1. Einleitung

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1. Einleitung
Wie werden Erinnerung und Gedächtnis in einem literarischen Text
thematisiert, repräsentiert und verbildlicht? Die vorliegende Arbeit will sich im
Folgenden der Beantwortung dieser Frage am Beispiel von Christa Wolfs
Kassandra annähern, deren Erstausgabe im Frühjahr des Jahres 1983 im
Luchterhand Verlag, Darmstadt, erschien. 1 Die als ‚Erzählung’ untertitelte
Variante der klassischen Mythos-Vorlage befasst sich mit dem Leben der
gleichnamigen trojanischen Königstochter und Priesterin in Form eines
Erinnerungsmonologs der Titelfigur. Angesichts des nahen und sicheren
Todes – „Der nahe Tod mobilisiert noch mal das ganze Leben.“2 – wird in
einem atemlosen Selbstgespräch „der Prozeß des Erinnerns selbst, mit
seinen Präferenzen und Automatismen, seinen Irritationen und Widerständen
thematisiert […].“
3
Im Fokus der Untersuchung soll jene angedeutete
Annäherung an die Literatur erfolgen, die diesen Prozess des Erinnerns um
den Aspekt des Gedächtnisses erweitert und anhand von Textstellen zu
fassen versucht.4
Zeitgleich mit der Kassandra-Erstausgabe erschienen Voraussetzungen
einer Erzählung: Kassandra – Frankfurter Poetik-Vorlesungen 5 , die die
Autorin Christa Wolf ein Jahr zuvor an der Universität Frankfurt/Main
gehalten hatte.6 Sie dokumentieren Wolfs eingehende Beschäftigung mit der
griechischen Mythologie sowohl im Hinblick auf den mythologischen Stoff
rund um die Gestalt der Kassandra als auch den äußeren Rahmen ihres
Schicksals, die Geschichte und den Untergang der Stadt Troja. Im Kontext
dieser „archäologischen Erinnerungsarbeit“ 7 rezipiert Wolf die tradierten
literarischen
Überlieferungen
klassisch-antiker
Schreiber – Aischylos,
In der vorliegenden Arbeit wird nach der folgenden Ausgabe – mit dem Kürzel ‚Kassandra’
– zitiert: Wolf, Christa: Kassandra. Hrsg. v. Sonja Hilzinger. Frankfurt a.M. 2008.
2 Kassandra, S. 87.
3 Nicolai, Rose: Christa Wolf, Kassandra. Interpretationen. München 2008, S. 12f..
4 Um dem transdiziplinären Charakter des Untersuchungsgegenstandes Erinnerung und
Gedächtnis gerecht zu werden, basieren weiterführende Überlegungen zu diesem Thema in
weiten Teilen auch auf kulturwissenschaftlichen Perspektiven.
5 Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra – Frankfurter PoetikVorlesungen. Darmstadt 1983.
6 Als unverzichtbare Quelle zum Entstehungskontext der Lektüre waren die Vorlesungen
eine wichtige theoretische Grundlage der vorliegenden Arbeit.
7 Gutjahr, Ortrud: „‚Erinnerte Zukunft’. Gedächtnisrekonstruktion und Subjektkonstitution im
Werk Christa Wolfs.“ In: Mauser, Wolfram (Hrsg.): Erinnerte Zukunft. 11 Studien zum Werk
Christa Wolfs. Würzburg 1985, S. 54.
1
3
Euripedes, Homer – die noch heute maßgeblich Einfluss auf das
zeitgenössisches Bild der mythologischen Figur nehmen. All dem, was im
kulturellen Gedächtnis über Kassandra überliefert ist, stellt sie eine
Psychologisierung und Historisierung im Sinne einer ‚Entmythologisierung’
der Kassandra entgegen. 8 Um diesem Anspruch gerecht zu werden, setzt
sich Christa Wolfs Kassandra-Figur aus verschieden Bausteinen zusammen,
welche
als
Ergebnis
eines
quellenkritischen
bzw.
mythenkritischen
Verfahrens im Hinblick auf die Mythosdeutung gelesen werden können: „Für
Christa Wolf gibt es zumindest zwei ‚Geschichten’: die der Männer und die
der Frauen“9, heißt es bei Stefanie Risse. Und weiter: „Mythos ist immer die
Vielfalt an Möglichkeiten, immer Polymythie.“10 Auch Sigrid Weigel spricht in
diesem Zusammenhang über einen Konflikt „‚von weiblicher Körperwahrheit
und männlichem Verdikt’“. 11 An die primäre Fragestellung dieser Arbeit
anknüpfend,
soll
auch
die
Kassandras
Erinnerungsmonolog
zugrundeliegende Idee etwas aus weiblicher Perspektive zu überliefern,
herausgearbeitet und in einen
Kontrast zu tradierten Formen der
Geschichtsschreibung gestellt werden.
Um
dem
formulierten
Anspruch
gerecht
zu
werden,
sieht
die
Vorgehensweise im ersten Schritt die Skizze einer möglichen Erzählanalyse
als einleitendes Moment vor. Die erinnerten Stationen Kassandras
Biographie sollen im Hinblick auf die Funktionsweise von Erinnerung und
Gedächtnis aufgeschlüsselt werden und gleichzeitig einen Überblick der
Werksstruktur vermitteln. Wie bereits angedeutet, soll dabei der Frage nach
Wolfs literarischer Repräsentation von Gedächtnis und Erinnerung anhand
konkreter Textstellen nachgegangen werden. Daran wird sich eine
Diskussion
anschließen,
über
in
die
die
Inszenierung
Überlegungen
einer
zu
kollektiven
Kassandras
Überlieferung
Sprachreflexion
eingebettet werden sollen.
8
Vgl. Nickel-Bacon, Irmgard: Schmerz der Subjektwerdung. Ambivalenzen und
Widersprüche in Christa Wolfs utopischer Novellistik. Tübingen 2001, S. 257.
9 Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung ‚Kassandra’.
Pfaffenweiler 1986, S.107.
10 Ebenda, S. 106.
11 Weigel, Sigrid: Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur.
Dülmen-Hiddingsel 1994, S. 60.
4
2. Zur Organisation von Kassandras Erinnerungen
Kassandras innerer Monolog setzt mir ihrer Ankunft am Löwentor in Mykene
ein: Angesichts ihres nahenden Todes beschäftigt sich die Protagonistin mit
ihren Erinnerungen an den „Vorkrieg“ 12 . Die Entstehung und die wahren
Bedingungen des Trojanischen Kriegs markiert sie dabei anhand von
Stationen ihrer eigenen Biographie: Im „autobiographischen Gestus“13 gilt es
demnach (sich) auch an das eigene Leben zu erinnern, ein Vermächtnis für
die Nachwelt zu hinterlassen und darüberhinaus dafür Sorge zu tragen, dass
nachfolgende Generationen die grausame Kriegserfahrung in ihrem eigenen
Gedächtnis wahren: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann
beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen.
In Ton, in Stein eingraben, überliefern.“14
Die erzählerische Organisation der Erinnerungen ihres ‚autobiographischen
Gedächtnisses’
unterscheidet
dabei
zwischen
der
sich
erinnernden
Erzählerin Kassandra und der erinnerten und erzählten Figur.15 Die äußere,
gegenwärtige Handlung beschränkt sich jedoch auf kurze Referenzen und
Einschübe zwischen dem deutlich überwiegenden Teil der Bewusstseinsund Erinnerungsarbeit.16 Die Schilderungen Kassandras orientieren sich – im
Gegensatz zu historischen Überlieferungen – demnach nicht an der
tatsächlichen Chronologie der Kriegsereignisse. Nicolai stellt treffend fest,
„daß temporale Fixierungen, soweit überhaupt vorhanden, durch die
Biographie Kassandras bestimmt werden.“17
Erinnerungsarbeit ist an ein lebendiges Bewusstsein verknüpft, welches sich
„sich generell ‚im Zeichen des Abgelaufenen’ [entwickelt]“18 wie es bei Aleida
Assmann über den retrospektiven Charakter von Erinnerungen heißt. Dieser
Tatsache wird die Erzählung hinsichtlich der sprachlichen Ausgestaltung
12
Kassandra, S. 88.
Vgl. Loster-Schneider, Gudrun: „‚Den Mythos lesen lernen ist ein Abenteuer’: Christa
Wolfs Erzählung ‚Kassandra’ im Spannungsverhältnis von Feminismus und Mythenkritik.“ In:
Laufhütte, Hartmut (Hrsg.): Literaturgeschichte als Profession. Festschrift für Dietrich Jöns.
Tübingen 1993, S. 385-404, hier S. 402.
14 Kassandra, S. 88.
15 Vgl. Nickel-Bacon 2001, S. 221.
16 Vgl. ebenda, S. 224.
17 Nicolai 2008, S.10.
18 Assmann, Aleida: : Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen
Gedächtnisses. 4. Aufl. München, S. 11.
13
5
gerecht, die sich an den folgenden reflektierenden Worten Kassandras
orientiert:
Für alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache. Die
Gegenwartssprache ist auf Wörter für diese düstere Festung eingeschrumpft.
Die Zukunftssprache hat für mich nur diesen einen Satz: Ich werde heute
noch erschlagen werden.19
2.1 Zur Kommunikation von Erinnerungen
Neben der Verwendung von Vergangenheitssprache, die Erinnerungen als
solche unmissverständlich ausweist, tritt der Einsatz von Stilmitteln, die
ihrerseits eine Verbindung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigen
schaffen.20 Um Erinnerung zu kommunizieren, bedarf es der Heranziehung
von
Bildern:
Metaphern
haben
eine
konstitutive
Funktion
für
die
Versprachlichung von Erinnerung. In der Vergangenheitssprache schildert
Kassandra zunächst Ereignisse jüngster Zeit wie die Überfahrt nach
Griechenland21 und das Ende Trojas.22 Dann tastet sie sich weiter zurück,
macht eine „Schmerzprobe23“ und begibt sich Stufe für Stufe in die tieferen,
verborgenen Schichten ihrer Erinnerungen:
Wenn ich mich heute an dem Faden meines Lebens zurücktaste, der in mir
aufgerollt ist; en Krieg überspringe, ein schwarzer Block; langsam,
sehnsuchtsvoll in die Vorkriegsjahre zurückgelange; die Zeit als Priesterin, ein
weißer Block; weiter zurück: das Mädchen […]. 24
Der immer stärker werdende Druck einer Sinnfindung und –stiftung, der mit
dem Ablauf ihrer Lebenszeit einhergeht, wirkt sich wie ein Katalysator auf die
Qualität und den Fluss der Erinnerungen aus. Mit den Worten „Die Zeit wird
knapp. Was muß ich noch wissen.“25 wird Kassandra sich dessen gewahr.
Durch kurze Impulse, elliptische, aneinander gereihte Sätze und die
ungewöhnliche Verwendung von Interjektionen, wird dieser Eindruck des
Zeitdrucks auf formaler Ebene bestätigt. Die für Kassandra charakteristische
Verdopplung
von
Wörtern
und
Satzgliedern
erzeugt
zudem
eine
19
Kassandra, S. 21.
Vgl. Nicolai 2008, S. 98-102.
21 Vgl. Kassandra, S. 7f..
22 Vgl. Ebenda, S. 8f..
23 Ebenda, S. 10.
24 Ebenda, S. 30.
25 Ebenda, S. 127.
20
6
„Emotionalisierung“ 26 , die Authentizität und den Charakter einer „OriginalErinnerung“27 schafft. Es handelt sich um die Artikulation eines episodischen
Gedächtnisses, welches auf Kassandras persönlichen Erlebnissen und
Erfahrungen aufbaut. Jan Assmann differenziert in diesem Zusammenhang
ein visuelles szenisches sowie ein sprachlich organisiertes narratives
Gedächtnis.28 Das Erstere charakterisiert er als „sinnfern und inkohärent“29 –
Bilder und Szenen mit emotionaler Prägnanz 30 leiten diese – im Sinne
Prousts – unwillkürliche Erinnerungen. Beim narrativen Gedächtnis treten
zum rein emotionalen Moment noch interpretative Faktoren hinzu 31: Inhaltlich
lässt Kassandras Monolog – anfänglich noch wirren Charakters – im
weiteren
Verlauf
deutlicher
eine
der
Vergangenheitsrekonstruktion
sinnhafte
Struktur
erkennen.
dagegen
immer
Fragmentarische
Erinnerungsbruchstücke, isolierte Szenen und Episoden der Kindheit und
Jugend (=‚Vorkrieg’), weichen dem in chronologischer Reihenfolge erzählten
Kriegsgeschehen.32
Wie ein roter Faden durchzieht dabei eine auffällige Sprachrhythmisierung in
Kombination
mit
Versfüßen
und
Wiederholungen
Kassandras
Erinnerungsmonolog. Nicolai spricht in diesem Zusammenhang von einem
„jambischen Phatos“33, welcher in Verbindung mit Wiederholungen von Reizoder Schlüsselwörtern einen gewichtigen Bestandteil der Erinnerungsprosa
darstellen. 34 Ein solches – erweitert um den häufigen Gebrauch von
Anaphern – lässt sich mit den von Kassandra vorgeschlagenen alternativen
Gedächtniskonzepten
im
Sinne
von
„mündlich-matrilinearen“
35
Überlieferungstraditionen erklären, die im Folgenden näher thematisiert
werden.
3. Gedächtniskonzepte der Kassandra
26
Nicolai 2008, S. 95.
Wolf, Christa: Kindheitsmuster. Hrsg. v. Sonja Hilzinger. Frankfurt a.M 2007, S. 14.
28 Vgl. Assmann, Jan: Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. 2.
Aufl. München 2004. S. 12.
29 Ebenda, S. 12.
30 Die Wirkung der Affekte wird im nachfolgenden Kapitel noch näher thematisiert.
31 Vgl. Assmann 2004, S. 12.
32 Vgl. Nicolai 2008, S. 9-21.
33 Ebenda, S. 96.
34 Vgl. ebenda, S. 94ff..
35 Loster-Schneider 1993, S. 402.
27
7
Mit den Worten „Ich mache die Schmerzprobe. Wie der Arzt, um zu prüfen,
ob es abgestorben ist, ein Glied ansticht, so stech ich mein Gedächtnis an“36
beginnt Kassandra ihre Gedächtnisarbeit. Im Folgenden wird die Frage nach
der
Beschaffenheit
dieses
Gedächtnisses
fokussiert.
Angelehnt
an
Überlegungen Sigrid Weigels zur Differenz zwischen der theoretischen und
literarischen Diskussion zur Erinnerungs- und Gedächtnisthematik, soll
zunächst in die Kategorie des Körpergedächtnisses im Kontext der
Erzählung eingeführt werden.37
3.1 Der Körper als Gedächtnismedium
Der „Körper als Wahrnehmungs- und Ausdrucksorgan und als Gedächtnis“38
wird bei Sigrid Weigel als ein Leitmotiv in der Literatur Christa Wolfs
diagnostiziert. Kulturtheoretisch wird u.a. in der Freud’schen Traumdeutung
von
1900
auf
Rückkoppelungsprozesse
psychischen Vorgängen hingewiesen.
39
zwischen
physischen
und
Sie münden in körperlicher
Artikulationen und Symptomen, die bei Nietzsche unter dem Begriff
‚Narbenschrift’
40
und
bei
Aleida
Assmann
unter
den
Namen
‚Körperschriften’41 diskutiert werden. Kassandra, die mithilfe ihrer Sehergabe
zukünftige Ereignisse durch genaues hinsehen zu deuten weiß, versteht
darüberhinaus auch die Signale ihres eigenen Leibes zu interpretieren, wenn
sie über den Körper als Zeichenträger reflektiert: „Wie jedem Menschen gab
mir der Körper Zeichen; anders als andere war ich nicht imstande, die
Zeichen zu übergehen.“ Angsterfüllt fragt sie sich – des mächtigen Einflusses
ihres Körpers bewusst – angesichts ihres nahenden Tode: „Wird der Körper
die Herrschaft über mein Denken übernehmen.“ 42 Die Seherin Kassandra
begreift in diesem Zusammenhang ihr Körpergedächtnis als eine andere
Form des Sehens.43
36
Kassandra, S. 10.
Vgl. Weigel 1994, S. 11.
38 Ebenda, S. 58.
39 S. Freud, Sigmund: „Die Traumdeutung“. In: Ders: Studienausgabe Bd. 3. Frankfurt a.M.
1982.
40 Nietzsche, Friedrich: „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“. In: Nietsche,
Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. v. Giorgio
Colli und Mazziano Montinari. Bd. 5. 3. Aufl. München 1993, S. 245-412.
41 Assmann 2009, S. 241-269.
42 Kassandra, S. 26.
43 Ebenda, S. 79.
37
8
Der Körper als Medium der Erinnerung und „Ort der Einschreibung
kulturellen Wissens“ 44 hat einen großen Stellenwert im Kontext der von
Kassandra implizierten alternativen Gedächtnisformen, mit denen sie in der
utopischen Frauengemeinschaft am Ida-Berg in Berührung kommt:
Oft aber, eigentlich am meisten, redeten wir über die, die nach uns kämen.
Wie sie wären. Ob sie uns noch kennten. Ob sie, was wir versäumt,
nachholen würden, was wir falsch gemacht, verbessern. Wir zerbrachen uns
die Köpfe, wie wir ihnen eine Botschaft hinterlassen könnten, doch wir waren
der Schrift nicht mächtig. Wir ritzen Tiere, Menschen, uns, in Felsenhöhlen,
die wir, eh die Griechen kamen, fest verschlossen. Wir drückten unsere
Hände nebeneinander in den weichen Ton. Das nannten wir, und lachten
dabei, uns verewigen.45
Diese außerhalb von Schrifttraditionen stehenden weiblichen Körperzeichen
und Gedächtnisformen – geschaffen durch Reden und Erzählen sowie durch
die Tätigkeit der Hände – bestehen neben einem ‚unterbewussteren’, auf
Emotionen begründetem Gedächtnis, welches im nächsten Kapitel skizziert
werden soll. Zuvor jedoch gilt es jedoch noch auf ein weiteres Konzept vom
menschlichen Körper als Zeichenträger hinzuweisen, namentlich die
Vorstellung von einem ‚vom Leben gezeichneten Körper’. So ist Kassandras
Erinnerung an ihre Schwester Polyxena durch eine Körperschrift lebendig
geblieben: „Als wäre sie wirklich, sehe ich jeden Zug ihres Gesichts vor mir,
indem das Unglück eingeschrieben stand […].“46
Auf die Umschreibung durch Metaphern des sich Verewigen durch
Einschreiben, Einbrennen und Einätzen, greift Kassandra einige weitere
Male im Bezug auf die Veränderung ihres Bruders Paris - „[…] welche
Schärfe hatte seine einst weichen Züge geätzt“ 47 – und auf ihre eigene
Abschiedserfahrung mit Aineias – „Der Bogen, den er [der Schlangenring]
blitzend in der Sonne beschrieb, ist mir ins Herz gebrannt.“48 – zurück.
3.2 „Ich habe ein Angst-Gedächtnis. Ein Gefühls-Gedächtnis.“49
Öhlschläger, Claudia/ Wiens, Birgit: „Körper – Gender – Schrift. Eine Einleitung. In:
Öhlschläger/ Claudia/ Wiens, Birgit (Hrsg.): Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als
Medium kultureller Erinnerung. Berlin 1997, S.9-22, hier S. 10.
45 Kassandra, S. 171f..
46 Ebenda, S. 138.
47 Ebenda, S. 89.
48 Ebenda, S. 103.
49 Ebenda, S. 138.
44
9
Mit diesem Geständnis gegenüber Aineias unternimmt Kassandra den
Versuch eine weitere Form ihres Gedächtnisses in Worte zu fassen. Ein
solches Gedächtniskonzept eines Angst- bzw. Gefühls-Gedächtnisses lässt
sich mit Assmanns individuellem Affekt-Gedächtnis vergleichen, welches
sich vom semantischen, Fakten speichernden Gedächtnis unterscheidet, da
es an persönliche Erfahrungen und subjektive Eindrücke geknüpft ist. 50
Derartige Erinnerungsprozesse verlaufen weitgehend spontan, sich an
psychischen
Mechanismen orientierend:
Erinnerungsstabilisatoren
Lebenserinnerungen
oder
Ihre
Affekte,
unauflöslich
Einprägsamkeit steuern
die
mit
verschmelzen.
individuellen
51
Intensive
Sinneswahrnehmungen und Gefühle wie Betroffenheit, Angst, Trauer,
Schmerz etc. gelten auch bei Stefanie Risse als Prämisse für bedeutsame,
denk- und merkwürdige Ereignisse.52 Besonders die (Todes-)Angst bildet die
allen Erinnerungen des gleichnamigen Gedächtnisses zugrundeliegende
‚Schlüssel-Emotion’ der Kassandra. Ihre Intensität ist nicht statisch – „Wenn
die Angst abebbt, wie eben jetzt, fällt mir Fernliegendes ein.“53 – und stets
das entscheidende „Mittel der Reflexion“54.
Welche Erinnerungen affektiert werden und welche nicht, entzieht sich
jedoch
dem
Einfluss
eines
Individuums.
55
Die
von
Assmann
als
Erinnerungsstabilisatoren 56 charakterisierten Empfindungen bestimmen –
auch jenseits der charakteristischen Angstempfindung – eine Mehrzahl der
Erinnerungen von Kassandra: Sie ruft sich vielerorts nicht bloß Fakten ins
Gedächtnis, sondern erinnert sich an Atmosphären, die „sich in ihrer eigenen
körperlichen und seelischen Reaktion niederschlugen.“57 Diese können – wie
die Erinnerung an ihren Bruder Hektor: „Immer, wenn ich an Hektor denke,
fühle ich die Kante Mauerkante meinen Rücken hinunter, an die ich mich
preßte, und rieche Pferdedung, vermischt mit Erde.“ 58 – einerseits positiv
konnotiert und auf der anderen Seite aber auch mit negativen Erfahrungen
50
Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen,
Fragestellungen. 3. Aufl. Berlin 2011, S. 184ff.
51 Assmann 2009, S. 251f..
52 Vgl. Risse 1986, S. 96f..
53 Kassandra, S. 19.
54 Risse 1986, S. 100.
55 Assmann 2009, S. 251f..
56 Vgl. ebenda, S. 249ff.
57 Risse 1986, S. 97.
58 Kassandra, S. 145.
10
verknüpft
sein.
In
diesem
Zusammenhang
erscheint
Kassandras
atmosphärische Erinnerung an die entwürdigende Entjungferungszeremonie
vor ihrer Priesterinnenweihe exemplarisch:
Die Zypresse, unter der ich saß, könnte ich noch bezeichnen, falls die
Griechen sie nicht angezündet haben, die Form der Wolken könnte ich
beschreiben, sie kamen vom Hellespont in lockerem Zug. […] Es gibt diese
sehr albernen Wörter, ich kann mich mit ihnen nicht mehr aufhalten. Ich denke
einfach an den Geruch von Oliven und Tamarisken.59
Die in dieser Erinnerungsepisode implizierte Sprachskepsis Kassandras soll
an späterer Stelle näher thematisiert werden, aber stellt darüberhinaus auch
ein Indiz für die Problematik, ein individuelles Affekt-Gedächtnis in Worte
auszuformulieren, dar. Kassandra wird mit dieser Schwierigkeit ein weiteres
Mal konfrontiert, wenn sie über die Artikulation ihrer Körperwahrnehmung
stolpert: „Worte. Alles, was ich von jener Erfahrung mitzuteilen suchte, war
und ist Umschreibung. Für das, was aus mir sprach, haben wir keine
Namen.“60
Denn erneut sind es die an die Namen gebundenen Empfindungen, die die
entscheidendere Rolle bei Rückholung von Erinnerungen spielen. Kassandra
reflektiert bewusst über die Bedeutung von Affekten für das menschliche
Gedächtnis, welche in beide Richtungen – etwa in Richtung Liebe und Hass
– wirken können: „Aineias, das blieb ein glühender Punkt in meinem Inneren,
sein Name ein scharfer Stich […]“61 sowie:
Er fehlt mir doch, mein praller saftiger Haß. Ein Name könnte ihn wecken,
aber ich laß den Namen jetzt noch ungedacht. […] Wenn ich ihn ausbrennen
könnte aus unseren Köpfen – ich hätte nicht umsonst gelebt. Achill.62
Die Unmöglichkeit diesen Namen aus dem kollektiven und kulturellen
Gedächtnis zu tilgen, fußt auf einer weiterführenden Kritik an der
praktizierten (männlichen) Geschichtsschreibung und somit an gängigen
historischen Gedächtnismodellen.
4. Zur Kassandras Überlieferungsskepsis
59
Ebenda, S. 24.
Kassandra, S. 139.
61 Ebenda, S. 27.
62 Ebenda, S. 15.
60
11
Zu den Themen, die innerhalb der Kassandra-Erzählung Christa Wolfs auf
der Meta-Ebene diskutiert werden, gehört neben der politischen und
wirtschaftliche
Dimension
des
grundlegenden
Gesellschafts-
Trojanischen
und
Zeitkritik
Krieges
auch
eine
sowie
Kritik
der
an
Überlieferungsformen, die in einigen angeführten Äußerungen Kassandras
bereits angeklungen ist. Schon der einleitend skizzierte Ansatz Christa Wolfs
der Historisierung der mythologischen Kassandra-Gestalt steht in einem
Spannungsverhältnis zum Umgang des männlichen Dichters Aischylos mit
der weiblichen Figur der Kassandra 63 : Die „tendenzielle Nebenfigur der
mythologischen Tradition [wird] zur Hauptfigur“64 modelliert. Einem solchen
Verfahren liegt ein kritisches Hinterfragen der Inszenierung und Schaffung
kollektiver Überlieferung zugrunde, welche bei der Vermittlung einer
kollektiven Identität der Gefahr unterliegt, anfällig für politische Formen der
Erinnerung zu sein.65
Innerhalb der Erzählung selbst werden weitere Aspekte des kulturellen
Gedächtnisses
angezweifelt.
Die
Zweifel
manifestieren
sich
einer
fundamentalen Kritik am kollektiven Gedächtnis und der (subjektiven)
Geschichtsschreibung, die ihrerseits auf Legendenschaffung als Mittel zum
Zweck zurückgreifen: „Was in der Nacht geschah, die Griechen werden es
erzählen, auf ihre Art.“66 Auch im Bezug auf die Heldwerdung des Aineias ist
sich Kassandra bewusst, dass sie dagegen nichts ausrichten kann: Alles,
was ein Subjekt ist, ist es durch Erzählungen – „Gegen eine Zeit, die Helden
braucht, richten wir nichts aus […].“67
Die diesen Überlegungen implizierte Alternativform der Überlieferung ist die
weibliche Sicht einer Trojanerin bzw. einer Frau auf Seiten der Unterlegenen,
die als Zeugin um die Grausamkeit und Gewalt des Krieges zu berichten
weiß. An früherer Stelle konnte der Körper als Konstrukt und Resultat
kultureller Prozesse der Sinnstiftung bereits herausgearbeitet werden. Ein
63
Zur Unterscheidung männlicher und weiblicher Erinnerungsmodi aus historischer
Perspektive s. Öhlschläger, Claudia: „Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur.“ In: Erll,
Astrid/ Nüninger, Ansgar (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin/ New
York 2005, S. 238-242. Und: Loster-Schneider, Gudrun: „‚Den Mythos lesen lernen ist ein
Abenteuer’: Christa Wolfs Erzählung ‚Kassandra’ im Spannungsverhältnis von Feminismus
und Mythenkritik.“ In: Laufhütte, Hartmut (Hrsg.): Literaturgeschichte als Profession.
Festschrift für Dietrich Jöns. Tübingen 1993, S. 385-404.
64 Loster-Schneider 1993, S. 394.
65 Assmann 2011, S. 188f..
66 Kassandra, S. 177.
67 Ebenda, S. 179.
12
derartiges Erfahrungsgedächtnis von Zeitzeugen ist auf eine Übersetzung ins
kulturelle Gedächtnis angewiesen, um nicht auf ewig verloren zu gehen. 68 In
einer Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Geschichtskonzepte und
Überlieferungsmethoden – männlicher Schreiber vs. weibliche Erzählerin –
wird von Kassandra eine orale Geschichtstradition favorisiert:
Schick mir einen Schreiber, oder, besser noch, eine junge Sklavin mit
scharfen Gedächtnis und kraftvoller Stimme. Verfüge, daß sie, was sie von
mir hört, ihrer Tochter weitersagen darf. Die wieder ihrer Tochter, und so fort.
So daß neben dem Strom der Heldenlieder dies winzge Rinnsal, mühsam,
jene fernen, vielleicht glücklicheren Menschen, die einst leben werden, auch
erreichte.69
Sigrid Weigel verweist in diesem Zusammenhang auf Gerhard Neumann 70,
der die weiblichen Stimme – im Sinne eines Körperzeichens – in einen
Kontrast zur männlichen, vom Körper unabhängigen Schrift stellt 71 und
dieser
eine
Wahrheitsfähigkeit
zuschreibt.
72
Kassandras
erinnernde
Selbstreflexion knüpft an diese Vorstellung und Metapher der weiblichen
Stimme an: „Mit meiner Stimme reden: Das Äußerste. Mehr, anders hab ich
nicht gewollt.“73
Diese von Kassandra beschriebene Form der Überlieferung kommt der Idee
des kommunikativen Gedächtnisses nahe. Es handelt sich um eine Art
‚Generationengedächtnis’, welches zwischen Epochen und Generationen
durch Alltagsinteraktionen vermittelt und dafür sorgt, dass der Dialog durch
Verlust
eines
Wissensfundus
nicht
unterbrochen
diagnostiziert in diesem Zusammenhang
kulturellen,
epochenübergreifenden
kommunikativen
[…]
Gedächtnis
74
Assmann
„eine Parallele zwischen dem
Gedächtnis
der
wird.
mündlich
[…]
und
dem
weitergegebenen
Erinnerungen.“ 75 Kassandras Anliegen ist demnach eine ‚verlebendigte’
Darstellung des Kriegsverlaufs durch mündliche Überlieferung unter der
68
Vgl. Assmann 2009, S. 15.
Kassandra, S. 107.
70 S. Neumann, Gerhard: „Die Archäologie der weiblichen Stimme.“ In: Mauser, Wolfgang
(Hrsg.): Erinnerte Zukunft. 11 Studien zum Werk Christa Wolfs. Würzburg 1985, S. 233-264.
71 Assmann verweist in diesem Zusammenhang auf eine geschlechtsspezifische Implikation,
wenn sie das Schreibgerät – das Instrument der männlichen Schreiber – als männlich
konnotiert identifiziert: Vgl. Assmann, 2009 S. 153.
72 Vgl. Weigel 1994, S. 60f..
73 Kassandra, S. 8.
74 Vgl. Assmann 2009. S. 13.
75 Ebenda.
69
13
Prämisse einer sinnlichen Geschichtstradition 76 . Der Leser sieht sich als
Folge dessen unweigerlicher einem reflektierenden Vorgang ausgeliefert,
welcher die „schriftlich-patrilinearen“77 überlieferte Geschichtsschreibung im
Prozess einer „Demontage der männlichen Helden“78 infrage stellt.79
Die Geschichtsschreibung vollzieht sich im Hinblick auf die Wahl ihrer
Überlieferungsmedien und der mit diesen korrespondierenden Konzepten
vom Gedächtnis selektiv.80 Diese Annahme soll exemplarisch anhand einer
Textstelle verdeutlicht werden: „Die Täfelchen der Schreiber, die in Trojas
Feuer härteten, überliefern die Buchführung des Palastes […]. Für Schmerz,
Glück, Liebe gibt es keine Zeichen.“81
Dennoch: Obgleich Kassandra Mündlichkeit präferiert, verwirft sie das Modell
der Schriftlichkeit nicht in Gänze.82 Vielmehr könnte dieses als Hinweis auf
eine grundlegende Skepsis im Hinblick auf das ‚männliche Wort’ gelesen
werden: Kassandra unterstellt selbst ihrem Bruder Helenos und dem
würdigen Poseidon-Priester Laokoon „leeres Geschwätz“ 83 und entlarvt sie
als „Münder derer, welche sie bestellten.“ 84 Hier zeigt sich erneut, dass
Kassandra, die von Apollon die Sehergabe erhielt, Dinge und Zeichen
(kritisch) zu deuten versteht. Diese Fähigkeit spiegelt sich auch in ihrer
kritischen Haltung gegenüber der sprachliche Prägung und der „ihre
Gesellschaft steuernden Sprachmacht“ wider.85
4.1 Zur Kritischen Sprachreflexion der Kassandra
Zwar kann sich Kassandra in ihrer sakralen Position als Priesterin des
Apollon des Wortes bzw. der Sprache – als essentielles Instrument innerhalb
Auf Basis von Hören, Weitersagen und –erzählen.
Loster-Schneider 1993, S. 402.
78 Nickel-Bacon 2001, S. 214.
79 Z.B. Achilles, der Griechenheld vs. Achill das Vieh. – S. Hilzinger, Sonja: Christa Wolf.
Stuttgart 1986. Besonders S. 132.
80 Vgl. Assmann 2009, S. 155-178.
81 Kassandra, S. 103
82 Demnach lassen sich Mündlichkeit und Schriftlichkeit als zwei zentrale Medien des
kulturellen Gedächtnisses im Bezug auf ihre Funktion des Aufbaus kultureller
Strukturzusammenhänge grundsätzlich als gleichwertig deuten.
83 Kassandra, S. 117.
84 Kassandra, S. 117.
85 Roebling, Irmgard: „‚Hier spricht keiner mehr meine Sprache, der nicht mit mir stirbt.’ Zum
Ort der Sprachreflexion in Christa Wolfs Kassandra.“. In: Mauser, Wolfgang (Hrsg.):
Erinnerte Zukunft. 11 Studien zum Werk Christa Wolfs. Würzburg 1985, S. 233-264, hier S.
208f..
76
77
14
eines solchen Amtes – nicht entziehen, doch entwickelt sie mit der Zeit ein
feines Gespür für Sprache in allen Dimensionen und somit auch für ihre
verklärende Macht. Mit dem ‚Vorkrieg’ setzt eine neue sprachliche Ära ein
und Eumelos („Bei uns trug sie den Namen Eumelos.“86) wird zum Symbol87
der
damit
einhergehenden
manipulativen
Sprachregelungen.
88
Verschleiernde Prozesse und „Gerüchte“89 kennzeichnen dabei alle Phasen
des Krieges: Bereits Kassandras „erste Erinnerung“ 90 an das ERSTE
SCHIFF ist ein Produkt der Geschichtsscheiber, die es „nachträglich aus
dem halbwegs mißglücktem Unternehmen großmäulig“91 geformt haben. Und
als das Ende des Krieges in greifbarer Nähe scheint, wird weiterhin auf
Legendenbildung und sprachliche Verschleierungen zurückgegriffen: „Und
Priamos hatte einen neuen Titel: ‚Unser mächtiger König’. Später, je
aussichtloser der Krieg wurde, mußte man ihn ‚Unser allermächtigster König’
nennen.[…] Was man lange genug gesagt hat, glaubt man am Ende.“92
Kassandras kritisches Hinterfragen führt zu einer generellen Entfernung und
Entfremdung, die sich auch auf sprachlicher Ebene manifestiert.93 Die Folge
dieser Distanziertheit ist, dass Versprachlichung als wesentliche Prämisse
individueller Erinnerungen94 im Bezug auf Kassandras Gedächtniskonzepte
zu scheitern droht. Worte scheinen hinsichtlich der Artikulation ihres Körper-,
Affekt- und Gefühlsgedächtnisses nicht mehr ausreichend zu sein. „Rasend
schnell die Abfolge der Bilder in meinem müden Kopf, die Worte können sie
nicht einholen“
95
: Da Worte kollektiv-kulturell funktionieren und keine
individuellen Konstrukte darstellen, genügen sie vielerorts nicht, um
Kassandras subjektive Sicht treffend einzufangen. Da auch Schrift, dem
Muster von Sprache als solche folgt, speichern beide „anders als die Bilder,
die sprachunabhängige Eindrücke und Erfahrungen festhalten.“96
86
Kassandra, S. 101.
Vgl. Assmann 2009, S. 255ff..
88 Kassandra, S. 73ff..
89 Exemplarisch: Vgl. Ebenda, S. 39.
90 Ebenda, S. 44.
91 Kassandra, S. 45.
92 Ebenda, S. 86.
93 Vgl. ebenda, S. 71.
94 Erinnerungen werden durch Kommunikation sozialisiert und stabilisiert. - Vgl. Assmann
2009, S. 250.
95 Kassandra, S. 60.
96 Assmann 2009, S. 20.
87
15
Ein solches Ergebnis leitet zu den bereits herausgearbeiteten alternativen
Gedächtnis- und Ausdrucksmöglichkeiten zurück, welche die Scheidewand
verbaler Kommunikation
zu durchbrechen vermögen:
Im Falle von
Kassandras Gefühls- und Angstgedächtnis fungiert der „Körper als
Sprache“97 mit dessen Hilfe „etwas zur Sprache kommt, das im Medium der
Worte gerade nicht artikulierbar ist.“98
5. Fazit
Die vorliegende Arbeit hat sich die Frage nach der Thematisierung von
Gedächtnis und Erinnerung in Christa Wolfs Kassandra gestellt. Die
gleichnamige Protagonistin setzt sich in den letzten Momenten ihres bald
endenden Lebens mit ihrer individuellen Lebensgeschichte auseinander, die
parallel zur historischen Entwicklung des trojanischen Krieges rekonstruiert
und reflektiert wird. Es ist ein Sich-Erinnern und Zu-Sich-Selbst-Finden unter
dem
gewaltigen
Druck
der
Todesangst:
Angst
und
Schmerz
als
Erinnerungsstabilisatoren spielen eine elementare Rolle im Hinblick auf
zentrale Erinnerungsstationen persönlicher wie auch politischer Art.
Die Analyse der Erzählung legte dabei nahe, dass die Lektüre von Christa
Wolfs Kassandra eine Vielzahl von Diskussionssträngen eröffnet, die sich im
Erinnerungsmonolog der Kassandra manifestieren und in dem formalen und
inhaltlich vorgegebenen Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend dargestellt
werden konnten. Neben der Infragestellung des Glaubens und der Religion
sowie der Skepsis bezüglich der eigenen Sehergabe, wird ein Hinterfragen
der
historischen
Überlieferung
–
gepaart
mit
einer
grundlegenden
Sprachskepsis – durch alternative Gedächtnisformen thematisiert. Die ersten
beiden Aspekte, d.h. die Bedeutung von Erinnerung hinsichtlich Kassandras
Identitätsbildung
und
–findung
konnten
innerhalb
der
formulierten
Fragestellung keine ausführliche Erwähnung finden. Doch konnte im Bezug
auf das Zuletztgenannte herausgearbeitet werden, dass Kassandra ein
97
98
Weigel 1994, S. 59.
Ebenda.
16
Körpergedächtnis, ein Gefühlsgedächtnis sowie ein Affektgedächtnis als
Alternativen zum kommunikativen Gedächtnis der Griechen impliziert. Die
von Christa Wolf in den Vorlesungen konzipierte Titelfigur erscheint in ihrer
Neufassung des Mythos als zentrale Gestalt in einem historisch-lebendigen
und psychologisch nachvollziehbaren Profil.
Abschließend bleibt Folgendes ausblickend festzuhalten: Christa Wolfs
Kassandra ist nicht zuletzt auch ein Beitrag zum kulturellen Gedächtnis im
Sinne Jan Assmanns 99 , welches sich in Texten, Bildern, Vorstellungen,
Redensarten, Riten, Praktiken etc. als kulturelles Erbe formiert. Bei der
Lektüre, die eine Rezeption der antiken Mythen betreibt, wird der Leser an
Stoffe des kulturellen Gedächtnisses – namentlich an den Troja-Krieg sowie
die mythologische Figur der Kassandra – erinnert. Jede Literatur ist an sich
eine Gedächtnisform mit der Grundvoraussetzung ‚Erinnern’. Besonders
kanonisierte Texte sind dazu prädestiniert, wenn ein Kanon all das umfasst,
„was erinnernswert ist“.100
Doch letztlich verfügt jeder literarische Text über ein Gedächtnis, welches
wiederum in der Literatur thematisiert wird: Literatur erinnert sowie reflektiert
das Erinnern zugleich und erfüllt somit zwei essentielle Bedingungen der
Erinnerung
selbst.
101
Und
obwohl
lediglich
‚Original-Erinnerungen’
Kassandras innerhalb der Erzählung thematisiert werden und sich in diesem
Werk Christa Wolfs keine direkten intertextuellen Verweise auffinden lassen,
lässt sich jeder Text – mit Julia Kristeva – als Absorption und Transformation
eines anderen Textes verstehen.
102
Im Verfahren der Fiktion können
bestehenden Mustern des kulturellen Gedächtnisses, neue, alternative
Wahrnehmungskriterien gegenübergestellt werden, die zu einer Erweiterung
des kulturellen Gedächtnisses beitragen können. In Übereinstimmung mit
Gudrun Loster-Schneider lautet das abschließende Fazit dieser Arbeit, dass
in der Figur und gleichnamigen Erzählung Kassandra „Erfahrungen,
Erkenntnismodi, Wirklichkeitsperspektiven zu Wort kommen, die im offiziellen
99
Exemplarisch s. Assmann 2004.
Gudehus, Christian/ Eichenberg, Ariana und Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und
Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010, S. 191.
101 Vgl. ebenda, S. 194.
102 S. Kristeva, Julia: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman.“ In: Ihwe, Jens (Hrsg.):
Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1972, S. 345-375.
100
17
kulturellen Gedächtnis vergessen sind, weil sie in den historischen
Entwicklungsprozessen zur Verliererseite gehören.“103
Ein solches gelingt Christa Wolf mit einer weiteren weiblichen Gestalt der
griechischen Tragödie in ihrem Roman Medea.Stimmen von 1996.
103
Loster-Schneider 1993, S. 394.
18
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