Zur Inszenierung von Erinnerung in Arno Orzesseks Schattauers Tochter Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung....................................................................................................6 2. Gedächtnistheoretische Konzepte...............................................................9 2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen....................................................9 2.2 Das kolektive Gedächtnis: Zu Positionen von Maurice Halbwachs, Aby Warburg und von Pierre Nora.................................12 2.3. Theorie von Jan und Aleida Assmann.................................................16 2.3.1 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis im Vergleich.........17 2.3.2 Vier Formen des Gedächtnisses von Aleida Assmann................20 2.3.2.1 Das individuelleGedächtnis...................................................20 2.3.2.2 Das GenerationenGedächtnis................................................21 2.3.2.3 Das kollektive Gedächtnis....................................................23 2.3.2.4 Das kulturelle Gedächtnis......................................................24 3. Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses………………………26 3. 1 Erfahrungshaftiger Modus………………………………………………..27 3. 2 Monumentaler Modus……………………………………........................ 28 1 4. Aspekte der Erinnerung in Arno Orzesseks “ Schattauers Tochter”…...32 4. 1 Das <Was> Ebene………………………………………………………… 32 4. 1 .1 Zum Inhalt…………………………………………………………..34 4. 1. 2 Figurenkonstelation………………………………………………….36 4.1.2.1 Relationen zwischen Marie Eckstein ( Schattauer) und Hermann Eckstein……………………………….37 4.1.2.2 Relationen zwischen Marie Eckstein und Gustav Hermann Eckstein……………………………….............41 4.1.2.3 Relationen zwischen Gustav Hermann Eckstein und Eduard Manthey………………………………46 4. 2 Das <Wie> Ebene………………………………………………………54 4. 2. 1 Erzählerinstanz……………………………………………………54 4. 2. 2 Zeitdarstellung.................................................................................59 5. Schlussbemerkungen………………………………………………………………64 6. Anhang..........................................................................................................66 7. Literaturverzeichnis………………………………………………………72 2 “Die Krankheit des schlechten Gedächtnisses (ist) leider zu verbreitet. Es handelt sich um eine Modekrankheit, und man sollte die >eingebildeten< Kranken unserer Tage und ihr Erinnerungsvermögen nicht verzärteln. Was war, darf im Interesse dessen, was werden soll, nicht einfach in die Schubkästen des Unterbewußtseins verbuddelt werden“ Erich Kästner, Mai 1946 „ Noch nie wie zuvor hat sich eine Zeit, eine Nation, eine Generation so reflektiert und reflektierend mit sich selber und ihrer Herkunft befaßt.1 „Holocaust und Drittes Reich sind als Weltphänomene so heikel und ungeheuerlich, dass sich Fiktionen immer der Gefahr aussetzen, in Frivolität umzuschlagen. Das größere Recht haben zunächst Zeitzeugenberichte beziehungsweise biographische Romane wie die von Jorge Semprun und Imre Kertész und danach die seriösen Geschichtswissenschaften. Andererseits füllen deren Bücher Bibliotheken, seit Eugen Kogon noch im KZ Buchenwald „Der SS-Staat“ schrieb. Schriftsteller haben glücklicherweise die Lizenz, auch über Dinge zu schreiben, die sie nicht selbst oder nicht so erlebt haben – das ist sogar eine Definition ihres Berufes.“ Arno Orzessek 1 Assmann, Aleida/ Frevet, Ute: Geschichtvergessenheit, Geschichtversessenheit, Stuttgart 1999.S. 9 3 1. Einleitung Man kann in den letzten Jahrzehnten eine wachsende Beschäftigung mit der Bearbeitung von Vegangenheit beobachten. Seit den 1970er Jahren treten viel häufiger neue, bisher nicht zugelassene Geschehnisse hervor, die aus verschiedenen politischen Gründen nicht ans Licht gelassen werden dürften. Viele aktuelle Publikationen beschäftigen sich mit der deutschen Vergangenheit zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges. Man spricht heutzutage sogar von einem „ Gedächtnisboom“. Die vergangene Zeit nach dem 2. Weltkrieg war schon relativ ausreichend, um mal endlich über Sachen, Geschichte, schon ohne so großen Emotionen zu sprechen. Aus diesem Grund gab es zuletzt die Möglichkeit den Mund zu öffnen und die Wahrheit auszusprechen. Die Bearbeitung der Vergangenheit ist oftmals nicht unproblematisch aber es muss mal geschehen. Langsam sterben die Zeitzeugen, die am Krieg beteiligt, oder als Zivilisten betroffen waren, aus. Die deutschen Schriftsteller lenken die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die Deutschen in dem Weltkrieg auch viel gelitten haben. In den meisten Büchern werden die Deutschen als Opfer der Tragödie dargestellt. Mit den traumatischen Erlebnissen, die die Kriegsgeneration erfahren hatte, wollen sich auch Nachkommen auseinandersetzen. Aus diesem Grund entstehen immer mehr Texte, die als gegenwärtige Erinnerungsliteratur oder Erinnerungskultur bezeichnet werden können. Literatur als eine der Vermittlungsweisen der Geschichte wird immer eine große Rolle spielen. Sie hinterlässt in den Gedächtnissen den Rezipienten eine bestimmte Vorstellung von Ereignissen, die in der Vergangenheit stattfanden. Sie hat einen Einfluss darauf, wovon die Menschen wissen und wie sich diese Informationen erhalten werden. Die Literatur beeinflusst also das Gedächtnis. 4 Das Hauptziel der Magisterarbeit ist, das Leben von drei Generationen zu zeigen. Es wurde präsentiert, worüber sie am meisten Gespräche führen, wie sie die zwischenmenschlichen Beziehungen aufbauen, wie ihr Alltag aussieht, und wie sie mit ihrer emotionalen Lebenssphäre umgehen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird die Auseinandersetzung mit den Mechanismen von Erinnerung und Gedächtnis disziplinenübergreifend dargestellt. Im ersten Schritt werden die gedächtnistheoretische Konzepte beginnend von Maurice Halbwachs ‚kollektive Gedächtnis’ , Aby Warbug ‚das europäische Bildgedächtnis’ und Pierre Nora <Lieux de mémoire> über das Konzept Jan Assmannss des ‚kommunikativen Gedächtnisses’ und des ‚kulturellen Gedächtnisses’ hin zu Aleida Assmanns ‚Vier Formen des Gedächtnisses’ offen gelegt worden. Darüber hinaus soll dargestellt werden, wie die Schlüsselerfahrungen der Nachkriegszeit die Protagonisten beeinflussen. Es soll bewiesen werden, dass „Schattauers Tochter “ ein Medium des Generationen-Gedächtnisses ist, denn das Roman ermöglicht den Rezipienten nicht nur Vor-und Kriegszeit kennen lernen, aber auch die Wirkung auf die Nachkriegsgeneration. Im nächsten Schritt wird die Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses präsentiert. Dabei werden zwei Modi ( erfahrungshaftiger, monumentaler Modus ) und ihre Funktionen dargestellt. Im dritten Schritt wird die Inszenierung von Erinnerung in „Schattauers Tochter“ besprochen. Es werden die folgenden narrativen Parameter wie: der Inhalt, die Figurenkonstelation, die Erzählerinstanz und die Zeit analysiert. Um die Unterschiede in der Denkweise, dem Lebensstill der Maneschen innerhalb von sechs Jahrzehnten zu verstehen, werden die Beziehungen zwischen den Protagonisten präsentiert. Am Beispiel der Hauptfiguren und ihrer Relationen wird geschildert, wie die das Leben der Menschen in dieser Zeit aussah. Wie sie lebten , dachten, wie letztendlich wie sie miteinander umgegangen sind. Es werden die folgenden Relationen präsentiert: 5 1. Relation zwischen Marie Eckstein ( Schattauer) und ihr Mann Hermann Eckstein. 2. Relation zwischen Marie Eckstein und ihr Sohn Gustav Hermann Eckstein. 3. Relation zwischen Gustav Hermann Eckstein und seinem Schüler Eduard Manthey. Dann wird die Erzählerinstanz analysiert. Im ersten Schritt der Analyse werden die grundlegenden Begriffe expliziert, die sich auf die Erzählerinstanz beziehen. Dazu wird die Terminologie von Gerard Genette verwendet. Dann wird präsentiert, mit welcher Geschichte der Erzähler den Roman anfängt. Im letzten Schritt des analytischen Teils werden die Zeitparameter erforscht. Zuerst werden die grundlegenden Termini erklärt, die die narrativen Parameter betreffen. Nachher konzentriert man sich auf den Textanfang. In dem Kapitel wird besonders auf die Reihenfolge des Erzählens eingegangen. Es soll gezeigt werden, dass es „ Schattauers Tochter “ von Analepsen und Prolepsen überfüllt. Die Schlussbemerkungen werden diese Arbeit vervollständigen und sollen sie abrunden. 6 2. Gedächtnistheoretische Konzepte 2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen Viele Wissenschafler unternahmen den Versuch die Termini: Gedächtnis und Erinnerung zu konkretisieren und sie voneinander zu trennen. Das Gedächtnis ist ein Vermögen, bedeutet die Fähigkeit die Informationen, Erfahrungen zu speichern, um sie im entsprechenden Moment abrufen zu können2. Dabei bedeutet das Erinnern „ den konkreten und bewussten Akt der Vergegenwärtigung spezifischer Gedächtnisbestände“3. Es werden also bestimmte Erlebnisse, Erfahrungen oder erworbenes Wissen aktiviert. Der Prozess der Aktivierung entsteht unter unterschiedlichen Umständen, kann sowohl äußerlich aber auch intrapsychisch (emotional) stimuliert werden.4 Das Erinnern beruht nicht nur auf dem Abruf der Informationen. Das Interesannte dabei steckt in der Überzeugung, dass die Episoden, Geschehnisse zu der richtigen Geschichte passen und das alles steht in der Verbindung mit dem, was früher oder später stattgefunden hat oder was man inzwischen darüber gedacht hat.5 Das ist der Grund dafür, dass die Einsicht der Kognitionswissenschafler, die das menschliche Gehirn mit einem Computer, einer „Datenverarbeitungsmaschine“6, die die Informationen speichert und situationbezogen abruft, nie ausreichend ist. Ansgar Nüning bezeinet das Gedächtnis als eine “neuronale Funktion“ und die Erinnerung als „ eine kognitiv-psychische Konstruktion, die bewusst werden muss und dann sprachlich formuliert werden kann.“7 Im Vergleich zu der Erinnerung soll das Gedächtnis nur als eine Aktivität des Gehirns verstanden, die Erinnerug ist Neumann, Brigit, Erinnerung- Identi ät – Narration, S. 22 Ebd., S.22 4 Vgl.,ebd., S.23 5 Vgl., Schackter, Daniel L., Wir sind Erinnerung, Hamburg 2001, S. 39 6 Ebd. 7 Vgl. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2004 (erweitert und aktualisiert), S. 217. 2 3 7 ein bewusster Prozess, in dem die einzelne Ereignisse, die irgendwann in der Vergangenheit stattfanden, in die Gedanken und Worte umgebaut werden. Jeder Mensch hat nämlich den Einfluss auf das was er erinnert und das was er gar nicht oder sehr selten abruft, kann von ihm vergessen werden. Mit der Zeit haben sich neue theoretische Konzepte, die das Phänomen genauer untersuchten. Es wurde bemerkt, dass die Erinnerungen auch von verschiedenem Rang sind, manche betreffen die Ereignisse des Alltags, andere kann man als traumatische Erlebnisse bezeichneten, die eine große Anzahl von Menschen betreffen. Mit dieser Erscheinung beschäftigten sich seit der Beginn des 20. Jahrhunderts viele Wissenschaftler. „Die Bedeutung individuellen und kollektiven Erinnerns wird in keinem anderen Land so augenfällig wie in Deutschland. Über Erinnern konstituiuert sich das kulturelle Gedächtnis, und dieses ist die Voraussetzung eines offenen, reflektierenden Umgangs mit der Vegangenheit. Wer sich dem Erinnern verweigert, läuft Gefahr, dass ihn die Vergangenheit einholt.“8 In Deutschland spricht man heutzutage immer öffter von der Erinnerungkultur. Was heißt eigentlich “Erinnerungskultur? Anhand verschiedener Publikationen kann man feststellen, dass dieser Begriff erst im Laufe der 1990er Jahre einen festen Platz in der Geschichtswissenschaft gefunden hat. Christph Corneließen schreibt in seinem Beitrag: “ Das Konzept Erinnerungskultur fand tatsächlich erst im Laufe der 1990er Jahre Eingang in die Geschichtswissenschaft”9 Das heißt aber nicht, dass es früher keine kulturhistorische Tradition des Nachdenkens über das Erinnern und das Vergessen gab. Jan Assmann spricht in seiner Arbeit von drei Grundvätern der sozialen Gedächtnisforschung das sind: Friedrich Nietsche, Aby Warburg und Maurice Halbwachs. J. Assman ist der 8 Mauser Wolfram/ Pfeiffer Joachim, Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 2004, Vorwort, S. 3 9 Corneließen, Christoph, Was heißt Erinnerungskultur?in: GWU 54, S. 550 8 Meinung, dass erst mit ihren Arbeiten die Begriffsgeschichte von Erinnerungskultur beginnt10. Im Jahr1874 hat z. B. Friedrich Nietzsche seine bekannte Kritik an einem Űbermaß an historischer Bildung ohne konkreten Lebenszug veröffentlicht. Der Philosoph stellte fest, dass es möglich sei “fast ohne Erinnerung, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt” aber gar unmöglich sei “ ohne Vergessen zu überhaupt zu leben” 11. Nietsche stellt auch fest dass, “das Unhistorische […] gleichermaßen für die Gesundheit eiens Einzelnen, eines Volkes und einer Kultur nötig ist”12. In den 1920er Jahren entwickelte Aby Warburg den Begriff der “ Erinnerugsgemeinschaft” und danach führte Maurice Halbwachs seine Definition des “ Kollektiven Gedächtnisses” ein. In seiner Auffasung bedeutet “kollektive Gedächtnis” das bestimmten gesellschaftlichen Gedächtnis einer Gruppe, “ das die in einem Rahmenkonstruierten Vorstellungen über die Vergangenheit umfasst” 13 Erinnerugskultur ist ein formaler Oberbegriff “für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse […] Der Begriff umschließt also neben Formen des ahistorischen oder sogar antihistorischen kollektiven Gedächtnisses alle anderen Repräsentationsmodi von “privaten” Erinnerungen, jedenfalls soweit sie in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen haben.”14 Die Repräsentanten dieser Kultur sind Individuen, soziale Gruppen, Nationen und Staaten. Die Erinnerungrkultur hat verschiedene Formen, die sie ausdrücken können. Zu diesen Ausdruckform der Erinnerungskultur gehören z.B. : Textsorten aller Art, Bilder, Fotos, Feste, Denkmäler, Grabsteine, historische Dokumenten, Filme, verschiedene Rituale und gedenkliche Ordnungen usw. Die Literatur ist also auch 10 Jan Assmann: Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit. In: Kirstin Platt/Mihran Dabag (Hrsg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen 1995, S. 51-75, hier S. 60f. 11 Friedrich Nietsche: Vom Nutzen und Nachteil der historie für das Leben (1874), hier zit. Nach: gesammelte Werke. Bd.6: Philosophenbuch, Unzeitgemäße Betrachtungen, Erstes und Zweites Stück, 1872-1875. München 1922, S. 227-327, hier S.234 12 Ebd., S.236. 13 Tomasz Kranz: Die KZ-Gedenkstätten in Polen als Formę institutionalisierter Erinnerung, S.162 14 Christoph Corneließen: Was heißt Erinnerungskultur?, In:GWU 454 CZ, S.555. 9 eine Ausdrucksform der Erinnerungskultur und hat eine große Bedeutung. Sie hält die Erinnerungen und Geschichte lebendig. Seit den letzen Jahrzehnt ist die Zahl der Arbeiten zum Thema: Gedächtnis rasant angewachsen. Dieser umfangreicher und disziplinübergreifende systematischer Forschunsgegenstand Nachforschungen. Im bedarf Hinblick auf psychologische, medizinische, kullturelle und soziologische Untesuchungen lassen sich mehrere Fragen beantworten und nicht nur aus der psychologischen Schicht, sondern auch aus dem medizinischen, kulturellen, soziologischen Standpunkt. An diesem Projekt beteiligen sich sowohl viele Historiker, Politologen, Soziologen als auch Literatur- und Kulturwissenschaften. Die Ursachen sind vielfältig. Einerseits braucht man endlich eine gründliche Auseinandersetzung mit der Geschichte (Vergangenheit), andererseits spricht man von altersdemographischen Veränderungen im Westen.15 Schon in den 1920er und 1930er Jahren der 20. Jahrhunderts entwickelten sich in der Kulturwissenschaft neue Begriffe, die die Gedächtnisforschung betreffen. Es handelt sich hier um die soziologische Studie La mámorie collective von Maurice Halbwachs und um das kulturwissenschaftliche Untersuchung Aby Warburgs in dem Bilderatlas Mnemosyne also um Bildgedächtnis. „Beide Ansätze verweisen auf die Bedeutung sozialer Bedingungen und kultureller Einflüsse für die historische Tradierung von Erfahrung“16. Sie wurden zum Gegenstand kulturwissenschaftlichen Theoriebildung, obwohl sie sich mit dem Phänomen aus verschidenen Sichtrichtungen beschäftigten. 2.2 Das kollektive Gedächtnis: Maurice Halbwachs, Aby Warburg und Pierre Nora. 15 16 Vgl., Hans J. Markowitsch/ Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis ,Stuttgart , S.25 Jan Hassman / T.Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988,S.9 10 Der Begriff < měmorie collective> wurde von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs entwickelt. Er beschäftigte sich vor allem mit dem Phänomen des Gedächtnisses. Dabei versuchte er zu klären, wie die sozialen Bedingungen auf das was behalten wird, einen Einflus ausüben. Halbwahs vertritt die These, dass es kein Gedächtnis geben kann, wenn man in voller Einsamkeit lebt. Seiner These folgend, was uns ins im Kopf bleibt, der Prozess der Sozialisation unterliegt. Ohne soziale Beziehungen wären wir wie ein „weißer Blatt“. Es gibt also nichts, was man als individuelles Gedächtnis beziechnen kann. In dem Fall verlieren an der Bedeutung auch die neuronale und hirnphysiologische Möglichkeiten eines Individuums und jede persönliche Erinnerung wird als ein kollektives Phänomen verstanden. „ Mensch ist ein soziales Wesen“ 17 und „ohne anderen Menschen bleibt ihm nicht nur der Zugang zu so eindeutig kollektiven Phänomenen wie Sprache oder Sitten verwehrt, sondern(...), auch der zum eigenen Gedächtnis“18. Halbwachs Theorie beruht auf der These, dass alle Erfahrungen, „durch die Interaktion und Kommunikation mit unseren Mitmenschen Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeit- und Raumvorstellungen, Denk- und Erfahrungsströmungen vermittelt werden“19 . Mit anderen Worten das soziale Umfeld vermittelt uns Informationen, Wissen, Erfahrungen und Reaktionen. Das alles geschieht durch die Kommunikation, während der Koexistenz. „ Unsere Wahrnehmung ist gruppenspezifisch, unsere individuellen Erinnerungen sind sozial geprägt, und beide Formen der Weltzuwendung und Sinnstiftung sind undenkbar ohne das Vorhandensein eines kollektiven Gedächtnisses“.20 Aus diesem Grund bedeutet die Historie kein Gedächtnis ist, weil es nicht univerisell sondern nur gruppenspezifisches Erscheinung ist.21 Mit anderen Worten, die Geschichte und Gedächtnis kann man als polare betrachten. Zusammenfassend lassen sie sich Halbwachs Studien in drei Untersuchungsbereiche einteilen, als erste sollte man die Theorie von der sozialbedingten Erinnerung erwähnen, zweitens die Analyse der Bildung generationsbedingten Gedächtnisses, 17 Astrid Erll, Gedächtnisromane, Trier 2003, S.19 Ebd., 19 Ebd., . 20 Ebd, S.20 21 Vgl., Assman, Jan, Das kulturelle Gedächntis, München 2005, S. 43 18 11 was schließlich zur Ausweterung des Begriffs <mémorie collektive>, was später von Aleida und Jan Assmann als kulturelles Gedächtnis ausgearbeitet wurden. Halbwachs konzentriert sich vor allem auf die soziale Gruppe, in ihr sieht er die zentrale Bedeuteung, sie ist die Voraussetzung für die Entstehen von Sinnwelten und deren Weitergabe. Dabei wichtig ist auch die Beziehung zwischen dem kollektiven und individuellen Gedächtnis. „(...) das Individuum sich erinnert, indem es sich auf dem Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.“22. „(...) jedes individuelle Gedächtnis ist ein Ausblickpunkt auf das kollektive Gedächtnis“23. Diesen Ausblickpunkt soll als Orientierungpunkt zu beachten. Jeder Mensch muss infolge seiner Sozialisation mehreren Gruppen zugehören. Halbwachs führt noch verschiedene Typen der kollektiven Gedächtnisses. Dabei spielen die soziologischen Fälle eine bedeutende Rolle,- gemeint wurden hier die Familie, Religiongemeinschaft, soziale Klasse. Als ein typisches Beispiel „intergenerationelles Gedächtnis“ kann man das Familiengedächtnis nennen. 24 Die Geschichten sind durch soziale Kommunikation, also durch mündliche Erzählungen die, die Zeitzeugen den Nachkommenen überliefern, lebedig gehalten. „ Seine Träger sind zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen, deren Erinnerung stark werdend und hierarchisierend ist.“25 Das Hauptziel ist es die Identitätsbildung. Der Beteiligte dieser Gruppe zeigt durch das Erinnern, dass er am kollektiven Gedächtnis teil nimmt. Die Besonderheit dieses Gedächtnises besteht darin, dass nur das einnert wird, was wichtig ist und der Interesse der Gruppe entspricht. Von daher soll das kollektive Gedächtnis als stark selektive und rekonstruktive, angesehen werden. Die Ereignisse werden rekonstruiert, die Lücken können mit verschiedenen nicht unbediengt der Wahrheit entsprechenden Elementen ausgefühlt werden.26 Das „ europäische Bildgedächtnis“ von Aby Warburg 22 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.: 1985, S.23 23 Maurice Halbwachs , Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.: 1991, S.31 24 Vgl., Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005,S. 15 25 Ebd.,S.17 26 Vgl., ebd. S.19 12 In der 20er Jahren fuhr, neben Maurice Halbwachs, im Bereich des kollektiven Gedächtnisses, die Untersuchungen der Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg. Aby Warburg gilt als bedeutender Vordenker der modernen Kulturwissenschaft. Seine Konzeption sah die enge Verbindung von Gedächtnis und Kultur. Er beschäftigte sich mit der Nachleben der Antike in vielen Bereichen der abendländischen Kultur bis in die Renaissance. Dank seiner Forschung etabilierte sich Ikonologie (Symbolkunde) als eigenständige Disziplin. Er formulierte die These, dass das Phänomen „der Aneignung der Antike durch Künstler späteren Epochen“ auf „ die erinnerungslösende Kraft kultureller Symbole“ abgeleitet ist. Eine besondere Rolle schrieb er den so genanten Pathosformeln zu. Sie gelten als Zeichen, in denen das Pathos sichtbar ist. „ Kultur beruht auf dem Gedächtnis der Symbole“27, auf dieser These basierend schafte Warburg seine Theorie des kollektiven Bildgedächtnisses, was er als ‚ soziales Gedächtnis’ beziechnete Für Warburg ist das antike Pathos eine Erinnerung, also jedes Kunstwerk hinterließ ein geistiger Spur und kann jeder Zeit ins Leben gerufen werden. Der Wissenschaftler betont, dass als europäisches Bildgedächtnis nicht nur visuelle Kultur gilt, sondern auch die Alltagskultur, Feste und Literatur. Die Menschen sind die Träger dieser Kultur, sie ist als „ Produkt des menschlichen Handlens angesehen. Sie verändert sich mit der Zeit( Aktualisiert), was zu den Wandel des soziales Gedächtnisses führt. Die letzte und dabei wichtigste Teil in Warburgs Denken zeigt sein Ausstellungsprojekt unter dem Titel „Mnemosyne“. Der Titel verwies auf die Muse, die für Erinnerung zuständig war. Es war ein „Atlas, der ein Epochen und Länder überschreitendes Bildgedächtnis veranschaulichen sollte.“28 In dieser Zusammenstellung wurde Europa und Asien in eine „Erinnerungsgemeischaft“ verbunden. Beide Konzeptionen unterscheiden sich deutlich voneinander. Warburgs geht um die visuelle Kultur in weiten und disziplinübergreifenden (interdisziplinärem) Sinne. Halbwachs basiert auf den aktiven, bewussten Bedürfnissen der Gegenwart in Prozess der Aneingnung der Vergangenheit durch die sozialen Gruppen. 27 28 Astrid Erll, Gedächtnisromane, Trier 2003, S.23 Ebd. S. 24 13 Gemeinsam waren sie einig, dass Kultur und ihre Weitergebung zur menschlichen Aufgaben gehört. <Lieux de mémoire> von Pierre Nora Ein bedeutender französischer Geschichtwissenschaftler namens Pierre Nora beschäftigte sich mit der Halbwachschen Theorie von der Trennung zwischen Geschichte (Historie) und Gedächtnis. In seinem Werk Les lieux de mémoire erklärt er, dass es man so viel von Gedächnis spricht, weil es eigentlich überhaupt kein vorhanden ist. Zu seiner Untesuchunggegenstand gehörten ‚Erinnerungsorte’. Diese Beziechnung bekamen nicht nur Gebäuden, Denkmäler, Kunstwerke, geographische Orte, symbolische Handlungen, philosophische und wissenschaftliche aber auch die historische Persönlichkeiten. 29 Sie stellen ein in der Vergangenheit liegendes Geschehen dar, das nicht dauernd im Gedächtnis wach bleib, sondern in bestimmtem Situationen abgerufen werden können. Nach Nora muss ein Ereignis, Gegenstand drei dimensionale Bedingungen erfülen, um als Erinnerungsort beziechnet zu werden. Erstens können es auch die Dinge, die man nicht anfassen kann, also auch die historische Geschehnisse u.a. Das nennt man ‚materielle Dimension’. Als nächste erwähnte er ‚funktionale Dimension’, das bedeutet, dass die Objektivationen eine konkrete gesellschaftliche Funktion erfüllen müssen. Als dritte nennt Nora die symbolische Dimension, die Voraussetzug besteht darin, dass ein Ort, bzw. Gegenstans muss noch eine symbolische Bedeutung haben. Noras Theorien galten für viele Wissenschaftler als Inspirationsquelle. 2.3 Theorie von Jan und Aleida Assmann 29 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 37 14 Den Arbeiten von Aleida und Jan Assmann verdanken wir die kulturwissenschaftliche Bestimmung von Gedächtnisformen. Jan Assmann stetzte zuerst den Begriff ‚das kulturelle Gedächnits’ als Oberbegriff vom ‚kommunikativen Gedächtnis’ einerseits und von ‚Wissenschaft’ .Das kommunikative Gedächtnis ist im Vergleich mit dem kulturellen viel kurzer, also umfasst etwa 80 Jahre also ca. drei bis vier Generationen. Dabei ist sie stark an die Kommunikation gebunden und ist durch „ Alltagsnähe“ gekenzeichent. kulturelle Gedächtnis kann man als „Altagsferne“ Das also wird durch kulturelle „Formung“ (Literatur, Ritten) und „institutionalisierte Kommunikation“ es ist also ofiziell gestiftet.30 Dagegen Aleida Assmann sieht das anders. Sie unterscheidet vier Formen des Gedächtnises: individuelles, generationen, kollektives und kommunikatives Gedächtnis. Im Folgenden werden die Grundannnahmen jeder Form erörtert. 2.3.1 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis im Vergleich Der Gedächtnisdiskurs als ein interdisziplinärer Diskurs verbindet mehrere Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Soziologie zusammen. Das Ergebnis dieser Zusammnstellung von Kultur und Gedächtnis war die Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Seine Aufgabe beruht darauf, dass die Erfahrungen und Wissen durch Generationen weiter fließt, um ein „Langzeitgedächtnis“ zu bilden. Das Konzept von Assmann unterscheidet zwei ‚Gedächtnis-Rahmen’- dem kommunikativen und dem kulturellen. Dazwischen ist es noch ein qualitativer Unterschied zu unterstreichen. 30 Vgl., Welzer, Harald, Das kommunikative Gedächtnis, Verlag C.H.Beck, München 2005, S.14-15 15 Dabei müssen die folgende Parametern: Inhalt, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger berücksichtigt werden. Siehe die unterstehende Tabelle. 31 kommunikatives Gedächtnis Inhalt Geschichtserfahrung im Rahmen indiv. Biographien Formen informell, wenig geformt, naturwüchsig, entstehend durch Interaktion, Alltag Medien lebendige Erinnerung in organischen Gedächtnissen, Erfahrungen und Hörensagen Zeitstru ktur Träger 80-100 Jahre, mit der Gegenwart mitwandernder Zeithorizont von 3-4 Generationen unspezifisch, Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaft kulturelles Gedächtnis mythische Urgeschichte, Ereignisse in einer absoluten Vergangenheit gestiftet, hoher Grad an Geformheit, zeremonielle Kommunikation, Fest feste Objektivationen, traditionelle symbolische Kodierung/Inszenie- rung in Wort, Bild, Tanz usw. absolute Vergangenheit einer mythischen Urzeit spezialisierte Traditionsträger Aus dieser Gegenüberstellung ergeben sich Folgene Schlussfolgerungen: Das kommunikative Gedächtnis erfolgt durch verschiedene Interaktionen im Alltag. Es umfasst einen begrenzten Zeithorizont (von ca. 80 bis 100 Jahren), denn sein Inhalt die Erfahrungen der Zeitgenossen bilden. Jeder Mensch ist ein Träger des kommunikativen Gedächtnisses, weil jeder als ein Zeitzeuger zumindest einer Erinnerungsgemeischaft ist. Das kulturelle Gedächtnis stellt in den Vordergrund mythische Ereignisse, eine vergegenwärtige Erinnerung wie z.B. der Kampf um Troja. Es handelt sich also um „an feste Objektivationen gebundene, hichgradig gestiftete und zeremonialisierte“ Erinnerungen, also um festen Bestand an Inhalten und Sinnstiftungen.32 Jan Assmann formulierte 1988 eine exakte Definition des kulturellen Gedächtnisses: 31 Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 29 32 Ebd.,S.28 16 „Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs –Texten, Bildern und –Ritten zusammen, in deren 'Pflege' sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit , auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“33 Aufgrund der Analyse von Definition lassen sich folgende Merkmale unterscheiden: - Identitätskonkretheit- dadurch können soziale Gruppen ein kulturelles Gedächtnis bilden und ihre Identität vermitteln; - Rekonstruktivität- „das kulturelle Gedächtnis ist ein retrospektives Konstrukt“34, die Erinnerungen kann man als rekonstruierende Vegangenheit verstehen; - Geformtheit- dank diesem Merkmal lassen sich kommunikative und kulturelle ‚Gedächtnisrahmen’ voneinander unterscheiden; das kulturelle Gedächtnis kann nur anhang fester Ausdrucksformen und Medien fortgesetzt werden; - Organisiertheit- hier wird“ die Institutionalisierung des kulturellen Gedächtnisses und die Spezialisierung ihrer Trägerschaft35“ - Verbindlichkeit- „ergibt sich für die Gruppe eine >klare Wertperspektive und ein Relevanzgefälle“36, verwiesst auf die Tatsache , dass konkrete Werte sind für eine bestimmte Gruppe ( Gemeinschaft) relevant; - Reflexivität- das Merkmal ist darauf zurückzuführen, dass „das kulturelle Gedächnis die Lebenswelt der Gruppe, ihr Selbstbild und nicht zuletzt sich selbst reflektiert“37 Jan Assmann betont, dass der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächnis durch zwei zentralen Medien: ‚Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ erfolgt. Aufgrund der Analyseergebnisse kam Assman zur folgenden Schlussfolgerungen, dass es sich um „die Verbindung von Erinnerung, kollektiver Idetitätsbildung und 33 Ebd., S.28 Ebd., S.28 35 Ebd., S.29 36 Ebd., S.29 37 Ebd., S.29 34 17 poltischer Machtausübung und um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten oraler und skriptualer Kulturen“38 handelt. 2.3.2 Vier Formen des Gedächtnisses von Aleida Assmann Aleida Assmann stellt noch eine andere Unterscheidung dar. Neben dem kommuniktaiven und kulturellen Gedächtnis nennt sie auch das individuelle Gedächtnis und das Generationen-Gedächntis. Im Folgenden werden alle Vier Formen besprochen. 2.3.2.1 Das individuelle Gedächtnis Das Erinnern spielt in unserem Leben genauso wichtige Rolle, wie das Vergessen. Die menschliche Erinnerungsfähigkeit macht den Menschen zuerst zum Menschen. Die biographischen Erinnerungen werden also als der Stoff, als die Basis für die Entwicklung eines Individuums, das davon die Erfahrungen, Beziehungen und vor allem sein eigenes Identität bildet, verstanden.39 Das individuelle Gedächtnis gekennziechnet sich durch bestimmte Merkmale. Die Erinnerungen sind perspektivisch, unaustauschbar und unübertragbar dh. jedes Individuum besitzt eine andere Lebensgeschichte und unterschiedliche Erinnerungen. Sie treten nicht isoliert auf, sondern sind mit anderen verknüpft40. „Damit gewinnen sie nicht nur Kohärenz 38 Ebd.,.S.29 Vgl., Assmann, Aleida, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen, Wissen, Ethik, Jahrgang 13/2002, S. 184 40 Vgl., ebd., S.184 39 18 und Glaubwürdigkeit, sondern wirken sie auch verbindend und gemeinschaftsbildend.“41 Sie sind fragmentarisch, flüchtig und labil. Manche von ihnen verblasen, andere, die öffter wiederholten, bleiben am besten konserviert. Einige werden im Laufe der Zeit dem Veränderungsprozess der Person, ihr Lebensumstände unterstellt. Sie sterben mit ihren Träger zusammen. Die Erinnerungen verändern sich mit der Zeit, weil wir sie mit der Zeit anders bewerten, aber sie existieren auch in einem ‚spezifischen Zeithorizont’. „Dieser Zeithorizont wird wesentlich durch den Wechsel der Generationen bestimmt“42, es sind ungefähr 80-100 Jahren, 3 Generationen, die durch Kommunikation zwischen den Individuuen eine Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft bilden.43 Darüber hinaus sollte man nicht vergessen, dass die Bildung des Gedächtnises eine Entwicklungsaufgabe, die von frühen Jahren der Kindheit bis in die späte Adoleszenz dauert. Doch als eigentlicher Beginn nennt man das Alter zwischen 3-5, es ist also die Zeit, aus der unsere ersten Erinnerungen stammen.44 Zusammenfassend lässt sich das individuelle Gedächtnis als „das dynamische Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung“45 bezeichnen. 2.3.2.2 Das Generationengedächtnis Jeder Mensch dank der Kommunikation teilt mit anderen seine Erfahrungen, Erlebnisse, Überzeugungen, Haltungen, Werten, Hoffnungen und kulturelle Deutungsmuster. Persönliche Erinnerungen sind jeder Zeit von „bestimmten historischen Schlüsselerfahrungen geprägt und dadurch sind alle Indiviuuen durch die gemeisame Erinenrungen mit der Umgebung, der Gemeinde, der Stadt, der Familie verbunden. Aleida Assmann verwiest auf die Tatsache, dass das Gedächtnis 41 Ebd., S.184 Ebd., S.184 43 Vgl., Ebd.,S.184 44 Vgl., Markowitsch,Hans/ Welzer, Harald, Das autobiographische Gedächtnis , Stuttgart 2000 S.14 45 Assmann, Aleida, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen, Wissen, Ethik, Jahrgang 13/2002, S. 184 42 19 einer Gesellschaft wesentlich durch den Wechsel der Generationen bestimmt wird.46 Jede Generation bedeutet eine Periode und die dauert ca. 40 Jahren. Nach dieser Zeit verändern sich die früher wichtige und representative Erinnerungen ‚das Erinnerungsprofil’ und rücken an die Peripherie, dh., dass jede Generation in einem neuen Verhältnis zu den geschichtlichen Vorgängen steht. Die Erlebnisgeneration sieht und erzählt alles anders als die der Kinder- also zweiter Generation. Die „Dritte Generation“ hat keine Erinnerungen, deren Zeugen ihre Großeltern waren. Alle nächsten Generationen sind also auf verschiedene Medien angewiesen. Es existieren also keine Verbindungen zwischen der Lebenserfahrungen und der Geschichte. „Mit dem Generationwechsel ändern die Schuldfrage, die Erinnerungspflicht und das Lernen aus der Geschichte ihren Status (...)“47 Der erste Wissenschaftler, der sich mit dem Generationen-Gedächtnis beschäftigte hieß Karl Mannheim. Er stellte fest, dass „ein Individuum im Alter von 12 bis 15 Jahren für lebensprägende Erfahrungen besonders aufnahmefähig ist“.48 Mit anderen Worten: das was wir relativ früh (also in diesem Zeitraum) erleben, „tiefere Spuren im Gedächtnis hinterließt“49, eine sehr wichtige Rolle für Persönlichkeitentwicklung spielt. Offensichtlich ist das Generationengedächtnis ein entscheidendes Element in der Bildung des persönlichen Gedächtnisses. Heinz Bude schreibt folgendes: “ Generationen teilen eine Gemeinsamkeit der Weltauffassung und Weltbemächtigung“.50 “Deshalb dreht sich die Kommunikation zwischen den Generationen immer um eine Grenze des Verstehens, die mit der Zeitlichkeit des Erlebens zu tun hat. Das Alter trennt auf eine ganz existentielle Weise, wiel man seiner Zeit nicht entgehen kann.“51 46 Vgl., Ebd., S.185 Michael Kohlstruck, Zwischen Geschichte und Mythologisierung. Zum Strukturwandel der Vergangenheitsbewältigung, in: König, Helmut u. a. (Hg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des 20. Jahrhunderts, Leviathan-Sonderheft Nr. 18, 1998, S. 86-108 48 Ebd., S.185 49 Ebd.,S.185 50 Bude, Heinz, „Generationen im sozialen Wandel“ ,in: Anette Lepenies, Hg., Alt und Jung. Das Abenteuer der Generationen. Deutsches Hygiene Museum Dresden. Frankfurt a. M., Basel 1997. S.65 51 Ebd.,S. 47 20 2.3.2.3 Das kollektive Gedächtnis Das kollektive Gedächtnis als eine Form kollektiver Kommunikations- und Interpretationsprozesse, umfasst das Wissen und ausschalggebende Erfahrungen und einer Nation oder eines Stattes. Es ist ein künstliches Gebilde, vom Staat gesteuert und bedient sich der memorialen Zeichen, Symbole wie: Texte, Bilder, Orte, Ritten, deswegen sind sie nicht spontan, sondern symbolisch konstruiert52. Es beinhaltet nicht die Gesamtheit, sondern nur eine Auswahl an Erinnerungen. So werden grundsätzlich nur Siege erinnert, nicht Niederlagen. Es kommt also zu der Bewertung der Geschichte. Die Körperschaften haben kein Gedächtnis, also sie ‚machen’ es selbst. Auf diese Art und Weise werden also bestimmte Geschehnisse entweder als erinnerungswert oder vergessenswert klasifiziert. Das kollektive Gedächtnis dient der Identitätsbildung und um das Selbstbild zu stärken, „ ein solches gemachtes (...) hat keine spontanen und unwillkürlichen Momente mehr, wiel es durch und durch intentional verfaßt und symbolisch konstruiert ist“.53 Die symbolische Zeichen verallgemeinern, vereinheitlichen und fixieren. Alles ist perspektivisch organisiert, manche Ereignisse müssen vergessen werden, andere immer wach bleiben. Friedrich Nietzsche benannte dieses Phänomen „Gedächtnis des Willens und der kalkulierten Auswahl“.54 Die kollektiven, künstlich gebildeten Erinnerungen werden an weitere Generationen verbreitet. Manche Nationen gründen seine Identität auf dem Opferbewusstsein, wenn die Helden mit großem Pathos hervorgehoben werden. Aleida Assmann zufolge unterscheiden wir sowohl das Täter- und Opfer- als auch Sieger- und Besiegtengedächtnis. Wobei unterscheidet sich das Opfergedächtnis wesentlich von dem Gedächtnis der Besiegten. „ Erlittenes Leid ind erfahrenes 52 Vgl., Ebd., S. 186f 53 Ebd., S.186 Ebd., S. 186, Zitat aus Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral. München 1955 54 21 Unrecht “55 sehr tiefe Spuren im Gedächtnis der Generationen hinterlässt. Dagegen „Scham und Schuld“56 werden durch Schweigen abgedeckt. Sie stehen „ unter dem Druck vitaler Vergeßlichkeit“57( Dolf Sternberger). Nietzsche fasste diese Situation in einem Aphorismus: „ ‚Das habe ich gethan’, sagt mein Gedächtnis. , Das kann ich nicht gethan haben’- sagt mein Stolz und bleibt unerbitlich. Endlich – giebt das Gedächtnis nach.“58 2.3.2.4 Das kulturelle Gedächtnis Aleida Assamann betont auch, dass das kulturelle Gedächtnis über dem kommunikativen Gedächtnis steht. Ihr Hauptrolle besteht darin „die Erfahrungen und Wissen über der Generationenschwellen zu transpotrieren und damit ein soziales Langzeitgedächtnis auszubilden.“59 Das kulturelle Gedächtnis basiert auf der verschiedenen Überlieferungsbeständen wie Texte, Bilder, Filme, Architektur, Artefakte, Skulpturen, Feste, Brauchtum, Rituale, Landschaft usw. Sehr oft wird durch Erzählungen, Legenden und Mythen überliefert. Es ist jetzt an der Stelle zu bemerken, dass dieser Bestand einen ständigen Anapassung, Erneuerung aber auch Disskusion benötigt. Die Hauptrolle dieser Gedächtnisform bestaht darin, die Bestände von der Vergessenheit bewahren. Als logische Konsequenzen solte man vor allem die Tendenz zur „Entfernung vom lebendigen Bewusstsein“60 nennen. Es beinhaltet nicht die Gesamtheit, sondern nur eine Auswahl an Erinnerungen. Es ist langzeitig und besteht aus den Erinnerungen 55 Ebd., S. 188 Ebd., S.188 57 Ebd., S.188 58 Nietzsche, Friedrich, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. 2. Unzeitgemäße Betrachtung, in: Werke in drei Bänden, München 1960 59 Assmann, Aleida, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen, Wissen, Ethik, Jahrgang 13/2002, S. 189 60 Ebd., S.189 56 22 der Menschen. Dabei handelt sich bei der Assmanschen Interpretation nicht um ein mit dem Menschen vergleichbares Gedächtnis, sondern um eine Form kollektiver Kommunikations- und Interpretationsprozesse. Das kollektive Gedächtnis beinhaltet das Wissen und einschneidende Erfahrungen eines Staates. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die Bestände zu pflegen und zu konservieren, doch nicht vereinheitlichen und politisch instrumentaliesieren. Das kulturelle Gedächnits entsteht durch individuelle Wahrnehmung, Wertschätzung und Aneignung, wie sie durch Medien, kulturelle Einrichtungen und Bildungsinstitutionen vermittelt werden.61 Aleida Assmann sondert ‚ Gedächtnis als ars’ und ‚Gedächtnis als vis’.62 ‚ Gedächtnis als ars’funktioniert wie ein Wissenspeicher. Jede Information kann in gleicher Form im jedem Moment ins Gedächtnis gerufen werden können. ‚Gedächtnis als vis’ verwies auf die Tatsache, dass mit der Zeit manche Informationen dem Prozess des Vergessens unterliegen. Doch die Wissenschaftlerin geht noch einen Schritt wieter und unterscheidet wieter zwischen Funktions- und Speichergedächtnis. Das Funktiongedächtnis wurde als „bewohnte Gedächtnis“ 63 bezeichnet. Es besteht aus vielen verschiedenen“ bedeutungsgeladenen Elementen“, die eine vollstängge Geschichte bilden können. Als charakteristische Mekmale werden: Gruppenbezug, Selektivität, Weltbindung und Zukunftsorientierung. Das Speichergedächtnis nennt man das „unbewohnte Gedächtnis“, „amorphe Masse“64 Es bedeutet die Gesamtheit der ungeordneten und bedeutungsneutralen Vergangenheitselemente, die keinen vitalen Bezug zu Gegenwart“65 haben. Bewahrt werden, die Informationen, die nicht mehr gebraucht werden, verschüttet oder vergessen sind. Jan Assman notiert folgendes: 61 Vgl. Ebd Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Weimar 2005, S. 31 63 Assmann, Aleida, Erinnerungsräume, 1999, S. 137 64 Ebd., S.137 65 Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Weimar 2005, S. 31 62 23 Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpasster Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen. Beim Funktionsgedächtnis dagegen handelt es sich um ein angeeignetes Gedächtnis, das aus einem Prozeβ der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkostitution [...] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.66 Das Funktionsgedächtnis ist sehr selektiv, da es immer nur einen kleinen Teil des Ganzen umfasst. Das Speichergedächtnis kann man als das Reservoir künftiger Funktionsgedächtnisses verstehen. So entsteht die Möglichkeit des kulturellen Wandels. 3. Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses Literatur kann als Medium des kollektiven und individuellen Gedächtnisses bezeichnet werden. In Untersuchungen zur literarischen Inszenierungen von Gedächtnis und Erinnerung finden wir viele Beispiele in verschiedener Epochen und Kulturräume. Medien kann man als „Vermitlungsinstanzen und Transformatoren zwischen inividueller und kollektiver Dimension des Erinners“67 betrachten. Die persönliche Erinnerungen können durch mediale Repräsentation und Distribution ins kollektive Gedächtnis gelangen. Dabei sind es keine neutrale Abbilde der 66 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen..München 1992., S.137. 67 Ebd., S. 123 24 Vegangenheit. Aleida Assmann spricht sogar davon, dass Literatur sich für die Beschreibung von solche traumatichen Geschehnisse wie Krieg, Vertreibung besonders eignet. Sie macht auch aufmerksam, dass „Eine intrinsische Qualitätsgarantie, die gegen Vergessen und Erosion in der Zeit immunisiert, gibt es nicht”68. Man kann nie sicher sein, dass der Text die richtige, erwünschte Wirkung ausübt. Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern enfalten eine Wirkkraft, welcher die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erinnerns und Kommunizierens prägt(...) <Medialität drückt aus, dass unser Weltverhältnis und damit alle unsere Aktivitäten und Erfahrungen mit welterschließender (...) Funktionen geprägt sind von den Unterscheidungsmöglichkeiten, die die Medien eröffnen, und den Beschränkungen, die sie dabei auferlegen. ( Sybille Krämer)69 Die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses kommt durch fünf Modi zum Vorschein: erfahrungshaftiger Modus, monumentaler Modus, historisierender Modus, antagonistischer Modus und reflexiver Modus.70 Im nächsten Schritt werden nur zwei analysiert: 1. Erfahrungshaftiger Modus 2. Monumentaler Modus 3.1. Erfahrungshaftiger Modus 68 Ebd., S. 167 Ebd., S.124 70 Vgl. ebd., S. 168. 69 25 Im efahrungshaftigen Modus kommt „das Erzählte als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses“71. Es werden also die typische Inhalte von Alltag, deteilsreichen Beschreibungen, spezifische Erfahrungen, bestimmte Orte, Zeitpunkte und Verhatensweisen inszeniert. 72 Die dargestellte Wirklichkeit ist das Abbild der Epoche oder Gruppe. Der erfahrungshaftige Modus charaktrisiert sich vor allem durch die Authentizität. Man gewinnt den Eindruck, dass das fiktive Welt wirklich egzistiert, was in manchen Situationen irreführend sein kann. 3. 1. 1 Monumentaler Modus: Literatur ziechnet sich durch Monumentalität aus. Aleide Assmann folgend kann man das Monument als ein Zeichen, der eine Botschaft beinhaltet. „Monument ist , was dazu bestimmt ist, die Gegenwart zu überdauern und in diesem Fernhorizont kultureller kommunikation zu sprechen“.73 Das Monument bildet nicht nur Literatur aber auch alle kulturelle Artefakte, Bauwerke, Denkmäler, Statuen und Gegenstände. Sie nehmen in der kulturellen Kommunikation teil. Der monumentale Modus steht näher dem kulturellen Gedächtnis als der erfahrungshafitge. „ Es dominiert eine Darstellungsweise, die der Repräsentation von Vergangenheit durch Medien und Praktiken des kulturellen Gedächtnisses ( Nationalgeschichtsschreibung, Mythos, Ritual usw.)“74 Um eine Entscheidung zu treffen, zu wlecher Modus das angegebene Werk angehört, muss man folgende Literarische Darstellungsverfahren analysieren. 71 Erll, Astrid, Gedächtnisromane, Trier 2003, S. 268 Vgl. Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Weimar 2005, S. 169 73 Assmann, Aleida:”Kultur als Lebenswelt und Monument”.Frankfurt a.M.1991, S.14 74 Erll, Astrid, Gedächtnisromane, Trier 2003, S. 268 72 26 Selektionsstruktur: Die entscheidende Rolle spielt die Darstellungsform des ‚wie’ und des’ was’. Von dem erfahrungshaftigen Modus spricht man im Falle, wenn die auβertextuelle Erinnerungskultur im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses erinnert wird. Der Text tritt als Medium des kulturellen Gedächtnisses, wenn in der auβertextuellen Erinnerungskultur erinnert wird.75 Paratextuelle Gestaltung: Die Mottos wie Bibelsprüche, Zitate, können „eine ganze kulturelle Tradition mit ihrer Semantik” 76 bilden. Solche Texte sind Träger der Monumenten und können als Bild einer Kultur verstanden werden. Wenn „Widmungen an Mitglieder einer (fiktiven) kommunikativen Gedächtnisgemeinschaft”77 in einem literarischen Text dominant sind, ist ein Werk zum Medium des kommunikativen Gedächtnisses. Intertextualität: Die Intertextualität führt häufig zur „Etablierung eines monumentalen Modus“78. Viele Autoren schöpfen aus Qellen der vorgängigen, klassischen, kanonischen Literatur (Zitate, Symbolik, sprachliche Besonderheiten, charakteristische Figuren). Dadurch kann ein Text Medium des kulturellen Gedächtnisses werden. Er erlangt seine Autorität durch Verwiese auf anerkannte Literatur79. Nach Jan Assmann „ klassisch wird ein Text erst dann, wenn er zum Vorbild variierender Texte wird(...)“80 Interdiskursivität: 75 Vgl. Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Weimar 2005, S. 170 Ebd., S.170 77 Ebd., S. 170. 78 Ebd. 79 Vgl., ebd., S.171 80 Ebd., S.171 76 27 „ Literatur zeichnet sich durch ihre hochgradige Bezogenheit auf außerliterarische Rede aus“.81 Die alltagssprschliche und gruppenspezifischer Ausdrücke sind ein Zeichen für den erfahrungshaftigen Modus. Wobei die ‚Sprache des Monuments’, die sich durch formelhafte und archaische Wendungen kennzeichnet, den monumentalen Modus bilden. Intermedialität: Die Medien können sowohl das kulturelle als auch kommunikative Gedächntis bilden. Fotos und Tonbandaufnahmen etablieren den erfahrungshaftigen Modus. Die Denkmäler, historische, heilige Schriften, sind Träger des kulturellen Gedächtnisses.82 Zur erzählerischen Vermittlung: Zur Vermittlung des kulturellen Gedächtnisses eignen sich am besten die auktoriale Erzählinstanzen. Sie gehören nicht zu den handelnden Figuren, doch haben sie den Einblick in die Innenwelt der Handelnden Instanzen. Sie erzählen die Geschichte aus der Perspektive des Beobachters. Darüber hinaus sind sie, genauso wie die Träger des kulturellen Gedächtnisses, minimal in die fiktive Welt involwiert. Dabei verfügen sie über die Macht, dem Erzählten kritisch eingestellt werden. Durch ihren ‚olympischen Überblick’ auf die Vergangeheit und Zukunft. Allwissende Erzähler bewertet, kommentiert, etabliert den Sinn83. Der Ich- Erzähler als Träger des kommunikativen Gedächtnisses verfügt über spezifische Eigenschaften. Seine Bewusstseindarstellung wird nur auf das, was er denkt und fühlt reduziert. Er ist nicht allwissend, kennt die Zukunft nicht, von der Vergangenheit weisst er nur das, was er selbst erlebt hat oder was ihm erzählt wurde. 81 Ebd. Vgl.,ebd., S.171 83 Vgl.,ebd.,S.172 82 28 „Der I- as- witness Erzähler, der für Augenzeugenschaft steht und Selbsterlebtes mit der Beobachtung der Erfahrungen anderer verbindet, oder der autodiegetische Erzähler, der seine Erfahrungen als paradigmatisch ausgibt und somit für ein Kollektiv spricht, können zur literarischen Inszenierung der Trägerschaft kommunikativer Gedächtnisse im literarischen Text beitragen”.84 Die Innenweltdarstellung: „Die Innenweltdarstellung gehört zu dem besonderen Leistungsvermögen literarischer Texte in der Erinnerungskultur. Interne Fokalisierung bringt zur Darstellung, was in der Psychologie als >Feld- Erinnerung< beziechnet wird: die Spezifität individueller Lebenserfahrung (Erfahrungsspezifität).“85 Die Erfahrungen, Emotionen werden mit allen Details zu typischen Gegenständen kommunikativer Gedächtnisse. Literatur kann aber noch andere, manchmal sogar traumatische Erlebnisse durch die uneingeschränkte Innenweltdarstellung Aspekte inszenieren. Dabei sind die Techniken wie erlebte Rede, innere Monolog relevant.86 84 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S. 172. Ebd., S. 173 86 Vgl., ebd. S.173 85 29 4. Aspekte der Erinnerung in Arno Orzesseks “ Schattauers Tochter” 4.1 Das <Was> Ebene Wenn man sich mit dem Roman von Arno Orzessek beschäftigt, denk man sofort an die Worte Karel Kosiks “ Jedes künstlerische Werk hat in unteilbarer Einheit einen doppelten Charakter: es ist Ausdruck von Wirklichkeit, aber es bildet auch die Wirklichkeit, die nicht neben dem Werk und vor dem Werk, sondern gerade nur im Werk existiert”87 Deshalb ist es wichtig jedes Thema in entsprechenden Kontekst zu analysieren. Immer noch haben wir die Autorengruppe, die eine spezielle Gedächtnisgemeinschaft bildet. Man spricht hier über der persönlichen Betroffenheit und von der Generation die durch bestimmte Ereignisse verbuden ist. Der Krieg wird immer weiter in die Vergessenheit geraten, die Zahl der Augenzeugen wird immer kleiner und das was uns bleibt, dass sind die Erinnerungen die in Form der Literatur für die Nachfolgern gelassen werden können. Die erste literarische Schrifte sind noch in der Antike entstanden. Schon damals hat man der Literatur eine operative Funktion zugeschrieben. Das ist der Grund dafür, dass Literatur sich besonders als Gedächtnismedium eignet und dies hat sich bis heute nichts viel geändert. Die Autoren sind ihren Rolle bewusst und versuchen nicht nur politische und gesellschaftliche Verhältnisse ze analysieren, sie tragen eine große Verantwortung, denn die Literatur kann uns den richtigen Weg zeigen, das Leben verändern und was damit verbunden ist, ein wichtiges zukunftbildendes Element, das uns dauerhaft verändert. Dabei spielen die einzelnen fiktionalen Elemente eine wichtige Rolle und dienen der Weltdarstellung. Das alles gehört zum Fach des Autors. 87 Kosik, Karel: Die Dialektyk des Konkreten. Frankfurt/M. 1967, S. 123. 30 „Schattauers Tochter“ ist ein Debütroman von Arno Orzessek. Am 23. September erhält er Uwe-Johnson-Förderpreis der Mecklenburgischen Literatur-gesellschaft. Der Autor des Romans erzählt von seinem Buch in einer Geschpräch mit JuryVorsitzender Carsten Gansel Literaturprofessor an der Universität Gießen: „Um meiner Prosa Wirklichkeitshärte zu geben, habe ich die Episoden an reale Schauplätze verlegt, diese genauer untersucht und dokumentarisches, wissenschaftliches und mündlich überliefertes Material hinzugezogen. Irgendwann, während alles noch um das infernalische Duo Eckstein und Manthey kreiste, bemerkte ich, dass auch Eckstein eine Mutter gehabt haben muss, und entdeckte so die Romanfigur Marie Eckstein, deren Geburtsnamen ich damals noch nicht kannte. Durch die Beschäftigung mit Maries möglicher Vergangenheit geriet ich in die Vorkriegszeit und erschloss ein neues Depot von Erinnerungen, das meiner Eltern. Damit bot sich Masuren als weiterer Schauplatz an. Meine Arbeit kreiste nun um zwei Pole: Um Maries Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und um die Manthey-Eckstein-Rivalität vier, fünf Jahrzehnte später. Ich begann zu ahnen, dass der Clou des Romans die Verzahnung beider Zeitebenen sein könnte, müsste, sollte.“88 (Anhang) Der Roman spielt auf zwei Ebenen. Die Hauptfigur Marie verbindet die beide Erzählstangen auf eine ganz interessant Weise, was den Leser bis zum Schluss des Buches fesselt. Das Buch ist in drei Teile aufgetilt. Jede besteht noch aus keineren Kapilteln, deren Zahl nicht gleich ist. 88 http://www.nordkurier.de/uwe-johnson-preis/foerderpreis/orzessek-interview.php 31 4.1.1 Zum Inhalt Maria Schattauer stammte aus einer Pietistenfamilie, die in einem Dorf Namens Kleinbärengrund – 350-Einwohner-Kaff in den Masuren lebte. Zuerst erleben wir sie als ein 18-Jähriges Mädchen. Ihr Leben scheint gar nicht interessant zu sein, sogar für sie selbst. Es besteht vor allem aus Beten und Arbeiten. Im Sommer 1937 kommen zwei Besucher ins Dorf. Der alte Händler Balduin Eckstein versucht sie vergewaltigen, zum Glück kommt aber sein Neffe Hermann, der als Offizier in der Wehrmacht dient, um die unschuldige Masurin zu retten. Hermann Eckstein verliebt sich in die junge Marie, was ihr Vater nicht zulasseen konnte. Nach dem sie verprügelt wurde, verlässt Marie ihre fromme Familie und kommt mit Hermann in die große Welt der Architektenfamilie Eckstein nach Osnabrück. Die Schwiegereltern betrachten Marie als sehr exotisches Lebewesen, denn sie kocht, werkelt, was in den bürgerlichen Familien nicht zu gewönlichen Beschäfitgungen einer Dame gehörte. Beide heiraten kurz vor Kriegsbeginn. Das Glück dauert nicht lange und Hermann muss an die Ostftont. Er erlebte russiche Gefangenschaft, läuft sogar zu den Sowjets über, und kämpfte als Partisane gegen die Wehrmacht. Marie überlebt den Krieg aber sie glaubte nicht an die Rückkehr ihres Mannes. Kurz nach dem Kriegsende erlebte sie eine Affäre mit einem jungen Mann, Danni. Als ihr Mann zurückkehrt, erfärt er, dass sie von einem andern Schwanger ist. Aus Wut verlässt er seine Familie und Heimatstadt und geht nach Berlin zu den Kommunisten. Marie besinnt sich in riesen Not, fühlt sich schuldig und von Reue gepeinigt. Die zweite Erzählstange stellt Marie als alte, bline Frau, die im Dachzimmer des Ecksteins Hauses auf den Tod wartet. Ihr Sohn Gustav Eckstein ist Rhetoriklehrer, der seine Lebensphilosphie um die Schülern, vor allem Mädchen ‚ Nymphen’ an sie zu fesseln, nutzt. Er eröffnet seinen Schülern eine neue Welt, wurde zum Vorbild vor allem für Eduard, der aus der Mittelschichtkindern stammte. Angeregt durch 32 Eckstein strebt Eduard nach Höherem „ Ich werde meine Wurzeln ausreißen“89 und „ein neuer, auf irgendeine Art und Weise bedeutender Mensch zu werden“.90 Mit der Zeit kommt zwischen den beiden zu einer interessanten Relation, die sich zwischen Eifersucht und Bewunderung schwankte. Eckstein gewinnt die erste Traummädchen Eduards, was ihn zum Atentat bewegte. Die Rache ist ihm doch nicht gelungen: gebrannt, mit Amnesie versucht er das Leben weiter zu leben. Nach der Abitur ist die Geschichte mit seinem Lehrer nicht zu Ende. Sie ist überraschend wie das Leben. Der unbekannte Vater von Gustav ist auch der Vater von Eduard. Die Wahrheit wurde Eduard erst zum Schluß des Buches erklärt. Die Geschichte endet völlig anders als man erwartet hätte. Die Brüder stürzten, während des Kampfes, auf sie Pflastersteine vor den Kellergaragen. Der Ich –Erzähler gab keine genauere Erklärung, was mit den beiden passierte. Doch der letzte Satz des Romans deutet, darauf hin, dass die Geschichte den beiden tragisch endet. „ Damals hörte ich Weinen“ Im Folgenden werden die interessantesten Pressestimmen zitiert: „ Die Bilder und Welten, die er beschreibt, wird man so schnell nicht vergessen. Und so ist ihm mit ‚ Schattauers Tochter’ ein wunderbar kraftvoller Roman über die Folgen des Dritten Reiches für die Lebenswirklichkeit dreier Generationen des in die Gegenwart verlängerten 20. Jahrhunderts gelungen.“ Ralph Gerstenberg, Deutschlandfunk, 31.5. 2005 „ Arno Orzessek erzählt aus dem vollen Merchenleben: Von Gut und Böse, Politik und Heimat..... Der elegante, oft lässige aber nie fahrlässige, meist leichte, aber nie leichtfertige Stil bleibt den ganzen Roman über auf hohem Niveau. Orzessek behandelt Erotik und Sex sehr nuanciert, mal kraftvoll, mal zart. Alle Hauptfiguren sind eindrucksvolle Persönlichkeiten- so gekonnt haben wir das lange nicht gelesen. So randvoll wie Arno Orzessek seinen Pokal ‚Schattauers Tochter’ eingegossen hat, 89 90 Orzeszek, Arno: Schattauers Tochter, S.24 Ebd., S. 23 33 serviert man eigentlich nicht; weniger wollen wir aber jetzt auch nicht lesen- das wird schwer.“ Harald Loch, Saarbrücker Zeitung, 27.5. 2005 „ (...) das sechs Jahrzehnte umfassende Epos von Sex und Eifersucht, Geld und Gewalt mit einem Hauch von Ironie.“ Norbert Tefleski, Ticket Berlin, 4.5.2005 4.1.2 Figurenkonstelation Figurenanalyse- „Figuren sind zunächst Handlungsträger; als solche stehen sie mit anderen Figuren in Wechselbeziehung und werden aneinander bestimmt; durch ihre ‚Ausstattung’ oder ihre Entscheidungen lösen sie Handlungsfäden aus. Figuren sind weiter durch Merkmalsbündel gekennzeichnet, die sie als in Opposition zu mit anderen Merkmalenausgestatteten Figuren stehend bezeichnen.“91 Marie, Eduard, Eckstein, das sind die drei Hauptfiguren. Sie wissen nicht, warum und wodurch sie miteinander verbunden sind. Doch alles wurde am Ende des Romans ausführlich erklärt. Doch bevor es geschah, ist es wichtig das Benehmen, die Verhältnisse und Einstellungen der Hauptprotagonisten genauer zu analysieren. Im folgenen Teil der Arbeit werden die Figuren und Figurenkonstelationen gründlich analysiert. Es wird gezeigt, den Mangel an Kontakt und Verständnis zwischen den drei Generationen. Es fehlt vor allem an Liebe, Sorge, Unterstützung, Verständlichkeit, und familiäre Atmosphäre. 91 Ludwig, Hans, Wrener: Arbeitsbuch. Romananalyse, S.141 34 4.1.2.1. Relationen zwischen Marie Eckstein ( Schattauer) und Hermann Eckstein. Die erste zufällige Begegnung war für die beiden entscheidend. Hermann rettete Marie aus den Händen seinen Onkels Balduin, der sie vergewaltigen wollte. Marie ist Tochter pietistischen Bauern, die von der großen Welt träumt. Hermann stammt aus einer bürgerlichen Familie, die in Osnabrück wohnte. Sie verlieben sich in einander: „ Er erinnerte sich an ihre Impfmale auf dem linken Oberarm, an die weißen Inseln auf dem hellen Braun der Haut. Sein kühnster Traum war nun, Marie einmal in die Arme zu nehmen, um den Geschmack ihres Atems auszuprobieren, den er sich extravagant vorstellte.“92 „ Innerlich war sie aufgewült und wusste nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Am Morgen des dritten Tages stand sie vor dem Spiegel neben ihrem Bett, um sich die dunklen Haare zu kämen. Ihre Augen glänzten, als würde sie weinen. Frieda kam herein und vergrub ihren Kopf in der Seite der großen Schwester. Marie spürte durch das Nachthemt den warmen Atem. >Verliebt, verliebt<, sagte Frieda. >Du bist verliebt. Und ich auch.< 93 Doch ihr streger Vater kann es nicht zulassen, dass seine Tochter aus dem Haus frei lassen. „ Ich habe den Heiligen Geist fortgejagt und mich an Hermann verschenkt, rief sie atemlos. Du kannst mir nichts anhaben, Vater. Schlag mich, aber gib mich frei.“94 Hermann kam ihr zur Rettung, nahm sie nach Hause nach Osnabrück um sie dort zu heiraten. Beide waren überglücklich. Nach der Traung machten Marie und Hermann eine schöne Reise in die Schweiz. „ Nach zehn Tagen verließen die Eheleute das 92 Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007 93 Ebd., S. 142 94 Ebd., S. 142 35 Hotel in den Graubündner Alpen, ohne viel von der Gegend gesehen zu haben“95. Leider dauerte das Glück nicht lange, der Krieg ausbrach und Hermann musste an die Ostftont. Beide wollten unbediengt ein Kind haben, doch alle mögliche Versuche hatten leider nicht zu den Erfolg gefürt. Marie wurde nicht Schwanger. Mit der Zeit war auch die Lust verschwunden. „ Durch den unbediengten Wunsch , mit Hermann ein Kind zu zeugen, durch das Gefühl , von der Familie und den Demonen bei Intimsten je länger, je genauer beobachter zu werden, verloren die Liebesstunden an Intensität und Freizügigkeit. Manchmal war Marie so abgelenkt, dass es Hermann nicht gelang, sie glücklich zu machen“96 Vermutlich war es der Anfang des Endes ihrer Liebe. „Meine Mohnblüte“ so nannte Hermann seine Frau auch in den Briefen, die er an sie schrieb. Noch beim verfassen des ersten Briefes „ war Hermann so leibestoll, dass er Marie auf drei Seiten Masturbationanwiesungen gab und mit Bleistiftzeichnungen bebilderte“97. Sein dritter Brief ziegte, dass sich Hermann im Laufe der Zeit veränderte. Er ist „durch die unwiederstehliche Prägekraft des Krieges in ein anderes Leben geraten war“98 Die ganze Situation, der Krieg übte auf Marie einen riesigen Einfluss aus. Es änderte ihre Einstellung zu ihrem Mann. „ Ich möchte es, dachte Marie, aber es geht nicht. Sie fühlte sich Entsetzen, wenn sie an Adams Blut an Hermanns Händen dachte. Ihre Vorstellungskraft konnte nicht weiter in den unsäglichen Pfuhl dieser Ereignisse dringen. Ihr Mann tat ihr Leid, aber sie spürte keinen Drang, ihn tröstend in die Arme zu nehmen, im Gegenteil. Sie hatte ihn jetzt, im Augenblick der Brieflektüre und des Nachsinnens, von sich weggestoßen. Marie begriff, dass die Schatzruhe ihrer gemeinsamen Erfahrungen geschlossen war. Die Erinnerung würde ausreichen müssen, um die Liebein den Zeiten des Krieges zu erhalten“99 95 Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007., S.353 Ebd., S. 382 97 Ebd., S.389 98 Ebd. , S.388 99 Ebd., S.390 96 36 Familie Eckstein erfuhr, dass ihn ein Gewehrkugel von hinten in die Brust traf, und er wurde vermisst. Marie sagte dazu: „ Hermann wird nicht sterben, sagte sie. Unsere Liebe ist noch nicht zu Ende“100. Hermann erlitt einen Schock als er Adam tötete, ging zu den Russen und kämpfte als Partisan gegen Deutschen. Dort verliebt er sich in Eva und „ Seine Gedanken stießen nur noch bis zu Marie vor, wenn er das Lied sang, das er in Kalenderbüchlein, unser Lied` nannte und so übersetzte: Wart aus mich, ich komm zurück. Warte sehr, auch dann, wenn andere nicht mehr warten. Wart auch dann, wenn dunkle Wolken den Himmel trüben, wart, ich komm zurück. Wart auf mich, denn ich bin für dich.’’101 Der Krieg hatte das Gefühl getötet. Marie spielte im Leben Hermanns keine wichtige Rolle. Von großer Liebe, Sehnsucht war keine Rede mehr. Dagegen Marie beschäftigte nur ein Gedanke, dass Er den Krieg, wegen ihr veranstallte, wegen ihr und anderen Sündern. Eben wie Strafgericht. Nicht desto trozt es zog sie etwas zu Danni, jetzt brandete etwas Mächtigeres durch ihre Adern, es war ein Begehren nach Danni,,102Ihr Mann war ihr nicht mehr wichtig. ,, Sie hielt Hermann in Ehren und liebte sein Andenken. Aber wenn sie ehrlich war, vermisste sie ihren Mann nicht mehr. Sie hatte die Fähigkeit verloren, über alle Entfernungen in seiner Nähe zu verweilen und jetzt branndete etwas Mächtigeres durch ihre Adern. Es war das Begehren nach Danni.103 Bald gab sie „alle Skrupel auf und brachte Danni Liebesspiele bei, die ihm den Atem raubten. 104 Irgendwann kam zwischen ihnen zur einer sexuellen Beziehung. Das Schichcksal änderte sich bald schon wieder. Eines Tag kam Hermann zurük, es war schon lange nach der Kriegsende. Marie war sehr überrascht, sie hatte keine besonderen Gefühle zu ihrem Mann. Doch sie beschließt alles wieder aufzubauen, die Liebe neu zu erlernen. „Als Marie in den Gartenzimmern Hermanns Stimme hörte, glaubte sie minutenlang an eine Sinnestäuschung. Dann unterwarf sie sich der Realität. Sie fühlte keine 100 Ebd. , S.393 Ebd., S.474 102 Ebd., S.525 103 Ebd., S.525 104 Ebd., S.525 101 37 wärmeren Empfindungen, aber sie wurde von Pflicht- und Schuldbewusstsein in die Zange genommen. Sie spürte, dass in ihr der unauslöschliche Pietismus arbeitete. Noch bevor sie sich vom kirchholzlehnstuhl erhob, stand ihr Urteil fest: Wenn Hermann lebte- und er lebte!- war es ihre gemeinsame Aufgabe, die Liebe von neuem zu erlernen. Das mochte so unmöglich erscheinen wie der Wiederaufbau der Stadt, aber es gab keine Alternative“105 Marie dachte an die schöne Zeit, die sie gemeinsam vor dem Krieg verbracht hatten. Hermann war auch befremdet, und Marie war seine Frau in einem anderen Land, eine andere Zeit. „Hermann, der die Kraft seiner Phantasie fürvunbezwingbar gehalten hatte, konnte sich nicht vorstellen, Marie noch zu lieben. Er fühlte sich von seiner Herzenkälte entlarvt und wäre am liebsten sofort wieder aufs Fahrrad gestiegen106. Doch wollte er mit Marie bleiben, um die Liebe wieder zu lernen. Sie sollten eine vollständige Familie bilden, ein elternolosen Kind aus den Grenzlanden adoptieren. Seine Frau stellte ihm noch eine Frage, die schon mal gestellt wurde.“ Sag, dass du mich nehmen willst, ob allein oder zu zweit“.107 Hermann hielt diese Nachricht für unerträglich- „ Du hast immer ein Kind im Bauch, wenn ich dich lieben will! -rief er Dein Name täuscht. Du bist eine Hure!“ Für sie war diese Situation auch nicht leichter. „Marie wünschte sich, bewusstlos zu werden, damit sie nicht an ihrer Scham stürbe“108 „ Hermann wartete den Sonnenuntergang ab und verschwand. Das Einzige, was er von seiner geringen Habe vergaß, war das Kalenderbüchlein, in dem Marie nachlas, dass der Krieg auch im Osten stärker gewesen war als die Treue.“109 105 Ebd., S. 531 Ebd., S. 532 107 Ebd., S. 238 108 Ebd., S.539 109 Ebd., S.539 106 38 Hermann schrieb noch einen Brief an siene Frau, nach 9 jahren, bevor er an Magenkrebs gestorben war. Er bedankte sich, dass sie ihm vertrautt hatte. „ Etwas Wertvolles als Dein Vertrauen habe ich nie mehr besessen Mohnblüte, erst recht nicht bei den Kommunisten.“110Es sei also, dass Hermann sein Glück auch nicht bei den Kummunisten gefunden hatte. Der Krieg zerstörte alles was schön war, alles was den Menschen die Ruhe brachte. Hermann und Marie hatten ihre Liebe nicht wieder gefunden. Beide bleiben unglücklich und allein. 4.1.2.2 Relationen zwischen Marie Eckstein und ihrer Sohn Gustav Hermann Eckstein. Nachdem Maria das Kind zur Welt brachte, ging sie mit ihrem Kind ohne Verpflegung auf die Staße, wo sie nach einigen Tagen mit anderen in eine Nissenhütte traf. Die erste Erinnerung Gustavs war sein Schmerz, als „ die Stuhllehne mit ihm Richtung Ofen kippte , fiel Gustav nicht zu Boden, sondern blieb mit dem Oberkörper auf der Kochfläche liegen, wälzte sich hin und her und zog sich Verbrennungen an Händen, Armen und im Gesicht zu, bevor er gerettet wurde“111 Noch vor der Verbrennung kannte Gustav zwei Stimmen, „die nicht viel gemeinsam hatten, außer dem Raum, in dem sie erklangen“112 Die erste Stimme war ihm freundlich und liebesvoll, man könnte vermuten, es sei die Stimme seiner Mutter Marie. Doch es war nicht der Fall. „Die erste Stimme gehörte Frieda Schattauer. Sie war die einzige Überlebende der Familie Schattauer aus Kleinbärengrund“.113 Ihre Stimme war laut und frölich und machte ihn neugierig auf alles, was gesprochen wurde. 110 Ebd. ,S. 639 Ebd., S.515 112 Ebd. S.516 113 Ebd. S.516 111 39 Die zweite Stimme war ihm fremd, „ und irgendwann erkannte er im Silbenwirrwarr des Raumes einzelne Laute und Lautfolgen wieder. In besonderen Augenblicken merkte er, dass die geliebte Stimme nur ihm galt. Allmählich wurde ihm zur Gewohnheit, dass in diesen Fällen zwei kurze Laute aufeinander folgten, die er noch nicht sagen und nicht denken, aber die er hören konnte. Gus-tav.“114 Diese Stimme gehörte siener Mutter- Marie Eckstein. „Sie wirkte schwachbrüstig und zerbrechlich. Auch diese Stimme näherte sich manchmal seinem Ohr, aber drang niemals klar zu ihm durch, sondern vererbte in der ersten Zeit seines Hörens in einem unentschlossenen Flüsterton, erlosch manchmal einfach und hinterließ im Erlöschen weder Nachhall noch Lücke. Es war nicht so, dass die zweite Stimme nicht sprechen wollte, im Gegenteil. Immer wieder hob sie an und erzählte Geschichte von Vater, Mutter und Geschwistern in dem Dorf Kleinbärengrund und von der Liebe, Trennung und Abtrünnigkeit. Aber die zeite Stimme redete in Worten, die nicht den Klang von >Teller<, >Kohle<, >Suppe< hatten, an die sich Gustav durch die fröchlichen Wiederholungen der ersten Stimme allmählich gewöhnte. Die zweite Stimme sprach vonunsichtbaren Dingen, die noch unsichtbarer waren als Gott.>Salzbund< war eines der rätselhaften Worte, das sich der kleine Gustav einprägte, >Sünde< ein anderes. Als Gustav lernte, die Besitzerin der ersten Stimme Frieda zu nennen, ohne bis dahin Mama sagen zu können, hörte er die zweite Stimme oft wienen. Er brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass die zweite Stimme in Wirklichkeit mehr zu bestimmen hatte als die erste, wenn es um seine Wünsche und Sorgen ging.“115 Die Relation zwischen Gustav und Marie gehörte nicht zu den gewönlichen MutterSohn Relationen. Zwischen ihnen gab es keine Gefühle, wie Liebe, Sorge, warme Worte, Umarmungen, Küsse. Es fehlten alle Eigenschaften, die das MutterSohnverhältnis charakterisieren. Gustav wusste sogar nicht, wer seine Mutter ist. 114 115 Ebd., S.516 Ebd., S.518 40 „ Als er einmal nach Frieda rief- >Frieda, Frieda<,- kam die zweite Stimme über ihn und sagte mit einer gewissen Empfindlichkeit: > Gustav, mein Junge, du wirst einsehen müssen, dass ich deine Mutter bin<. Gustav kam sogar unwarschienlich, dass man mehr als einen Menschen lieben kann. „ Er liebte ja eigentlich nur Tante Frieda“.116 Die Gespräche zwischen der Mutter und dem Sohn sahen folgenderweise: >Du wirst immer kleiner<, sagte er. > Wir alle werden immer kleiner, mein Junge<, sagte Marie. > Das Leben ist nur für kurze Zeit ein Wachsen, dann ist es Schrumpfen. < > Du wirst immer hässlicher und kleiner, weil du es willst, setzte Gustav nach. >Warum willst du schrumpfen? < > Es muss für dich so aussehen, Gustav<, sagte Marie. > Aber das Gegenteil ist wahr. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich groß und glücklich sein.<117 Eines Tages kam Gustavs die Idee, dass andere Kinder neben der Mama auch einen Papa hatten. „> Ist mein Papa auch im Krieg geblieben? < fragte er eines Morgens beim Frühstück, als er sein Marmeladenbrot aufgegessen hatte. Er sah rote Striemen auf Maries Gesicht schlagen, als hätte er keine Frage gestellt, sonern seine Mutter ausgepeitsch. Sie sprang auf, lief die Treppe hinab und verschwand auf dem Hof, um Wäsche aufzuhängen. Gustav erfuhr später, dass Marie gehofft hatte, er würde erst dann auf das Unvermeidliche kommen, wenn die Zeit ihrer Scham vorüber wäre. Sie schämte sich bei dem Gedanken, die Geschichte ihrer Untreue gegen Gott, ihre Eltern, ihren Ehemann und ihren Geliebten zu erzählen, deren sichtbares Zeichen das vaterlose Kind selbst war.“118 Gustav versuchte etwas von seinem Vater zu erfahren, doch es wurde ihm nur erklärt, dass er in Gottes Hand ist. Er phantasierte, dass er der Sohn Friedas ist. 116 Ebd., S.519 Ebd., S. 577 118 Ebd., S. 579 117 41 „ Er liebte sie viel mehr als siene Mutter, die er nicht liebte...“119 Er vermutete, dass die Niedergeschlagenheit seiner Mutter etwas mit seinem Vater zu tun hatte –und er wollte herausfinden, wer dieser Mann war. Eines Tages kam Albert Eckstein, der Schwiegervater Maries, die Versönung zu suchen. Gustav war unruhig und suchte die Antwort auf die quelände ihn Frage: „>Wer sind Sie denn nun genau? <fragte Gustav. >Ich suche nähmlich noch meinem Vater.< >Mein Lieber<, sagte Albert. Für diese Frage ist deine Mutter zuständig.< > Die sagt aber nichts<, sagte Gustav. >Noch nicht einmal Tante Frieda< >Das ist noch mal eine lange Geschichte, Kleiner, länger als dieser Tag<, sagte Albert. > Ich bin der Vater des Mannes, der dein Vater sein wollte. Er heißt Hermann und ist fast so ein Dickkopf wie Marie. Jetzt ist er bei den Kommunisten und denkt gar nicht dran, sich zu Hause zu melden.... Aber ich muss los.< So war die Sache nicht erklärt und immer mehr kompliziert. Er beobachtete seine Mutter und sehnte sich nach ihrer Umarmung. „Wenn Gustav bemerkte, dass seine Mutter ihren traurigen Blick durch Wohn- und Schlafzimmer schweifen ließ, tat sie ihm Leid. Er überlegte manchmal, ob es ihr gefallen würde, wenn er sich auf ihren Schoß setzen und sie mit Schwatzen, Kitzeln und Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst untehalten würde. Doch er tat es kein einziges Mal. Anders als Biggis und Friedas Gestalten, wollte er den Körper seiner Mutter nicht anfassen. Allein bei dem Gedanken sträubten sich seine Haare. Er war überzeugt davon, dass Marie kalt und hart wäre, wenn er sie anfassen würde- wie einer der Grabsteinen- Rohlinge, die er beim Steinmetz am Friedhof gesehen hatte“.120 Völlig anders sah das Verhältnis zwischen Gustav und Frieda. Man könnte vermuten, sie sei seine Mutter. „Als Gustav an seinem achten Geburtstag erwachte, kam Frieda herein, spielte auf der Blockflüte ein Ständchen und sang für ihn das einfachste und wahrste aller 119 120 Ebd., S.580 Ebd., S.592 42 Lieder auf der Welt. Gott ist die Liebe. Er spürte, dass Frieda warme Hände unter der Bettdecke nach seinen Händen suchten, um ein kurzes, kraftiges Gebet zu sprechen. Sie überreichte ihm einen funkelnagelneuen Mercedes, bei dem man Türen und Kofferraumklappe öffnen konnte. Er sprang aus dem Bett und gab sich ihren Armen gefangen. Er gab ihr die schönsten Küsse und rubbelte seine Schniefnase, die vor Liebe ein bisschen tropfte, an ihrem Hals. >Danke Tante Frieda<, sagte er. Ich wünsche mir, dass alle Menschen so sind wie du. < > Gern geschehen <, sagte Frieda. > Aber ist es nicht besser, dass jeder Mensch so ist,wie ihn Gott geschaffen hat?< > Nein, manche sind falsch geschaffen<, sagte Gustav. > Du bist frölich wie die Sonne. Aber Mama ist nie so. < > Lass dich nicht täuchen<, sagte Frieda. >Ich bin so frölich, weil ich ausgelitten habe. Vielleicht passiert das Gleiche schon bald mit Marie. Bis dahin wollen wir sie trösten, wo wir können.“121 Nach Friedas Tod wurde Gustav zu Hennings( Freund von Frieda) gebracht. Bei der Familie Henning sah alles anders, doch „er spürte, wie er uns später eklärte, die Befreiung von seiner Mutter stärker als die Trauer über Friedas Tod, den er weder verstand noch- bei Verständnis –akzeptiert hätte.“122 „ Gustav hatte mit Marie nichts zu besprechen“123. Erstaunlich scheint die Einstellung des Kindes zu seiner Mutter mit der es kaum spricht, der es nichts zu sagen hat. An dieser Stelle sieht man ganz deutlich, dass die Beziehung zwischen ihnen kaum existiert. Nach der Beerdigung verbrannte die Finsternis die Augen Maries. Während eines Besuchs traff Gustav die Entscheidung, dass ihm nichts anderes blieb, als für sie zu sorgen. Doch es kam nicht aus seinem Herz, eher aus Verantwortungsgefühl. „ Am Ende der Woche ging Gustav in die Wohnung seiner Mutter. Sie lag im Bett, trug eine Augenbinde und wurde von Liese versorgt. Gustav war entsetzt, als er 121 Ebd., S.590 Ebd., S. 596 123 Ebd. S. 122 43 Marie sah. Sie war eine alte, magere Frau: ein bedauernswertes, kapputes Skelett. Ich muss für sie sorgen, dachte er, es bleibt mir nichts anderes übrig.“ 124 Kurz danach wurde Marie in das Dachzimmer des Ecksteins Hauses gebracht. Wo sie bis zum Tod wohnen und versogt werden sollte. Nach 30 Jahren erzählte Gustav Hermann Eckstein seinen Schülern die Lebensgeschihcte seiner Mutter. „Marie hatte mit Gott gekämpft und den Kampf verloren(...) “ 125 Marie Eckstein lebte seit 30 Jahren im Dachzimmer. Zwischen Marie und Gustav gab es keine Kommunikation. Ihre einzige Vertrauensperson war Katrin. Gustav hatte eine sehr schwere Kindheit. Seine Mutter konnte ihn nicht pflegen, seinen Vater hatte er nie gehabt. Niemand zeigte ihm wie die Familie aussehen soll. Aus diesem Grund konnte er nicht eine solche bilden. Seine Frau Katrin wurde von ihm oftmals betrogen. Er suchte nach immer neuen Reizen, weisste unglaubliche Vorliebe zu Nymphen nach. Man sieht ganz deutlich, dass die Gefühle wie Liebe, Sorge den Menschen unbediengt nötig sind. Man lernt die Empfindsamkeit von den Menschen in der unmitelbarer Nähe. Mit der Zeit suchte Gustav kein Kontakt zu seiner Mutter, er brauchte es nicht mehr. „Ich habe keinen Zugang zu meiner Mutter, den hatte ich nicht einmal als Kind. Sie sitzt da oben- ein verschtumtes Orakel“126 4.1.1.3 Relation zwischen Gustav Hermann Eckstein und Eduard Manthey Dr. Phil. Gustav Hermann Eckstein genoss ‚Ruf eines Zauberers’ am Karlgymnasium. Er unterichtete die Rhetorik. Dieser Kurs gehörte zu den Wahlfächern und wurde nicht benotet. „Dank seiner Zungenfertigkeit lässt er 124 Ebd., S. 608 Ebd. 126 Ebd., S.321 125 44 sozialen Aufstieg, Geld und Sex greifbar nah erscheinen“.127 Eckstein hatte etwas in sich, was die Schüler an ihm binedete. „ Der Auftritt Ecksteins hatte ihn an ein rätselhaftes, unheimlisches Wesen aus reinen Nervenbahnen erinnert, das ihm einaml im Traum erschienen war. Das behielt seine Mutter Dietlinde Manthey in Erinnerung.“128 Der Ich- Erzähler erinnert sich an Eckstein: „Eckstein sprach von Sdlern, uns ergriffen die Klauen der Transzendenz. So hatte noch kiener gesprochen. Das Gefühl, das sich einstellte, hielt Jahre. Er sitzt noch immer unter meiner Haut“129. Der Lehrer verbrachte ungewöhnlich viel Zeit mit seinen Schülern. Sie ginngen zum Essen, furen auf die Reisen, trunken und fürten stundenlange Gespräche über Literatur, Philosophie u.a. Für die jungen Menschen war Eckstein ein Vorbild. Er konnte sie innerhalb von Sekunden in ein Gespräch verwickeln. „ Die Informationen warfen ein geheimnisvolles Licht(...). Allles war interessant.(...) Eckstein stimulierte unsere Ahnungen und Phantasien, Fakten gebrauchte er als untergeordnete Hilfsmittel.“130 Einer von seinen Fans hieß Eduard Manthey. Er war der Sohn der Putzfrau Dietlinde Manthey und Hilfsarbeiters Gotthilf. D. Manthey. Sein Vater kämpfte während des zwieten Weltkrieges und wurde in der Nachbarschaft bekannt, wegen „ turbulenter und unglücklicher Liebe mit einer um Jahre älteren Frau aus gutem Haus“131, bekannt. Für ihm war es „ eine Liebe, die ihren traurigsten und schönsten Ausdruck in Mantheys dilettantischer Leidenschafft für Schmetterlinge fand-, war aus Schmerz und Entäuschung in den Harz gegangen und hatte am Rammelsberg bei Goslar in der tröstenden Dunkelheit eines Bergwerkes seine Schwermut gepflegt.“132. Doch irgendwann kam er zurück ins Leben. Er schloss die Ehe und wurde Vater von Eduard. 127 http://www.perlentaucher.de/buch/20542.html Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007.,S 25 129 Ebd., S.25 130 Ebd., S.56 131 Ebd., S 18 132 Ebd., S.18 128 45 „ Von klein auf war Eduard ein Mensch, der viel handelte. Es fehlte ihm nie an Entschlussfreude, irgenetwas anzupacken, und selten an Agresivität. > Dieser Junge geht mal zur Wehrmacht<, sagte der hoch dekorierte WK-II- Panzerfahrer (...), als Eduard kaum laufen konnte, aber schon Blumenkübel umwarf und die krieschende Katze Gaugin am Schwanz über den Rasen zerrte.“133 Er war sehr impulsiv, leichtsinnig und zornig. Eines Tages endeckte er den Sport, „ Ballsporten waren ihm angeboren“.134 Irgendwann kam bei ihm zur kriminellen Phase, „während der sich Eduard den Asos, wie die unterste Kaste des Stadtteils genannt wurde“.135 Sehr oft kam es zu Prügeleien, er war ein schwiegsamer Einzelkämpfer „duch Vorgärten pflügte und über Parkpläze jagte, selbst wenn ihm das Blut aus der Nase suppte“.136 Nach der Versetzung aufs Gymnasium, fand sich er unter Schülern, deren Eltern Erfolgreiche Menschen waren. Sie hatten schicke Klamotten, teuren Fahrräder usw. Edward erkannte dass, er hinten lag und bekam einen Schock. „ Der ideologische Horizont vor Eduard war leer. Politische Überzeugungen im engeren Sinne traten im Schinkel selten ans Tageslicht, proletarisch- konservative Klischess schon häufiger. (...) Weil Eduard trotz gewaltiger Ambitionen keine spezielen Gesinnungen hatte, sah er sich zu dem Entschluss gezwungen, ein neuer, auf irgendeine Art und Weise bedeutender Mensch zu werden- und das hieß in Ermangelung besser Ziele, in das gehobene Bürgertum der Stadt vorzudringen, in die mythenumrankte Westerberg-Welt. (...) Ich werde meine Wurzeln ausreißen“137 „ Später sagte Eduard, er hätte in diesem Augenblick gelernt, dass Worte chemische Waffen sind und gerade in Körpern junger Frauen die gleiche Wirkung entfalten wie Nervengift.“138 Eduard war von sienem Lehrer völlig begesitert, sodass er ihn zum Muster nahm. Er verliebte sich in einer Klassenkameradin Daniela, die „ wegen ihrer enormen Bildung und ihrer Intelligenz war man sich nicht sicher, ob sie zu den Schülern oder 133 Ebd. Ebd., S. 19 135 ff. 136 Ebd., S. 21 137 Ebd., S. 22ff 138 Ebd., S. 57 134 46 zu den Lehrern gehörte“.139 Aus diesem Grund wurde sie auch zur einer Nymphe für ihren Lehrer Gustav Eckstein. „Es gibt da gewisse nymholeptische Begierden in mir, zugegeben, diese Hitzewellen, wenn ich Daniela sehe. Aber ich weiß auch nicht, was das bedeutet...“ Aus Eifersucht konnte Eduard seinen Lehrer nicht ertragen. „ Eckstein ist ein echt widerlicher Snob“.140 „ Eduard gab alle Widerstandshandlungen auf und zog grußlos ab. Sein Problem war nicht die Tatsache, dass ihm Daniela und Ecksien bei den rhetorischen Kinkerlitzchen haushoch überlegen waren. Er hatte siene Fruchtlosigkeit vor überlegenen Leuten schon oft bewiesen. Sein Problem war der Zweifel an sich selbst, der bei ihm tiefer saß als jedes andere Gefühl, seit er damit begonnen hatte, seine Wurzeln auszureißen(...).“141 „Der dünnhäutige Eduard fürchterliche, dass ihm ihm die Sphäre von Eckstein und Daniela für immer verschlossen bliebe, weil er die falsche Familie geboren worden war, die meisten seiner Lebensjahre nutzlos verschwendet und Instinkte ausgebildet hatte, die nicht gerade erhaben genannt werden konnten. Dies war der Beginn der Paranoia, sagte er später.“142 „ Im Rückblick lässt sich festhalten, dass Eduard im Vorstadium gelegentlich zu unklaren Ängsten, Depressivität, Leistungsversagen und Antriebsstörungen neigte. Doch in den weiten Zwischenräumen war er mutig, fröhlich, stark und agil- in einem solchen Maße, dass amn eher die Stabilität als die Stabilität für sein Problem halten musste.“143 Edward war krank aus Eifersucht, er liebte Daniela und war dessen bewusst, dass sie nicht für ihm bestimmt war. Er hatte mit seinem Lehrer keine Chance, egal, was er machen würde. Am jeden Tag einer Verdammnis überprüfte er, ob seine Geliebte die Nacht mit Eckstein verbracht hatte. Er halluzinierte, obwohl er seine Eifersüchte, Ängste und Leidenschaften zu verbergen versuchte. Sein Vater Gotthilf D. wollte 139 Ebd., S. 15 Ebd., S,23 141 Ebd., S.59 142 Ebd., S.60 143 Ebd., S.244 140 47 ihm helfen, doch es gehörte nicht zu einfachen Aufgaben. „ >Ich möchte gar keine Einzelheiten wissen<, sagte er. Ich will nur, dass du glücklich wirst und das Verhältnis zu Eckstein kaputtgeht.(...) > Du liebst deinen Lehrer mehr, als du ihn hasst<, sagte Gotthilf D. Nach gebührender Bedenkzeit. > Das solltest du niemals vergessen. <144“„ Eduard hatte noch nie durch Einsicht gelernt, sondern immer nur am Leidfaden der sinnlichen Erfahrung. Er musste seinen Körper stets der Evidenz der Ereignisse unterziehen, bevor sein Geist in die begünstigte Lage kam, zu begreifen. Seine Fähigkeit, aus den Erkenntnissen anderer Leute Schlüsse zu ziehen und aus ihren Ratschlägen das Beste zu machen (...).145 Er sprach mit Eckstein auf dem Raucherhof über Fußball und Politik. Damals empfand es sein Lehrer als Vertiefung der Freundschaft, als „ Reifwerden und Ausstarieren von Zuneigung und Abneigung, wie es zwischen starken Persönlichkeiten nötig ist. Dabei suchte Eduards geschundener Geist schon in jeder Minute nach der Möglichkeit, den entscheidenden Schlag durch den gordischen Knoten zu führen“.146 Eines Morgens holte Eduard das Fahrrad seines Vaters, befestigte sein Attentatzubehör und fuhr um die Exekution vollzuziehen. Dabei hatte er einen Unfall, während dessen die Kanister mit Benzin angezündet wurden. Eduards Körper fing an zu brennen. „Eduards Haut war von Schnittwunden preformiert, aus denen das Blut in langen Schlieren herabsickerte“.147 Nach einigen Tagen besuchte ihn Gustav Eckstein in der Intensivstation. Dort traf er sienen Vater Gotthilf D.: „(...) als Gustav Eckstein nach Beendigung seiner Schulaufgaben hereinkam. Eduards Vater erblickte ihn, erkante ihn und erhob sich mit einem herzlichen Lächeln. Es gibt wohl niemanden, von dem Eduard mehr erzählt hätte als von Ihnen<, sagte Gotthilf D. > Der Rhetorikkurs... Es ist ein Ruck durch sein Leben gegangen. Danke sehr<, sagte Eckstein und zwinkerte mir verschwörerisch zu. < Eduard hatte zehn Schuljahre lang nur darauf gewartet, richtig loslegen zu können. Meinen Anteil 144 Ebd., S.256-57 Ebd. 146 Ebd., S.258 147 Ebd., S.263 145 48 müssen sie gering veranschlagen.< Oh, nein, gewiss nicht<, sagte Gotthilf D. > Ich kenne meinen Sohn. Nur zuletzt, da war eine Verwandlung mit ihm, die ich nicht erklären kann.<148 Als Eduard erwachte, erwies sich, dass er unter Amnesie leidet. Glücklicherwiese konnte er sich nur die Geschehnisse, die mit dem Unfall verbunden waren, erinnern. Gustav war sein Feind nicht mehr. „> Oh Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn<, akklamierte Eckstein, als er das Krankenzimmer auf der Chirurgie betrat. >Sehr witzig <, sagte Eduard. > Ich bin froh, dich ohne Brandblasen zu sehen. >Freundchen, du hast sie nicht mehr alle<, sagte Eckstein. > Seit dem 17. Jahrhundert werden hier keine Hexen mehr verbrannt. Es war doch klar, dass dermaßen veraltete Methoden des Exorzismus nicht funktionieren.< Dem männlichen Prolog folgte ein flottes Gespräch. Das Opferereignis, dass Eduard mit Gewalt gesucht hatte, war gründlich anders abgelaufen, als geplant, aber es wog schwer genug, um sie Selbsterkenntnis zu steigern und seine Gefühle in neue Bahnen zu lenken. An diesem Nachmittag verabschiedeten sich Eduard und Eckstein als Freunde, und es sollte über fünfzehn Jahre dauern, bis sie wieder Feinde wurden.“149 Inzwischen versuchte Eduard etwas in sienem Leben zu ändern. Zuerst fing er das Studium an, naher ging zur Wehrdienst. Dann ist er auf die Idee, dass es reine Zeitverschwendung ist. Danach leitete er Zivildienst. In dieser Zeit telefonierte Eduard oft mit Eckstein. Während des Studiums in Köln telefonierten beide sehr oft zusammen. Der junge Student bedangte sich oft bei seinem Lehrer für seine interessanten Lehrstunden, die ihn von anderen Studenten unterscheiden. Zwischen ihnen war eine echte Freundschaft. Doch es war schon langsam der Anfang der Niedergangs Gustavs. „ >Vielleicht ende ich wie meine Mutter <, sagte er. > 148 149 Ebd., S. 268 Ebd., S. 274-275 49 Vielleicht habe ich ihre Krankheit. Vielleicht sind wir zur Krankheit zum Tode verdammt. Auch ich habe noch Pietismus im Blut, wirklich. Ich weiß, was Sünde ist(...). Das hast du bisher gut verborgen>, sagte Eduard der, allmählich das Ausmaß von Ecksteins Niedergang erkannte und sich überfordert fühlte, überfordert und auch intellektuell angewidert(...). Er reagierte hilflos. Er nahm Eckstein im Grunde nicht ab, mit Problemen der angezeigten Sorte zu kämpfen. Jede Form von existenzieller Betroffenheit, die nicht durch die strenge Disziplin der Philosophie geordnet wird, ist peinlich und wird selbst für Freunde schnell zur Last. Das war sein Dorma, das Eduard von Eckstein selbst übernommen hatte.“150 Eduard versucht ihm zu helfen, er wundert sich, dass sein Lehrer so schwach geworden ist. „ Du machst dich wehrloser, als du bist. Es mag die Krankheit zum Tode geben, kann ja sein, aber erblich ist sie nicht. Mensch, Eckstein, du hast uns von Adlern erzählt- du Jammerlappen“.151 Gustav wohnte mit auszuschnäuzendes Mutter an der Zeppelinstraße, doch er war allein, niemand anrief. Gustavs brauchte menschliche Wärme. Eduard konnte sich nicht um Gustav kümmern, denn er neben Geisteswissenschaften auch Biologie studierte. Mit der Zeit gewann Eduard den Eindruck, “dass Eckstein ein komischer Kauz geworden war- und erinnerte sich daran, dass Britt Becker ihn selbst während seiner schlimmsten Paranoia so bezeichnet hatte.152“ Hier können wir sehr große Ähnlichkeiten im Verhalten den beiden sehen. Eines Tages lernte Eduard Esther Naumann, die freiberüfliche Jurnalistin aus Düsseldorf kennen. Als eine erfolgreiche Frau musste sie ständig unterwegs sein. Für alles hatte sie nur eine weinige Zeit und gleich musste sie los. Sie war reich, schön, klug und sehr gut ausgebildet. Inzwischen veränderte sich Eduard in eine Haushalterin, er kochte, putzte, wartete bis seine Geliebte nach der Arbeit nach Hause kommt. Irgendwann kamen sie bei Eckstein zu Besuch. Er beschäftigte sich seit zehn Jahren mit seinem Buch. Er ging die ganze Zeit nicht aus dem Haus. Inzwischen ist er 60 150 Ebd., S. 441-44 Ebd., S. 443 152 Ebd., S. 444 151 50 geworden. Er sah nie wie früher aus : unrasiert, ergraute Haare. Seitdem kam er wieder ins Leben. „ Er warf einen Teil seiner Lethargie wieder ab und aktivierte, was ihm an Leidenschaft geblieben war. Während der Herbst ins Land zog und der Winter anbrach, schlief Esther regelmäßig mit ihren beiden Männern, wenn auch nie mit beiden gemeinsam. An Eduard schätzte sie Treue, Zufriedenheit, Fügsamkeit und vor allem seine beruhigende Durchschnittlichkeit, in die sie sich gedankenlos mummen konnte, wenn die Arbeit des Tages vorüber war. Gustav dagegen liebte sie, wie mutige Menschen das Leben mit seinen Gefahren lieben sie, wie mutige Menschen das Leben mit seinen Gefahren lieben. Dank Ecksteins Worten und Küssen spannte sich deren Dezemberhimmel größer als je zuvor über ihr.153“ Auf diese Art und Weise entstand sehr ungewöhnliche Beziehung. Es war ziemlich interessantes Dreieck: eine Frau und zwei Männer, die anscheinend nichts außer Freundschaft bindet. Im Grunde genommen gab es viel mehr als man vermuten konnte. Feinde und Freunde- Gustav und Eduard- Halbbrüder, die immer wieder die gleiche Frau lieben. Dabei ist es zu beachten, dass der Eduard immer der Pechvögel ist. Er verliert im Kampf mit seinem Bruder. „ > Dir geht es gar nicht um Daniela. Du willst so sein wie Eckstein. Du willst reden können wie er. Du willst so viel wissen wie er undsoweiter. Du willst so sein wie Gott. Aber wenn du dich mit unserem Supermann vergleichst, kommst du dir so attraktiv vor wie ein geschlechtskrankes Warzenschwein. Man könnte das perspektivische Verzerrung aus Leidenschaft nennen. < >Klingt gut<, lautete mein Beitrag an dieser Stelle. > Nutzt mir aber nix<, sagte > Ich glaube, ich bin einer von den Leuten, denen das Schicksal dauernd ins Gesicht spuckt, und Eckstein spielt das Schicksal<.“ 154 153 154 Ebd., S. 623 Ebd., S. 247 51 Die Rivalität dauerte bis zum Ende des Romans. Der letzte Kampf kann man ruhig als unentschiedenes bezeichnen. Beiden ist das gleiche Unglück begegnet. 4.2 Das <Wie> Ebene 4.2.1 Erzählerinstanz In jedem fiktionalen Text zwischen dem Leser und den Autor tritt immer eine Vermittlungsinstanz - Erzähler. Der Autor kommt nicht zu Wort aber seine Ideen und Vorstellungen werden an einen Stellvertreter übermittelt. Der Vermittler hat aber sehr oft eine unterschiedliche Einstellung zu der erzählenden Geschichte (story). Nach diesem Prinzip unterscheidet Franz Karl Stanzel im Bezug auf das typologische Modell der Erzähltheorie, drei Typen der Erzählsituation: die auktoriale Erzählsituation, die personale und die Ich-Erzählsituation.155 Im Roman “ Schattauers Tochter” Arno Orzesseks haben wir mit einem Ich- Erzähler ze tun. Zuerst erfahren wir, dass er Andreas heißt und einer der Schüler von Gustav Eckstein ist. Alle Informationen findet man auf weit auseinander liegenden Seiten, zuerst der Vorname, der Name, das Beruf usw. Einerseits tritt hier eine Figur, die an einer Teil der Geschichte teilnimmt (in einer Erzählstange), also gehört zu der dargestellten Welt. “ Ich erinnere mich, dass Eduard die Begierde in die Augen schoss wie Tränen nach einem plötzlichen Schmerz” oder “ Ich legte mich neben meinem Freund in das breite, ehetaugliche Bett”156. „ Meine Erinnerung sagt mir, dass das Gespräch von den Konventionen und Abstrakionen des Kalten Krieges gesätigt war.“157 155 156 Stanzel: http://www.uni-due.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/epik/erzaehlsit.htm Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007 157 Ebd., S. 325 52 „ Die Erinnerung sagt mir, dass sich ein bizarrer Ton in Eduards Rede einzuschleichen bagann und ihn weder an dem traurigen Abend in Gedser noch in den nächsten Wochen verließ- aber dieser Ton ist kein konservierter Eindruck aus der Vergangenheit, er ist bloß ein sinnlicher Nachdruck, der währende der Erinnerung entstand.“158 Man sieht hier also, dass der Erzähler eine Geschichte darstellt, von der er selbst betroffen war -er ist also eine handelnde Person. Andererseits beschreibt er auch die andere Erzählstange, aus der Auβensicht, aus einem zeitlichen Abstand. Sein Wissen schöpfte er aus mehrfach zitierten "genealogischen Aufzeichnungen“: „ In Gustav Ecksteins genealogischen Aufzeichnungen heißt es, dass Kleinbärengrund, wohin Marie Schattauer nun das Fuhrwerk von Balduin und Hermann Eckstein leitete (...).“159 „ Es heißt in den Aufzeichnungen, dass Marie für eine Sekunde ungezügelter Rachlust daran dachte, Balduin mit der Forke zu erstechen und dem Urheber ihrer Verlassenheit ein schreckliches Ende zu setzen.“160 „ Als Gustav Eckstein beim Verfassen der genealogischen Aufzeichnungen versuchte, Hermanns Aktion zur Rettung Gonims nachzuzeichnen, erlebte er ein en aufschlussreichen Albtraum.“161 Er erinnert sich nicht nur an die Ereignisse aus seiner Vergangenheit, sondern beschreibt die Geschehnisse aus der Familiengeschichte seines Lehrers. Von relevanter Bedeutung sind auch die Genealogische Aufzeichnungen, die eine gewisse Basis für den Erzähler bilden. ” Wir sprachen oft über das schwarze Gespenst. Wir lernten Masuren und den 2. Weltkrieg aus der privaten Perspektive einer jungen Frau kennen. Die Umstände waren seltsam. Während uns ihr Sohn ihre Geschichte in den buntesten Farben des Lebens ausmalte, lieβ sich Marie Eckstein zwei Stockwerke höher durch die Ewigkeit treiben, Schwarz und grämlich auf dem Kirschholzlehnstuhl sitzend. Die Vergangenheit war persönlich 158 Ebd., S. 340 Ebd., S 69 160 Ebd., S. 76 161 Ebd., S. 159 159 53 anwesend. Sie hockte auf dem Dachboden. Aber sie schwieg und überlieβ das Sprechen ihrem erfindungsreichem Souffleur”. 162 An der Stelle sieht man ganz deutlich, dass es sich um berichtende Erzählweise handelt, in der die Erzählinstanz als Figur unter Figuren der Handlung steht und gleichzeitig ist uns erklärt worden, woher er diese Famileingeschichte kennt. Beobachtenswert ist der Punkt dieses Wechselspiel wo, das erzählendes Ich gleichzeitig ein erlebendes Ich ist. „ Mein Freund rutschte unruhig hin und her. Der Auftritt Ecksteins hatte ihn an ein rätselhaftes, unheimliches Wesen aus reinen Nervenbahnen erinnert, das ihm einmal im Traum erschienen war. Das behielt seine Mutter Dietlinde Manthey in Erinnerung. Als es Eduard nicht mehr gab, zeigte sich, dass sie eine sorgfätige Archiviarin der Träume ihres Sohnes gewesen war, der wenigen, die er ihr über die Jahre erzählt hatte.“163 Wie dieser Textabschnitt uns zeigt, spielen die Erinnerungen im Roman sehr wichtige Rolle. Man sieht, dass die Erzählinstanz über sehr gute, ganaue Kenntnisse der Träumen und Gedanken verfügt, sodass man das Gefühl hat, dass sie eine olimpische Sicht hat. Bemerkenswert ist die Typologie von Gerard Genette. Er unterscheidet drei Ebenen (narration, discourse, histoire) der Erzählung und in der Analogie dazu drei Kategorien in der die Beziehungen diesern Ebenen kategoriesiert werden, nähmlich 1).Genus/ Stimme als „wer spricht“ beziechnet 2).Tempus 3) Modus als „wer sieht“ beziechnet 162 163 Ebd., S. 210 Ebd., S.25 54 Wichtig dabei ist, der Begriff „ Fokalisierung“ mit dem Genette sich in seinen Büchern „Discours du recit“ (1972) und „ Nouveau discours du recit“ (1983) beschäftigte. Es geht hier um den Blickwinkel („point of view“) aus dem die Geschichte erzählt wird. Diese Kategorie wurde von dem schon angeschprochenen Franz Karl Stanzel als „Perspektive“ bezeichnet und in der Verbindung mit der Erzählerstimme zusammengefaßt, dagegen ist Genette der Meinung, dass um eine genaue Analyse durchzuführen, muss man diese zwei Kategorien getrennt untersuchen. Die Erzählinstanz kann aus unteschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen und die Figuren hinschauen. Für dieses Phänomen kann man drei Fokalisierungstypen unterschieden: Nullfokalisierung, Interne- und Externefokalisierug. Wobei in diesem Fall, worauf dieser Textabschnitt hinweist, haben wir mit dem Nullfokalisierung zu tun. Der Erzähler verfügt über außermenschliche Fähigkeiten, hat das götterliche Blick- er weisst mehr als die Figuren wissen oder wahrnehmen, kann ihre Gedanken sowohl die, die in der Zukunft vorkommen oder aus der Vegangenheit stammen. „Marie hatte das Zeitgefühl verloren. Ihre Sinne waren in einen entsetzlichen Stilstand geraten. Sie wusste nicht, ob Balduins widerliche Hände seit Sekunden oder Minuten über ihre Haut fuhren. Wo bleibt Hermann? Dachte sie. Kann ein Mann so lange pinkeln?“164 An dieser Stelle sieht man deutlich,dass zum Ausdruck die allwisende Position des Erzählers kommt. Er kennt Marias Gedanken und ihre Gefühle und sie werden in bestimmter Rheienfolge struktuiert. oder „ Julia kam alle zwei , deri Wochen nach Köln. Sie hätte auch weiter nach Süden fahren können. Eduard spürte seine Freundin nicht mehr. Sie war nicht in den Vibrationen der Stadt. Wo er sich bewegte, gab es keine Spuren von ihr und keine Erinnerungen an sie. Julia war Jugendzeit, Traumzeit, Vergangenheit. Selbst die Melancholie, die sie als Letztes teilten- wie einst am Dachfenster die Dämmerung-, war fade. Was war es gewesen, was uns verbunden hatte? Fragte er sich. Warum konnte er sich nicht daran erinnern? Wie hatte die Luft herausgelassen.“165 164 165 Ebd., S.40 Ebd.,S.407 55 „ Eduard dachte jahrelang an Julias Worte. Bei keiner seiner Liebschaften hatter er das Gefühl, eine zweite Bindung einzugehen. Er fragte sich , ob es eine zweite Bindung gäbe, wenn die erste einamal vorbei war. Manchmal war ihm kalt bei der Liebe. Aber er kam aus seine Kosten, wie er sagte.“166 Der Narrator sagt mehr als die Figuren wissen ( Nullfokalisierung). Der Erzähler stellt sehr oft die Gedanken der Figuren, deswegen kann man den Einblick in ihr individuelles Gedächtnis bekommen und dabei viel besser kennen lernen. „ Mein Freund rutschte unruhig hin und her. Der Auftritt Ecksteins hatte ihn an ein rätselhaftes, unheimisches Wesen aus reinen Nervenbahnen erinnert, das ihm einmal im Traum erschienen war.“167 „ Warum verstößt du, Herr, meine Seele, und verbirgst dein Antlitz vor mir?“168 Nichts bleibt ihm verboten zu wissen, er kannte sogar die Gebete der Protagonisten. Der Narrator präsentiert die fiktive Welt aus der Distanz, aus der Prspektive des Beobachters. Er verzichtet auf die Kommentare und die Beurteile. Seine Bewertung des Handelns der Figuren bezeichnet man als neutrales Erzählverhalten169. Die Figuren sind die Augenzeuge der sehr wichtigen, historischen Geschehnissen, das auf sie den großen Eindruck machte. Sie sind sehr wichtig nicht nur für die Erzählerinstanz, sondern auch für die ganze damalige deutsche Generation. „Jeder Mensch ist in seiner Altersstufe von bestimmten historischen Schlüsselerfahrungen geprägt.“170 Das individuelle Gedächtnis wurde von den Generationsschlüsselerfahrungen geprägt. „ Der Herbst kam und viele Leute selbst im Schinkel hörten am Radio oder sahen in Fernsehen die Bundestagsdebatten, die der Ablösung von Helmut Schmidt durch Helmut Kohl vorausgingen. Der Sturz der sozial- liberalen Regierungskoalition war nach dem autofreien Sonntag, den RAF- Attentaten, der Entführung der > Landshut< in Mogadischu und dem Scheitern von Franz Josef Strauß das erste politische Ereignis, das von der Weltbühne bis in die Ritzen unseres Alltagsdrang und rege besprochen wurde.“171 166 Ebd., S. 409 Ebd., S. 25 168 Ebd., S. 39 169 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder und – Jugendliteretur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht., Berlin 1999., S. 28 170 Assmann, Alida: Vier Formen des Gedächtnisses. S. 185. 171 Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007, S. 64 167 56 Diese Geschehnisse übten den Einfluss nicht nur auf das Individuum, sondern die ganze Generation. Es werden also die wirklichkeitsbezogene Elemente, die in die fiktive Geschichte eingeflocht sind. In dem Fall spricht man von Mimesis I.172 4.2. 2 Zeitdarstellung In folgenden Arbeitsteil soll „ Schattauers Tochter“ im Hinblick auf die Zeitparameter hin analysiert werden. Die Handlung eines literarischen Textes vollstreckt sich immer innerhalb vom bestimmten Situations- und Ereignisrahmen. Wenn man das Phänomen der Zeit in den literarischen Werken berücksichtigt, unterscheidet man folgende Parameter: Erzählzeit und erzählte Zeit. Unter der Erzählzeit versteht man die Zeit, die ein Erzähler für das Erzählen einer Geschichte braucht. Es wird hier also der Seitenumfang gemeint, der für das Erzählen der Geschichte notwendig ist.173 Die erzählte Zeit weist dagegen auf die Dauer einer Geschichte.174 Am Beispiel von Orzesseks Roman „ Schattauers Tochter“ hat man mit der Erzählzeit von 648 Druckseiten zu tun, während das erzählte Geschichte einen Umfang von sechs Jahrzehnten umfasst. Nach Ganette kann man das Verhältnis zwischen der Zeit und der erzählten Geschichte folgendermaßen systematisieren. Dabei müssen drei Fragen beantworten werden. 1. In welcher Reihenfolge wird das Geschehen vermittelt? 2. Wie lange wird die Darstellung eines Geschehens präsentiert? 3. Mit welcher Frequenz wird die Darstellung eines Geschehens in einer Erzählung vermittelt?175 Es ist dabei zu beachten, dass die chronologische Ordnung nicht immer erfolgt. 172 Vgl., Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005,S. 150 Vgl. Martinez, Matias, Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2005, S.31 174 Vgl. ebd.. 175 Vgl. ebd., S. 32. 173 57 „ Als es Eduard nicht mehr gab, zeigte sich, dass sie eine sorgfältige Archivarin der Träume ihres Sohnes war (...)“176 Sehr oft tritt die Umstellung der chronologischen Ordnung einer Ereignisfolge auf. In dem Fall haben wir mit der Anachronie zu tun. Ganette unterscheidet dabei zwei unterschiedliche Formen davon. Einerseits ist es die Rückwendung, Rückblende bzw. die Analepse, anderseits die Prolepse. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass in der Form der Analepse, ein Ereignis nachträglich dargestellt wird. 177 „In der Form der Prolepse wird ein noch in Zukunft liegendes Ereignis vorwegnehmend erzählt.“178Vorausdeutungen und Rückwendungen können in der Form der kompletten oder der partiellen Analepsen und Prolepsen auftreten. Für die kompletten Anachronien ist charakteristisch die Tatsache, dass sie zu dem Zeitabschnitt der Hauptgeschichte gehören. Die partielle Anachronien führe lückenlos an die Gegenwart der erzählten Geschichte heran.179 Um die zweite Frage zu beantworten, sollen folgende Formen der Erzählgeschwindigkeit: zeitdeckendes Erzählen (Szene), zeitdehendes Erzählen (Dehnung), zeitraffendes bzw. summarisches Erzählen (Raffung), Zeitsprung (Ellipse), Pause. Das zeitdehende Erzählen tritt auf dann, wenn ein Geschehen wesentlich länger präsentiert ist, als es verlangt. Als Gegensatz dieses Erzählens gilt das zeitraffende bzw. summarische Erzählen. Mit der Raffung hat man dann zu tun, wenn die Erzählzeit deutlich kürzer ist als erzählte Zeit, dagegen mit der Ellipse (Zeitsprung) bezeichnen wir die ausgesparten Textabschnitte, die das Erzähltempo vorantreiben. Vorwiegend sind diese Textfragmente für die eigentliche Geschichte belanglos. Die Pause tritt in der Form der langen Beschreibungen, Kommentare und Reflexionen auf.180 In „ Schattauers Tochter“ wimmelt es von den Anachronien. Die Rezipienten müssen sich auf das Lesen sehr konzentrieren, um die Hauptgeschichte richtig zu folgen. Schon fast von Anfang an kennen wir die Ereignisse die eigentlich erst am Schluss passieren. Am häufigsten trifft man die Rückblende also Analepsen, in denen die 176 Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007.,S.25 Vgl. Martinez, Matias, Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2005, S.33 178 Ebd., S. 33 179 Vgl., ebd. S. 37 180 Vgl. ebd., S. 43- 45 177 58 früheren Ereignisse erzählt werden. Als ein Beispiel dafür kann folgendes Zitat sein: „ Die Erinnerung sagt mir, dass sich ein bizarrer Ton in Eduards Rede einzuschleichen begann und ihn weder an dem traurigen Abend in Gedser noch in den nächsten Wochen verließ- aber dieser Ton ist kein konservierter Eindruck aus der Vergangenheit, er ist bloß ein sinnlicher Nachdruck, der während der Erinnerung entstand.“181 Es ist also eine Unterbrechung um Geschehnisse nachzutragen. Es geht hier um die Erinnerungen, die als eine Erklärung in die Geschichte eingeführt sind. Der umgekehrte Typus ist sogenannte Prolepse berichtet über Ereignissen, die in der Zukunft liegen. „ Es waren drei kleine Portionen, sagte Regenmacher siebzehn Jahre später über das Bild vor seinen Augen und zoomte es dichter heran“182 „ Das behielt seine Mutter Dietlinde Manthey in Erinnerung. Als es Eduard nicht mehr gab, zeigte sich, dass sie eine sorgfältige Archivarin der Träume ihres Sohnes gewesen war, der wenigen, die er ihr über die Jahre erzählt hat“183 Dank der Rückwendung bekommt man immer mehr Informationen über den Protagonisten. In dem Fall ist uns ein bisschen die Zukunft eingeführt. Die Anachronieen machen das Buch viel interessanter aber auch schwieriger, verraten ein Teil der Zukunft und Vergangenheit um den Leser anzubinden. So wurde das Geheimnis in kleinen Schritten entdeckt, dabei faszinierend und spannungsaufbauend aufgebaut. Zu beachten ist darüber hinaus der Fakt, dass die kleinen Kapitel des Buches, außer 181 Ebd., S. Ebd., S.108 183 Ebd., S.25 182 59 drei Ausnahmen, die Erzählstangen nacheinander präsentieren. Der Roman ist so aufgebaut, dass man die Geschichte schrittweise entdeckt. Schließlich verbinden sie sich miteinander um den Kern der Geschichte zu entdecken. Mittels der Rückblenden richtet der Ich- Erzähler den Blick auf den historischen Kontext ( erfahrungshaftiger Modus). „Der Herbst kam und viele Leute selbst im Schinkel hörten am Radio oder sahen in Fernsehen die Bundestagsdebatten, die der Ablösung von Helmut Schmidt durch Helmut Kohl vorausgingen. Der Sturz der sozial- liberalen Regierungskoalition war nach dem autofreien Sonntag, den RAF- Attentaten, der Entführung der > Landshut< in Mogadischu und dem Scheitern von Franz Josef Strauß das erste politische Ereignis, das von der Weltbühne bis in die Ritzen unseres Alltagsdrang und rege besprochen wurde.“184 „ Als wir uns an die Einzelheiten jenes Augusttages vor achtzehn Jahren erinnerten, an dem Deutschland noch nicht wusste, dass die letzten Wochen der Regierung des Weltökonomen Helmut Schmidt angebrochen waren.“185 Der Roman setzt in medias res ein. Die Leser sind in die Handlung unvermittelt involviert.186 Sie werden in die Mitte einer ihnen völlig unbekannten Geschichte eingeführt: „ Erinnerung“ „ Er hatte das schwarze Gespenst schon einmal gesehen. Es war aus dem Keller des Gemeindehauses gekommen und die gepflasterte Einfahrt hinaufgeschlichen. Ältere Menschen, auch sie in dunklen Kleidern, hatten es zur Straße begleitet. Er kam an diesem Sonntagnachmittag vom Kicken, verschwitzt und durstig, den Ball eng am linken Fuß. Er lief über den Gehweg und umdribbelte die Menge seiner unsichtbaren Gegner – bis er auf das schlurfende schwarze Gespenst prallte, das von den Armen hilfsbereiter Pilger gestützt wurde. Das dunkle Kopftuch hielt ein Gesicht umklammert, aus dem die Zeit verschwunden war. Er erinnerte sich: Es war ein Gesicht, das nicht atmete. Es war von Dingen gezeichnet, die größer waren als das 184 Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007, S. 64 Ebd., S. 12 186 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteraturliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. S. 74. 185 60 irdische Leben.“ Der Leser ist irritiert, weil er in die Geschichte einbezogen ist. Doch erst im weiterem oder zum Schluss, ist der Leser in der Lage die Chronologie der Ereignisse zusammenstallen.187 Das Ende ist geschlossen und gehört zu den typischen Schlusssituationen. Leider kam es zur tragischen Lösung. Die zentrale Figuren: Gustav und Eduard kamen ums Leben. „Er trieb Eckstein mit wenigen, gewaltigen Stößen seiner starken Hände auf den Balkon hinaus. Der hagere Eckstein ließ sich notgedrungen auf den ungleichen und im Übrigen zunächst lautlosen Kampf ein, bei dem bald die Planken des hölzernen Geländers zerbrachen. Die Halbbrüder stürzten, die Augen ineinander verkrampft und die Köpfe voraus, auf die Pflastersteine vor den Kellergaragen des Hauses. Ich hockte an der Einfahrt und blickte über das Tal, in dem sich das Nachmittagslicht allmählich milder auf die stillen Waldbögen senkte. Da drang das Zerplatzen des Holzes, der dumpfe Aufschlag und ein entsetzliches Knirschen an mein Ohr. Es war ein Geräusch von einer Sekunde, über dem sich die Unbefangenheit der Natur so schnell schloss wie die Oberfläche eines Wassers, durch das zwei Steine auf den Grund gesunken sind. Diese Ruhe empfinde ich nun als einen aufgerissenen Abgrund des Gemüts. Damals hörte ich Weinen.“188 187 188 Ebd., S. 74 Orzessek, Arno: Schattauers Tochter. Göttingen 2007.,S.647-648 61 5. Schlussbemerkungen Im ersten Schritt der vorliegenden Arbeit wurden die Termini aus der Gedächtnisforschung thematisiert. Die Analyse zeigt wie die Erinnerungen auf die Menschen einen Einfluss ausübten. Sie bilden sogar den zentralen Punkt des menschlichen Lebens. Das betrifft nicht nur Individuen, Gesellschaften aber auch die ganze Kulturen. „ Kultur ist Gedächtnis“.189 Der zweite Schritt wurde der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses gewidmet. Am Beispiel von einzelnen Modi wurde untersucht, ob Literatur als ein Medium des kollektiven Gedächtnisses verstanden werden kann. Das Wirkungspotenzial eines literarischen Textes wird in von der Darstellungsform abhängig. Im Nächsten Schritt sind es die Figurenkonstelationen, Figurenbeziehungen exakt geschildert. Es werden detailierte Beschreibungen der Kindheit, der Jugend und des Erwachsenseins der Hauptfiguren präsentiert. Dieser Realitätscharakter verstärken die Namen, Orte und historischen Ereignisse. Dabei entsteht ziemlich genaues Bild sowohl des Krieges als auch der Vor- und Nachkriegszeit in Deutschland, das sechs Jahrzehnte beinhaltet. Dabei werden die Ebene des Erzählens und des Erzählten analysiert. Denn nicht nur das ‚was’, sondern auch das ‚wie’ eine sehr wichtige Rolle spielt. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage, wie die Erinnerungen im Roman „ Schattauers Tochter“ literarisch dargestellt werden. Es wird weiterhin analysiert, wie das Verhalten der Tätergeneration während des 2. Weltkrieges und in der Vor-und Nachkriegszeit in Deutschland aussah. Der Ich- Erzähler beschreibt alles im historischen Kontext. Es wurde gezeigt, dass die Deutschen auch die Folgen, des Zeiten Weltkrieges tragen. Die Generation der vom Krieg betroffenen, hatte emotionelle Probleme, wenn es sich um zwischenmenschliche Kontakte und Gefühle handelte. 189 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. S. 56. 62 Die Analyse des Romans antwortet auf die folgenden Fragen: Warum weiterhin beschäftigen sich auf der ganzen Welt viele Intelektuelle mit dem Phänomen des Gedächtnisses? Warum das Interesse an den Ereignissen derVergangenheit weiterhin einen wichtigen Platz in der Geschichtswissenschaft einnehmen, und sogar mehr an der Bedeutung gewinnen. Ist das vielleicht mit unserem inneren Bedürfnis, die menschliche Natur zu verstehen, verbunden? Oder wollen die Menschen damit besser die Geschichte des 20 Jahrhunderts verstehen um ein klares, wahrhaftes Bild zu haben? Die Geschichte lebt in unseren Gedächtnissen, auch wenn man nicht zu der Generation der betroffenen gehört. Dabei spielt die Literatur als Medium, des kollektiven Gedächtnisses, eine unglaublich wichtige Rolle. Sie lässt die Geschehnisse lebendig, erinnert und rettet von der Vergessenheit. Vor allem funktioniert sie aber, wie die Warnung von dem was geschehen kann, wenn man irgendwann vergisst. 63 6. Anhang Neubrandenburg. Für sein Romandebüt „Schattauers Tochter“ erhält Arno Orzessek am 23. September den erstmals vergebenen UweJohnson-Förderpreis der Mecklenburgischen Literatur-gesellschaft. JuryVorsitzender Carsten Gansel, Literaturprofessor an der Universität Gießen, sprach mit dem 39-Jährigen. Jene Autoren, die Ende der 1990er Jahre mit viel diskutierten Debüts an die Öffentlichkeit traten, erzählen meist über Kindheit und Jugend, also einen Zeitabschnitt, der nicht lange zurückliegt. Sie hingegen gehen weit in die Geschichte. Aus welchem Beweggrund? Wahrscheinlich gibt es ein ganzes Bündel von Gründen, die alle mit der Arbeit am Text zu tun haben. Als ich 1996/97 mit dem Schreiben begann, beherrschte ich nur winzige Szenen von ein, zwei Seiten Länge, die in irgendeiner Weise mit meiner Biographie zu tun hatten und deren fiktional verwischte Spuren sich in „Schattauers Tochter“ am ehesten in 90er- Jahre-Erlebnissen Eduard Mantheys finden. Leider habe ich versucht, aus diesen Erfindungsstaubkörnchen eine Geschichte zu formen und bin dabei in alle Fettnäpfchen des Ästhetizismus gestolpert. Sie haben aber einen Weg gefunden, neben Ihre poetisierten „Wirklichkeitserfahrungen“ auch fremde Erfahrungen zu stellen. Um meiner Prosa Wirklichkeitshärte zu geben, habe ich die Episoden an reale Schauplätze verlegt, diese genauer untersucht und dokumentarisches, wissenschaftliches und mündlich überliefertes Material hinzugezogen. Irgendwann, während alles noch um das infernalische Duo Eckstein und Manthey kreiste, bemerkte ich, dass auch Eckstein eine Mutter gehabt haben muss, und entdeckte so die Romanfigur Marie Eckstein, deren Geburtsnamen ich damals noch nicht kannte. Durch die Beschäftigung mit Maries möglicher Vergangenheit geriet ich in die Vorkriegszeit und erschloss ein neues Depot von Erinnerungen, das meiner Eltern. Damit bot sich Masuren als weiterer Schauplatz an. Meine Arbeit kreiste nun um zwei Pole: Um Maries Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und um die Manthey-Eckstein-Rivalität vier, fünf Jahrzehnte später. Ich begann zu ahnen, dass der Clou des Romans die Verzahnung beider Zeitebenen sein könnte, müsste, sollte. 64 Ein solcher Ansatz ist für ein Debüt eher die Ausnahme, denn unter jungen Autoren herrschte Ende der 90er Jahre ein ausgeprägter Drang, auf einer Zeitebene zu erzählen und dicht an der eigenen Geschichte zu bleiben. Traurig, aber wahr: Das Debüt, das ich mit 30 oder 32 Jahren in Form einer aufgeplusterten Gegenwartsanekdote hätte geben können, wäre das Papier nicht wert gewesen. Zumal damals die Pop-Literatur heraufdämmerte, ein Genre, in dem ich konkurrenzlos schlecht bin. Überdies musste ich erst alle Schreibfehler gründlich selbst gemacht haben. Auf meiner Festplatte liegen mehrere tausend betäubend schlechte Seiten, ein Denkmal der Mühsal, das ich eines Tages zerstören werde. Als Trostpreis habe ich unterdessen meinen oder wenigstens einen Stil gefunden. Dass „Schattauers Tochter“ in dieser Form vorliegt, hat zuerst und zuletzt mit Qualitätskontrollen zu tun. Erst am Ende glaubte ich, dass mein Manuskript trotz aller Eierschalen und prahlerischen Adoleszenz den Titel Roman verdient. Das provoziert die Frage, wie lange Sie an „Schattauers Tochter“ gearbeitet haben. Rund sieben Jahre, rund siebentausend Stunden. Häufig und gerade zum Schluss, im Herbst 2002 nach einer Amerikareise, wurde das Schreiben ein Exzess einschließlich 19-Arbeitsstunden-Tage, Verlotterung der Wohnung und aller sozialen Kontakte, blankem Konto und Besuch vom Gerichtsvollzieher. Andererseits habe ich während der sieben Jahre manchmal monatelang keine Zeile Prosa geschrieben. Erstens, weil ich als Journalist Geld verdienen musste, zweitens, weil ich nicht wusste, wie man aus der Schutthalde der Irrtümer einen Roman retten könnte. Bekanntlich gibt es immer weniger Zeitzeugen, die gelebte Erinnerung an Holocaust und Drittes Reich stirbt aus. Damit wächst die Notwendigkeit wie Chance, sie literarisch zu (re)konstruieren. Holocaust und Drittes Reich sind als Weltphänomene so heikel und ungeheuerlich, dass sich Fiktionen immer der Gefahr aussetzen, in Frivolität umzuschlagen. Das größere Recht haben zunächst Zeitzeugenberichte beziehungsweise biographische Romane wie die von Jorge Semprun und Imre Kertész und danach die seriösen Geschichtswissenschaften. Andererseits füllen deren Bücher Bibliotheken, seit Eugen Kogon noch im KZ Buchenwald „Der SS-Staat“ schrieb. Schriftsteller haben glücklicherweise die Lizenz, auch über Dinge zu schreiben, die sie nicht selbst oder nicht so erlebt haben – das ist sogar eine Definition ihres Berufes. Bei der Frage, wie es „wirklich“ war, scheiden sich die Geister. Auch weil Vergangenheit nur mittelbar (re)konstruiert werden kann und es kein einheitliches Bild von „der“ Geschichte geben wird. Die entstehenden Bilder sind – wie Walter Benjamin sagt – „Gegenstand einer Konstruktion“, die von der Jetztzeit geladen sind. Die so genannte Wirklichkeit gibt es tatsächlich nur einmal, meine ich, und zwar als ein reines, zeitloses Gegenwartsphänomen. Danach beginnt die Rekonstruktion. Und wenn es die Arbeit der Historiker sein sollte, Fakten aufzudecken, können Schriftsteller in diesem Faktengerüst die Möglichkeitslücken suchen. Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“, in dem ein Vater seinem Sohn suggeriert, das KZ sei ein etwas derber Abenteuerspielplatz, ist über weite Strecken eine Komödie, 65 aber sie bringt – mit einer alten Metapher – die Schrecken umso klarer ans Licht. Also, man kann im Konzentrationslager Fiktionen ansiedeln, es kommt allerdings darauf an, die Maßverhältnisse zu beachten. Wenn Sie von Maßverhältnissen sprechen, könnte dies die künstlerische Wahrheit meinen, um einen aus der Mode gekommenen Begriff zu nutzen. Aber Kunst ist kein Geschichtsbuch und ein historischer Roman muss keinen authentischen Bericht liefern. Eben! Die Vergangenheit erscheint immer als Rekonstruktion und die hat ihre eigenen Wahrheitsbedingungen. Fiktionale Literatur erschöpft sich indessen nicht in Rekonstruktionen. Sie holt unter Umständen eine Vergangenheit zurück, die es so nie gegeben hat. Man könnte sagen, sie ist ein rückwärts gewandtes Probehandeln und zeichnet die Landkarten der Möglichkeitswelt. Ich habe William Faulkners Roman „Absalom, Absalom!“ nie ganz verstanden. Aber ich bin begeistert, mit welcher Verve Faulkner Erinnerungen beschreibt, die kein Mensch je gehabt hat noch, wie ich meine, so haben könnte. Es ist ein Erinnerungsraum, den die Literatur eröffnet, eine graphisch-semantische Ungeheuerlichkeit. Diese Potenz gefällt mir. Faktenfehler sind mir peinlich, aber wenn jemand einwendet „So war es doch nicht“ – geschenkt! Sonst wäre es ja auch keine Kunst. Sie haben anschaulich gemacht, wie sie beim Umgang mit Ihren Personen auf die Zeitebene von 1937 stießen, die Figuren also eine Art Eigenleben gewannen und sich eine neue (Zeit-)Tür öffnete. Das blieb nicht ohne Konsequenz. Um meine Geschichte in das Dorf Kleinbärengrund hinein erfinden zu können, ging es zunächst darum, den pietistischen Bauernalltag in Masuren zu verstehen. Doch wer 1937 beginnt, wird über Hitler, Nazis und Krieg nicht schweigen können. Zunächst glaubte ich, ich könnte Marie auf zehn, zwölf episch getragenen Seiten durchs Dritte Reich befördern. Aber das wäre eben ein Missverhältnis gewesen, zumal ein ästhetisches. Darum habe ich mich ganz aufs Dritte Reich eingelassen – immer im Hinblick auf mein Romanpersonal, auf dessen Lebenswege und Probleme. Neben den Maßverhältnissen waren Kenntnisse über jene Zeit zu akkumulieren. Einen Transport von Kriegsgefangenen minutiös nachzuerzählen, wie Sie es tun, ist eine andere Sache, als Jugend in den 80er Jahren darzustellen. Es gibt über alles Literatur und über das meiste biographische Zeugnisse. Ich bin allerdings in diesem Punkt kein Jünger Gustav Flauberts, der mit Blick auf seine späten Romane betonte, tausend Bücher zur Vorbereitung gelesen zu haben. Als ich sah, worauf ich mich eingelassen hatte, musste ich Kompromisse schließen. Ich schrieb meinen Figuren einen Weg vor, den ich nach Materiallage glaubhaft darstellen konnte. Hermann Ecksteins Karriere als Partisan liegt die Lebensgeschichte eines Bekannten zugrunde. Für den Transport der Kriegsgefangenen ins Lager am Ural habe ich biographische Schriften Dritter hinzugezogen, womit Eckstein Züge einer frei erfundenen Figur, meines Bekannten und mehrerer Menschen trägt, die davon nichts wissen. Wer sich sehr gut auskennt, dürfte entdecken, dass ich beim Lagertransport bestimmte Realereignisse von 1945 nach 1942 zurückverlegt habe. 66 Nun kann man „Schattauers Tochter“ auch als Familien- bzw. Generationenroman bezeichnen. Eine Kritikerin fragte vor Jahren abfällig, wer noch „fette Sippschafts-Schwarten“ lese, und ergänzte: „Der Familienroman ist bequem wie ein abgetragener Pullover.“ Ich weiß nicht, ob „Schattauers Tochter“ ein Familienroman ist. Ich vermute, das Buch ist ein wilder Inzest von mehreren Gattungen. Andererseits sind Familiengeschichten seit „König Ödipus“ ein bestens eingeführtes Genre. Auch amerikanische Autoren wie Franzen, Roth und DeLillo setzen die Tradition gern fort. Es kommt banalerweise allein darauf an, wie man’s macht. Liebe und Sex gehören sowieso in neun von zehn Romane, wobei, wer hätte das gedacht, manchmal Familien entstehen. In „Schattauers Tochter“ allerdings merkt man davon trotz genügend Sex und Liebe auf den ersten 600 Seiten wenig und kann das Buch deshalb nur im letzten Kapitel beziehungsweise beim zweiten Mal als Familienroman lesen. Aber liest man außerhalb von Wissenschafts- und Kritikerkreisen ein Buch als Familienroman, Bildungsroman, zeithistorischen Roman – oder weil mal wieder Lesezeit ist und man sich guten Stoff erhofft? Ich glaube, letzteres. In „Jahrestage“ verstand es Johnson, Zeitgeschichte als Familiengeschichte zu erzählen. Auch Sie verbinden zwei Ebenen und zeigen, wie die „große“ Geschichte in die „kleine“, das Leben der einzelnen eingreift. Allerdings gehören Sie zum Jahrgang 1966. Uwe Johnson scheint früh gewusst zu haben, dass der Widerschein des Gesellschaftlich-Politischen in der Einzelexistenz der Rahmen seines Schreibens ist. Meine Probleme waren anfangs unendlich kleiner, etwa der Art: Kannst du überhaupt schreiben? Wenn ja, was? Und wohin treibt es dich? Ich fürchte sogar, es war noch banaler: Mir gefiel es, zu schreiben zu versuchen, denn Literatur war unter den Künsten meine erste Liebe. Dann kam der Schacht der Arbeitsjahre; die technischen Übungen; eine sozusagen bewusstlos oder blind gesteuerte Materialanhäufung. Jedenfalls kein Kalkül der Art: Was muss gerade jetzt in Prosaform ausgedrückt werden und wo ist deine Nische in der Literaturgeschichte? Bis auf den Tag machen mir Behauptungen wenig Spaß, die beginnen mit „Deutschland ist …“ oder „Was Deutschland fehlt …“ oder „Wir in Deutschland sind …“ So etwas kommt mir immer tendenziös vor. Oft ist das Gegenteil genauso wahr. Nun wurde Ihr Roman als Ausgestaltung der „Generation Golf“ bezeichnet, in der Zeitschrift „Literaturen“ spricht man vom „Roman der heute Vierzigjährigen“. Das wundert mich. Ich habe mit der „Generation Golf“ subjektiv gar nichts zu tun, meine Hauptfigur Marie Schattauer ist 1919 geboren – und es ist ihr Roman. Zugegeben, ich habe zwischendurch gerätselt, was ein Debüt haben muss, damit es ein Lektor zur Veröffentlichung vorschlägt. Es darf auf keinen Fall langweilen, habe ich mir gesagt und die Zwischenergebnisse einem imaginären Leser namens AO zur Prüfung eingereicht. Außerdem wollte ich natürlich, dass die Unterhaltung, die mein Roman bestenfalls gewährt, keine der vulgärsten Sorte ist. Schlicht gesagt: „Schattauers Tochter“ ist das Buch, das ich schreiben konnte, ich hätte nicht jedes andere schreiben können. 67 Nunmehr schreiben Sie am nächsten Roman, und das Nachdenken über die „große“ und die „kleine“ Geschichte beginnt von vorn. Ich könnte leicht sagen: Ja, mich interessiert, „wie sich die große Geschichte in der kleinen spiegelt“. Aber keine derartige Intention treibt mich, sondern die schnöde Lust, ein gutes Buch zu schreiben. Dokumentarischer Realismus und Phantasie sind gleich wichtig und gleich würdig für die Fiktion. Von Uwe Johnson stammt die Aussage: „Biographie ist unwiderruflich.“ Auch darum geht es in Ihrem Roman, der von den Versuchen EduardMantheys erzählt, seiner Herkunft zu entkommen. Eduard will seine „Wurzeln ausreißen“, das Hinterwäldlerische tilgen, seine niederen Instinkte abschütteln – und nur phasenweise gelingt es ihm. Auch Marie durchlebt einen doppelten Entwurzelungsprozess. Sie bricht mit Kindheit, Glauben, Heimat, übernimmt die Rolle einer Dame aus gutem Hause und schrumpft nach ihrer Selbstblendung zum „schwarzen Gespenst“. Auch da wird sie ihre Herkunft nicht los. Insofern unterschreibe ich Johnsons Bonmot. Ihre Figuren ahnen, dass man die Vergangenheit weder abstreifen noch besiegen kann? Die einen früher, die anderen später, dritte nie. Ich bin in diesem Punkt auf der Seite von Faulkner: „Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“ Offenbar profitiert der Roman „Schattauers Tochter“ von der Dynamik vieler Entwurzelungen, die positiv als Aufbrüche zu bezeichnen sind. Schon die historisch älteste Episode, die Vertreibung der Vorfahren Schattauers 1731, vollzieht sich als Exodus. Mein Personal muss oft fort. Es hat Ziele oder wird gezwungen, Ziele anzuvisieren. Das bringt Bewegung, wenn auch nicht immer Befreiung. Wahrscheinlich ist es bezeichnend, dass Eduard, als er die bürgerliche Wohlstands- und Sicherheitsstufe erreicht, faul und fett wird, aber an Klugheit nicht zunimmt und schließlich blind in die Katastrophe taumelt. Zunächst könnte man glauben, Gustav Eckstein sei die Hauptfigur, aber in Wirklichkeit ist es Marie, Schattauers Tochter. Davon bin ich überzeugt. Viele sehen auch Eduard Manthey als Hauptfigur, was mich genauso überrascht wie die Eckstein-Variante. In meinen Augen dominiert Marie den Roman überdeutlich und ist in jeder Zeile anwesend. Ich meine, das hat damit zu tun, dass sie als neugieriges, weltfremdes, pietistisches Bauernmädchen in die Geschichte gerät – also als eine Person, die man in die üblichen soziologischen, historischen, psychologischen Koordinatensysteme eintragen kann –, aber eben als schwarzes Gespenst endet, das dann die Koordinaten sprengt. Am Ende, als schwarzes Gespenst, scheint sie eher eine Kunstfigur als eine Gestalt aus Fleisch und Blut. Teilen Sie den Eindruck? Weitgehend! Nicht umsonst knistert Maries Haut vor Ewigkeit. Wenn man ihr Leben betrachtet, kann sie auf keinen Topos reduziert werden. Das macht sie ungreifbarer, vielleicht sogar unantastbarer als alle anderen Figuren – was vielleicht erklärt, warum bisher keinem Kritiker etwas Plausibles zu ihrem Schicksal eingefallen ist. Mir selbst kommt es so vor, als sei Marie als schwarzes Gespenst eine entfernte Verwandte von Don Quixote. Sie durchstößt wie der Ritter von der traurigen Gestalt die Grenze zwischen der 68 Wirklichkeit der Fiktionen und jenen anderen Wirklichkeiten. Ein Unterschied liegt auf der Hand: Don Quixote nimmt die Ritterromane buchstäblich, Marie schließlich doch die Bibel und die pietistischen Lieder, in deren Texte sie hinein geboren wurde. Bücher 69 6. Literaturverzeichnis Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. 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