Vorlesung4.WS.2016-17 - Prof. Dr. Kazimierz Rynkiewicz

Werbung
Prof. Dr. Kazimierz Rynkiewicz
Die epistemische Koexistenz
von Theorie und Wissen
- aus wissenschaftstheoretischer Perspektive
Vorlesung
Ludwig-Maximilians-Universität München
WS 2016/17
2
3
VORLESUNG 4
(09.11.2016)
4.1.4. Kant und die idealistische Phase
4.1.4.1. Kant und Wissenschaftstheorie zweiter Stufe
4.1.4.1.1. Kritische Überlegungen
4.1.4.2. Fichte und Wissenschaftslehre
4.1.4.3. Hegels wissenschaftstheoretische Leistung
4.1.4.4. Die neukantianische Bewegung
4.2. Die moderne Entstehungsphase der Wissenschaftstheorie
4.2.1. Die Ursprünge der Wissenschaftstheorie
Kant und Wissenschaftstheorie zweiter Stufe
In seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten“ fordert Kant (1724-1804), dass es
bei den Wissenschaften nicht auf Nützlichkeit, sondern auf Wahrheit ankommen
sollte. Bei der Suche nach Wahrheit ist die philosophische Fakultät überlegen
u.a. der theologischen, juristischen und medizinischen Fakultät. Wenn man
herausfinden will, welche Gründe dafür sprechen, dann ist man ganz schnell
fündig vor allem in der „Kritik der reinen Vernunft“, dem Hauptwerk Kants.
Das Resultat der in diesem Werk durchgeführten Analysen kann man ohne
weiteres als „transzendentale Methode“ bezeichnen; sie ist nicht nur aus
epistemischer, sondern auch aus wissenschaftstheoretischer Sicht bedeutsam.
Anders formuliert: Die transzendentale Methode erweist sich als nützlich
sowohl für die Erkenntnistheorie als auch für die Wissenschaftstheorie (WT).
Wenn uns also die transzendentale Methode zur Verfügung steht, können wir sie
auch für die Zwecke der WT gebrauchen, um dann die Frage nach dem „Wiedes-Wissens“ zu beantworten: Wissen kommt auf dem transzendentalen Weg
zustande.
Nachdem Kant durch die Anregungen Humes aus dem „Schlaf der vorkritischen
Periode erweckt“ wurde, begann er den kritischen transzendentalen Weg zu
4
gehen. Wollen wir diesen Weg Kants bündig auf den Punkt bringen, dann heißt
das: Die Überwindung des Rationalismus und Empirismus. Dazu behauptet
Kant: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“
(vgl. KrV B 74f.).
Auf dieser Grundlage kommt es erst dann zu der sogenannten
„kopernikanischen Wende“, deren Folge der Übergang von einer
Seinsmetaphysik zu einer Erkenntnismetaphysik ist: Nicht unsere Erkenntnis
richtet sich nach Gegenständen, sondern umgekehrt die Gegenstände nach
unseren Erkenntnismöglichkeiten. Das Subjekt stellt den Gegenständen die
Bedingungen und entwirft seinen apriorischen Denkgesetzen gemäß
Naturgesetze. Nach Kant wird ferner der Gegenstand nicht vom einzelnen
Subjekt mit seinen Zufälligkeiten bestimmt, sondern von einem
transzendentalen Subjekt, d.h. einem Subjekt, dessen apriorische Anschauungsund Denkformen für alle gleich uns denkenden Wesen geltendes Gesetz sind
(vgl. KrV B XIIIf.).
Kants erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Überlegungen sind mit seiner
Kritik an der Metaphysik aufs engste verbunden. Unter Metaphysik versteht er
eine philosophische Disziplin, die es mit den Gegenständen zu tun hat, die nicht
in der Erfahrung gegeben sind, d.h. mit den Begriffen „a priori“, denen keine
sinnliche Erfahrung entspricht (vgl. KrV B XIXf.). Kant fragt, ob Metaphysik
als Wissenschaft überhaupt möglich ist (vgl. KrV B 22). Und er beantwortet
diese Frage folgendermaßen: Die Metaphysik ist nicht möglich als
Transzendenzphilosophie, d.h. als eine Disziplin, die sich mit Gott, der Seele
und der Welt (konkret: der menschlichen Freiheit) befasst. Sie ist aber möglich
als Transzendentalphilosophie, d.h. als eine Disziplin, die sich mit der
apriorischen Struktur der menschlichen Vernunft befasst, also mit den
Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis (vgl. KrV B XIXf, 6f.). Kant
erläutert den Begriff „transzendental“ wie folgt:
„Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit
Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnis von Gegenständen, insofern
diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“ (KrV B 25).
Zum Entstehen des empirischen Gegenstandes sind also nach Kant sowohl die
sinnliche Anschauung als auch die apriorischen Formen notwendig, die das
Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung gestalten.
5
Die Aufgabe der Transzendentalphilosophie besteht darin, das System der
apriorischen Formen, das die Bedingung unserer Erfahrungswelt ist,
aufzuweisen. Und dieses apriorische System beinhaltet zwei prinzipielle
Komponenten:
(1) die Strukturen a priori der sinnlichen Wahrnehmung (Raum, Zeit), und
(2) die Strukturen a priori des menschlichen Verstandes (Kategorien) (vgl. KrV
B 33f., 93f.).
Die richtige Anwendung der Kategorien auf die sinnlichen Anschauungen wird
durch die Urteilskraft gesichert.
In dem Kontext wird nun klar, dass für die Wissenschaftstheorie vor allem zwei
kantische Begriffspaare relevant sind, die man auch als Kriterien der
Wissenschaftlichkeit bezeichnen kann:
(1) Das Begriffspaar „Apriori-Aposteriori“ – kann man terminologisch und
erkenntnistheoretisch betrachten. Während die terminologische Betrachtung die
auf Aristoteles zurückgehende Differenzierung von Beweisführungen betont
(Apriori – der Beweis vom Früheren auf Wirkungen; Aposteriori – der Beweis
vom Späteren auf Ursachen), bestimmt die erkenntnistheoretische Betrachtung
die Herkunft (vorempirisch oder empirisch) und die Geltungsweise (universal
oder nicht) von Erkenntnis.
Kant interessiert sich ausschließlich für die erkenntnistheoretische Betrachtung.
Demnach besagen diese Begriffe Folgendes: Apriori – unabhängig von der
Erfahrung; Aposteriori – hängt von der Erfahrung ab. Innerhalb des Apriori
unterscheidet Kant weiter zwischen dem relativen Apriori (wer z.B. das
Fundament seines Hauses untergrabe, wisse, dass das Haus einfallen werde) und
dem reinen Apriori (wo die Erfahrungsunabhängigkeit auf den Prinzipien von
Notwendigkeit und Allgemeinheit beruhe) (vgl. KrV B 2f.); und
(2) das Begriffspaar „synthetisch-analytisch“ – bestimmt die Legitimation und
das Innovationspotential von Erkenntnis und tritt in der Verbindung mit Urteilen
auf. So gibt es nach Kant analytische Urteile (d.h. Erläuterungsurteile), z.B.
„Jeder Schimmel ist weiß“ oder „Jeder Junggeselle ist unverheiratet“, und
synthetische Urteile (d.h. Erweiterungsurteile), z.B. „Dieses Wasser enthält
Bakterien“. Synthetisch heißen also alle Urteile, deren Wahrheit sich mit Hilfe
logischer Gesetze und sprachlicher Bedeutungsregeln allein nicht entscheiden
lässt. Im Unterschied zu den analytischen Urteilen enthalten sie das eigentliche
Innovationspotential (vgl. KrV B 11f.).
Auch wenn Kant den empirischen Faktor neben dem rationalistischen beim
Zustandekommen von Erkennen generell für notwendig hält, zählt er doch das
(empirische) Experiment nicht zu den Elementen, die als synthetisches Apriori
6
die Erkenntnis konstituieren. Herausgefordert durch skeptische Einwände, sucht
Kant den der Wissenschaftspraxis innewohnenden Anspruch auf Wahrheit zu
rechtfertigen. Wohl wissend, dass die Philosophie auf ihrem eigenen Gebiet
unersetzbar ist, hingegen gewiss den kürzeren Weg geht, wenn sie den
Wissenschaften unter dem Mantel des Apriorischen Vorschriften macht,
entwickelt er eine Wissenschaftstheorie zweiter Stufe, die zwar auf das
Selbstverständnis der Wissenschaften, aber kaum auf ihre Praxis zurückwirkt.
Kritische Überlegungen zu Kant
Kants Wissenschaftstheorie zweiter Stufe ist also in zwei oben geklärten
Begriffspaaren „a priori – a posteriori“ und „synthetisch – analytisch“ fundiert.
In den letzten Jahrzehnten wurden jedoch gegen diese kantischen Begriffe einige
Einwände formuliert. Hier sollen zwei Einwände kurz angeführt werden: von
Saul Kripke und W.V.O. Quine.
Kripke
Der Einwand von Kripke wurzelt in seiner Bedeutungstheorie von Eigennamen
und richtet sich gegen die etwa von Frege und Russell vertretene These, die
Bedeutung eines Eigennamens wie „Moses“ werde durch Beschreibungen
gegeben: „die Person, die die Juden aus Ägypten führte“. Dieser These stellt
Kripke eine kausale Bedeutungstheorie entgegen: Zunächst findet, entweder in
Form einer Beschreibung oder durch Hinzeigen, eine Taufe des Gegenstandes
statt, dann wird aber der Name in einer Kommunikationskette, also kausal
vermittelt weitergegeben, wobei die ursprüngliche Taufe des Gegenstandes
belanglos wird und nur die kausal vermittelte Beziehung zwischen den
Ausdrücken und den bezeichneten Gegenständen entscheidend ist.
Kripkes neue Semantik, die Theorie kausaler Referenz, hat zweifelsohne
beachtenswerte urteilstheoretische Folgen. Während man vorher die Bedeutung
von Eigennamen als (analytische) Festlegung ansah, gelten jetzt Namen als
starre Bezeichnungsausdrücke, die in allen möglichen Welten denselben
Gegenstand bezeichnen. Infolge dessen ist die Wahrheit von Identitätsaussagen
wie „Der Abendstern ist der Morgenstern“ empirisch zu entdecken, so dass die
Aussagen notwendig wahr und trotzdem nur über die Erfahrung wißbar sind. Im
Gegensatz zu Kant soll es also notwendig wahre und trotzdem nur a posteriori
gültige Aussagen geben, darüber hinaus auch kontingent wahre und trotzdem a
priori gültige Aussagen wie z.B. die Definitionen der Längeneinheit „1 m“
durch das Urmeter in Paris.
(vgl. Kripke, S., Naming and Necessity, Oxford 1980)
7
Quine
Der Einwand von Quine bezieht sich hingegen auf Kants Bestimmungen des
Begriffspaars „analytisch – synthetisch“. Nach Quine sind diese Bestimmungen
nicht genau genug und deshalb problematisch. In seiner Schrift „Word and
Object“ sieht er darum keine empirische Möglichkeit, analytische gegen
synthetische Sätze abzugrenzen, und schließt daraus, zwischen beiden bestehe
nur ein komparativer, aber kein wesentlicher Unterschied.
Diese Behauptung ist für den logischen Empirismus folgenreich. Inspiriert durch
den amerikanischen Pragmatismus, löst Quine einen Teil des Empirismus von
innen heraus auf. Sobald sich nämlich analytische von synthetischen Sätzen nur
noch komparativ unterscheiden, lässt sich die vorher vertretene Arbeitsteilung
(d.h. der Dualismus eines der Philosophie vorbehaltenen logisch-begrifflichen
Wissens, und eines den Wissenschaften aufgegebenen empirisch-faktischen
Wissens) nicht mehr aufrechterhalten. Folgerichtig plädiert Quine für einen
„semantischen Aufstieg“, der die bisherige Arbeitsteilung zugunsten eines
„Gradualismus“ auflöst. In ihm bilden die Wissenschaften und die Philosophie
zusammen ein Netz von Aussagen, dessen Zentrum Logik und dessen Rand die
Beobachtungssätze bilden, während der empirische Gehalt sich über das ganze
Netz verteile. Im Prinzip seien dabei alle Sätze revidierbar, eine Änderung der
Sätze im Zentrum erfordert aber einen weit größeren Aufwand als eine der Sätze
am Rand.
(vgl. Quine, W.V.O., Word and Object, Cambridge 1960)
Fichte und Wissenschaftslehre
Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) will den Zwiespalt der theoretischen und
der praktischen Vernunft bei Kant überwinden. Dabei befürwortet er den von
Kant erklärten Primat der praktischen Vernunft. Das stellt den Kontext dar, in
dem Fichte seinen Beitrag zur Wissenschaftstheorie leistet. Dabei gebraucht er
den Begriff „Wissenschaftslehre“ und versteht darunter die transzendentale
Grundwissenschaft, die das abdecken soll, was bisher Philosophie oder
Metaphysik hieß. Wissenschaftslehre (WL) ist die Wissenschaft von Wissen
überhaupt: Wissen des Wissens.
Fichte geht davon aus, dass jede Wissenschaft einen Grundsatz habe, den sie
voraussetzen muss, aber selbst nicht begründen kann. Die WL hat die
Grundsätze aller Wissenschaften zu begründen, also die Grundlage aller
Wissenschaften zu liefern, sich selbst aber von ihrem ersten Grundsatz her zu
begründen, der keines Beweises fähig, sondern unmittelbar gewiss ist. Dieser
erste Grundsatz ist als Grund alles Wissens und aller Gewissheit in allem
Wissen enthalten und vorausgesetzt.
8
In seiner WL stellt Fichte drei Grundsätze auf, die allem Wissen zugrunde
liegen, und von denen alle weiteren Grundsätze des Wissens (GW) abgeleitet
werden müssen:
(1) der unbedingte GW – lautet „Das Ich setzt sich schlechthin selbst“. Wenn
immer ich um einen Gegenstand weiß oder ihn - wie auch immer - im
Bewusstsein setze, so setze ich unbedingt mich selbst - das eigene Ich - voraus:
Ich weiß, dass ich weiß, dass ich will oder handle. Jede Setzung des
gegenständlichen Inhalts setzt die Selbstsetzung des Ich voraus. Dieses Wissen
liegt jedem Bewusstsein zugrunde;
(2) der seinem Gehalt nach bedingte GW – bildet die Antithese zum ersten GW:
„Das Ich setzt sich schlechthin ein Nicht-Ich entgegen“. Im Bewusstsein finden
wir also nicht nur ein reines Ich vor, sondern auch ein Nicht-Ich, ein Anderes,
den Gegenstand. Wir finden ihn aber im Bewusstsein immer als etwas vom Ich
Gewusstes, als Gegenstand meines Wissens, d.h. als einen im Bewusstsein des
Ich gesetzten und dem Ich entgegengesetzten Inhalt. Damit wird eine
ursprüngliche Notwendigkeit hervorgehoben, um den Widerspruch zu
vermeiden: Ich ist nicht Nicht-Ich, sondern setzt sich das Nicht-Ich als anderes
entgegen; und
(3) der seiner Form nach bedingte GW – ermöglicht eine Synthese zwischen der
These und Antithese, d.h. zwischen den zwei obigen GW. Es geht darum, dass
die Setzung des Ich und die Entgegensetzung des Nicht-Ich widerspruchlos zur
Einheit gebracht werden. Diese Einheit ist jedoch durch eine teilweise Negation
oder Beschränkung charakterisiert. Das Ich wird beschränkt durch das Nicht-Ich
und umgekehrt. Durch die Entgegensetzung ist das eine am anderen begrenzt
und wird durch das andere bestimmt.
Der dritte GW besteht aus zwei Teilen: (a) dem Grundsatz der praktischen WL:
Im Wollen und Handeln bestimmt das Ich sein Nicht-Ich; und (b) dem
Grundsatz der theoretischen WL: Erkennen oder Wissen ist die Bestimmung des
Ich durch das Nicht-Ich.
Es ist leicht erkennbar, dass Fichtes Wissenschaftslehre in der Aktivität des Ich,
bzw. des Subjekts fundiert ist. Diese Aktivität lässt sich aber dann genauer
erklären, wenn die Begriffe „Bewusstsein“ und „Vermittlung“ herangezogen
werden, die man auch als Prinzipien verstehen kann.
So ergibt sich das Bewusstseinsprinzip, das besagt, dass wenn ich etwas erkenne,
denke oder mir vorstelle, es schon als Inhalt meines Bewusstseins gesetzt ist.
Mit dem Bewusstseinsprinzip ist das Vermittlungsprinzip aufs engste verbunden.
Das bedeutet, dass das Absolute im Anderen und durch das Andere hindurch
„vermitteln“ muss, um im Wissen um dieses Andere zu sich selbst zu kommen,
d.h. Selbstbewusstsein zu gewinnen.
9
Hegels wissenschaftstheoretische Leistung
Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), der für einen der
umstrittensten und schwierigsten Philosophen gehalten wird, bekommt das von
Fichte als idealistisch eingeführte Modell „These-Antithese-Synthese“ eine ganz
neue Dimension, und zwar aufgrund der dialektischen Bewegung, bzw.
Dynamik. Während bei Kant Subjekt und Objekt der Erkenntnis zwei
verschiedene, getrennte Bereiche der Welt sind und bei Fichte das absolute
Subjekt sich im Objekt systematisch präsentiert, kommt es bei Hegel hingegen
zu einer dynamischen Entwicklung.
In seiner Schrift „Phänomenologie des Geistes“ lesen wir:
„Dieses wahrhafte Wesen der Dinge hat sich […] so bestimmt, dass es nicht
unmittelbar für das Bewusstsein ist, sondern dass dieses ein mittelbares
Verhältnis zu dem Innern hat, und als Verstand durch diese Mitte des Spiels
der Kräfte in den wahren Hintergrund der Dinge blickt. […] Dieses Spiel der
Kräfte ist daher das entwickelte Negative, aber die Wahrheit desselben ist das
Positive, nämlich das Allgemeine, der an sich seiende Gegenstand. Das Sein
desselben für das Bewusstsein ist vermittelt durch die Bewegung der
Erscheinung, worin das Sein der Wahrnehmung […] überhaupt nur negative
Bedeutung hat […]“ (vgl. S. 87-88)
Dieses Zitat betont die Relevanz der dialektischen Bewegung, die sich
(bekanntlich) in drei Schritten abspielt: These-Antithese-Synthese.
Der Ausgangspunkt ist die einfache Erfahrung, die unmittelbare sinnliche
Gewissheit des Bewusstseins. Das Bewusstsein ist aber das unmittelbare Dasein
des Geistes und weist zwei wesentliche Momente auf: Das Moment des Wissens
und das der Negation des Wissens.
Indem der Geist diese beiden entgegengesetzten Momente schöpferisch
interpretiert und vermittelt, kann er sich selbst entfalten. Jeder erreichte
Standpunkt (=These) muss also im Prozess der Vermittlung in seiner
bestimmten Negation (=Antithesis) dialektisch als beschränkt und vorläufig
erwiesen und in einem höheren Standpunkt (=Synthesis: Negation der Negation)
aufgehoben werden.
Diese dialektische Bewegung zeigt einerseits, dass Hegel die Wirklichkeit als
dynamischen widersprüchlichen Prozess (bzw. als das „Zu-Sich-Kommen“ der
Wirklichkeit) betrachtet, dessen Teile sich gegenseitig bedingen und bestimmen,
andererseits ermöglicht sie dem Geist die Selbstverwirklichung in den
verschiedenen Gestalten: subjektiver, objektiver und absoluter Geist.
So erscheint der subjektive Geist in seinem individuellen Charakter und geht
über drei Stufen hindurch: die Seele, das Bewusstsein, den Geist.
Die Gesellschaft, der Staat, die Geschichte, die Institutionen usf., wo Recht,
Moralität und Sittlichkeit sichtbar werden, sind also Stationen der
epistemologischen Entwicklung des objektiven Geistes.
10
Die Synthese des subjektiven und des objektiven Geistes führt dann zum
Entstehen des absoluten Geistes, der auch drei Stationen durchschreitet: die
Kunst, die Religion und die Philosophie.
Die Philosophie Hegels, die im Gedanken des absoluten Geistes aufgeht, will
nun klar machen, dass die absolute Idee in ihrem Anderssein sich als Geist weiß,
dass sie in ihren Objektivierungen (als objektiver Geist) zugleich bei sich (als
subjektiver Geist) ist.
Die neukantianische Bewegung
Kants Philosophie wurde einerseits durch die gedanklichen Strömungen des
Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) verdrängt, zum anderen durch
die Entfaltung des Positivismus (Comte), des Materialismus (Büchner, Vogt),
der atheistischen Religionskritik (Feuerbach) und des dialektischen
Materialismus (Marx, Engels). All diese Bewegungen führten jedoch Mitte des
19. Jahrhunderts zu einem philosophischen Tiefstand. Die Folge davon war die
Erhebung des Rufes „Zurück zu Kant!“.
So erscheint Ende des 19. Jahrhunderts die philosophische Denkrichtung des
Neukantianismus. Trotz sachlicher Vielfältigkeit, wie wir dies unten sehen
werden, gilt im Allgemeinen die These Kants über die Unmöglichkeit der
Metaphysik.
Wenn es aber keine Metaphysik gibt, so stellt sich die Frage: Welche Aufgabe
hat dann noch die Philosophie, nachdem die empirischen Gegenstandsbereiche
von den Einzelwissenschaften übernommen worden sind? Und die Antwort
lautet: Die Philosophie hat keinen eigenen Sachbereich, ihre Aufgabe liegt auf
dem
Gebiet
der
„Wissenschaftstheorie“,
d.h.
sie
besteht
in
erkenntnistheoretischer und methodologischer Reflexion der positiven
Wissenschaften. Je nachdem, worauf sich diese Reflexion bezieht, so kann man
zwischen zwei grundlegenden Schulen des Neukantianismus differenzieren: (1)
der Marburger Schule, und (2) der Badischen Schule.
Die Marburger Schule befasst sich mit einer Theorie der exakten
Naturwissenschaften. Ihre Hauptvertreter sind Herman Cohen (1842-1918) als
deren Begründer und Paul Natorp (1854-1924). Cohen versteht die Kritik Kants
als Theorie der Erfahrung und entwickelt ein eigenes System der Logik, Ethik
und Ästhetik. Ausgehend von Kant entwickelt er nun eine Theorie der
mathematischen Naturwissenschaften, welche auf einem „logischen
Idealismus“ beruht: Es ist ein Idealismus, insofern er das Ding an sich
ausschalten will; dabei soll die transzendentale Konstitution der mathematischnaturwissenschaftlichen Erkenntnis erforscht werden, und zwar ohne von außen
11
stammendes Empfindungsmaterial. Es geht also nicht um die Erkenntnis
konkreter Einzelobjekte, sondern allein um die allgemeinen formalen
Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis. Der logische Idealismus wird auch
von Paul Natorp vertreten, er deutet die Ideenlehre Platons als rein logisches
Apriori des Denkens.
Die Badische Schule greift hingegen die Geisteswissenschaften (d.h. Geschichtsund Kulturwissenschaften) auf und versucht deren Theorie herauszuarbeiten.
Als bedeutende Persönlichkeiten gelten hier vor allem Wilhelm Windelband
(1848-1915) und Heinrich Rickert (1863-1936).
Im Kontext der Geisteswissenschaften vollzieht Windelband eine
wissenschaftstheoretisch
relevante
Unterscheidung
zwischen:
(1)
verallgemeinernden bzw. nomothetischen Wissenschaften – die allgemeine
Gesetze erstellen; und (2) individualisierenden bzw. ideographischen
Wissenschaften – die suchen, das Einzelne zu beschreiben.
Auf dieser Grundlage bemüht sich dann Rickert einen methodologischen
Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herauszuarbeiten.
Seine These lautet: Die Natur ist durch Gesetze zu erklären, die Geschichte und
die geschichtliche Kultur aus Werten zu verstehen.
So vollzieht sich im Rahmen der Badischen Schule der Übergang zur
Wertproblematik – geprägt durch die Fragestellung: Wenn die Erkenntnis auf
bloße Feststellung empirischer Fakten beschränkt ist, kann daraus keine sittliche
Verbindlichkeit folgen; wenn wir aber sittlich handeln sollen, woher stammen
die Inhalte sittlicher Verpflichtung? Woher stammen Werte?
Deshalb kann man auch mit Recht fragen, wie der Neukantianismus die WT bei
der Bewältigung dieser Aufgabe eventuell unterstützen könnte. Hier scheinen
drei Begriffe behilflich zu sein: Symbol, Geltung und Relativierung der
Methode. Als objektive Wissenschaft benötigt die WT nur überzeugende und
klare Symbole. Diese können aber effizienter erstellt werden, wenn man auch
die neukantianischen Anregungen mit einbezieht.
Darüber hinaus ist zu betonen, dass die wissenschaftstheoretischen Symbole
(ähnlich wie Werte) problemlos zu gelten haben, damit die WT ihre Aufgabe
absolut erfüllen kann. Symbole, welche als fragwürdig erscheinen, können kaum
etwas zum Erfolg der WT beitragen.
Es kann sein, dass einige Symbole nur für eine bestimmte Methode gelten
können, für eine andere aber schon nicht mehr. Diese Konstellation zieht also
die Annahme der Relativierung der Methode nach sich.
12
Die moderne Entstehungsphase der Wissenschaftstheorie
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die Wissenschaftstheorie (WT)
in ihrer modernen Form zu entfalten. Allerdings geschah es nicht in einem
einzigen Schritt, sondern auf vielen Etappen, welche meist durch bestimmte
Elemente wie Neopositivismus, Paradigmen oder Modelle gekennzeichnet sind.
Dieser Entfaltungsprozess dauert bis heute an, mit einer mehr oder weniger
plausiblen Deutlichkeit.
Zwei Dinge bleiben dabei aufrechterhalten:
(1) Zum einen wird die WT hauptsächlich begriffen als eine theoretische
Disziplin „zweiter Ordnung“ bezüglich der existierenden Wissenschaften, d.h.
als eine „Metawissenschaft“. Das bedeutet, dass der Zweck der WT letzten
Endes in der Konstruktion und Überprüfung von (metawissenschaftlichen)
Modellen zur Explikation der wesentlichen Aspekte von Begriffen, Theorien,
Methoden und intertheoretischen Beziehungen der etablierten Wissenschaften
besteht.
(2) Zum anderen gilt es zwischen der allgemeinen und der speziellen WT zu
unterscheiden, wobei die letztere als WT spezieller Wissenschaften angesehen
wird.
Die Ursprünge der Wissenschaftstheorie
Die Anfänge der Wissenschaftstheorie (WT) haben ihre Wurzeln generell in der
Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften. Als philosophische
Disziplin, deren eigenes Profil deutlich erkennbar war, konnte sich die WT erst
Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. durchsetzen. Entscheidend war dabei nicht
zuletzt die positivistische Denkweise.
Herunterladen