Breiter und enger Handlungsbegriff

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Capek – Handlung 5
Breiter und enger Handlungsbegriff. Die Renaissance der Aristotelischen Handlunsanalyse
1. Aristoteles` Handlungsauffassung
 Handlung als das Freiwillige (Nikomachische Ethik, Buch III, Kap. 1 – 3) – Prinzip im Handelnden, der alle
relevanten Umstände kennt.
 Handlung als praxis (NE, Buch VI) – zwei wichtigsten Stellen: NE I, Kap. 1, und NE VI, Kap. 4 und 5.
„[es]zeigt sich ein Unterschied der Ziele. Die einen sind Tätigkeiten, die anderen noch gewisse Werke
oder Dinge außer ihnen. Wo bestimmte Ziele außer den Handlungen bestehen, da sind die Dinge ihrer
Natur nach besser als die Tätigkeiten“ (1094a2-6)
„Das Hervorbringen (poiesis) hat nämlich einen anderen Zweck als die Tätigkeit selbst, das Handeln
(praxis) dagegen nicht, da hier das gute Handeln selbst oder auch das gute Befinden (eupraxia) den
Zweck ausmacht.“ (1140b6-8)
 Frage: sollen wir Handlung eher mit poiesis oder mit praxis gleichsetzen?
Als poiesis:
„Der Mensch ist also, wie gesagt, Prinzip der Handlungen (ache ton praxeon). Die Überlegung aber
bezieht sich auf das, was er selbst tun kann. Was er aber tut, macht er um etwas anderen willen 1 (hai de
praxeis allon heneka). Mithin fällt der Zweck nicht unter die Überlegung, sondern die Mittel zum
Zweck.“ (1112b31ff.)
Als praxis: etwas hervorbringen und handeln ist nicht dasselbe - Unterscheidung einer instrumentalen und einer
ethischen Reflexion über unser Tätigsein.
Lustanalyse:
1. Lust – nicht schnell oder langsam
„Bei der Lust aber findet sich ... keine Schnelligkeit und keine Langsamkeit. Ja, bekommen kann man
das Gefühl der Lust schnell, wie auch das des Zorns, aber haben kann man es nicht schnell... wohl aber
kann man schnell gehen, wachsen und dergleichen. Also, der Übergang (metaballein) zur Lust kann
schnell und langsam zustande kommen, aber schnell aktuell sein (energein) in bezug auf die Lust, will
sagen schnell Lust fühlen, das kann man nicht.“ (1173a35-b5)
 Tätigkeit als Werden und Tätigkeit als Weise zu sein
2. Lust - keine Bewegung
„Der Akt des Sehens scheint in jedem Zeitmoment vollendet zu sein, sofern ihm nichts abgeht, was
noch nachträglich hinzukommen müßte, um seiner Form die letzte Vollendung zu geben. Ihm ist nun
die Lust ähnlich. Sie ist ein Ganzes, und es läßt sich in keinem Zeitmoment eine Lust aufweisen, deren
Form durch die Verlängerung ihrer Dauer erst vollendet würde. Eben deshalb ist sie auch keine
Bewegung. Jede Bewegung geschieht in einer Zeit und hat ein Ziel. So vollendet z.B. die Baukunst ihr
Werk, wenn sie das, worauf sie abzielt, zustande gebracht hat, also entweder in der ganzen Zeit oder
ihrem letzten Moment. ...
Dagegen ist die Art und somit auch die Form der Lust jederzeit vollendet, und so wird klar, daß sie von
der Bewegung verschieden und ein Ganzes und Vollendetes ist.“ (1174a15 – b9)
 die Tätigkeit, die selbst den Zweck ausmacht, ist keine Bewegung, kein Prozeß des Werdens, sondern eine
Weise zu sein.
3. Dasselbe Unterschied mittels des Verhältnisses Möglichkeit – Wirklichkeit gefasst
 Die Aporie der Handlung
1
Hier weiche ich von der Übersetzung von Rolfes und Bien ab.
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2. Handeln und Verstehen
Hannah Arendt (auch Rüdiger Bubner u.a.):
„Die Größe aber, bzw. der einer jeweiligen Tat in ihrer Einzigartigkeit zukommende Sinn, liegt weder
in den Motiven, die zu ihr getrieben, noch in den Zielen, die sich in ihr verwirklichen mögen; sie liegt
einzig und allein in der Art ihrer Durchführung, in dem Modus des Tuns selbst.
Daß die lebendige Tat und das gesprochene Wort das Größte sind, wessen Menschen fähig sind, findet
sich theoretisch in dem Aristotelischen Begriff der energeia ausgesprochen, also jener Aktualität, die
allen Tätigkeiten eignet, die keinen Zweck verfolgen (sondern a-teleis sind) und kein Endresultat
außerhalb ihrer selbst hinterlassen (keine par autas erga), deren volle Bedeutung sich vielmehr in dem
Vollzug selbst erschöpft. Letzten Endes ist es noch die Erfahrung dieser reinen Aktualität, welche
hinter dem paradoxen Begriff eines „Selbstzwecks“ sich verbirgt. Solche Selbstzwecke im Sinne der
Tätigkeiten sind das Handeln und Sprechen, in deren Wesen es nicht liegt, Zwecke zu verfolgen,
sondern die den ihnen eigentümlichen „Zweck“, ihr telos, in sich tragen und daher entelecheia genannt
werden können.“2
- ist nicht die Betonung der Absenz jedes Ergebnisses nicht nur unvorstellbar, sondern auch konterproduktiv?
Die problematische Voraussetzung: daß poiesis und praxis verschiedene Typen oder Klassen von Tätigkeiten
sind.
Beziehen sich die Ausdrücke poiesis und praxis auf unterschiedliche Typen von Tätigkeiten, oder waren sie eher
dazu bestimmt, an unseren Tätigkeiten verschiedene Aspekte herauszuheben?
 Die Frage: unter welchen Bedingungen beschreiben wir eine Tätigkeit als poiesis und unter welchen
Bedingungen als praxis?
 eine grundlegende Ambivalenz: das, was wir tun, kann sowohl als poiesis als auch als praxis, sowohl als
transitive Tätigkeit als auch als immanente Tätigkeit aufgefaßt werden.
3. Gadamer und die hermeneutische Philosophie
 Handlung als Anwendung des Allgemeinen auf das Einzelne (das sittliche Wissen – ein Anwendenkönnen)
 Mittel: geschickt oder akzeptabel?
 Die poiesis wird zur praxis nicht dadurch, daß wir etwas anderes tun, sondern dadurch, daß wir die
Tragweite dessen, was wir tun, begreifen, daß wir es z.B. als ein Teil des Ganzes begreifen, das man „gut
leben“, „guter Lehrer sein“ oder „gut richten“ usw. nennen kann. Wir verstehen unsere Taten (d.h. einzelne
gezielte Tätigkeiten) als Fälle von praxis eben dann, wenn wir sie mit dem Bewußtsein ausführen, daß das
Erreichen des Zieles nicht ihren vollen und ausschließlichen Sinn ausmacht, und daß wir unser Handeln
auch als Tätigkeit ansehen können, die schon in der Gegenwart vollkommen ist.
2
Vita activa., § 28, S. 261n.
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Literatur
Überblick über die Aristoteles-Renaissance:
M. Riedel, Rehabilitierung der praktischen Philosophie I und II, Freiburg 1972 a 1974
R. Bubner, Eine Renaissance der praktischen Philosophie, Phil. Rundschau 22, 1975
Markus, G., „Praxis“ und „Poiesis“. Eine fragwürdige Aristoteles-Renaissance, in: G. Althaus, I. Staeuble,
Streitbare Philosophie. Margherita von Brentano zum 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 71 – 92
Christoph Wild, Skeptischer Einspruch gegen die Rehabilitierung der praktischen Philosophie, PhJb, 81, 1974,
S. 237 – 246
Joseph Dunne, Back to the Rough Ground: „Phronesis“ and „Techne“ in Modern Philosophy and in Aristotle,
University of Notre Dame Press, Notre Dame - London 1992.
Einige wichtigen Aristoteles-Deutungen (zum Praxis-Begriff)
P. Aubenque, La prudence chez Aristote, Paris, PUF, 1976
Davig Wiggins, Deliberation and practicle reason, in Essays on Aristotles’s Ethics, hg. von A. O. Rorty,
University of California Press, 1980.
Pavlos Kontos, L’action morale chez Aristote. Une lecture phénoménologique et ses adversaires actuels, Paris
2002.
John L. Akcrill, Aristoteles, Berlin 1985.
J. L. Ackrill, Aristotle On Action, in: Essays on Aristotles’s Ethics, Hg. A. O. Rorty, Univ. Calif Press, 1980.
Theodor Ebert, Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles, in:
Zeitschrift für philosophische Forschung, 30, 1976, S. 12 – 30.
Anselm Winfried Müller, Praktische und technische Teleologie. Ein aristotelischer Beitrag zur
Handlungstheorie, in: H. Poser, Philosophische Probleme der Handlungstheorie, Freiburg/München
1982, S. 37 – 70.
Aristotelisch inspirierten Handlunsauffasungen
H. Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Piper, München 1967
H. Arendt, What is Freedom?, in: Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought, Penguin
Books, S. 143 – 17
M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 1993
M. Heidegger, sein Kommentar zum VI. Buch der Nikomachischen Ethik, in: Platon: Sophistes, GA 19,
Frankfurt 1992, S. 48 – 57, 135 – 171 (Vorlesung aus dem Wintersemester 1924/1925).
R. Bubner, Ansätze zu einem philosophischen Handlungsbegriff, in: Handlung, Sprache und Vernunft.
Grundbegriffe praktischer Philosophie, Frankfurt 1976
F. Kaulbach, Verschiedene Handlungstypen und ihre philosophischen Begriffe: Handlung als Praxis und als
Bewirken, in: Einführung in die Philosophie des Handelns, Darmstadt 1982
Die hermenetische Philosophie und Praxisbegriff
Hans-Georg Gadamer, Aristoteles. Nikomachische Ethik VI, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von H-G
Gadamer, Frankfurt 1998.
Hans-Georg Gadamer, Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles, in: Gesammelte Werke, Bd. I, Hermeneutik
I - Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, S. 317 – 330.
Gadamer, Die Idee der ‘praktischen Philosophie‘, in: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles,
Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 217ff.
Gadamer, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, in : Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 175 –
188.
P. Ricoeur, Soi-même comme un autre, Seuil, Paris 1990, 7te Untersuchung.
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