das kulturwissenschaftliche
Untersuchung
Aby
Warburgs
in
dem
Bilderatlas
Mnemosyne
also
um
Bildgedächtnis. „Beide Ansätze verweisen auf die Bedeutung sozialer Bedingungen
und kultureller Einflüsse für die historische Tradierung von Erfahrung“16. Sie
wurden zum Gegenstand kulturwissenschaftlichen Theoriebildung, obwohl sie sich
mit dem Phänomen aus verschidenen Sichtrichtungen beschäftigten.
2.2 Das
kollektive Gedächtnis: Maurice Halbwachs, Aby
Warburg und Pierre Nora.
15
16
Vgl., Hans J. Markowitsch/ Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis ,Stuttgart , S.25
Jan Hassman / T.Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988,S.9
10
Der Begriff < měmorie collective> wurde von dem
französischen Soziologen
Maurice Halbwachs entwickelt. Er beschäftigte sich vor allem mit dem Phänomen
des Gedächtnisses. Dabei versuchte er zu klären, wie die sozialen Bedingungen auf
das was behalten wird, einen Einflus ausüben. Halbwahs vertritt die These, dass es
kein Gedächtnis geben kann, wenn man in voller Einsamkeit lebt. Seiner These
folgend, was uns ins im Kopf bleibt, der Prozess der Sozialisation unterliegt.
Ohne soziale Beziehungen wären wir wie ein „weißer Blatt“. Es gibt also nichts, was
man als individuelles Gedächtnis beziechnen kann. In dem Fall verlieren an der
Bedeutung auch die neuronale und hirnphysiologische Möglichkeiten eines
Individuums und jede persönliche Erinnerung wird als ein kollektives Phänomen
verstanden. „ Mensch ist ein soziales Wesen“
17
und „ohne anderen Menschen bleibt
ihm nicht nur der Zugang zu so eindeutig kollektiven Phänomenen wie Sprache oder
Sitten verwehrt, sondern(...), auch der zum eigenen Gedächtnis“18. Halbwachs
Theorie beruht auf der These, dass alle Erfahrungen, „durch die Interaktion und
Kommunikation mit unseren Mitmenschen Wissen über Daten und Fakten, kollektive
Zeit- und Raumvorstellungen, Denk- und Erfahrungsströmungen vermittelt
werden“19 . Mit anderen Worten das soziale Umfeld vermittelt uns Informationen,
Wissen, Erfahrungen und Reaktionen. Das alles geschieht durch die Kommunikation,
während der Koexistenz.
„
Unsere
Wahrnehmung
ist
gruppenspezifisch,
unsere
individuellen
Erinnerungen sind sozial geprägt, und beide Formen der Weltzuwendung und
Sinnstiftung
sind
undenkbar
ohne
das
Vorhandensein
eines
kollektiven
Gedächtnisses“.20 Aus diesem Grund bedeutet die Historie kein Gedächtnis ist, weil
es nicht univerisell sondern nur gruppenspezifisches Erscheinung ist.21
Mit anderen Worten, die Geschichte und Gedächtnis kann man als polare betrachten.
Zusammenfassend lassen sie sich Halbwachs Studien in drei Untersuchungsbereiche
einteilen, als erste sollte man die Theorie von der sozialbedingten Erinnerung
erwähnen, zweitens die Analyse der Bildung generationsbedingten Gedächtnisses,
17
Astrid Erll, Gedächtnisromane, Trier 2003, S.19
Ebd.,
19
Ebd., .
20
Ebd, S.20
21
Vgl., Assman, Jan, Das kulturelle Gedächntis, München 2005, S. 43
18
11
was schließlich zur Ausweterung des Begriffs <mémorie collektive>, was später von
Aleida und Jan Assmann als kulturelles Gedächtnis ausgearbeitet wurden.
Halbwachs konzentriert sich vor allem auf die soziale Gruppe, in ihr sieht er die
zentrale Bedeuteung, sie ist die Voraussetzung für die Entstehen von Sinnwelten und
deren Weitergabe. Dabei wichtig ist auch die Beziehung zwischen dem kollektiven
und individuellen Gedächtnis. „(...) das Individuum sich erinnert, indem es sich auf
dem Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht
und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.“22.
„(...) jedes individuelle Gedächtnis ist ein Ausblickpunkt auf das kollektive
Gedächtnis“23. Diesen Ausblickpunkt soll als Orientierungpunkt zu beachten. Jeder
Mensch muss infolge seiner Sozialisation mehreren Gruppen zugehören.
Halbwachs führt noch verschiedene Typen der kollektiven Gedächtnisses. Dabei
spielen die soziologischen Fälle eine bedeutende Rolle,- gemeint wurden hier die
Familie, Religiongemeinschaft, soziale Klasse. Als ein typisches Beispiel
„intergenerationelles Gedächtnis“ kann man das Familiengedächtnis nennen. 24
Die Geschichten sind durch soziale Kommunikation, also durch mündliche
Erzählungen die, die Zeitzeugen den Nachkommenen überliefern, lebedig gehalten.
„ Seine Träger sind zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen, deren Erinnerung
stark werdend und hierarchisierend ist.“25 Das Hauptziel ist es die Identitätsbildung.
Der Beteiligte dieser Gruppe zeigt durch das Erinnern, dass er am kollektiven
Gedächtnis teil nimmt. Die Besonderheit dieses Gedächtnises besteht darin, dass nur
das einnert wird, was wichtig ist und der Interesse der Gruppe entspricht. Von daher
soll das kollektive Gedächtnis als stark selektive und rekonstruktive, angesehen
werden. Die Ereignisse werden rekonstruiert, die Lücken können mit verschiedenen
nicht unbediengt der Wahrheit entsprechenden Elementen ausgefühlt werden.26
Das „ europäische Bildgedächtnis“ von Aby Warburg
22
Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.:
1985, S.23
23
Maurice Halbwachs , Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.:
1991, S.31
24
Vgl., Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005,S. 15
25
Ebd.,S.17
26
Vgl., ebd. S.19
12
In der 20er Jahren fuhr, neben Maurice Halbwachs, im Bereich des kollektiven
Gedächtnisses, die Untersuchungen der Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg.
Aby Warburg gilt als bedeutender Vordenker der modernen Kulturwissenschaft.
Seine Konzeption sah die enge Verbindung von Gedächtnis und Kultur. Er
beschäftigte sich mit der Nachleben der Antike in vielen Bereichen der
abendländischen Kultur bis in die Renaissance. Dank seiner Forschung etabilierte
sich Ikonologie (Symbolkunde) als eigenständige Disziplin. Er formulierte die These,
dass das Phänomen „der Aneignung der Antike durch Künstler späteren Epochen“
auf
„ die erinnerungslösende Kraft kultureller Symbole“ abgeleitet ist. Eine
besondere Rolle schrieb er den so genanten Pathosformeln zu. Sie gelten als Zeichen,
in denen das Pathos sichtbar ist. „ Kultur beruht auf dem Gedächtnis der Symbole“27,
auf dieser These basierend schafte Warburg seine Theorie des kollektiven
Bildgedächtnisses, was er als ‚ soziales Gedächtnis’ beziechnete Für Warburg ist das
antike Pathos eine Erinnerung, also jedes Kunstwerk hinterließ ein geistiger Spur und
kann jeder Zeit ins Leben gerufen werden. Der Wissenschaftler betont, dass als
europäisches Bildgedächtnis nicht nur visuelle Kultur gilt, sondern auch die
Alltagskultur, Feste und Literatur. Die Menschen sind die Träger dieser Kultur, sie
ist als „ Produkt des menschlichen Handlens angesehen. Sie verändert sich mit der
Zeit( Aktualisiert), was zu den Wandel des soziales Gedächtnisses führt. Die letzte
und dabei wichtigste Teil in Warburgs Denken zeigt sein Ausstellungsprojekt unter
dem Titel „Mnemosyne“. Der Titel verwies auf die Muse, die für Erinnerung
zuständig war. Es war ein „Atlas, der ein Epochen und Länder überschreitendes
Bildgedächtnis veranschaulichen sollte.“28 In dieser Zusammenstellung wurde
Europa und Asien in eine „Erinnerungsgemeischaft“ verbunden.
Beide Konzeptionen unterscheiden sich deutlich voneinander. Warburgs geht um
die visuelle Kultur in weiten und disziplinübergreifenden (interdisziplinärem) Sinne.
Halbwachs basiert auf den aktiven, bewussten Bedürfnissen der Gegenwart in
Prozess der Aneingnung der Vergangenheit durch die sozialen Gruppen.
27
28
Astrid Erll, Gedächtnisromane, Trier 2003, S.23
Ebd. S. 24
13
Gemeinsam waren sie einig, dass Kultur und ihre Weitergebung zur
menschlichen Aufgaben gehört.
<Lieux de mémoire> von Pierre Nora
Ein bedeutender französischer Geschichtwissenschaftler namens Pierre Nora
beschäftigte sich mit der Halbwachschen Theorie von der Trennung zwischen
Geschichte (Historie) und Gedächtnis. In seinem Werk Les lieux de mémoire erklärt
er, dass es man so viel von Gedächnis spricht, weil es eigentlich überhaupt kein
vorhanden ist. Zu seiner Untesuchunggegenstand gehörten ‚Erinnerungsorte’. Diese
Beziechnung bekamen nicht nur Gebäuden, Denkmäler, Kunstwerke, geographische
Orte, symbolische Handlungen, philosophische und wissenschaftliche aber auch die
historische Persönlichkeiten.
29
Sie stellen ein
in der Vergangenheit liegendes
Geschehen dar, das nicht dauernd im Gedächtnis wach bleib, sondern in bestimmtem
Situationen abgerufen werden können. Nach Nora muss ein Ereignis, Gegenstand
drei dimensionale Bedingungen erfülen, um als Erinnerungsort beziechnet zu
werden. Erstens können es auch die Dinge, die man nicht anfassen kann, also auch
die historische Geschehnisse u.a. Das nennt man ‚materielle Dimension’. Als nächste
erwähnte er ‚funktionale Dimension’, das bedeutet, dass die Objektivationen eine
konkrete gesellschaftliche Funktion erfüllen müssen. Als dritte nennt Nora die
symbolische Dimension, die Voraussetzug besteht darin, dass ein Ort, bzw.
Gegenstans muss noch eine symbolische Bedeutung haben.
Noras Theorien galten für viele Wissenschaftler als Inspirationsquelle.
2.3 Theorie von Jan und Aleida Assmann
29
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 37
14
Den
Arbeiten
von
Aleida
und
Jan
Assmann
verdanken
wir
die
kulturwissenschaftliche Bestimmung von Gedächtnisformen. Jan Assmann stetzte
zuerst den Begriff ‚das kulturelle Gedächnits’ als Oberbegriff vom
‚kommunikativen
Gedächtnis’
einerseits
und
von
‚Wissenschaft’
.Das
kommunikative Gedächtnis ist im Vergleich mit dem kulturellen viel kurzer, also
umfasst etwa 80 Jahre also ca. drei bis vier Generationen. Dabei ist sie stark an die
Kommunikation gebunden und ist durch „ Alltagsnähe“ gekenzeichent.
kulturelle Gedächtnis kann man als „Altagsferne“
Das
also wird durch kulturelle
„Formung“ (Literatur, Ritten) und „institutionalisierte Kommunikation“ es ist also
ofiziell gestiftet.30 Dagegen Aleida Assmann sieht das anders. Sie unterscheidet vier
Formen
des
Gedächtnises:
individuelles,
generationen,
kollektives
und
kommunikatives Gedächtnis. Im Folgenden werden die Grundannnahmen
jeder
Form erörtert.
2.3.1 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis im Vergleich
Der
Gedächtnisdiskurs als ein interdisziplinärer Diskurs verbindet mehrere
Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte,
Literaturwissenschaft und Soziologie zusammen. Das Ergebnis dieser
Zusammnstellung von Kultur und Gedächtnis war die Theorie des kulturellen
Gedächtnisses. Seine Aufgabe beruht darauf, dass die Erfahrungen und Wissen durch
Generationen weiter fließt, um ein „Langzeitgedächtnis“ zu bilden. Das Konzept von
Assmann unterscheidet zwei ‚Gedächtnis-Rahmen’- dem kommunikativen und dem
kulturellen. Dazwischen ist es noch ein qualitativer Unterschied zu unterstreichen.
30
Vgl., Welzer, Harald, Das kommunikative Gedächtnis, Verlag C.H.Beck, München 2005, S.14-15
15
Dabei müssen die folgende Parametern: Inhalt, Formen, Medien, Zeitstruktur und
Träger berücksichtigt werden. Siehe die unterstehende Tabelle. 31
kommunikatives Gedächtnis
Inhalt
Geschichtserfahrung im Rahmen
indiv. Biographien
Formen
informell,
wenig
geformt,
naturwüchsig, entstehend durch
Interaktion, Alltag
Medien
lebendige
Erinnerung
in
organischen
Gedächtnissen,
Erfahrungen und Hörensagen
Zeitstru
ktur
Träger
80-100 Jahre, mit der Gegenwart
mitwandernder Zeithorizont von 3-4
Generationen
unspezifisch, Zeitzeugen einer
Erinnerungsgemeinschaft
kulturelles Gedächtnis
mythische
Urgeschichte,
Ereignisse in einer absoluten
Vergangenheit
gestiftet, hoher Grad an
Geformheit,
zeremonielle
Kommunikation, Fest
feste
Objektivationen,
traditionelle
symbolische
Kodierung/Inszenie- rung in Wort,
Bild, Tanz usw.
absolute Vergangenheit einer
mythischen Urzeit
spezialisierte Traditionsträger
Aus dieser Gegenüberstellung ergeben sich Folgene Schlussfolgerungen:
Das kommunikative Gedächtnis erfolgt durch verschiedene Interaktionen im
Alltag. Es umfasst einen begrenzten Zeithorizont (von ca. 80 bis 100 Jahren), denn
sein Inhalt die Erfahrungen der Zeitgenossen bilden. Jeder Mensch ist ein Träger des
kommunikativen Gedächtnisses, weil jeder als ein Zeitzeuger zumindest einer
Erinnerungsgemeischaft ist. Das kulturelle Gedächtnis stellt in den Vordergrund
mythische Ereignisse, eine vergegenwärtige Erinnerung wie z.B. der Kampf um
Troja. Es handelt sich also um „an feste Objektivationen gebundene, hichgradig
gestiftete und zeremonialisierte“ Erinnerungen, also um festen Bestand an Inhalten
und Sinnstiftungen.32
Jan Assmann formulierte 1988 eine exakte Definition des kulturellen Gedächtnisses:
31
Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 29
32
Ebd.,S.28
16
„Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft
und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs –Texten, Bildern und –Ritten zusammen, in deren 'Pflege' sie ihr Selbstbild stabilisiert
und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht
ausschließlich) über die Vergangenheit , auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein
von Einheit und Eigenart stützt.“33
Aufgrund der Analyse von Definition lassen sich folgende Merkmale unterscheiden:
-
Identitätskonkretheit- dadurch können soziale Gruppen ein kulturelles
Gedächtnis bilden und ihre Identität vermitteln;
-
Rekonstruktivität- „das kulturelle Gedächtnis ist ein retrospektives
Konstrukt“34, die Erinnerungen kann man als rekonstruierende Vegangenheit
verstehen;
-
Geformtheit- dank diesem Merkmal lassen sich kommunikative und
kulturelle ‚Gedächtnisrahmen’ voneinander unterscheiden; das kulturelle Gedächtnis
kann nur anhang fester Ausdrucksformen und Medien fortgesetzt werden;
-
Organisiertheit- hier wird“ die Institutionalisierung des kulturellen
Gedächtnisses und die Spezialisierung ihrer Trägerschaft35“
-
Verbindlichkeit- „ergibt sich für die Gruppe eine >klare Wertperspektive und
ein Relevanzgefälle“36, verwiesst auf die Tatsache , dass konkrete Werte sind für eine
bestimmte Gruppe ( Gemeinschaft) relevant;
-
Reflexivität- das Merkmal ist darauf zurückzuführen, dass „das kulturelle
Gedächnis die Lebenswelt der Gruppe, ihr Selbstbild und nicht zuletzt sich selbst
reflektiert“37
Jan Assmann betont, dass der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen
Gedächnis durch zwei zentralen Medien: ‚Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ erfolgt.
Aufgrund der Analyseergebnisse kam Assman zur folgenden Schlussfolgerungen,
dass es sich um „die Verbindung von Erinnerung, kollektiver Idetitätsbildung und
33
Ebd., S.28
Ebd., S.28
35
Ebd., S.29
36
Ebd., S.29
37
Ebd., S.29
34
17
poltischer Machtausübung und um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten oraler
und skriptualer Kulturen“38 handelt.
2.3.2 Vier Formen des Gedächtnisses von Aleida
Assmann
Aleida Assmann stellt noch eine andere Unterscheidung dar. Neben dem
kommuniktaiven und kulturellen Gedächtnis nennt sie auch das individuelle
Gedächtnis und das Generationen-Gedächntis. Im Folgenden werden alle Vier
Formen besprochen.
2.3.2.1 Das individuelle Gedächtnis
Das Erinnern spielt in unserem Leben genauso wichtige Rolle, wie das Vergessen.
Die menschliche Erinnerungsfähigkeit macht den Menschen zuerst zum Menschen.
Die biographischen Erinnerungen werden also als der Stoff, als die Basis für die
Entwicklung eines Individuums, das davon die Erfahrungen, Beziehungen und vor
allem sein eigenes Identität bildet, verstanden.39 Das individuelle Gedächtnis
gekennziechnet
sich
durch
bestimmte
Merkmale.
Die
Erinnerungen
sind
perspektivisch, unaustauschbar und unübertragbar dh. jedes Individuum besitzt eine
andere Lebensgeschichte und unterschiedliche Erinnerungen. Sie treten nicht isoliert
auf, sondern sind mit anderen verknüpft40. „Damit gewinnen sie nicht nur Kohärenz
38
Ebd.,.S.29
Vgl., Assmann, Aleida, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen, Wissen, Ethik, Jahrgang
13/2002, S. 184
40
Vgl., ebd., S.184
39
18
und
Glaubwürdigkeit,
sondern
wirken
sie
auch
verbindend
und
gemeinschaftsbildend.“41 Sie sind fragmentarisch, flüchtig und labil. Manche von
ihnen verblasen, andere, die öffter wiederholten, bleiben am besten konserviert.
Einige werden im Laufe der Zeit dem Veränderungsprozess der Person, ihr
Lebensumstände unterstellt. Sie sterben mit ihren Träger zusammen.
Die Erinnerungen verändern sich mit der Zeit, weil wir sie mit der Zeit anders
bewerten, aber sie existieren auch in einem ‚spezifischen Zeithorizont’.
„Dieser Zeithorizont wird wesentlich durch den Wechsel der Generationen
bestimmt“42, es sind ungefähr 80-100 Jahren, 3 Generationen, die durch
Kommunikation zwischen den Individuuen eine Erfahrungs-, Erinnerungs- und
Erzählgemeinschaft bilden.43
Darüber hinaus sollte man nicht vergessen, dass die Bildung des Gedächtnises
eine Entwicklungsaufgabe, die von frühen Jahren der Kindheit bis in die späte
Adoleszenz dauert. Doch als eigentlicher Beginn nennt man das Alter zwischen 3-5,
es ist also die Zeit, aus der unsere ersten Erinnerungen stammen.44
Zusammenfassend lässt sich das individuelle Gedächtnis als „das dynamische
Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung“45 bezeichnen.
2.3.2.2 Das Generationengedächtnis
Jeder Mensch dank der Kommunikation teilt mit anderen seine Erfahrungen,
Erlebnisse, Überzeugungen, Haltungen, Werten, Hoffnungen und kulturelle
Deutungsmuster. Persönliche Erinnerungen sind jeder Zeit von „bestimmten
historischen Schlüsselerfahrungen geprägt und dadurch sind alle Indiviuuen durch
die gemeisame Erinenrungen mit der Umgebung, der Gemeinde, der Stadt, der
Familie verbunden. Aleida Assmann verwiest auf die Tatsache, dass das Gedächtnis
41
Ebd., S.184
Ebd., S.184
43
Vgl., Ebd.,S.184
44
Vgl., Markowitsch,Hans/ Welzer, Harald, Das autobiographische Gedächtnis , Stuttgart 2000 S.14
45
Assmann, Aleida, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen, Wissen, Ethik, Jahrgang 13/2002, S.
184
42
19
einer Gesellschaft wesentlich durch den Wechsel der Generationen bestimmt wird.46
Jede Generation bedeutet eine Periode und die dauert ca. 40 Jahren. Nach dieser Zeit
verändern sich die früher wichtige und representative Erinnerungen ‚das
Erinnerungsprofil’ und rücken an die Peripherie, dh., dass jede Generation in einem
neuen Verhältnis zu den geschichtlichen Vorgängen steht. Die Erlebnisgeneration
sieht und erzählt alles anders als die der Kinder- also zweiter Generation. Die „Dritte
Generation“ hat keine Erinnerungen, deren Zeugen ihre Großeltern waren. Alle
nächsten Generationen sind also auf verschiedene Medien angewiesen.
Es existieren also keine Verbindungen zwischen der Lebenserfahrungen und der
Geschichte.
„Mit
dem
Generationwechsel
ändern
die
Schuldfrage,
die
Erinnerungspflicht und das Lernen aus der Geschichte ihren Status (...)“47
Der erste Wissenschaftler, der sich mit dem Generationen-Gedächtnis
beschäftigte hieß Karl Mannheim. Er stellte fest, dass „ein Individuum im Alter von
12 bis 15 Jahren für lebensprägende Erfahrungen besonders aufnahmefähig ist“.48
Mit anderen Worten: das was wir relativ früh (also in diesem Zeitraum) erleben,
„tiefere Spuren im Gedächtnis hinterließt“49, eine sehr wichtige
Rolle für
Persönlichkeitentwicklung spielt.
Offensichtlich ist das Generationengedächtnis ein entscheidendes Element in der
Bildung des persönlichen Gedächtnisses. Heinz Bude schreibt folgendes:
“
Generationen
teilen
eine
Gemeinsamkeit
der
Weltauffassung
und
Weltbemächtigung“.50 “Deshalb dreht sich die Kommunikation zwischen den
Generationen immer um eine Grenze des Verstehens, die mit der Zeitlichkeit des
Erlebens zu tun hat. Das Alter trennt auf eine ganz existentielle Weise, wiel man
seiner Zeit nicht entgehen kann.“51
46
Vgl., Ebd., S.185
Michael Kohlstruck, Zwischen Geschichte und Mythologisierung. Zum Strukturwandel
der Vergangenheitsbewältigung, in: König, Helmut u. a. (Hg.), Vergangenheitsbewältigung
am Ende des 20. Jahrhunderts, Leviathan-Sonderheft Nr. 18, 1998, S. 86-108
48
Ebd., S.185
49
Ebd.,S.185
50
Bude, Heinz, „Generationen im sozialen Wandel“ ,in: Anette Lepenies, Hg., Alt und Jung. Das
Abenteuer der Generationen. Deutsches Hygiene Museum Dresden. Frankfurt a. M., Basel 1997. S.65
51
Ebd.,S.
47
20
2.3.2.3 Das kollektive Gedächtnis
Das kollektive Gedächtnis als eine Form kollektiver Kommunikations- und
Interpretationsprozesse, umfasst das Wissen und ausschalggebende Erfahrungen und
einer Nation oder eines Stattes. Es ist ein künstliches Gebilde, vom Staat gesteuert
und bedient sich der memorialen Zeichen, Symbole wie: Texte, Bilder, Orte, Ritten,
deswegen sind sie nicht spontan, sondern symbolisch konstruiert52.
Es beinhaltet nicht die Gesamtheit, sondern nur eine Auswahl an Erinnerungen. So
werden grundsätzlich nur Siege erinnert, nicht Niederlagen. Es kommt also zu der
Bewertung der Geschichte. Die Körperschaften haben kein Gedächtnis, also sie
‚machen’ es selbst. Auf diese Art und Weise werden also bestimmte Geschehnisse
entweder als erinnerungswert oder vergessenswert klasifiziert. Das kollektive
Gedächtnis dient der Identitätsbildung und um das Selbstbild zu stärken, „ ein
solches gemachtes (...) hat keine spontanen und unwillkürlichen Momente mehr, wiel
es durch und durch intentional verfaßt und symbolisch konstruiert ist“.53 Die
symbolische Zeichen verallgemeinern, vereinheitlichen und fixieren. Alles
ist
perspektivisch organisiert, manche Ereignisse müssen vergessen werden, andere
immer wach bleiben. Friedrich Nietzsche benannte dieses Phänomen „Gedächtnis
des Willens und der kalkulierten Auswahl“.54 Die kollektiven, künstlich gebildeten
Erinnerungen werden an weitere Generationen verbreitet.
Manche Nationen gründen seine Identität auf dem Opferbewusstsein, wenn die
Helden mit großem Pathos hervorgehoben werden.
Aleida Assmann zufolge unterscheiden wir sowohl das Täter- und Opfer- als auch
Sieger- und Besiegtengedächtnis. Wobei unterscheidet sich das Opfergedächtnis
wesentlich von dem Gedächtnis der Besiegten. „ Erlittenes Leid ind erfahrenes
52
Vgl., Ebd., S. 186f
53
Ebd., S.186
Ebd., S. 186, Zitat aus Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral. München 1955
54
21
Unrecht “55 sehr tiefe Spuren im Gedächtnis der Generationen hinterlässt.
Dagegen „Scham und Schuld“56 werden durch Schweigen abgedeckt. Sie stehen
„ unter dem Druck vitaler Vergeßlichkeit“57( Dolf Sternberger).
Nietzsche fasste diese Situation in einem Aphorismus:
„ ‚Das habe ich gethan’, sagt mein Gedächtnis.
, Das kann ich nicht gethan haben’- sagt mein Stolz und bleibt unerbitlich.
Endlich – giebt das Gedächtnis nach.“58
2.3.2.4 Das kulturelle Gedächtnis
Aleida Assamann betont
auch, dass das kulturelle Gedächtnis über dem
kommunikativen Gedächtnis steht. Ihr Hauptrolle besteht darin „die Erfahrungen
und Wissen über der Generationenschwellen zu transpotrieren und damit ein
soziales Langzeitgedächtnis auszubilden.“59 Das kulturelle Gedächtnis basiert auf der
verschiedenen Überlieferungsbeständen wie Texte, Bilder, Filme, Architektur,
Artefakte, Skulpturen, Feste, Brauchtum, Rituale, Landschaft usw. Sehr oft wird
durch Erzählungen, Legenden und Mythen überliefert.
Es ist jetzt an der Stelle zu bemerken, dass dieser Bestand einen ständigen
Anapassung, Erneuerung aber auch Disskusion
benötigt. Die Hauptrolle dieser
Gedächtnisform bestaht darin, die Bestände von der Vergessenheit bewahren. Als
logische Konsequenzen solte man vor allem die Tendenz zur „Entfernung vom
lebendigen Bewusstsein“60 nennen. Es beinhaltet nicht die Gesamtheit, sondern nur
eine Auswahl an Erinnerungen. Es ist langzeitig und besteht aus den Erinnerungen
55
Ebd., S. 188
Ebd., S.188
57
Ebd., S.188
58
Nietzsche, Friedrich, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. 2. Unzeitgemäße
Betrachtung, in: Werke in drei Bänden, München 1960
59
Assmann, Aleida, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen, Wissen, Ethik, Jahrgang 13/2002,
S. 189
60
Ebd., S.189
56
22
der Menschen. Dabei handelt sich bei der Assmanschen Interpretation nicht um ein
mit dem Menschen vergleichbares Gedächtnis, sondern um eine Form kollektiver
Kommunikations- und Interpretationsprozesse. Das kollektive Gedächtnis beinhaltet
das Wissen und einschneidende Erfahrungen eines Staates. Seine Hauptaufgabe
besteht darin,
die Bestände zu pflegen und zu konservieren, doch nicht
vereinheitlichen und politisch instrumentaliesieren. Das kulturelle Gedächnits
entsteht durch individuelle Wahrnehmung, Wertschätzung und Aneignung, wie sie
durch Medien, kulturelle Einrichtungen und Bildungsinstitutionen vermittelt
werden.61
Aleida Assmann sondert ‚ Gedächtnis als ars’ und ‚Gedächtnis als vis’.62 ‚
Gedächtnis als ars’funktioniert wie ein Wissenspeicher. Jede Information kann in
gleicher Form im jedem Moment ins Gedächtnis gerufen werden können.
‚Gedächtnis als vis’ verwies auf die Tatsache, dass mit der Zeit manche
Informationen dem Prozess des Vergessens unterliegen. Doch die Wissenschaftlerin
geht noch einen Schritt wieter und unterscheidet wieter zwischen Funktions- und
Speichergedächtnis.
Das Funktiongedächtnis wurde als „bewohnte Gedächtnis“
63
bezeichnet. Es besteht
aus vielen verschiedenen“ bedeutungsgeladenen Elementen“, die eine vollstängge
Geschichte bilden können. Als charakteristische Mekmale werden: Gruppenbezug,
Selektivität, Weltbindung und Zukunftsorientierung.
Das Speichergedächtnis nennt man das
„unbewohnte Gedächtnis“, „amorphe
Masse“64 Es bedeutet die Gesamtheit der ungeordneten und bedeutungsneutralen
Vergangenheitselemente, die keinen vitalen Bezug zu Gegenwart“65 haben.
Bewahrt werden, die Informationen, die nicht mehr gebraucht werden, verschüttet
oder vergessen sind.
Jan Assman notiert folgendes:
61
Vgl. Ebd
Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Weimar 2005, S. 31
63
Assmann, Aleida, Erinnerungsräume,
1999, S. 137
64
Ebd., S.137
65
Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Weimar 2005, S. 31
62
23
Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar,
obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte
Sachwissen, aber auch das Repertoire verpasster Möglichkeiten,
alternativer
Optionen
und
ungenutzter
Chancen.
Beim
Funktionsgedächtnis dagegen handelt es sich um ein angeeignetes
Gedächtnis, das aus einem Prozeβ der Auswahl, der Verknüpfung, der
Sinnkostitution
[...]
hervorgeht.
Die
strukturlosen,
unzusammenhängenden Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als
komponiert, konstruiert, verbunden ein. Aus diesem konstruktiven Akt
geht
Sinn
hervor,
eine
Qualität,
die
dem
Speichergedächtnis
grundsätzlich abgeht.66
Das Funktionsgedächtnis ist sehr selektiv, da es immer nur einen kleinen Teil des
Ganzen umfasst. Das Speichergedächtnis kann man als das Reservoir künftiger
Funktionsgedächtnisses verstehen. So entsteht
die Möglichkeit des kulturellen
Wandels.
3. Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses
Literatur kann als Medium des kollektiven und individuellen Gedächtnisses
bezeichnet werden.
In Untersuchungen zur literarischen Inszenierungen von
Gedächtnis und Erinnerung finden wir viele Beispiele in verschiedener Epochen und
Kulturräume. Medien kann man als „Vermitlungsinstanzen und Transformatoren
zwischen inividueller und kollektiver Dimension des Erinners“67 betrachten. Die
persönliche Erinnerungen können durch mediale Repräsentation und Distribution ins
kollektive Gedächtnis gelangen. Dabei sind es keine neutrale Abbilde der
66
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen..München 1992., S.137.
67
Ebd., S. 123
24
Vegangenheit. Aleida Assmann spricht sogar davon, dass Literatur sich für die
Beschreibung von solche traumatichen Geschehnisse wie Krieg, Vertreibung
besonders eignet. Sie macht auch aufmerksam, dass
„Eine intrinsische
Qualitätsgarantie, die gegen Vergessen und Erosion in der Zeit immunisiert, gibt es
nicht”68. Man kann nie sicher sein, dass der Text die richtige, erwünschte Wirkung
ausübt.
Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern enfalten eine Wirkkraft,
welcher die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erinnerns und
Kommunizierens prägt(...) <Medialität drückt aus, dass unser Weltverhältnis und
damit alle unsere Aktivitäten und Erfahrungen mit welterschließender (...)
Funktionen geprägt sind von den Unterscheidungsmöglichkeiten, die die Medien
eröffnen, und den Beschränkungen, die sie dabei auferlegen. ( Sybille Krämer)69
Die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses kommt durch fünf Modi zum Vorschein:
erfahrungshaftiger
Modus,
monumentaler
Modus,
historisierender
Modus,
antagonistischer Modus und reflexiver Modus.70 Im nächsten Schritt werden nur
zwei analysiert:
1.
Erfahrungshaftiger Modus
2.
Monumentaler Modus
3.1. Erfahrungshaftiger Modus
68
Ebd., S. 167
Ebd., S.124
70
Vgl. ebd., S. 168.
69
25
Im
efahrungshaftigen Modus kommt „das Erzählte
als Gegenstand des
alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses“71. Es werden also die typische
Inhalte von Alltag, deteilsreichen Beschreibungen, spezifische Erfahrungen,
bestimmte Orte, Zeitpunkte und Verhatensweisen inszeniert.
72
Die dargestellte
Wirklichkeit ist das Abbild der Epoche oder Gruppe. Der erfahrungshaftige Modus
charaktrisiert sich vor allem durch die Authentizität. Man gewinnt den Eindruck,
dass das fiktive Welt wirklich egzistiert, was in manchen Situationen irreführend sein
kann.
3. 1. 1 Monumentaler Modus:
Literatur ziechnet sich durch Monumentalität aus. Aleide Assmann folgend kann
man das Monument als ein Zeichen, der eine Botschaft beinhaltet. „Monument ist ,
was dazu bestimmt ist, die Gegenwart zu überdauern und in diesem Fernhorizont
kultureller kommunikation zu sprechen“.73
Das Monument bildet nicht nur Literatur aber auch alle kulturelle Artefakte,
Bauwerke, Denkmäler, Statuen und Gegenstände. Sie nehmen in der kulturellen
Kommunikation teil. Der monumentale Modus steht näher dem kulturellen
Gedächtnis als der erfahrungshafitge.
„ Es dominiert eine Darstellungsweise, die der Repräsentation von Vergangenheit
durch
Medien
und
Praktiken
des
kulturellen
Gedächtnisses
(
Nationalgeschichtsschreibung, Mythos, Ritual usw.)“74
Um eine Entscheidung zu treffen, zu wlecher Modus
das angegebene Werk
angehört, muss man folgende Literarische Darstellungsverfahren analysieren.
71
Erll, Astrid, Gedächtnisromane, Trier 2003, S. 268
Vgl. Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Weimar 2005, S. 169
73
Assmann, Aleida:”Kultur als Lebenswelt und Monument”.Frankfurt a.M.1991, S.14
74
Erll, Astrid, Gedächtnisromane, Trier 2003, S. 268
72
26
Selektionsstruktur:
Die entscheidende Rolle spielt die Darstellungsform des ‚wie’ und des’ was’. Von
dem erfahrungshaftigen Modus spricht man im Falle, wenn die auβertextuelle
Erinnerungskultur im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses erinnert wird.
Der Text tritt als Medium des kulturellen Gedächtnisses, wenn in der auβertextuellen
Erinnerungskultur erinnert wird.75
Paratextuelle Gestaltung:
Die Mottos wie Bibelsprüche, Zitate, können „eine ganze kulturelle Tradition mit
ihrer Semantik” 76 bilden. Solche Texte sind Träger der Monumenten und können als
Bild einer Kultur verstanden werden. Wenn „Widmungen an Mitglieder einer
(fiktiven) kommunikativen Gedächtnisgemeinschaft”77 in einem literarischen Text
dominant sind, ist ein Werk zum Medium des kommunikativen Gedächtnisses.
Intertextualität:
Die Intertextualität führt häufig zur „Etablierung eines monumentalen Modus“78.
Viele Autoren schöpfen aus Qellen der vorgängigen, klassischen, kanonischen
Literatur (Zitate, Symbolik, sprachliche Besonderheiten, charakteristische Figuren).
Dadurch kann ein Text Medium des kulturellen Gedächtnisses werden. Er erlangt
seine Autorität durch Verwiese auf anerkannte Literatur79. Nach Jan Assmann
„ klassisch wird ein Text erst dann, wenn er zum Vorbild variierender Texte
wird(...)“80
Interdiskursivität:
75
Vgl. Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Weimar 2005, S. 170
Ebd., S.170
77
Ebd., S. 170.
78
Ebd.
79
Vgl., ebd., S.171
80
Ebd., S.171
76
27
„ Literatur zeichnet sich durch ihre hochgradige Bezogenheit auf außerliterarische
Rede aus“.81 Die alltagssprschliche und gruppenspezifischer Ausdrücke sind ein
Zeichen für den erfahrungshaftigen Modus. Wobei die ‚Sprache des Monuments’,
die
sich durch formelhafte und archaische Wendungen kennzeichnet, den
monumentalen Modus bilden.
Intermedialität:
Die Medien können sowohl das kulturelle als auch kommunikative Gedächntis
bilden. Fotos und Tonbandaufnahmen etablieren den erfahrungshaftigen Modus. Die
Denkmäler,
historische,
heilige
Schriften,
sind
Träger
des
kulturellen
Gedächtnisses.82
Zur erzählerischen Vermittlung:
Zur Vermittlung des kulturellen Gedächtnisses eignen sich am besten die auktoriale
Erzählinstanzen. Sie gehören nicht zu den handelnden Figuren, doch haben sie den
Einblick in die Innenwelt der Handelnden Instanzen. Sie erzählen die Geschichte aus
der Perspektive des Beobachters. Darüber hinaus sind sie, genauso wie die Träger
des kulturellen Gedächtnisses, minimal in die fiktive Welt involwiert. Dabei
verfügen sie über die Macht, dem Erzählten kritisch eingestellt werden. Durch ihren
‚olympischen Überblick’ auf die Vergangeheit und Zukunft. Allwissende Erzähler
bewertet, kommentiert, etabliert den Sinn83.
Der Ich- Erzähler als Träger des kommunikativen Gedächtnisses verfügt über
spezifische Eigenschaften. Seine Bewusstseindarstellung wird nur auf das, was er
denkt und fühlt reduziert. Er ist nicht allwissend, kennt die Zukunft nicht, von der
Vergangenheit weisst er nur das, was er selbst erlebt hat oder was ihm erzählt wurde.
81
Ebd.
Vgl.,ebd., S.171
83
Vgl.,ebd.,S.172
82
28
„Der I- as- witness Erzähler, der für Augenzeugenschaft steht und Selbsterlebtes mit
der Beobachtung der Erfahrungen anderer verbindet, oder der autodiegetische
Erzähler, der seine Erfahrungen als paradigmatisch ausgibt und somit für ein
Kollektiv spricht, können zur literarischen Inszenierung der Trägerschaft
kommunikativer Gedächtnisse im literarischen Text beitragen”.84
Die Innenweltdarstellung:
„Die
Innenweltdarstellung
gehört
zu
dem
besonderen
Leistungsvermögen
literarischer Texte in der Erinnerungskultur. Interne Fokalisierung bringt zur
Darstellung, was in der Psychologie als >Feld- Erinnerung< beziechnet wird: die
Spezifität individueller Lebenserfahrung (Erfahrungsspezifität).“85 Die Erfahrungen,
Emotionen werden mit allen Details zu typischen Gegenständen kommunikativer
Gedächtnisse. Literatur kann aber noch andere, manchmal sogar traumatische
Erlebnisse durch die uneingeschränkte Innenweltdarstellung Aspekte inszenieren.
Dabei sind die Techniken wie erlebte Rede, innere Monolog relevant.86
84
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 172.
Ebd., S. 173
86
Vgl., ebd. S.173
85
29
4. Aspekte der Erinnerung in Arno Orzesseks “ Schattauers
Tochter”
4.1 Das <Was> Ebene
Wenn man sich mit dem Roman von Arno Orzessek beschäftigt, denk man sofort an
die Worte Karel Kosiks “ Jedes künstlerische Werk hat in unteilbarer Einheit einen
doppelten Charakter: es ist Ausdruck von Wirklichkeit, aber es bildet auch die
Wirklichkeit, die nicht neben dem Werk und vor dem Werk, sondern gerade nur im
Werk existiert”87
Deshalb ist es wichtig jedes Thema in entsprechenden Kontekst zu analysieren.
Immer
noch
haben
wir
die
Autorengruppe,
die
eine
spezielle
Gedächtnisgemeinschaft bildet. Man spricht hier über der persönlichen Betroffenheit
und von der Generation die durch bestimmte Ereignisse verbuden ist. Der Krieg wird
immer weiter in die Vergessenheit geraten, die Zahl der Augenzeugen wird immer
kleiner und das was uns bleibt, dass sind die Erinnerungen die in Form der Literatur
für die Nachfolgern gelassen werden können.
Die erste literarische Schrifte sind noch in der Antike entstanden. Schon damals
hat man der Literatur eine operative Funktion zugeschrieben. Das ist der Grund
dafür, dass Literatur sich besonders als Gedächtnismedium eignet und dies hat sich
bis heute nichts viel geändert. Die Autoren sind ihren Rolle bewusst und versuchen
nicht nur politische und gesellschaftliche Verhältnisse ze analysieren, sie tragen eine
große Verantwortung, denn die Literatur kann uns den richtigen Weg zeigen, das
Leben verändern und was damit verbunden ist, ein wichtiges zukunftbildendes
Element, das uns dauerhaft verändert. Dabei spielen die einzelnen fiktionalen
Elemente eine wichtige Rolle und dienen der Weltdarstellung. Das alles gehört zum
Fach des Autors.
87
Kosik, Karel: Die Dialektyk des Konkreten. Frankfurt/M. 1967, S. 123.
30
„Schattauers Tochter“ ist ein Debütroman von Arno Orzessek. Am 23. September
erhält er Uwe-Johnson-Förderpreis der Mecklenburgischen Literatur-gesellschaft.
Der Autor des Romans erzählt von seinem Buch in einer Geschpräch mit JuryVorsitzender Carsten Gansel Literaturprofessor an der Universität Gießen:
„Um meiner Prosa Wirklichkeitshärte zu geben, habe ich die Episoden an reale
Schauplätze
verlegt,
diese
genauer
untersucht
und
dokumentarisches,
wissenschaftliches und mündlich überliefertes Material hinzugezogen. Irgendwann,
während alles noch um das infernalische Duo Eckstein und Manthey kreiste,
bemerkte ich, dass auch Eckstein eine Mutter gehabt haben muss, und entdeckte so
die Romanfigur Marie Eckstein, deren Geburtsnamen ich damals noch nicht kannte.
Durch die Beschäftigung mit Maries möglicher Vergangenheit geriet ich in die
Vorkriegszeit und erschloss ein neues Depot von Erinnerungen, das meiner Eltern.
Damit bot sich Masuren als weiterer Schauplatz an. Meine Arbeit kreiste nun um
zwei Pole: Um Maries Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und um die
Manthey-Eckstein-Rivalität vier, fünf Jahrzehnte später. Ich begann zu ahnen, dass
der Clou des Romans die Verzahnung beider Zeitebenen sein könnte, müsste,
sollte.“88
(Anhang)
Der Roman spielt auf zwei Ebenen. Die Hauptfigur Marie verbindet die beide
Erzählstangen auf eine ganz interessant Weise, was den Leser bis zum Schluss des
Buches fesselt. Das Buch ist in drei Teile aufgetilt. Jede besteht noch aus keineren
Kapilteln, deren Zahl nicht gleich ist.
88
http://www.nordkurier.de/uwe-johnson-preis/foerderpreis/orzessek-interview.php
31
4.1.1 Zum Inhalt
Maria Schattauer stammte aus einer Pietistenfamilie, die in einem Dorf Namens
Kleinbärengrund – 350-Einwohner-Kaff in den Masuren lebte. Zuerst erleben wir
sie als ein 18-Jähriges Mädchen. Ihr Leben scheint gar nicht interessant zu sein,
sogar für sie selbst. Es besteht vor allem aus Beten und Arbeiten. Im Sommer 1937
kommen zwei Besucher ins Dorf. Der alte Händler Balduin Eckstein versucht sie
vergewaltigen, zum Glück kommt aber sein Neffe Hermann, der als Offizier in der
Wehrmacht dient, um die unschuldige Masurin zu retten. Hermann Eckstein verliebt
sich in die junge Marie, was ihr Vater nicht zulasseen konnte. Nach dem sie
verprügelt wurde, verlässt Marie ihre fromme Familie und kommt mit Hermann in
die
große
Welt
der
Architektenfamilie
Eckstein
nach
Osnabrück.
Die
Schwiegereltern betrachten Marie als sehr exotisches Lebewesen, denn sie kocht,
werkelt, was in den bürgerlichen Familien nicht zu gewönlichen Beschäfitgungen
einer Dame gehörte. Beide heiraten kurz vor Kriegsbeginn. Das Glück dauert nicht
lange und Hermann muss an die Ostftont. Er erlebte russiche Gefangenschaft, läuft
sogar zu den Sowjets über, und kämpfte als Partisane gegen die Wehrmacht. Marie
überlebt den Krieg aber sie glaubte nicht an die Rückkehr ihres Mannes. Kurz nach
dem Kriegsende erlebte sie eine Affäre mit einem jungen Mann, Danni.
Als ihr Mann zurückkehrt, erfärt er, dass sie von einem andern Schwanger ist. Aus
Wut verlässt er seine Familie und Heimatstadt und geht nach Berlin zu den
Kommunisten. Marie besinnt sich in riesen Not, fühlt sich schuldig und von Reue
gepeinigt.
Die zweite Erzählstange stellt Marie als alte, bline Frau, die im Dachzimmer des
Ecksteins Hauses auf den Tod wartet. Ihr Sohn Gustav Eckstein ist Rhetoriklehrer,
der seine Lebensphilosphie um die Schülern, vor allem Mädchen ‚ Nymphen’ an sie
zu fesseln, nutzt. Er eröffnet seinen Schülern eine neue Welt, wurde zum Vorbild vor
allem für Eduard, der aus der Mittelschichtkindern stammte. Angeregt durch
32
Eckstein strebt Eduard nach Höherem „ Ich werde meine Wurzeln ausreißen“89 und
„ein neuer, auf irgendeine Art und Weise bedeutender Mensch zu werden“.90 Mit der
Zeit kommt zwischen den beiden zu einer interessanten Relation, die sich zwischen
Eifersucht und Bewunderung schwankte.
Eckstein gewinnt die erste Traummädchen Eduards, was ihn zum Atentat bewegte.
Die Rache ist ihm doch nicht gelungen: gebrannt, mit Amnesie versucht er das
Leben weiter zu leben. Nach der Abitur ist die Geschichte mit seinem Lehrer nicht zu
Ende. Sie ist überraschend wie das Leben. Der unbekannte Vater von Gustav ist auch
der Vater von Eduard. Die Wahrheit wurde Eduard erst zum Schluß des Buches
erklärt. Die Geschichte endet völlig anders als man erwartet hätte. Die Brüder
stürzten, während des Kampfes, auf sie Pflastersteine vor den Kellergaragen. Der Ich
–Erzähler gab keine genauere Erklärung, was mit den beiden passierte. Doch der
letzte Satz des Romans deutet, darauf hin, dass die Geschichte den beiden tragisch
endet. „ Damals hörte ich Weinen“
Im Folgenden werden die interessantesten Pressestimmen zitiert:
„ Die Bilder und Welten, die er beschreibt, wird man so schnell nicht vergessen.
Und so ist ihm mit ‚ Schattauers Tochter’ ein wunderbar kraftvoller Roman über die
Folgen des Dritten Reiches für die Lebenswirklichkeit dreier Generationen des in die
Gegenwart verlängerten 20. Jahrhunderts gelungen.“
Ralph Gerstenberg, Deutschlandfunk, 31.5. 2005
„ Arno Orzessek erzählt aus dem vollen Merchenleben: Von Gut und Böse, Politik
und Heimat..... Der elegante, oft lässige aber nie fahrlässige, meist leichte, aber nie
leichtfertige Stil bleibt den ganzen Roman über auf hohem Niveau. Orzessek
behandelt Erotik und Sex sehr nuanciert, mal kraftvoll, mal zart. Alle Hauptfiguren
sind eindrucksvolle Persönlichkeiten- so gekonnt haben wir das lange nicht gelesen.
So randvoll wie Arno Orzessek seinen Pokal ‚Schattauers Tochter’ eingegossen hat,
89
90
Orzeszek, Arno: Schattauers Tochter, S.24
Ebd., S. 23
33
serviert man eigentlich nicht; weniger wollen wir aber jetzt auch nicht lesen- das
wird schwer.“
Harald Loch, Saarbrücker Zeitung, 27.5. 2005
„ (...) das sechs Jahrzehnte umfassende Epos von Sex und Eifersucht, Geld und
Gewalt mit einem Hauch von Ironie.“
Norbert Tefleski, Ticket Berlin, 4.5.2005
4.1.2 Figurenkonstelation
Figurenanalyse- „Figuren sind zunächst Handlungsträger; als solche stehen sie mit
anderen Figuren in Wechselbeziehung und werden aneinander bestimmt; durch ihre
‚Ausstattung’ oder ihre Entscheidungen lösen sie Handlungsfäden aus. Figuren sind
weiter durch Merkmalsbündel gekennzeichnet, die sie als in Opposition zu mit
anderen Merkmalenausgestatteten Figuren stehend bezeichnen.“91
Marie, Eduard, Eckstein, das sind die drei Hauptfiguren. Sie wissen nicht, warum
und wodurch sie miteinander verbunden sind. Doch alles wurde am Ende des
Romans ausführlich erklärt. Doch bevor es geschah, ist es wichtig das Benehmen,
die Verhältnisse und Einstellungen der Hauptprotagonisten genauer zu analysieren.
Im folgenen Teil der Arbeit werden die Figuren und Figurenkonstelationen gründlich
analysiert.
Es wird gezeigt, den
Mangel an Kontakt und Verständnis zwischen den drei
Generationen. Es fehlt vor allem an Liebe, Sorge, Unterstützung, Verständlichkeit,
und familiäre Atmosphäre.
91
Ludwig, Hans, Wrener: Arbeitsbuch. Romananalyse, S.141
34
4.1.2.1.
Relationen
zwischen Marie Eckstein ( Schattauer) und Hermann
Eckstein.
Die erste zufällige Begegnung war für die beiden entscheidend. Hermann rettete
Marie aus den Händen seinen Onkels Balduin, der sie vergewaltigen wollte. Marie ist
Tochter pietistischen Bauern, die von der großen Welt träumt. Hermann stammt aus
einer bürgerlichen Familie, die in Osnabrück wohnte. Sie verlieben sich in einander:
„ Er erinnerte sich an ihre Impfmale auf dem linken Oberarm, an die weißen Inseln
auf dem hellen Braun der Haut. Sein kühnster Traum war nun, Marie einmal in die
Arme zu nehmen, um den Geschmack ihres Atems auszuprobieren, den er sich
extravagant vorstellte.“92
„ Innerlich war sie aufgewült und wusste nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Am
Morgen des dritten Tages stand sie vor dem Spiegel neben ihrem Bett, um sich die
dunklen Haare zu kämen. Ihre Augen glänzten, als würde sie weinen. Frieda kam
herein und vergrub ihren Kopf in der Seite der großen Schwester. Marie spürte
durch das Nachthemt den warmen Atem. >Verliebt, verliebt<, sagte Frieda.
>Du bist verliebt. Und ich auch.< 93
Doch ihr streger Vater kann es nicht zulassen, dass seine Tochter aus dem Haus frei
lassen. „ Ich habe den Heiligen Geist fortgejagt und mich an Hermann verschenkt,
rief sie atemlos. Du kannst mir nichts anhaben, Vater. Schlag mich, aber gib mich
frei.“94
Hermann kam ihr zur Rettung, nahm sie nach Hause nach Osnabrück um sie dort zu
heiraten. Beide waren überglücklich. Nach der Traung machten Marie und Hermann
eine schöne Reise in die Schweiz. „ Nach zehn Tagen verließen die Eheleute das
92
Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007
93
Ebd., S. 142
94
Ebd., S. 142
35
Hotel in den Graubündner Alpen, ohne viel von der Gegend gesehen zu haben“95.
Leider dauerte das Glück nicht lange, der Krieg ausbrach und Hermann musste an
die Ostftont. Beide wollten unbediengt ein Kind haben, doch alle mögliche Versuche
hatten leider nicht zu den Erfolg gefürt. Marie wurde nicht Schwanger. Mit der Zeit
war auch die Lust verschwunden.
„ Durch den unbediengten Wunsch , mit Hermann ein Kind zu zeugen, durch das
Gefühl , von der Familie und den Demonen bei Intimsten je länger, je genauer
beobachter zu werden, verloren die Liebesstunden an Intensität und Freizügigkeit.
Manchmal war Marie so abgelenkt, dass es Hermann nicht gelang, sie glücklich zu
machen“96
Vermutlich war es der Anfang des Endes ihrer Liebe. „Meine Mohnblüte“ so nannte
Hermann seine Frau auch in den Briefen, die er an sie schrieb. Noch beim verfassen
des ersten Briefes „ war Hermann so leibestoll, dass er Marie auf drei Seiten
Masturbationanwiesungen gab und mit Bleistiftzeichnungen bebilderte“97. Sein
dritter Brief ziegte, dass sich Hermann im Laufe der Zeit veränderte. Er ist „durch
die unwiederstehliche Prägekraft des Krieges in ein anderes Leben geraten war“98
Die ganze Situation, der Krieg übte auf Marie einen riesigen Einfluss aus. Es änderte
ihre Einstellung zu ihrem Mann.
„ Ich möchte es, dachte Marie, aber es geht nicht. Sie fühlte sich Entsetzen, wenn sie
an Adams Blut an Hermanns Händen dachte. Ihre Vorstellungskraft konnte nicht
weiter in den unsäglichen Pfuhl dieser Ereignisse dringen. Ihr Mann tat ihr Leid,
aber sie spürte keinen Drang, ihn tröstend in die Arme zu nehmen, im Gegenteil. Sie
hatte ihn jetzt, im Augenblick der Brieflektüre und des Nachsinnens, von sich
weggestoßen. Marie begriff, dass die Schatzruhe ihrer gemeinsamen Erfahrungen
geschlossen war. Die Erinnerung würde ausreichen müssen, um die Liebein den
Zeiten des Krieges zu erhalten“99
95
Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007., S.353
Ebd., S. 382
97
Ebd., S.389
98
Ebd. , S.388
99
Ebd., S.390
96
36
Familie Eckstein erfuhr, dass ihn ein Gewehrkugel von hinten in die Brust traf, und
er wurde vermisst. Marie sagte dazu: „ Hermann wird nicht sterben, sagte sie.
Unsere Liebe ist noch nicht zu Ende“100.
Hermann erlitt einen Schock als er Adam tötete, ging zu den Russen und kämpfte als
Partisan gegen Deutschen. Dort verliebt er sich in Eva und „ Seine Gedanken stießen
nur noch bis zu Marie vor, wenn er das Lied sang, das er in Kalenderbüchlein, unser
Lied` nannte und so übersetzte: Wart aus mich, ich komm zurück. Warte sehr, auch
dann, wenn andere nicht mehr warten. Wart auch dann, wenn dunkle Wolken den
Himmel trüben, wart, ich komm zurück. Wart auf mich, denn ich bin für dich.’’101
Der Krieg hatte das
Gefühl getötet. Marie spielte im Leben Hermanns keine
wichtige Rolle. Von großer Liebe, Sehnsucht war keine Rede mehr. Dagegen Marie
beschäftigte nur ein Gedanke, dass Er den Krieg, wegen ihr veranstallte, wegen ihr
und anderen Sündern. Eben wie Strafgericht.
Nicht desto trozt es zog sie etwas zu Danni, jetzt brandete etwas Mächtigeres durch
ihre Adern, es war ein Begehren nach Danni,,102Ihr Mann war ihr nicht mehr
wichtig.
,, Sie hielt Hermann in Ehren und liebte sein Andenken. Aber wenn sie ehrlich war,
vermisste sie ihren Mann nicht mehr. Sie hatte die Fähigkeit verloren, über alle
Entfernungen in seiner Nähe zu verweilen und jetzt branndete etwas Mächtigeres
durch ihre Adern. Es war das Begehren nach Danni.103
Bald gab sie „alle Skrupel auf und brachte Danni Liebesspiele bei, die ihm den Atem
raubten.
104
Irgendwann kam zwischen ihnen zur einer sexuellen Beziehung. Das
Schichcksal änderte sich bald schon wieder.
Eines Tag kam Hermann zurük, es war schon lange nach der Kriegsende. Marie war
sehr überrascht, sie hatte keine besonderen Gefühle zu ihrem Mann. Doch sie
beschließt alles wieder aufzubauen, die Liebe neu zu erlernen.
„Als Marie in den Gartenzimmern Hermanns Stimme hörte, glaubte sie minutenlang
an eine Sinnestäuschung. Dann unterwarf sie sich der Realität. Sie fühlte keine
100
Ebd. , S.393
Ebd., S.474
102
Ebd., S.525
103
Ebd., S.525
104
Ebd., S.525
101
37
wärmeren Empfindungen, aber sie wurde von Pflicht- und Schuldbewusstsein in die
Zange genommen. Sie spürte, dass in ihr der unauslöschliche Pietismus arbeitete.
Noch bevor sie sich vom kirchholzlehnstuhl erhob, stand ihr Urteil fest: Wenn
Hermann lebte- und er lebte!- war es ihre gemeinsame Aufgabe, die Liebe von
neuem zu erlernen. Das mochte so unmöglich erscheinen wie der Wiederaufbau der
Stadt, aber es gab keine Alternative“105
Marie dachte an die schöne Zeit, die sie gemeinsam vor dem Krieg verbracht hatten.
Hermann war auch befremdet, und Marie war seine Frau in einem anderen Land,
eine andere Zeit.
„Hermann, der die Kraft seiner Phantasie fürvunbezwingbar gehalten hatte, konnte
sich nicht vorstellen, Marie noch zu lieben. Er fühlte sich von seiner Herzenkälte
entlarvt und wäre am liebsten sofort wieder aufs Fahrrad gestiegen106.
Doch wollte er mit Marie bleiben, um die Liebe wieder zu lernen. Sie sollten eine
vollständige Familie bilden, ein elternolosen Kind aus den Grenzlanden adoptieren.
Seine Frau stellte ihm noch eine Frage, die schon mal gestellt wurde.“ Sag, dass du
mich nehmen willst, ob allein oder zu zweit“.107 Hermann hielt diese Nachricht für
unerträglich- „ Du hast immer ein Kind im Bauch, wenn ich dich lieben will! -rief er
Dein Name täuscht. Du bist eine Hure!“ Für sie war diese Situation auch nicht
leichter. „Marie wünschte sich, bewusstlos zu werden, damit sie nicht an ihrer
Scham stürbe“108
„ Hermann wartete den Sonnenuntergang ab und verschwand. Das Einzige, was er
von seiner geringen Habe vergaß, war das Kalenderbüchlein, in dem Marie nachlas,
dass der Krieg auch im Osten stärker gewesen war als die Treue.“109
105
Ebd., S. 531
Ebd., S. 532
107
Ebd., S. 238
108
Ebd., S.539
109
Ebd., S.539
106
38
Hermann schrieb noch einen Brief an siene Frau, nach 9 jahren, bevor er an
Magenkrebs gestorben war. Er bedankte sich, dass sie ihm vertrautt hatte. „ Etwas
Wertvolles als Dein Vertrauen habe ich nie mehr besessen Mohnblüte, erst recht
nicht bei den Kommunisten.“110Es sei also, dass Hermann sein Glück auch nicht bei
den Kummunisten gefunden hatte. Der Krieg zerstörte alles was schön war, alles was
den Menschen die Ruhe brachte. Hermann und Marie hatten ihre Liebe nicht wieder
gefunden. Beide bleiben unglücklich und allein.
4.1.2.2 Relationen zwischen Marie Eckstein und ihrer Sohn Gustav Hermann
Eckstein.
Nachdem Maria das Kind zur Welt brachte, ging sie mit ihrem Kind ohne
Verpflegung auf die Staße, wo sie nach einigen Tagen mit anderen in eine
Nissenhütte traf. Die erste Erinnerung Gustavs war sein Schmerz, als „ die
Stuhllehne mit ihm Richtung Ofen kippte , fiel Gustav nicht zu Boden, sondern blieb
mit dem Oberkörper auf der Kochfläche liegen, wälzte sich hin und her und zog sich
Verbrennungen an Händen, Armen und im Gesicht zu, bevor er gerettet wurde“111
Noch vor der Verbrennung kannte Gustav zwei Stimmen, „die nicht viel gemeinsam
hatten, außer dem Raum, in dem sie erklangen“112 Die erste Stimme war ihm
freundlich und liebesvoll, man könnte vermuten, es sei die Stimme seiner Mutter
Marie. Doch es war nicht der Fall.
„Die erste Stimme gehörte Frieda Schattauer. Sie war die einzige Überlebende der
Familie Schattauer aus Kleinbärengrund“.113 Ihre Stimme war laut und frölich und
machte ihn neugierig auf alles, was gesprochen wurde.
110
Ebd. ,S. 639
Ebd., S.515
112
Ebd. S.516
113
Ebd. S.516
111
39
Die zweite Stimme war ihm fremd, „ und irgendwann erkannte er im Silbenwirrwarr
des Raumes einzelne Laute und Lautfolgen wieder. In besonderen Augenblicken
merkte er, dass die geliebte Stimme nur ihm galt. Allmählich wurde ihm zur
Gewohnheit, dass in diesen Fällen zwei kurze Laute aufeinander folgten, die er noch
nicht sagen und nicht denken, aber die er hören konnte. Gus-tav.“114
Diese Stimme gehörte siener Mutter- Marie Eckstein.
„Sie wirkte schwachbrüstig und zerbrechlich. Auch diese Stimme näherte sich
manchmal seinem Ohr, aber drang niemals klar zu ihm durch, sondern vererbte in
der ersten Zeit seines Hörens in einem unentschlossenen Flüsterton, erlosch
manchmal einfach und hinterließ im Erlöschen weder Nachhall noch Lücke. Es war
nicht so, dass die zweite Stimme nicht sprechen wollte, im Gegenteil. Immer wieder
hob sie an und erzählte Geschichte von Vater, Mutter und Geschwistern in dem Dorf
Kleinbärengrund und von der Liebe, Trennung und Abtrünnigkeit. Aber die zeite
Stimme redete in Worten, die nicht den Klang von >Teller<, >Kohle<, >Suppe<
hatten, an die sich Gustav durch die fröchlichen Wiederholungen der ersten Stimme
allmählich gewöhnte. Die zweite Stimme sprach vonunsichtbaren Dingen, die noch
unsichtbarer waren als Gott.>Salzbund< war eines der rätselhaften Worte, das sich
der kleine Gustav einprägte, >Sünde< ein anderes. Als Gustav lernte, die Besitzerin
der ersten Stimme Frieda zu nennen, ohne bis dahin Mama sagen zu können, hörte
er die zweite Stimme oft wienen. Er brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass die
zweite Stimme in Wirklichkeit mehr zu bestimmen hatte als die erste, wenn es um
seine Wünsche und Sorgen ging.“115
Die Relation zwischen Gustav und Marie gehörte nicht zu den gewönlichen MutterSohn Relationen. Zwischen ihnen gab es keine Gefühle, wie Liebe, Sorge, warme
Worte, Umarmungen, Küsse. Es fehlten alle Eigenschaften, die das MutterSohnverhältnis charakterisieren. Gustav wusste sogar nicht, wer seine Mutter ist.
114
115
Ebd., S.516
Ebd., S.518
40
„ Als er einmal nach Frieda rief- >Frieda, Frieda<,- kam die zweite Stimme über
ihn und sagte mit einer gewissen Empfindlichkeit: > Gustav, mein Junge, du wirst
einsehen müssen, dass ich deine Mutter bin<. Gustav kam sogar unwarschienlich,
dass man mehr als einen Menschen lieben kann. „ Er liebte ja eigentlich nur Tante
Frieda“.116
Die Gespräche zwischen der Mutter und dem Sohn sahen folgenderweise:
>Du wirst immer kleiner<, sagte er.
> Wir alle werden immer kleiner, mein Junge<, sagte Marie.
> Das Leben ist nur für kurze Zeit ein Wachsen, dann ist es Schrumpfen. <
> Du wirst immer hässlicher und kleiner, weil du es willst, setzte Gustav nach.
>Warum willst du schrumpfen? <
> Es muss für dich so aussehen, Gustav<, sagte Marie.
> Aber das Gegenteil ist wahr. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich
groß und glücklich sein.<117
Eines Tages kam Gustavs die Idee, dass andere Kinder neben der Mama auch einen
Papa hatten.
„> Ist mein Papa auch im Krieg geblieben? < fragte er eines Morgens beim
Frühstück, als er sein Marmeladenbrot aufgegessen hatte. Er sah rote Striemen auf
Maries Gesicht schlagen, als hätte er keine Frage gestellt, sonern seine Mutter
ausgepeitsch. Sie sprang auf, lief die Treppe hinab und verschwand auf dem Hof, um
Wäsche aufzuhängen. Gustav erfuhr später, dass Marie gehofft hatte, er würde erst
dann auf das Unvermeidliche kommen, wenn die Zeit ihrer Scham vorüber wäre. Sie
schämte sich bei dem Gedanken, die Geschichte ihrer Untreue gegen Gott, ihre
Eltern, ihren Ehemann und ihren Geliebten zu erzählen, deren sichtbares Zeichen
das vaterlose Kind selbst war.“118
Gustav versuchte etwas von seinem Vater zu erfahren, doch es wurde ihm nur
erklärt, dass er in Gottes Hand ist. Er phantasierte, dass er der Sohn Friedas ist.
116
Ebd., S.519
Ebd., S. 577
118
Ebd., S. 579
117
41
„ Er liebte sie viel mehr als siene Mutter, die er nicht liebte...“119
Er vermutete, dass die Niedergeschlagenheit seiner Mutter etwas mit seinem Vater
zu tun hatte –und er wollte herausfinden, wer dieser Mann war. Eines Tages kam
Albert Eckstein, der Schwiegervater Maries, die Versönung zu suchen. Gustav war
unruhig und suchte die Antwort auf die quelände ihn Frage:
„>Wer sind Sie denn nun genau? <fragte Gustav. >Ich suche nähmlich noch meinem
Vater.<
>Mein Lieber<, sagte Albert. Für diese Frage ist deine Mutter zuständig.<
> Die sagt aber nichts<, sagte Gustav. >Noch nicht einmal Tante Frieda<
>Das ist noch mal eine lange Geschichte, Kleiner, länger als dieser Tag<, sagte
Albert. > Ich bin der Vater des Mannes, der dein Vater sein wollte. Er heißt
Hermann und ist fast so ein Dickkopf wie Marie. Jetzt ist er bei den Kommunisten
und denkt gar nicht dran, sich zu Hause zu melden.... Aber ich muss los.<
So war die Sache nicht erklärt und immer mehr kompliziert. Er beobachtete seine
Mutter und sehnte sich nach ihrer Umarmung.
„Wenn Gustav bemerkte, dass seine Mutter ihren traurigen Blick durch Wohn- und
Schlafzimmer schweifen ließ, tat sie ihm Leid. Er überlegte manchmal, ob es ihr
gefallen würde, wenn er sich auf ihren Schoß setzen und sie mit Schwatzen, Kitzeln
und Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst untehalten würde. Doch er tat es kein einziges
Mal. Anders als Biggis und Friedas Gestalten, wollte er den Körper seiner Mutter
nicht anfassen. Allein bei dem Gedanken sträubten sich seine Haare. Er war
überzeugt davon, dass Marie kalt und hart wäre, wenn er sie anfassen würde- wie
einer der Grabsteinen- Rohlinge, die er beim Steinmetz am Friedhof gesehen
hatte“.120
Völlig anders sah das Verhältnis zwischen Gustav und Frieda. Man könnte vermuten,
sie sei seine Mutter.
„Als Gustav an seinem achten Geburtstag erwachte, kam Frieda herein, spielte auf
der Blockflüte ein Ständchen und sang für ihn das einfachste und wahrste aller
119
120
Ebd., S.580
Ebd., S.592
42
Lieder auf der Welt. Gott ist die Liebe. Er spürte, dass Frieda warme Hände unter
der Bettdecke nach seinen Händen suchten, um ein kurzes, kraftiges Gebet zu
sprechen. Sie überreichte ihm einen funkelnagelneuen Mercedes, bei dem man Türen
und Kofferraumklappe öffnen konnte. Er sprang aus dem Bett und gab sich ihren
Armen gefangen. Er gab ihr die schönsten Küsse und rubbelte seine Schniefnase, die
vor Liebe ein bisschen tropfte, an ihrem Hals.
>Danke Tante Frieda<, sagte er. Ich wünsche mir, dass alle Menschen so sind wie
du. <
> Gern geschehen <, sagte Frieda. > Aber ist es nicht besser, dass jeder Mensch so
ist,wie ihn Gott geschaffen hat?<
> Nein, manche sind falsch geschaffen<, sagte Gustav. > Du bist frölich wie die
Sonne. Aber Mama ist nie so. <
> Lass dich nicht täuchen<, sagte Frieda.
>Ich bin so frölich, weil ich ausgelitten habe. Vielleicht passiert das Gleiche schon
bald mit Marie. Bis dahin wollen wir sie trösten, wo wir können.“121
Nach Friedas Tod wurde Gustav zu Hennings( Freund von Frieda) gebracht. Bei der
Familie Henning sah alles anders, doch „er spürte, wie er uns später eklärte, die
Befreiung von seiner Mutter stärker als die Trauer über Friedas Tod, den er weder
verstand noch- bei Verständnis –akzeptiert hätte.“122 „ Gustav hatte mit Marie nichts
zu besprechen“123. Erstaunlich scheint die Einstellung des Kindes zu seiner Mutter
mit der es kaum spricht, der es nichts zu sagen hat. An dieser Stelle sieht man ganz
deutlich, dass die Beziehung zwischen ihnen kaum existiert.
Nach der Beerdigung verbrannte die Finsternis die Augen Maries. Während eines
Besuchs traff Gustav die Entscheidung, dass ihm nichts anderes blieb, als für sie zu
sorgen. Doch es kam nicht aus seinem Herz, eher aus Verantwortungsgefühl.
„ Am Ende der Woche ging Gustav in die Wohnung seiner Mutter. Sie lag im Bett,
trug eine Augenbinde und wurde von Liese versorgt. Gustav war entsetzt, als er
121
Ebd., S.590
Ebd., S. 596
123
Ebd. S.
122
43
Marie sah. Sie war eine alte, magere Frau: ein bedauernswertes, kapputes Skelett.
Ich muss für sie sorgen, dachte er, es bleibt mir nichts anderes übrig.“ 124
Kurz danach wurde Marie in das Dachzimmer des Ecksteins Hauses gebracht. Wo
sie bis zum Tod wohnen und versogt werden sollte. Nach 30 Jahren erzählte Gustav
Hermann Eckstein seinen Schülern die Lebensgeschihcte seiner Mutter.
„Marie hatte mit Gott gekämpft und den Kampf verloren(...) “ 125
Marie Eckstein lebte seit 30 Jahren im Dachzimmer. Zwischen Marie und Gustav
gab es keine Kommunikation. Ihre einzige Vertrauensperson war Katrin. Gustav
hatte eine sehr schwere Kindheit. Seine Mutter konnte ihn nicht pflegen, seinen
Vater hatte er nie gehabt. Niemand zeigte ihm wie die Familie aussehen soll. Aus
diesem Grund konnte er nicht eine solche bilden. Seine Frau Katrin wurde von ihm
oftmals betrogen. Er suchte nach immer neuen Reizen, weisste unglaubliche
Vorliebe zu Nymphen nach. Man sieht ganz deutlich, dass die Gefühle wie Liebe,
Sorge den Menschen unbediengt nötig sind. Man lernt die Empfindsamkeit von den
Menschen in der unmitelbarer Nähe. Mit der Zeit suchte Gustav kein Kontakt zu
seiner Mutter, er brauchte es nicht mehr.
„Ich habe keinen Zugang zu meiner Mutter, den hatte ich nicht einmal als Kind. Sie
sitzt da oben- ein verschtumtes Orakel“126
4.1.1.3 Relation zwischen Gustav Hermann Eckstein und Eduard Manthey
Dr. Phil. Gustav Hermann Eckstein
genoss
‚Ruf eines Zauberers’ am
Karlgymnasium. Er unterichtete die Rhetorik. Dieser Kurs gehörte zu den
Wahlfächern und wurde nicht benotet.
„Dank seiner Zungenfertigkeit lässt er
124
Ebd., S. 608
Ebd.
126
Ebd., S.321
125
44
sozialen Aufstieg, Geld und Sex greifbar nah erscheinen“.127 Eckstein hatte etwas in
sich, was die Schüler an ihm binedete.
„ Der Auftritt Ecksteins hatte ihn an ein rätselhaftes, unheimlisches Wesen aus
reinen Nervenbahnen erinnert, das ihm einaml im Traum erschienen war. Das
behielt seine Mutter Dietlinde Manthey in Erinnerung.“128
Der Ich- Erzähler erinnert sich an Eckstein: „Eckstein sprach von Sdlern, uns
ergriffen die Klauen der Transzendenz. So hatte noch kiener gesprochen. Das
Gefühl, das sich einstellte, hielt Jahre. Er sitzt noch immer unter meiner Haut“129.
Der Lehrer verbrachte ungewöhnlich viel Zeit mit seinen Schülern. Sie ginngen zum
Essen, furen auf die Reisen, trunken und fürten stundenlange Gespräche über
Literatur, Philosophie u.a. Für die jungen Menschen war Eckstein ein Vorbild.
Er konnte sie innerhalb von Sekunden in ein Gespräch verwickeln.
„ Die Informationen warfen ein geheimnisvolles Licht(...). Allles war interessant.(...)
Eckstein stimulierte unsere Ahnungen und Phantasien, Fakten gebrauchte er als
untergeordnete Hilfsmittel.“130
Einer von seinen Fans hieß Eduard Manthey. Er war der Sohn der Putzfrau
Dietlinde Manthey und Hilfsarbeiters Gotthilf. D. Manthey. Sein Vater kämpfte
während des zwieten Weltkrieges und wurde in der Nachbarschaft bekannt, wegen
„ turbulenter und unglücklicher Liebe mit einer um Jahre älteren Frau aus gutem
Haus“131, bekannt.
Für ihm war es „ eine Liebe, die ihren traurigsten und schönsten Ausdruck in
Mantheys dilettantischer Leidenschafft für Schmetterlinge fand-, war aus Schmerz
und Entäuschung in den Harz gegangen und hatte am Rammelsberg bei Goslar in
der tröstenden Dunkelheit eines Bergwerkes seine Schwermut gepflegt.“132.
Doch irgendwann kam er zurück ins Leben. Er schloss die Ehe und wurde Vater von
Eduard.
127
http://www.perlentaucher.de/buch/20542.html
Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007.,S 25
129
Ebd., S.25
130
Ebd., S.56
131
Ebd., S 18
132
Ebd., S.18
128
45
„ Von klein auf war Eduard ein Mensch, der viel handelte. Es fehlte ihm nie an
Entschlussfreude, irgenetwas anzupacken, und selten an Agresivität. > Dieser Junge
geht mal zur Wehrmacht<, sagte der hoch dekorierte WK-II- Panzerfahrer (...), als
Eduard kaum laufen konnte, aber schon Blumenkübel umwarf und die krieschende
Katze Gaugin am Schwanz über den Rasen zerrte.“133
Er war sehr impulsiv, leichtsinnig und zornig. Eines Tages endeckte er den Sport,
„ Ballsporten waren ihm angeboren“.134 Irgendwann kam bei ihm zur kriminellen
Phase, „während der sich Eduard den Asos, wie die unterste Kaste des Stadtteils
genannt wurde“.135 Sehr oft kam es zu Prügeleien, er war ein schwiegsamer
Einzelkämpfer „duch Vorgärten pflügte und über Parkpläze jagte, selbst wenn ihm
das Blut aus der Nase suppte“.136
Nach der Versetzung aufs Gymnasium, fand sich er unter Schülern, deren Eltern
Erfolgreiche Menschen waren. Sie hatten schicke Klamotten, teuren Fahrräder usw.
Edward erkannte dass, er hinten lag und bekam einen Schock.
„ Der ideologische Horizont vor Eduard war leer. Politische Überzeugungen im
engeren Sinne traten im Schinkel selten ans Tageslicht, proletarisch- konservative
Klischess schon häufiger. (...) Weil Eduard trotz gewaltiger Ambitionen keine
spezielen Gesinnungen hatte, sah er sich zu dem Entschluss gezwungen, ein neuer,
auf irgendeine Art und Weise bedeutender Mensch zu werden- und das hieß in
Ermangelung besser Ziele, in das gehobene Bürgertum der Stadt vorzudringen, in
die mythenumrankte Westerberg-Welt. (...) Ich werde meine Wurzeln ausreißen“137
„ Später sagte Eduard, er hätte in diesem Augenblick gelernt, dass Worte chemische
Waffen sind und gerade in Körpern junger Frauen die gleiche Wirkung entfalten wie
Nervengift.“138
Eduard war von sienem Lehrer völlig begesitert, sodass er ihn zum Muster nahm.
Er verliebte sich in einer Klassenkameradin Daniela, die „ wegen ihrer enormen
Bildung und ihrer Intelligenz war man sich nicht sicher, ob sie zu den Schülern oder
133
Ebd.
Ebd., S. 19
135
ff.
136
Ebd., S. 21
137
Ebd., S. 22ff
138
Ebd., S. 57
134
46
zu den Lehrern gehörte“.139 Aus diesem Grund wurde sie auch zur einer Nymphe für
ihren Lehrer Gustav Eckstein. „Es gibt da gewisse nymholeptische Begierden in mir,
zugegeben, diese Hitzewellen, wenn ich Daniela sehe. Aber ich weiß auch nicht, was
das bedeutet...“
Aus Eifersucht konnte Eduard seinen Lehrer nicht ertragen. „ Eckstein ist ein echt
widerlicher Snob“.140
„ Eduard gab alle Widerstandshandlungen auf und zog grußlos ab. Sein Problem
war nicht die Tatsache, dass ihm Daniela und Ecksien bei den rhetorischen
Kinkerlitzchen haushoch überlegen waren. Er hatte siene Fruchtlosigkeit vor
überlegenen Leuten schon oft bewiesen. Sein Problem war der Zweifel an sich selbst,
der bei ihm tiefer saß als jedes andere Gefühl, seit er damit begonnen hatte, seine
Wurzeln auszureißen(...).“141
„Der dünnhäutige Eduard fürchterliche, dass ihm ihm die Sphäre von Eckstein und
Daniela für immer verschlossen bliebe, weil er die falsche Familie geboren worden
war, die meisten seiner Lebensjahre nutzlos verschwendet und Instinkte ausgebildet
hatte, die nicht gerade erhaben genannt werden konnten. Dies war der Beginn der
Paranoia, sagte er später.“142
„ Im Rückblick lässt sich festhalten, dass Eduard im Vorstadium gelegentlich zu
unklaren Ängsten, Depressivität, Leistungsversagen und Antriebsstörungen neigte.
Doch in den weiten Zwischenräumen war er mutig, fröhlich, stark und agil- in einem
solchen Maße, dass amn eher die Stabilität als die Stabilität für sein Problem halten
musste.“143
Edward war krank aus Eifersucht, er liebte Daniela und war dessen bewusst, dass sie
nicht für ihm bestimmt war. Er hatte mit seinem Lehrer keine Chance, egal, was er
machen würde. Am jeden Tag einer Verdammnis überprüfte er, ob seine Geliebte
die Nacht mit Eckstein verbracht hatte. Er halluzinierte, obwohl er seine Eifersüchte,
Ängste und Leidenschaften zu verbergen versuchte. Sein Vater Gotthilf D. wollte
139
Ebd., S. 15
Ebd., S,23
141
Ebd., S.59
142
Ebd., S.60
143
Ebd., S.244
140
47
ihm helfen, doch es gehörte nicht zu einfachen Aufgaben.
„ >Ich möchte gar keine Einzelheiten wissen<, sagte er. Ich will nur, dass du
glücklich wirst und das Verhältnis zu Eckstein kaputtgeht.(...) > Du liebst deinen
Lehrer mehr, als du ihn hasst<, sagte Gotthilf D. Nach gebührender Bedenkzeit. >
Das solltest du niemals vergessen. <144“„ Eduard hatte noch nie durch Einsicht
gelernt, sondern immer nur am Leidfaden der sinnlichen Erfahrung. Er musste
seinen Körper stets der Evidenz der Ereignisse unterziehen, bevor sein Geist in die
begünstigte Lage kam, zu begreifen. Seine Fähigkeit, aus den Erkenntnissen anderer
Leute Schlüsse zu ziehen und aus ihren Ratschlägen das Beste zu machen (...).145
Er sprach mit Eckstein auf dem Raucherhof über Fußball und Politik. Damals
empfand es sein Lehrer als Vertiefung der Freundschaft, als „ Reifwerden und
Ausstarieren
von
Zuneigung
und
Abneigung,
wie
es
zwischen
starken
Persönlichkeiten nötig ist. Dabei suchte Eduards geschundener Geist schon in jeder
Minute nach der Möglichkeit, den entscheidenden Schlag durch den gordischen
Knoten zu führen“.146
Eines Morgens holte Eduard das Fahrrad seines Vaters, befestigte sein
Attentatzubehör und fuhr um die Exekution vollzuziehen. Dabei hatte er einen
Unfall, während dessen die Kanister mit Benzin angezündet wurden. Eduards Körper
fing an zu brennen. „Eduards Haut war von Schnittwunden preformiert, aus denen
das Blut in langen Schlieren herabsickerte“.147 Nach einigen Tagen besuchte ihn
Gustav Eckstein in der Intensivstation. Dort traf er sienen Vater Gotthilf D.:
„(...) als Gustav Eckstein nach Beendigung seiner Schulaufgaben hereinkam.
Eduards Vater erblickte ihn, erkante ihn und erhob sich mit einem herzlichen
Lächeln.
Es gibt wohl niemanden, von dem Eduard mehr erzählt hätte als von Ihnen<, sagte
Gotthilf D. > Der Rhetorikkurs... Es ist ein Ruck durch sein Leben gegangen.
Danke sehr<, sagte Eckstein und zwinkerte mir verschwörerisch zu. < Eduard hatte
zehn Schuljahre lang nur darauf gewartet, richtig loslegen zu können. Meinen Anteil
144
Ebd., S.256-57
Ebd.
146
Ebd., S.258
147
Ebd., S.263
145
48
müssen sie gering veranschlagen.<
Oh, nein, gewiss nicht<, sagte Gotthilf D. > Ich kenne meinen Sohn. Nur zuletzt,
da war eine Verwandlung mit ihm, die ich nicht erklären kann.<148
Als Eduard erwachte, erwies sich, dass er unter Amnesie leidet. Glücklicherwiese
konnte er sich nur die Geschehnisse, die mit dem Unfall verbunden waren, erinnern.
Gustav war sein Feind nicht mehr.
„> Oh Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz
und voller Hohn<, akklamierte Eckstein, als er das Krankenzimmer auf der
Chirurgie betrat.
>Sehr witzig <, sagte Eduard. > Ich bin froh, dich ohne Brandblasen zu sehen.
>Freundchen, du hast sie nicht mehr alle<, sagte Eckstein. > Seit dem 17.
Jahrhundert werden hier keine Hexen mehr verbrannt. Es war doch klar, dass
dermaßen veraltete Methoden des Exorzismus nicht funktionieren.<
Dem männlichen Prolog folgte ein flottes Gespräch. Das Opferereignis, dass Eduard
mit Gewalt gesucht hatte, war gründlich anders abgelaufen, als geplant, aber es wog
schwer genug, um sie Selbsterkenntnis zu steigern und seine Gefühle in neue Bahnen
zu lenken. An diesem Nachmittag verabschiedeten sich Eduard und Eckstein als
Freunde, und es sollte über fünfzehn Jahre dauern, bis sie wieder Feinde
wurden.“149
Inzwischen versuchte Eduard etwas in sienem Leben zu ändern. Zuerst fing er das
Studium an, naher ging zur Wehrdienst. Dann ist er auf die Idee, dass es reine
Zeitverschwendung ist. Danach leitete er Zivildienst. In dieser Zeit telefonierte
Eduard oft mit Eckstein. Während des Studiums in Köln telefonierten beide sehr oft
zusammen. Der junge Student bedangte sich oft bei seinem Lehrer für seine
interessanten Lehrstunden, die ihn von anderen Studenten unterscheiden. Zwischen
ihnen war eine echte Freundschaft. Doch es war schon langsam der Anfang der
Niedergangs Gustavs.
„ >Vielleicht ende ich wie meine Mutter <, sagte er. >
148
149
Ebd., S. 268
Ebd., S. 274-275
49
Vielleicht habe ich ihre Krankheit. Vielleicht sind wir zur Krankheit zum Tode
verdammt. Auch ich habe noch Pietismus im Blut, wirklich. Ich weiß, was Sünde
ist(...).
Das hast du bisher gut verborgen>, sagte Eduard der, allmählich das Ausmaß von
Ecksteins Niedergang erkannte und sich überfordert fühlte, überfordert und auch
intellektuell angewidert(...). Er reagierte hilflos. Er nahm Eckstein im Grunde nicht
ab, mit Problemen der angezeigten Sorte zu kämpfen. Jede Form von existenzieller
Betroffenheit, die nicht durch die strenge Disziplin der Philosophie geordnet wird, ist
peinlich und wird selbst für Freunde schnell zur Last. Das war sein Dorma, das
Eduard von Eckstein selbst übernommen hatte.“150
Eduard versucht ihm zu helfen, er wundert sich, dass sein Lehrer so schwach
geworden ist. „ Du machst dich wehrloser, als du bist. Es mag die Krankheit zum
Tode geben, kann ja sein, aber erblich ist sie nicht. Mensch, Eckstein, du hast uns
von Adlern erzählt- du Jammerlappen“.151
Gustav wohnte mit auszuschnäuzendes Mutter an der Zeppelinstraße, doch er war
allein, niemand anrief. Gustavs brauchte menschliche Wärme. Eduard konnte sich
nicht um Gustav kümmern, denn er neben Geisteswissenschaften auch Biologie
studierte. Mit der Zeit gewann Eduard den Eindruck, “dass Eckstein ein komischer
Kauz geworden war- und erinnerte sich daran, dass Britt Becker ihn selbst während
seiner schlimmsten Paranoia so bezeichnet hatte.152“ Hier können wir sehr große
Ähnlichkeiten im Verhalten den beiden sehen.
Eines Tages lernte Eduard Esther Naumann, die freiberüfliche Jurnalistin aus
Düsseldorf kennen. Als eine erfolgreiche Frau musste sie ständig unterwegs sein. Für
alles hatte sie nur eine weinige Zeit und gleich musste sie los. Sie war reich, schön,
klug und sehr gut ausgebildet. Inzwischen veränderte sich Eduard in eine
Haushalterin, er kochte, putzte, wartete bis seine Geliebte nach der Arbeit nach
Hause kommt.
Irgendwann kamen sie bei Eckstein zu Besuch. Er beschäftigte sich seit zehn Jahren
mit seinem Buch. Er ging die ganze Zeit nicht aus dem Haus. Inzwischen ist er 60
150
Ebd., S. 441-44
Ebd., S. 443
152
Ebd., S. 444
151
50
geworden. Er sah nie wie früher aus : unrasiert, ergraute Haare. Seitdem kam er
wieder ins
Leben.
„ Er warf einen Teil seiner Lethargie wieder ab und aktivierte, was ihm an
Leidenschaft geblieben war. Während der Herbst ins Land zog und der Winter
anbrach, schlief Esther regelmäßig mit ihren beiden Männern, wenn auch nie mit
beiden gemeinsam. An Eduard schätzte sie Treue, Zufriedenheit, Fügsamkeit und vor
allem seine beruhigende Durchschnittlichkeit, in die sie sich gedankenlos mummen
konnte, wenn die Arbeit des Tages vorüber war. Gustav dagegen liebte sie, wie
mutige Menschen das Leben mit seinen Gefahren lieben sie, wie mutige Menschen
das Leben mit seinen Gefahren lieben. Dank Ecksteins Worten und Küssen spannte
sich deren Dezemberhimmel größer als je zuvor über ihr.153“
Auf diese Art und Weise entstand sehr ungewöhnliche Beziehung. Es war ziemlich
interessantes Dreieck: eine Frau und zwei Männer, die anscheinend nichts außer
Freundschaft bindet. Im Grunde genommen gab es viel mehr als man vermuten
konnte. Feinde und Freunde- Gustav und Eduard- Halbbrüder, die immer wieder die
gleiche Frau lieben. Dabei ist es zu beachten, dass der Eduard immer der Pechvögel
ist. Er verliert im Kampf mit seinem Bruder.
„ > Dir geht es gar nicht um Daniela. Du willst so sein wie Eckstein. Du willst reden
können wie er. Du willst so viel wissen wie er undsoweiter. Du willst so sein wie
Gott. Aber wenn du dich mit unserem Supermann vergleichst, kommst du dir so
attraktiv vor wie ein geschlechtskrankes Warzenschwein. Man könnte das
perspektivische Verzerrung aus Leidenschaft nennen. <
>Klingt gut<, lautete mein Beitrag an dieser Stelle.
> Nutzt mir aber nix<, sagte
> Ich glaube, ich bin einer von den Leuten, denen das Schicksal dauernd ins Gesicht
spuckt, und Eckstein spielt das Schicksal<.“ 154
153
154
Ebd., S. 623
Ebd., S. 247
51
Die Rivalität dauerte bis zum Ende des Romans. Der letzte Kampf kann man ruhig
als unentschiedenes bezeichnen. Beiden ist das gleiche Unglück begegnet.
4.2 Das <Wie> Ebene
4.2.1 Erzählerinstanz
In jedem fiktionalen Text zwischen dem Leser und den Autor tritt immer eine
Vermittlungsinstanz - Erzähler. Der Autor kommt nicht zu Wort aber seine Ideen
und Vorstellungen werden an einen Stellvertreter übermittelt. Der Vermittler hat aber
sehr oft eine unterschiedliche Einstellung zu der erzählenden Geschichte (story).
Nach diesem Prinzip unterscheidet Franz Karl Stanzel im Bezug auf das typologische
Modell der Erzähltheorie, drei Typen der Erzählsituation: die auktoriale
Erzählsituation, die personale und die Ich-Erzählsituation.155
Im Roman “ Schattauers Tochter” Arno Orzesseks haben wir mit einem
Ich-
Erzähler ze tun. Zuerst erfahren wir, dass er Andreas heißt und einer der Schüler von
Gustav Eckstein ist. Alle Informationen findet man auf weit auseinander liegenden
Seiten, zuerst der Vorname, der Name, das Beruf usw. Einerseits tritt hier eine
Figur, die an einer Teil der Geschichte teilnimmt (in einer Erzählstange), also gehört
zu der dargestellten Welt.
“ Ich erinnere mich, dass Eduard die Begierde in die Augen schoss wie Tränen nach
einem plötzlichen Schmerz” oder “ Ich legte mich neben meinem Freund in das
breite, ehetaugliche Bett”156.
„ Meine Erinnerung sagt mir, dass das Gespräch von den Konventionen und
Abstrakionen des Kalten Krieges gesätigt war.“157
155
156
Stanzel: http://www.uni-due.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/epik/erzaehlsit.htm
Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007
157
Ebd., S. 325
52
„ Die Erinnerung sagt mir, dass sich ein bizarrer Ton in Eduards Rede
einzuschleichen bagann und ihn weder an dem traurigen Abend in Gedser noch in
den nächsten Wochen verließ- aber dieser Ton ist kein konservierter Eindruck aus
der Vergangenheit, er ist bloß ein sinnlicher Nachdruck, der währende der
Erinnerung entstand.“158
Man sieht hier also, dass der Erzähler eine
Geschichte darstellt, von der er selbst
betroffen war -er ist also eine handelnde Person.
Andererseits beschreibt er auch die andere Erzählstange, aus der Auβensicht, aus
einem zeitlichen Abstand. Sein Wissen schöpfte er aus mehrfach zitierten
"genealogischen Aufzeichnungen“:
„
In
Gustav
Ecksteins
genealogischen
Aufzeichnungen
heißt
es,
dass
Kleinbärengrund, wohin Marie Schattauer nun das Fuhrwerk von Balduin und
Hermann Eckstein leitete (...).“159
„ Es heißt in den Aufzeichnungen, dass Marie für eine Sekunde ungezügelter
Rachlust daran dachte, Balduin mit der Forke zu erstechen und dem Urheber ihrer
Verlassenheit ein schreckliches Ende zu setzen.“160
„ Als Gustav
Eckstein beim Verfassen der genealogischen Aufzeichnungen
versuchte, Hermanns Aktion zur Rettung Gonims nachzuzeichnen, erlebte er ein en
aufschlussreichen Albtraum.“161
Er erinnert sich nicht nur an die Ereignisse aus seiner Vergangenheit, sondern
beschreibt die Geschehnisse aus der Familiengeschichte seines Lehrers.
Von relevanter Bedeutung sind auch die Genealogische Aufzeichnungen, die eine
gewisse Basis für den Erzähler bilden.
” Wir sprachen oft über das schwarze Gespenst. Wir lernten Masuren und den 2.
Weltkrieg aus der privaten Perspektive einer jungen Frau kennen. Die Umstände
waren seltsam. Während uns ihr Sohn ihre Geschichte in den buntesten Farben des
Lebens ausmalte, lieβ sich Marie Eckstein zwei Stockwerke höher durch die Ewigkeit treiben,
Schwarz und grämlich auf dem Kirschholzlehnstuhl sitzend. Die Vergangenheit war persönlich
158
Ebd., S. 340
Ebd., S 69
160
Ebd., S. 76
161
Ebd., S. 159
159
53
anwesend. Sie hockte auf dem Dachboden. Aber sie schwieg und überlieβ das Sprechen ihrem
erfindungsreichem Souffleur”. 162
An der Stelle sieht man ganz deutlich, dass es sich um berichtende Erzählweise handelt,
in der die Erzählinstanz als Figur unter Figuren der Handlung steht und gleichzeitig
ist uns erklärt worden, woher er diese Famileingeschichte kennt. Beobachtenswert
ist
der Punkt dieses Wechselspiel wo,
das erzählendes Ich
gleichzeitig ein
erlebendes Ich ist.
„ Mein Freund rutschte unruhig hin und her. Der Auftritt Ecksteins hatte ihn an ein
rätselhaftes, unheimliches Wesen aus reinen Nervenbahnen erinnert, das ihm einmal
im Traum erschienen war. Das behielt seine Mutter Dietlinde Manthey in
Erinnerung. Als es Eduard nicht mehr gab, zeigte sich, dass sie eine sorgfätige
Archiviarin der Träume ihres Sohnes gewesen war, der wenigen, die er ihr über die
Jahre erzählt hatte.“163
Wie dieser Textabschnitt uns zeigt, spielen die Erinnerungen im Roman sehr
wichtige Rolle. Man sieht, dass die Erzählinstanz über sehr gute, ganaue Kenntnisse
der Träumen und Gedanken verfügt, sodass man das Gefühl hat, dass sie eine
olimpische Sicht hat.
Bemerkenswert ist die Typologie von Gerard Genette. Er unterscheidet drei Ebenen
(narration, discourse, histoire) der Erzählung und in der Analogie dazu drei
Kategorien in der die Beziehungen diesern Ebenen kategoriesiert werden, nähmlich
1).Genus/ Stimme als „wer spricht“ beziechnet
2).Tempus
3) Modus als „wer sieht“ beziechnet
162
163
Ebd., S. 210
Ebd., S.25
54
Wichtig dabei ist, der Begriff „ Fokalisierung“ mit dem Genette sich in seinen
Büchern „Discours du recit“ (1972) und „ Nouveau discours du recit“ (1983)
beschäftigte. Es geht hier um den Blickwinkel („point of view“) aus dem die
Geschichte erzählt wird. Diese Kategorie wurde von dem schon angeschprochenen
Franz Karl Stanzel als „Perspektive“ bezeichnet und in der Verbindung mit der
Erzählerstimme zusammengefaßt, dagegen ist Genette der Meinung, dass um eine
genaue Analyse durchzuführen, muss man diese zwei Kategorien getrennt
untersuchen.
Die Erzählinstanz kann aus unteschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen und
die Figuren hinschauen. Für dieses Phänomen kann man drei Fokalisierungstypen
unterschieden: Nullfokalisierung, Interne- und Externefokalisierug. Wobei in diesem
Fall, worauf dieser Textabschnitt hinweist, haben wir mit dem Nullfokalisierung zu
tun. Der Erzähler verfügt über außermenschliche Fähigkeiten, hat das götterliche
Blick- er weisst mehr als die Figuren wissen oder wahrnehmen, kann ihre Gedanken
sowohl die, die in der Zukunft vorkommen oder aus der Vegangenheit stammen.
„Marie hatte das Zeitgefühl verloren. Ihre Sinne waren in einen entsetzlichen
Stilstand geraten. Sie wusste nicht, ob Balduins widerliche Hände seit Sekunden oder
Minuten über ihre Haut fuhren. Wo bleibt Hermann? Dachte sie. Kann ein Mann so
lange pinkeln?“164
An dieser Stelle sieht man deutlich,dass zum Ausdruck die allwisende Position des
Erzählers kommt. Er kennt Marias Gedanken und ihre Gefühle und sie werden in
bestimmter Rheienfolge struktuiert.
oder
„ Julia kam alle zwei , deri Wochen nach Köln. Sie hätte auch weiter nach Süden
fahren können. Eduard spürte seine Freundin nicht mehr. Sie war nicht in den
Vibrationen der Stadt. Wo er sich bewegte, gab es keine Spuren von ihr und keine
Erinnerungen an sie. Julia war Jugendzeit, Traumzeit, Vergangenheit. Selbst die
Melancholie, die sie als Letztes teilten- wie einst am Dachfenster die Dämmerung-,
war fade. Was war es gewesen, was uns verbunden hatte? Fragte er sich. Warum
konnte er sich nicht daran erinnern? Wie hatte die Luft herausgelassen.“165
164
165
Ebd., S.40
Ebd.,S.407
55
„ Eduard dachte jahrelang an Julias Worte. Bei keiner seiner Liebschaften hatter er
das Gefühl, eine zweite Bindung einzugehen. Er fragte sich , ob es eine zweite
Bindung gäbe, wenn die erste einamal vorbei war. Manchmal war ihm kalt bei der
Liebe. Aber er kam aus seine Kosten, wie er sagte.“166
Der Narrator sagt mehr als die Figuren wissen ( Nullfokalisierung).
Der Erzähler stellt sehr oft die Gedanken der Figuren, deswegen kann man den
Einblick in ihr individuelles Gedächtnis bekommen und dabei viel besser kennen
lernen. „ Mein Freund rutschte unruhig hin und her. Der Auftritt Ecksteins hatte ihn
an ein rätselhaftes, unheimisches Wesen aus reinen Nervenbahnen erinnert, das ihm
einmal im Traum erschienen war.“167
„ Warum verstößt du, Herr, meine Seele, und verbirgst dein Antlitz vor mir?“168
Nichts bleibt ihm verboten zu wissen, er kannte sogar die Gebete der Protagonisten.
Der Narrator präsentiert die fiktive Welt aus der Distanz, aus der Prspektive des
Beobachters. Er verzichtet auf die Kommentare und die Beurteile. Seine Bewertung
des Handelns der Figuren bezeichnet man als neutrales Erzählverhalten169.
Die Figuren sind die Augenzeuge der sehr wichtigen, historischen Geschehnissen,
das auf sie den großen Eindruck machte. Sie sind sehr wichtig nicht nur für die
Erzählerinstanz, sondern auch für die ganze damalige deutsche Generation.
„Jeder
Mensch
ist
in
seiner
Altersstufe
von
bestimmten
historischen
Schlüsselerfahrungen geprägt.“170 Das individuelle Gedächtnis wurde von den
Generationsschlüsselerfahrungen geprägt.
„ Der Herbst kam und viele Leute selbst im Schinkel hörten am Radio oder sahen in
Fernsehen die Bundestagsdebatten, die der Ablösung von Helmut Schmidt durch
Helmut Kohl vorausgingen. Der Sturz der sozial- liberalen Regierungskoalition war
nach dem autofreien Sonntag, den RAF- Attentaten, der Entführung der > Landshut<
in Mogadischu und dem Scheitern von Franz Josef Strauß das erste politische
Ereignis, das von der Weltbühne bis in die Ritzen unseres Alltagsdrang und rege
besprochen wurde.“171
166
Ebd., S. 409
Ebd., S. 25
168
Ebd., S. 39
169
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder und – Jugendliteretur. Ein Praxishandbuch für den
Unterricht., Berlin 1999., S. 28
170
Assmann, Alida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 185.
171
Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007, S. 64
167
56
Diese Geschehnisse übten den Einfluss nicht nur auf das Individuum, sondern die
ganze Generation.
Es werden also die wirklichkeitsbezogene Elemente, die in die fiktive Geschichte
eingeflocht sind. In dem Fall spricht man von Mimesis I.172
4.2. 2
Zeitdarstellung
In folgenden Arbeitsteil
soll „ Schattauers Tochter“ im Hinblick auf die
Zeitparameter hin analysiert werden. Die Handlung eines literarischen Textes
vollstreckt sich immer innerhalb vom bestimmten Situations- und Ereignisrahmen.
Wenn man das Phänomen der Zeit in den literarischen Werken berücksichtigt,
unterscheidet man folgende Parameter: Erzählzeit und erzählte Zeit.
Unter der Erzählzeit versteht man die Zeit, die ein Erzähler für das Erzählen einer
Geschichte braucht. Es wird hier also
der Seitenumfang gemeint, der für das
Erzählen der Geschichte notwendig ist.173
Die erzählte Zeit weist dagegen auf die Dauer einer Geschichte.174 Am Beispiel
von Orzesseks Roman „ Schattauers Tochter“ hat man mit der Erzählzeit von 648
Druckseiten zu tun, während das erzählte Geschichte einen Umfang von sechs
Jahrzehnten umfasst. Nach Ganette kann man das Verhältnis zwischen der Zeit und
der erzählten Geschichte folgendermaßen systematisieren. Dabei müssen drei Fragen
beantworten werden.
1. In welcher Reihenfolge wird das Geschehen vermittelt?
2. Wie lange wird die Darstellung eines Geschehens präsentiert?
3. Mit welcher Frequenz wird die Darstellung eines Geschehens
in einer
Erzählung vermittelt?175
Es ist dabei zu beachten, dass die chronologische Ordnung nicht immer erfolgt.
172
Vgl., Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005,S. 150
Vgl. Martinez, Matias, Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2005, S.31
174
Vgl. ebd..
175
Vgl. ebd., S. 32.
173
57
„ Als es Eduard nicht mehr gab, zeigte sich, dass sie eine sorgfältige Archivarin der
Träume ihres Sohnes war (...)“176
Sehr oft tritt die Umstellung der chronologischen Ordnung einer Ereignisfolge auf. In
dem Fall haben wir mit der Anachronie zu tun. Ganette unterscheidet dabei zwei
unterschiedliche Formen davon. Einerseits ist es die Rückwendung, Rückblende
bzw. die Analepse, anderseits die Prolepse. Der Unterschied zwischen ihnen besteht
darin, dass in der Form der Analepse, ein Ereignis nachträglich dargestellt wird. 177
„In der Form der Prolepse wird ein noch in Zukunft liegendes Ereignis
vorwegnehmend erzählt.“178Vorausdeutungen und Rückwendungen können in der
Form der kompletten oder der partiellen Analepsen und Prolepsen auftreten. Für die
kompletten Anachronien ist charakteristisch die Tatsache, dass
sie zu dem
Zeitabschnitt der Hauptgeschichte gehören. Die partielle Anachronien führe
lückenlos an die Gegenwart der erzählten Geschichte heran.179 Um die zweite Frage
zu beantworten, sollen folgende Formen der Erzählgeschwindigkeit: zeitdeckendes
Erzählen
(Szene),
zeitdehendes
Erzählen
(Dehnung),
zeitraffendes
bzw.
summarisches Erzählen (Raffung), Zeitsprung (Ellipse), Pause.
Das zeitdehende Erzählen tritt auf dann, wenn ein Geschehen wesentlich länger
präsentiert ist, als es verlangt. Als Gegensatz dieses Erzählens gilt das zeitraffende
bzw. summarische Erzählen. Mit der Raffung hat man dann zu tun, wenn die
Erzählzeit deutlich kürzer ist als erzählte Zeit, dagegen mit der Ellipse (Zeitsprung)
bezeichnen wir die ausgesparten Textabschnitte, die das Erzähltempo vorantreiben.
Vorwiegend sind diese Textfragmente für die eigentliche Geschichte belanglos.
Die Pause tritt in der Form der langen Beschreibungen, Kommentare und
Reflexionen auf.180
In „ Schattauers Tochter“ wimmelt es von den Anachronien. Die Rezipienten müssen
sich auf das Lesen sehr konzentrieren, um die Hauptgeschichte richtig zu folgen.
Schon fast von Anfang an kennen wir die Ereignisse die eigentlich erst am Schluss
passieren. Am häufigsten trifft man die Rückblende also Analepsen, in denen die
176
Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007.,S.25
Vgl. Martinez, Matias, Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2005, S.33
178
Ebd., S. 33
179
Vgl., ebd. S. 37
180
Vgl. ebd., S. 43- 45
177
58
früheren Ereignisse erzählt werden. Als ein Beispiel dafür kann folgendes Zitat
sein:
„ Die Erinnerung sagt mir, dass sich ein bizarrer Ton in Eduards Rede
einzuschleichen begann und ihn weder an dem traurigen Abend in Gedser noch in
den nächsten Wochen verließ- aber dieser Ton ist kein konservierter Eindruck aus
der
Vergangenheit, er ist bloß ein sinnlicher Nachdruck, der während der Erinnerung entstand.“181
Es ist also eine Unterbrechung um Geschehnisse nachzutragen. Es geht hier um die
Erinnerungen, die als eine Erklärung in die Geschichte eingeführt sind.
Der umgekehrte Typus ist sogenannte Prolepse berichtet über Ereignissen, die in der
Zukunft liegen.
„ Es waren drei kleine Portionen, sagte Regenmacher siebzehn Jahre später über
das Bild vor seinen Augen und zoomte es dichter heran“182
„ Das behielt seine Mutter Dietlinde Manthey in Erinnerung. Als es Eduard nicht
mehr gab, zeigte sich, dass sie eine sorgfältige Archivarin der Träume ihres Sohnes
gewesen war, der wenigen, die er ihr über die Jahre erzählt hat“183
Dank der Rückwendung bekommt man immer mehr Informationen über den
Protagonisten. In dem Fall ist uns ein bisschen die Zukunft
eingeführt. Die
Anachronieen machen das Buch viel interessanter aber auch schwieriger, verraten
ein Teil der Zukunft und Vergangenheit um den Leser anzubinden. So wurde das
Geheimnis in kleinen Schritten entdeckt, dabei faszinierend und spannungsaufbauend
aufgebaut.
Zu beachten ist darüber hinaus der Fakt, dass die kleinen Kapitel des Buches, außer
181
Ebd., S.
Ebd., S.108
183
Ebd., S.25
182
59
drei Ausnahmen, die Erzählstangen nacheinander präsentieren. Der Roman ist so
aufgebaut, dass man die Geschichte schrittweise entdeckt. Schließlich verbinden sie
sich miteinander um den Kern der Geschichte zu entdecken.
Mittels der Rückblenden richtet der Ich- Erzähler den Blick auf den historischen
Kontext ( erfahrungshaftiger Modus).
„Der Herbst kam und viele Leute selbst im Schinkel hörten am Radio oder sahen in
Fernsehen die Bundestagsdebatten, die der Ablösung von Helmut Schmidt durch
Helmut Kohl vorausgingen. Der Sturz der sozial- liberalen Regierungskoalition war
nach dem autofreien Sonntag, den RAF- Attentaten, der Entführung der > Landshut<
in Mogadischu und dem Scheitern von Franz Josef Strauß das erste politische
Ereignis, das von der Weltbühne bis in die Ritzen unseres Alltagsdrang und rege
besprochen wurde.“184
„ Als wir uns an die Einzelheiten jenes Augusttages vor achtzehn Jahren erinnerten,
an dem Deutschland noch nicht wusste, dass die letzten Wochen der Regierung des
Weltökonomen Helmut Schmidt angebrochen waren.“185
Der Roman setzt in medias res ein. Die Leser sind in die Handlung unvermittelt
involviert.186 Sie werden in die Mitte einer ihnen völlig unbekannten Geschichte
eingeführt:
„ Erinnerung“
„ Er hatte das schwarze Gespenst schon einmal gesehen. Es war aus dem Keller des
Gemeindehauses gekommen und die gepflasterte Einfahrt hinaufgeschlichen. Ältere
Menschen, auch sie in dunklen Kleidern, hatten es zur Straße begleitet. Er kam an
diesem Sonntagnachmittag vom Kicken, verschwitzt und durstig, den Ball eng am
linken Fuß. Er lief über den Gehweg und umdribbelte die Menge seiner unsichtbaren
Gegner – bis er auf das schlurfende schwarze Gespenst prallte, das von den Armen
hilfsbereiter Pilger gestützt wurde. Das dunkle Kopftuch hielt ein Gesicht
umklammert, aus dem die Zeit verschwunden war. Er erinnerte sich: Es war ein
Gesicht, das nicht atmete. Es war von Dingen gezeichnet, die größer waren als das
184
Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007, S. 64
Ebd., S. 12
186
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteraturliteratur. Ein Praxishandbuch für
den Unterricht. S. 74.
185
60
irdische Leben.“
Der Leser ist irritiert, weil er in die Geschichte einbezogen ist. Doch erst im
weiterem oder zum Schluss, ist der Leser in der Lage die Chronologie der Ereignisse
zusammenstallen.187
Das Ende ist geschlossen und gehört zu den typischen Schlusssituationen. Leider
kam es zur tragischen Lösung. Die zentrale Figuren: Gustav und Eduard kamen ums
Leben.
„Er trieb Eckstein mit wenigen, gewaltigen Stößen seiner starken Hände auf den
Balkon hinaus. Der hagere Eckstein ließ sich notgedrungen auf den ungleichen und
im Übrigen zunächst lautlosen Kampf ein, bei dem bald die Planken des hölzernen
Geländers zerbrachen. Die Halbbrüder stürzten, die Augen ineinander verkrampft
und die Köpfe voraus, auf die Pflastersteine vor den Kellergaragen des Hauses. Ich
hockte an der Einfahrt und blickte über das Tal, in dem sich das Nachmittagslicht
allmählich milder auf die stillen Waldbögen senkte. Da drang das Zerplatzen des
Holzes, der dumpfe Aufschlag und ein entsetzliches Knirschen an mein Ohr. Es war
ein Geräusch von einer Sekunde, über dem sich die Unbefangenheit der Natur so
schnell schloss wie die Oberfläche eines Wassers, durch das zwei Steine auf den
Grund gesunken sind. Diese Ruhe empfinde ich nun als einen aufgerissenen Abgrund
des Gemüts. Damals hörte ich Weinen.“188
187
188
Ebd., S. 74
Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007.,S.647-648
61
5. Schlussbemerkungen
Im ersten Schritt der vorliegenden Arbeit wurden die Termini aus der
Gedächtnisforschung thematisiert. Die Analyse zeigt wie die Erinnerungen auf die
Menschen einen Einfluss ausübten. Sie bilden sogar den zentralen Punkt des
menschlichen Lebens. Das betrifft nicht nur Individuen, Gesellschaften aber auch
die ganze Kulturen. „ Kultur ist Gedächtnis“.189
Der zweite Schritt wurde der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses gewidmet. Am
Beispiel von einzelnen Modi wurde untersucht, ob Literatur als ein Medium des
kollektiven Gedächtnisses verstanden werden kann. Das Wirkungspotenzial eines
literarischen Textes wird in von der Darstellungsform abhängig.
Im Nächsten Schritt sind es die Figurenkonstelationen, Figurenbeziehungen exakt
geschildert. Es werden detailierte Beschreibungen der Kindheit, der Jugend und des
Erwachsenseins der Hauptfiguren präsentiert. Dieser Realitätscharakter verstärken
die Namen, Orte und historischen Ereignisse. Dabei entsteht ziemlich genaues Bild
sowohl des Krieges als auch der Vor- und Nachkriegszeit in Deutschland, das sechs
Jahrzehnte beinhaltet. Dabei werden die Ebene des Erzählens und des Erzählten
analysiert. Denn nicht nur das ‚was’, sondern auch das ‚wie’ eine sehr wichtige Rolle
spielt.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage, wie die Erinnerungen im Roman
„ Schattauers Tochter“ literarisch dargestellt werden.
Es wird weiterhin analysiert, wie das Verhalten der Tätergeneration während des 2.
Weltkrieges und in der Vor-und Nachkriegszeit in Deutschland aussah.
Der Ich- Erzähler beschreibt alles im historischen Kontext. Es wurde gezeigt, dass
die Deutschen auch die Folgen, des Zeiten Weltkrieges tragen. Die Generation der
vom Krieg betroffenen, hatte emotionelle Probleme, wenn es sich um
zwischenmenschliche Kontakte und Gefühle handelte.
189
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. S. 56.
62
Die Analyse des Romans antwortet auf die folgenden Fragen:
Warum weiterhin beschäftigen sich auf der ganzen Welt viele Intelektuelle mit dem
Phänomen des Gedächtnisses? Warum das Interesse an
den Ereignissen
derVergangenheit weiterhin einen wichtigen Platz in der Geschichtswissenschaft
einnehmen, und sogar mehr an der Bedeutung gewinnen. Ist das vielleicht mit
unserem inneren Bedürfnis, die menschliche Natur zu verstehen, verbunden? Oder
wollen die Menschen damit besser die Geschichte des 20 Jahrhunderts verstehen um
ein klares, wahrhaftes Bild zu haben?
Die Geschichte lebt in unseren Gedächtnissen, auch wenn man nicht zu der
Generation der betroffenen gehört. Dabei spielt die Literatur als Medium, des
kollektiven Gedächtnisses, eine
unglaublich wichtige Rolle. Sie lässt die
Geschehnisse lebendig, erinnert und rettet von der Vergessenheit.
Vor allem funktioniert sie aber, wie die Warnung von dem was geschehen kann,
wenn man irgendwann vergisst.
63
6. Anhang
Neubrandenburg. Für sein Romandebüt „Schattauers
Tochter“ erhält Arno Orzessek am 23. September den erstmals vergebenen UweJohnson-Förderpreis der Mecklenburgischen Literatur-gesellschaft. JuryVorsitzender Carsten Gansel, Literaturprofessor
an der Universität Gießen,
sprach mit dem 39-Jährigen.
Jene Autoren, die Ende der 1990er Jahre mit viel diskutierten Debüts an die
Öffentlichkeit traten, erzählen meist über Kindheit und Jugend, also einen
Zeitabschnitt, der nicht lange zurückliegt. Sie hingegen gehen weit in die
Geschichte. Aus welchem Beweggrund?
Wahrscheinlich gibt es ein ganzes Bündel von Gründen, die alle mit der Arbeit am
Text zu tun haben. Als ich 1996/97 mit dem Schreiben begann, beherrschte ich nur
winzige Szenen von ein, zwei Seiten Länge, die in irgendeiner Weise mit meiner
Biographie zu tun hatten und deren fiktional verwischte Spuren sich in „Schattauers
Tochter“ am ehesten in 90er- Jahre-Erlebnissen Eduard Mantheys finden. Leider
habe ich versucht, aus diesen Erfindungsstaubkörnchen eine Geschichte zu formen
und bin dabei in alle Fettnäpfchen des Ästhetizismus gestolpert.
Sie haben aber einen Weg gefunden, neben Ihre poetisierten
„Wirklichkeitserfahrungen“ auch fremde Erfahrungen zu stellen.
Um meiner Prosa Wirklichkeitshärte zu geben, habe ich die Episoden an reale
Schauplätze verlegt, diese genauer untersucht und dokumentarisches,
wissenschaftliches und mündlich überliefertes Material hinzugezogen. Irgendwann,
während alles noch um das infernalische Duo Eckstein und Manthey kreiste,
bemerkte ich, dass auch Eckstein eine Mutter gehabt haben muss, und entdeckte so
die Romanfigur Marie Eckstein, deren Geburtsnamen ich damals noch nicht kannte.
Durch die Beschäftigung mit Maries möglicher Vergangenheit geriet ich in die
Vorkriegszeit und erschloss ein neues Depot von Erinnerungen, das meiner Eltern.
Damit bot sich Masuren als weiterer Schauplatz an. Meine Arbeit kreiste nun um
zwei Pole: Um Maries Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und um die
Manthey-Eckstein-Rivalität vier, fünf Jahrzehnte später. Ich begann zu ahnen, dass
der Clou des Romans die Verzahnung beider Zeitebenen sein könnte, müsste, sollte.
64
Ein solcher Ansatz ist für ein Debüt eher die Ausnahme, denn unter jungen
Autoren herrschte Ende der 90er Jahre ein ausgeprägter Drang, auf einer
Zeitebene zu erzählen und dicht an der eigenen Geschichte zu bleiben.
Traurig, aber wahr: Das Debüt, das ich mit 30 oder 32 Jahren in Form einer
aufgeplusterten Gegenwartsanekdote hätte geben können, wäre das Papier nicht wert
gewesen.
Zumal damals die Pop-Literatur heraufdämmerte, ein Genre, in dem ich
konkurrenzlos schlecht bin. Überdies musste ich erst alle Schreibfehler gründlich
selbst gemacht haben. Auf meiner Festplatte liegen mehrere tausend betäubend
schlechte Seiten, ein Denkmal der Mühsal, das ich eines Tages zerstören werde. Als
Trostpreis habe ich unterdessen meinen oder wenigstens einen Stil gefunden. Dass
„Schattauers Tochter“ in dieser Form vorliegt, hat zuerst und zuletzt mit
Qualitätskontrollen zu tun. Erst am Ende glaubte ich, dass mein Manuskript trotz
aller Eierschalen und prahlerischen Adoleszenz den Titel Roman verdient.
Das provoziert die Frage, wie lange Sie an „Schattauers Tochter“ gearbeitet
haben.
Rund sieben Jahre, rund siebentausend Stunden. Häufig und gerade zum Schluss, im
Herbst 2002 nach einer Amerikareise, wurde das Schreiben ein Exzess einschließlich
19-Arbeitsstunden-Tage, Verlotterung der Wohnung und aller sozialen Kontakte,
blankem Konto und Besuch vom Gerichtsvollzieher.
Andererseits habe ich während der sieben Jahre manchmal monatelang keine Zeile
Prosa geschrieben. Erstens, weil ich als Journalist Geld verdienen musste, zweitens,
weil ich nicht wusste, wie man aus der Schutthalde der Irrtümer einen Roman retten
könnte.
Bekanntlich gibt es immer weniger Zeitzeugen, die gelebte Erinnerung an
Holocaust und Drittes Reich stirbt aus. Damit wächst die Notwendigkeit wie
Chance, sie literarisch zu (re)konstruieren.
Holocaust und Drittes Reich sind als Weltphänomene so heikel und ungeheuerlich,
dass sich Fiktionen immer der Gefahr aussetzen, in Frivolität umzuschlagen. Das
größere Recht haben zunächst Zeitzeugenberichte beziehungsweise biographische
Romane wie die von Jorge Semprun und Imre Kertész und danach die seriösen
Geschichtswissenschaften.
Andererseits füllen deren Bücher Bibliotheken, seit Eugen Kogon noch im KZ
Buchenwald „Der SS-Staat“ schrieb. Schriftsteller haben glücklicherweise die
Lizenz, auch über Dinge zu schreiben, die sie nicht selbst oder nicht so erlebt haben
– das ist sogar eine Definition ihres Berufes.
Bei der Frage, wie es „wirklich“ war, scheiden sich die Geister. Auch weil
Vergangenheit nur mittelbar (re)konstruiert werden kann und es kein
einheitliches Bild von „der“ Geschichte geben wird. Die entstehenden Bilder
sind – wie Walter Benjamin sagt – „Gegenstand einer Konstruktion“, die von
der Jetztzeit geladen sind.
Die so genannte Wirklichkeit gibt es tatsächlich nur einmal, meine ich, und zwar als
ein reines, zeitloses Gegenwartsphänomen. Danach beginnt die Rekonstruktion.
Und wenn es die Arbeit der Historiker sein sollte, Fakten aufzudecken, können
Schriftsteller in diesem Faktengerüst die Möglichkeitslücken suchen. Roberto
Benignis Film „Das Leben ist schön“, in dem ein Vater seinem Sohn suggeriert, das
KZ sei ein etwas derber Abenteuerspielplatz, ist über weite Strecken eine Komödie,
65
aber sie bringt – mit einer alten Metapher – die Schrecken umso klarer ans Licht.
Also, man kann im Konzentrationslager Fiktionen ansiedeln, es kommt allerdings
darauf an, die Maßverhältnisse zu beachten.
Wenn Sie von Maßverhältnissen sprechen, könnte dies die künstlerische
Wahrheit meinen, um einen aus der Mode gekommenen Begriff zu nutzen. Aber
Kunst ist kein Geschichtsbuch und ein historischer Roman muss keinen
authentischen Bericht liefern.
Eben! Die Vergangenheit erscheint immer als Rekonstruktion und die hat ihre
eigenen Wahrheitsbedingungen. Fiktionale Literatur erschöpft sich indessen nicht in
Rekonstruktionen. Sie holt unter Umständen eine Vergangenheit zurück, die es so nie
gegeben hat. Man könnte sagen, sie ist ein rückwärts gewandtes Probehandeln und
zeichnet die Landkarten der Möglichkeitswelt. Ich habe William Faulkners Roman
„Absalom, Absalom!“ nie ganz verstanden.
Aber ich bin begeistert, mit welcher Verve Faulkner Erinnerungen beschreibt, die
kein Mensch je gehabt hat noch, wie ich meine, so haben könnte. Es ist ein
Erinnerungsraum, den die Literatur eröffnet, eine graphisch-semantische
Ungeheuerlichkeit. Diese Potenz gefällt mir. Faktenfehler sind mir peinlich, aber
wenn jemand einwendet „So war es doch nicht“ – geschenkt! Sonst wäre es ja auch
keine Kunst.
Sie haben anschaulich gemacht, wie sie beim Umgang mit Ihren Personen auf
die Zeitebene von 1937 stießen, die Figuren also eine Art Eigenleben gewannen
und sich eine neue (Zeit-)Tür öffnete. Das blieb nicht ohne Konsequenz.
Um meine Geschichte in das Dorf Kleinbärengrund hinein erfinden zu können, ging
es zunächst darum, den pietistischen Bauernalltag in Masuren zu verstehen. Doch
wer 1937 beginnt, wird über Hitler, Nazis und Krieg nicht schweigen können.
Zunächst glaubte ich, ich könnte Marie auf zehn, zwölf episch getragenen Seiten
durchs Dritte Reich befördern. Aber das wäre eben ein Missverhältnis gewesen,
zumal ein ästhetisches. Darum habe ich mich ganz aufs Dritte Reich eingelassen –
immer im Hinblick auf mein Romanpersonal, auf dessen Lebenswege und Probleme.
Neben den Maßverhältnissen waren Kenntnisse über jene Zeit zu
akkumulieren. Einen Transport von Kriegsgefangenen minutiös
nachzuerzählen, wie Sie es tun, ist eine andere Sache, als Jugend in den 80er
Jahren darzustellen.
Es gibt über alles Literatur und über das meiste biographische Zeugnisse. Ich bin
allerdings in diesem Punkt kein Jünger Gustav Flauberts, der mit Blick auf seine
späten Romane betonte, tausend Bücher zur Vorbereitung gelesen zu haben. Als ich
sah, worauf ich mich eingelassen hatte, musste ich Kompromisse schließen. Ich
schrieb meinen Figuren einen Weg vor, den ich nach Materiallage glaubhaft
darstellen konnte. Hermann Ecksteins Karriere als Partisan liegt die
Lebensgeschichte eines Bekannten zugrunde. Für den Transport der
Kriegsgefangenen ins Lager am Ural habe ich biographische Schriften Dritter
hinzugezogen, womit Eckstein Züge einer frei erfundenen Figur, meines Bekannten
und mehrerer Menschen trägt, die davon nichts wissen. Wer sich sehr gut auskennt,
dürfte entdecken, dass ich beim Lagertransport bestimmte Realereignisse von 1945
nach 1942 zurückverlegt habe.
66
Nun kann man „Schattauers Tochter“ auch als Familien- bzw.
Generationenroman bezeichnen. Eine Kritikerin fragte vor Jahren abfällig, wer
noch „fette Sippschafts-Schwarten“ lese, und ergänzte: „Der Familienroman ist
bequem wie ein abgetragener Pullover.“
Ich weiß nicht, ob „Schattauers Tochter“ ein Familienroman ist. Ich vermute, das
Buch ist ein wilder Inzest von mehreren Gattungen. Andererseits sind
Familiengeschichten seit „König Ödipus“ ein bestens eingeführtes Genre. Auch
amerikanische Autoren wie Franzen, Roth und DeLillo setzen die Tradition gern fort.
Es kommt banalerweise allein darauf an, wie man’s macht. Liebe und Sex gehören
sowieso in neun von zehn Romane, wobei, wer hätte das gedacht, manchmal
Familien entstehen.
In „Schattauers Tochter“ allerdings merkt man davon trotz genügend Sex und Liebe
auf den ersten 600 Seiten wenig und kann das Buch deshalb nur im letzten Kapitel
beziehungsweise beim zweiten Mal als Familienroman lesen. Aber liest man
außerhalb von Wissenschafts- und Kritikerkreisen ein Buch als Familienroman,
Bildungsroman, zeithistorischen Roman – oder weil mal wieder Lesezeit ist und man
sich guten Stoff erhofft? Ich glaube, letzteres.
In „Jahrestage“ verstand es Johnson, Zeitgeschichte als Familiengeschichte zu
erzählen. Auch Sie verbinden zwei Ebenen und zeigen, wie die „große“
Geschichte in die „kleine“, das Leben der einzelnen eingreift. Allerdings
gehören Sie zum Jahrgang 1966.
Uwe Johnson scheint früh gewusst zu haben, dass der Widerschein des
Gesellschaftlich-Politischen in der Einzelexistenz der Rahmen seines Schreibens ist.
Meine Probleme waren anfangs unendlich kleiner, etwa der Art: Kannst du
überhaupt schreiben? Wenn ja, was? Und wohin treibt es dich? Ich fürchte sogar, es
war noch banaler: Mir gefiel es, zu schreiben zu versuchen, denn Literatur war unter
den Künsten meine erste Liebe. Dann kam der Schacht der Arbeitsjahre; die
technischen Übungen; eine sozusagen bewusstlos oder blind gesteuerte
Materialanhäufung. Jedenfalls kein Kalkül der Art: Was muss gerade jetzt in
Prosaform ausgedrückt werden und wo ist deine Nische in der Literaturgeschichte?
Bis auf den Tag machen mir Behauptungen wenig Spaß, die beginnen mit
„Deutschland ist …“ oder „Was Deutschland fehlt …“ oder „Wir in Deutschland
sind …“ So etwas kommt mir immer tendenziös vor. Oft ist das Gegenteil genauso
wahr.
Nun wurde Ihr Roman als Ausgestaltung der „Generation Golf“ bezeichnet, in
der Zeitschrift „Literaturen“ spricht man vom „Roman der heute
Vierzigjährigen“.
Das wundert mich. Ich habe mit der „Generation Golf“ subjektiv gar nichts zu tun,
meine Hauptfigur Marie Schattauer ist 1919 geboren – und es ist ihr Roman.
Zugegeben, ich habe zwischendurch gerätselt, was ein Debüt haben muss, damit es
ein Lektor zur Veröffentlichung vorschlägt. Es darf auf keinen Fall langweilen, habe
ich mir gesagt und die Zwischenergebnisse einem imaginären Leser namens AO zur
Prüfung eingereicht.
Außerdem wollte ich natürlich, dass die Unterhaltung, die mein Roman bestenfalls
gewährt, keine der vulgärsten Sorte ist. Schlicht gesagt: „Schattauers Tochter“ ist das
Buch, das ich schreiben konnte, ich hätte nicht jedes andere schreiben können.
67
Nunmehr schreiben Sie am nächsten Roman, und das Nachdenken über die
„große“ und die „kleine“ Geschichte beginnt von vorn.
Ich könnte leicht sagen: Ja, mich interessiert, „wie sich die große Geschichte in der
kleinen spiegelt“. Aber keine derartige Intention treibt mich, sondern die schnöde
Lust, ein gutes Buch zu schreiben. Dokumentarischer Realismus und Phantasie sind
gleich wichtig und gleich würdig für die Fiktion.
Von Uwe Johnson stammt die Aussage: „Biographie ist unwiderruflich.“ Auch
darum geht es in Ihrem Roman, der von den Versuchen EduardMantheys
erzählt, seiner Herkunft zu entkommen.
Eduard will seine „Wurzeln ausreißen“, das Hinterwäldlerische tilgen, seine niederen
Instinkte abschütteln – und nur phasenweise gelingt es ihm. Auch Marie durchlebt
einen doppelten Entwurzelungsprozess. Sie bricht mit Kindheit, Glauben, Heimat,
übernimmt die Rolle einer Dame aus gutem Hause und schrumpft nach ihrer
Selbstblendung zum „schwarzen Gespenst“. Auch da wird sie ihre Herkunft nicht
los. Insofern unterschreibe ich Johnsons Bonmot.
Ihre Figuren ahnen, dass man die Vergangenheit weder abstreifen noch
besiegen kann?
Die einen früher, die anderen später, dritte nie. Ich bin in diesem Punkt auf der Seite
von Faulkner: „Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“
Offenbar profitiert der Roman „Schattauers Tochter“ von der Dynamik vieler
Entwurzelungen, die positiv als Aufbrüche zu bezeichnen sind.
Schon die historisch älteste Episode, die Vertreibung der Vorfahren Schattauers
1731, vollzieht sich als Exodus. Mein Personal muss oft fort. Es hat Ziele oder wird
gezwungen, Ziele anzuvisieren. Das bringt Bewegung, wenn auch nicht immer
Befreiung. Wahrscheinlich ist es bezeichnend, dass Eduard, als er die bürgerliche
Wohlstands- und Sicherheitsstufe erreicht, faul und fett wird, aber an Klugheit nicht
zunimmt und schließlich blind in die Katastrophe taumelt.
Zunächst könnte man glauben, Gustav Eckstein sei die Hauptfigur, aber in
Wirklichkeit ist es Marie, Schattauers Tochter.
Davon bin ich überzeugt. Viele sehen auch Eduard Manthey als Hauptfigur, was
mich genauso überrascht wie die Eckstein-Variante.
In meinen Augen dominiert Marie den Roman überdeutlich und ist in jeder Zeile
anwesend. Ich meine, das hat damit zu tun, dass sie als neugieriges, weltfremdes,
pietistisches Bauernmädchen in die Geschichte gerät – also als eine Person, die man
in die üblichen soziologischen, historischen, psychologischen Koordinatensysteme
eintragen kann –, aber eben als schwarzes Gespenst endet, das dann die Koordinaten
sprengt.
Am Ende, als schwarzes Gespenst, scheint sie eher eine Kunstfigur als eine
Gestalt aus Fleisch und Blut. Teilen Sie den Eindruck?
Weitgehend! Nicht umsonst knistert Maries Haut vor Ewigkeit. Wenn man ihr Leben
betrachtet, kann sie auf keinen Topos reduziert werden. Das macht sie ungreifbarer,
vielleicht sogar unantastbarer als alle anderen Figuren – was vielleicht erklärt,
warum bisher keinem Kritiker etwas Plausibles zu ihrem Schicksal eingefallen ist.
Mir selbst kommt es so vor, als sei Marie als schwarzes Gespenst eine entfernte
Verwandte von Don Quixote.
Sie durchstößt wie der Ritter von der traurigen Gestalt die Grenze zwischen der
68
Wirklichkeit der Fiktionen und jenen anderen Wirklichkeiten. Ein Unterschied liegt
auf der Hand: Don Quixote nimmt die Ritterromane buchstäblich, Marie schließlich
doch die Bibel und die pietistischen Lieder, in deren Texte sie hinein geboren wurde.
Bücher
69
6. Literaturverzeichnis
Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen,
Fragestellungen. Berlin 2006.
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen
Gedächtnisses. München 1999.
Assmann, Alida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit-Geschichtsvergessenheit.
Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999.
Assmann, Aleida:”Kultur als Lebenswelt und Monument”.Frankfurt a.M.
Assmann, Aleida, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen, Wissen, Ethik,
Jahrgang 13/2002
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische
Identität in frühen Hochkulturen. München. C.H. Beck 1999.
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. In: Erwägen.Wissen. Ethik. Jahrgang
13/2002.
Assmann Jan : Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis,
Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit. In: Kirstin Platt/Mihran
Dabag (Hrsg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive
Identitäten. Opladen 1995
Astrid Erll, Gedächtnisromane, Trier 2003
70
Astrid, Erll : Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart,
Weimer: Metzler 2005.
Corneließen Christoph : Was heißt Erinnerungskultur?. In:GWU 454 CZ
Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt. WBG 2008.
Gansel, Carsten: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den
Unterricht. Berlin. Cornelsen 1999.
Gansel,
Carsten,
Zimniak,
Paweł:
Reden
und
Schweigen
in
der
deutschsprachigen Literatur nach 1945. (Hg.) Wrocław: Oficyna Wydawnicza
Atut- Wrocławskie Wydawnictwo Oświatowe; Dresden: Neisse Verlag 2006.
Gansel, Carsten: Was uns im Gedächtnis bleibt. In Nordkurier, 17./18. Juni 2007.
Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den
Unterricht. Cornelsen Verlag. Berlin 1999.
Halbwachs, Maurice: Das kollektive
Bedingungen. Frankfurt a.M.: 1991
Gedächtnis
und
seine
sozialen
Hassman Jan / T.Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988
Kohlstruck, Michael: Zwischen Geschichte und Mythologisierung. Zum
Strukturwandel der Vergangenheitsbewältigung, in: König, Helmut u. a. (Hg.),
Vergangenheitsbewältigung am Ende des 20. Jahrhunderts, Leviathan-Sonderheft
Nr. 18, 1998.
Kosik, K. : Die Dialektyk des Konkreten. Frankfurt/M. 1967
71
Kranz, Tomasz: Die KZ-Gedenkstätten in Polen als Formę institutionalisierter
Erinnerung
Markowitsch, Hans J./ Welzer, Herald: Das autobiographische Gedächtnis,
Stuttgart 2000.
Martinez, Matias, Scheffel, Michael: Einführung In die Erzähltheorie. München
1995.
Mauser
Wolfram/
Pfeiffer
Joachim,
Freiburger
literaturpsychologische
Gespräche, Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 2004
Neumann, Brigitt: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und
Funktionen kanaischer Fictions of Memory. Berlin 2005.
Nietsche Friedrich : Vom Nutzen und Nachteil der historie für das Leben (1874),
hier zit. Nach: gesammelte Werke. Bd.6: Philosophenbuch, Unzeitgemäße
Betrachtungen, Erstes und Zweites Stück, 1872-1875. München 1922
Nünning,
Ansgar/Nünning,
Vera:
Grundkurs
anglistisch-amerikanische
Literaturwissenschaft. Stuttgart: Klett 2007.
Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze –
Personen - Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2004 (erweitert und aktualisiert),
Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007
72
Schacter, Daniel: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck
bei Hamburg: Rowohlt 2001.
Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung.
Hamburg 2001.
Wrener ,Ludwig, Hans,: Arbeitsbuch. Romananalyse
http://www.perlentaucher.de/buch/20542.html
http://www.nordkurier.de/uwe-johnson-preis/foerderpreis/orzessek-interview.php
http://www.uni-due.de/literaturwissenschafaktiv/Vorlesungen/epik/erzaehlsit.htm
73
Herunterladen