Konstruktivistische Gedanken bei Kant Ernst von Glasersfeld Für einen Amateur, der sich mehr für die Geschichte philosophischer Ideen als für ihre akademische Interpretation interessiert, gibt es Fragen, die in Philosophiekursen nicht erwähnt werden. Da meine Einführung in die Epistemologie ganz unkonventionell von Vico über Berkeley zu Kant führte, erwuchsen für mich zwei Fragen, die ich trotz einiger Anstrengungen in den vergangenen dreissig Jahren nicht zu beantworten imstande war. Die Fragen erwuchsen, weil ich sowohl bei Vico als auch bei Berkeley Gedanken ausgedrückt fand, die sehr gut in das Kantsche Gedankengerüst passten. Beide haben im Jahr 1710 ein Traktat über Erkenntnislehre veröffentlicht, das in krassem Widerspruch zur Überlieferung stand, da sie eben wie Kant den Zugang zu einer Welt jenseits der menschlichen Erfahrung in Frage stellten. In der englischen respektive italienischen Geisteswelt erregten beide Autoren einiges Aufsehen. Sechs Jahre später verbrachte Berkeley mehrere Monate in Neapel. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, dass er Paolo Doria, dem Vico sein Traktat gewidmet hatte, kennenlernte, doch eine Begegnung mit Vico wird nicht erwähnt. Ich finde es unglaublich, dass die beiden Autoren, deren Erkenntnistheorien eine Reihe von erstaunlichen Parallelen aufweisen, sich in Neapel nicht begegnet sind. Doch selbst das Vicoinstitut in Neapel hat keinerlei Beleg eines Treffens. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass Kant von einem der beiden beeinflusst wurde. Zu Kants Zeit, so habe ich vor Jahren gelesen, gab es nur eine sehr schlechte Übersetzung von Berkeleys Treatise;; von Vicos Traktat gab es meines Wissens keine. Das ist schade, denn die beiden Autoren hätten Kant weit mehr ermutigt als die zeitgenössischen Kommentare zu seiner Arbeit. Vico’s erkenntnistheoretische Grundthese ist: Menschen können nur das verstehen, was sie selber gemacht haben. Bei Kant heisst es “dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt...” (Kritik der reinen Vernunft, B, XIII). Hat niemand diese Parallele gesehen? Am nächsten an Kant kommt Berkeley erstaunlicherweise in seinen ersten Aufzeichnungen, die er knapp zwanzigjährig während seinem Studium am Trinity College in einem philosophischen Tagebuch machte. Da findet man mehrere Stellen, wo Raum und Zeit als mentale Konstrukte bezeichnet werden und, was ich besonders interessant finde: Beide Begriffe werden auf den Begriff von succession zurückgeführt, d.h. auf die Erfahrung, dass Erlebnisse notgedrungen eins nach dem anderen kommen, weil wir nicht zwei auf einmal haben können. Was mich stets interessierte, war aufzuzeigen, dass Kant immmer wieder Gedanken formulierte, die ganz in die konstruktivistische Denkweise passen. Im Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen schrieb er zum Beispiel: Dieser Verstand aber ist ein gänzlich actives Vermögen des Menschen; alle seine Vorstellungen und Begriffe sind bloss seine Geschöpfe, der Mensch denkt mit seinem Verstand ursprünglich, und er schafft sich also seine Welt. (Werke, Bd.VII, S.71) Im 1. Teil der Anthropologie, heisst es unter dem Titel Vom Erkenntnisvermögen: Die Wahrnehmungen der Sinne (empirische Vorstellungen mit Bewusstsein) können nur innere Erscheinungen heissen. Der Verstand, der hinzukommt und sie unter einer Regel des Denkens verbindet (Ordnung in das Mannigfaltige hineinbringt), macht allererst daraus empirisches Erkenntnis, d.i. Erfahrung. (Werke, Bd.VII, S. 144) In der konstruktivistischen Theorie entspricht das “Mannigfaltige” der Totalität der jeweils vorhandenen Signale von Sinnesorganen. Wie Kant sagt, ist es erst der Verstand, der Erscheinungen konstruiert, indem er die für bestimmte Handlungsoder Denkschemas nötigen Signale auswählt (vgl. Glasersfeld, 1996). Zusammenhang und Organisation, die durch Verbinden oder auf einander Beziehen von Dingen entstehen, sind nicht vorgegeben, sondern werden vom erlebenden Subjekt gemacht. Die Ordnung und Regelmäßigkeit an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt. (Kritik d.r.V. 1781, Werke, A, Bd.IV, S.125) Nicht nur die Dinge, mit denen wir unsere Erfahrungswelt möblieren, auch die Anderen, mit denen wir sie beleben, müssen von uns gemacht werden: Es ist offenbar: dass, wenn man sich ein denkendes Wesen vorstellen will, man sich selbst an seine Stelle setzen und also dem Objecte, welches man erwägen wollte, sein eigenes Subject unterschieben müsse. (Kritik d.r.V. 1787, Werke, A, Bd.IV. S.354) Schopenhauer hat mit Recht den Ausdruck “Ding an sich” als Kants unglücklichsten bezeichnet. Der Ausdruck hat unzählige Leser zu der Auffassung verleitet, Kants Ekenntnistheorie komme doch nicht ohne Angelpunkte in einer ontischen Realität aus. Doch Kant erklärt des öfteren, dass das Ding an sich ein "Gedankending" ist, das als "heuristische Fiktion" dient (K.d.r.V., B, S. 799). Für mich umfaßt dies jegliche Konzeption einer ontischen Realität, die in Raum und Zeit strukturiert sein soll. Die Fiktion einer solchen Realität ist jedoch für unsere sozialen Interaktionen notwendig, denn ohne sie könnten wir weder Verabredungen treffen, noch Landkarten und Kalender drucken oder hoffen, dass das, was wir sagen und schreiben von anderen annähernd so verstanden wird, wie wir es meinen. Hans Vaihinger, der 1904 die Kantgesellschaft* gründete, entwickelte aus der Idee einer fiktiven heuristischen Realität seine Philosophie des Als Ob, die mit dem Konstruktivismus weitgehend vereinbar ist. Auch sie bedarf eines aktiven Verstands, der sich Dinge, Ideen, und Situationen vorstellen kann, um sie dann als “als ob” zu betrachen. Heuristische Vorstellungen müssen gemacht werden, bevor man sie benützen kann, und was mich seit jeher interessiert, ist wie man sie macht. Wie schon oft möchte ich auch hier betonen, dass die konstruuktivistische Wissenstheorie keinen Anspruch auf “Wahrheit” erhebt. Sie ist eine Art und Weise des Denkens, deren Wert sich nur in Anwendungen ermessen lässt. ------------------ * Ich habe keine Ahnung, wie bekannt es heute in Deutschland ist, dass die Kantgesellschaft 1938 aufgelöst werden musste, aber kurz nach dem Krieg wiedergeboren wurde. Literatur Berkeley, George (1708-1709), Philosophical commentaries (also known as Commonplace Book). (See Works of George Berkeley, A.A.Luce & T.E.Jessop, Eds., 1950, vol.I.). Berkeley, George (1710), A treatise concerning the principles of human understanding. (See Works of George Berkeley, A.A.Luce & T.E.Jessop, Eds., 1950, vol.II.). Glasersfeld, Ernst von (1996), Radikaler Konstruktivismus, Ideen, Ergebnisse, Probleme. Franfurt am Main: Suhrkamp. Vaihinger, Hans (1913) Die Philosophie des Als Ob. Berlin: Reuther & Reichard, 2nd edition. (Faksimile Neudruck, Scientia Verlag, Ahlen.) Vico, Giambattista. (1710), De antiquissima Italorum sapientia. (Latin original and Italian translation by Pomodoro). Neapel: Stamperia de’Classici Latini, 1858.