Eine neue Philosophie der Neuen Musik – mit und nach Adorno

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DZPhil, Akademie Verlag, 58 (2010) 4, 647–668
BUCHKRITIK
Eine neue Philosophie der Neuen Musik – mit und nach Adorno
Von Georg Mohr (Bremen)
Albrecht Wellmer: Versuch über Musik und Sprache. Carl Hanser Verlag,
München 2009, 324 S.
In der deutschsprachigen akademischen Philosophie hat die Musikphilosophie seit Adornos
Tod – bis auf wenige Ausnahmen – so gut wie keine Rolle mehr gespielt. Die Bedeutung der
musikphilosophischen Schriften Adornos steht in einem merkwürdigen umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dem Umstand, dass sie, statt die Musikphilosophie zu einer langfristig
blühenden Disziplin zu machen, sie nahezu zum Verstummen gebracht haben. Vielleicht ist
das auch zu viel gesagt: als ob hier eine Kausalität bestünde. Aber man kann sich dieses Eindrucks tatsächlich kaum erwehren. Denn die deutsche Philosophie ist hier ein singulärer Fall.
In Frankreich, Italien, England, den USA hat es keinen vergleichbaren Bruch gegeben. Im
Gegenteil, dort finden wir eine seit Jahrzehnten wachsende Zahl an Buchpublikationen und
Fachzeitschriften-Aufsätzen von Philosophinnen und Philosophen zu musikästhetischen Fragen (inklusive solcher, die an Adorno anknüpfen). In Deutschland sind seit Jahrzehnten nur
sehr vereinzelt von Philosoph/innen musikphilosophische Monographien veröffentlicht worden. An systematischen Arbeiten sind hier vor allem zwei philosophische Dissertationen aus
den 1970er Jahren zu nennen: Rainer Cadenbachs Das musikalische Kunstwerk (Bonn 1977)
und Stephan Nachtsheims Die musikalische Reproduktion (Bonn 1978). Weitere sporadisch
erschienene deutschsprachige musikphilosophische Monographien waren autorenbezogen:
jeweils vereinzelte Studien zu den Musikphilosophien Kants, Hegels, Schleiermachers, Schopenhauers, häufiger zu Nietzsches, Blochs und Adornos Musikphilosophie sowie die wichtige
Studie von Simone Mahrenholz zu Nelson Goodmans Musikphilosophie.
R. Cadenbach, Das musikalische Kunstwerk. Grundbegriffe einer undogmatischen Musiktheorie,
Regensburg 1978; S. Nachtsheim, Die musikalische Reproduktion. Ein Beitrag zur Philosophie der
Musik, Bonn 1981.
Zu Kant siehe P. Giordanetti, Kant und die Musik, Würzburg 2005; zu Hegel vgl. A. Nowak, Hegels Musik­ästhetik, Regensburg 1971; zu Schleiermacher G. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen1981; zu Schopenhauer vgl. R. Weyers, Arthur Schopenhauers Philosophie der
Musik, Regensburg 1976; zu Nietzsche siehe etwa R. Fietz, Medienphilosophie. Musik, Sprache
und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg 1997; sowie B. Schmidt, Der ethische Aspekt der
Musik – Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‘ und die Wiener klassische Musik, Würzburg 1991; zu
Bloch vgl. zum Beispiel W. Matz, Musica humana – Versuch über Ernst Blochs Philosophie der
Musik, Frankfurt/M. 1988, zu Adorno siehe W. Gramer, Musik und Verstehen. Eine Studie zur Musikästhetik Theodor W. Adornos, Mainz 1976; L. Sziborsky, Rettung des Hoffnungslosen. Untersu-
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Es gibt bei genauerem Hinsehen Anzeichen, dass seit einigen Jahren sich Philosoph/innen
wieder vermehrt mit musikphilosophischen Fragestellungen befassen. Wir stehen vermutlich
unmittelbar vor einer Renaissance der Musikphilosophie in Deutschland. Es gibt seit 1997
die von Ludwig Holtmeier, Richard Klein und Claus Steffen Mahnkopf herausgegebene Zeitschrift Musik & Ästhetik, die ein sehr wichtiges und erfolgreiches Forum für aktuelle musikphilosophische Debatten ist. Es erscheinen von Philosoph/innen verfasste Sammelbände zur
Geschichte der Musikphilosophie und zu verschiedenen – im Einzelnen auch spezielleren –
musikphilosophischen Themen. Auf dem Essener Kongress der Deutschen Gesellschaft für
Philosophie 2008 war erstmalig die Musikphilosophie mit eigener Sektion und Kolloquium
vertreten. Und in der vorliegenden Zeitschrift erschien Ende 2009 ein Heft mit dem Schwerpunkt „Musikphilosophie“.
Bemerkenswerterweise hat Adorno aber gerade in der Musikwissenschaft (übrigens nicht
nur in der deutschen, sondern vielleicht mehr noch in der angloamerikanischen) enorme
Wirkung entfaltet. Das schlägt sich zum einen in Tagungen und Sammelbänden nieder, die
Musikwissenschaftler unter Beteiligung von Philosophen veranstalten. Zum anderen geht es
sicherlich zu einem nicht unerheblichen Teil auf Adornos Einfluss zurück, dass die Interpretation der westlichen Musik von Beethoven bis Schönberg, man könnte sagen: die musikwissenschaftliche Historiographie der Musik des europäischen späten 18. bis frühen 20. Jahrhunderts in ihren Fragestellungen, Zugangsweisen, Kontextualisierungen, Problematisierungen
und Begriffsbildungen heute in hohem Maße philosophisch motiviert und geprägt ist. Dabei
ist sie zudem speziell vom ‚Denkraum‘ der Musikphilosophie Adornos geprägt.
Nun hat der Adorno-Schüler und Preisträger des Theodor W. Adorno-Preises von 2006,
Albrecht Wellmer, die seit Jahrzehnten erste von einem Philosophen verfasste Monographie
in Buchformat zu einem zentralen musikphilosophischen Thema vorgelegt. Wellmers Versuch über Musik und Sprache ist hervorgegangen aus einer langjährigen Beschäftigung mit
sprach- und musikphilosophischen Fragen und deren Zusammenhang. In mehreren, an verstreuten Orten publizierten Beiträgen waren erste Resultate dokumentiert worden. Jetzt liegt
ein 324-seitiges Buch vor, das sprach- und musikphilosophische Begriffserörterungen mit der
Interpretation moderner musikalischer Werke verbindet.
chungen zur Ästhetik und Musikphilosophie Theodor W. Adornos, Würzburg 1994; sowie R. Klein,
Solidarität mit Metaphysik? Ein Versuch über die musikphilosophische Problematik der WagnerKritik Theo­dor W. Adornos, Würzburg 1991; zu Goodmans Musikphilosophie siehe S. Mahrenholz,
Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie [1998], 3.
Aufl., Stuttgart 2008.
M. Schramm u. S. L. Sorgner (Hg.), Musik in der antiken Philosophie. Eine Einführung, Würzburg
2009; S. L. Sorgner u. O. Fürbeth (Hg.), Musik in der deutschen Philosophie. Eine Einführung,
Stuttgart 2003.
W. Keil u. J. Arndt (Hg.), „Was du nicht hören kannst, Musik“. Zum Verhältnis von Musik und
Philosophie im 20. Jahrhundert, Hildesheim 1999; Ch. Asmuth u. F.-B. Stammkötter (Hg.), Philosophischer Gedanke und musikalischer Klang, Frankfurt/M. 1999; R. Klein u. a. (Hg.), Musik in
der Zeit – Zeit in der Musik, Weilerswist 2000; A. Becker u. M. Vogel (Hg.), Musikalischer Sinn.
Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt/M. 2007; U. Tadday (Hg.), Musik-Konzepte,
Sonderband Musikphilosophie, München 2007; G. Mohr u. J. Kreuzer (Hg.), Vom Sinn des Hörens.
Zur Philosophie der Musik, Würzburg 2010.
In meiner Einleitung zu diesem Schwerpunkt finden sich einige Hinweise auf neuere Einführungen
in die Musikphilosophie.
R. Klein u. C.-S. Mahnkopf (Hg.), Mit den Ohren denken. Adornos Philosophie der Musik, Frankfurt/M. 1998; A. Nowak, Musikalische Analyse und kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der
Musik, Tutzing 2007.
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Dass der Geist Adornos für die musikphilosophische Grundhaltung Wellmers den Orientierungsrahmen absteckt – auch wenn er Adorno keineswegs in allem folgt –, bekennt Wellmer
gleich im Vorwort: Adornos Musikphilosophie hält er für die „bedeutendste des 20. Jahrhunderts“, das Buch lasse sich „auch als Versuch verstehen, Einsichten Adornos weiterzudenken“
(8). Vor allem in den philosophischen Kapiteln, die zwei Drittel des Buches ausmachen (I.
bis IV., 9–218), ist Adorno omnipräsent, aus dessen musikalischen und musikphilosophischen
Schriften häufig und ausführlich zitiert wird.
Vorweg sei gesagt, dass es ein wichtiges Buch ist, zu einem wichtigen Thema zum richtigen Zeitpunkt. Es beeindruckt nicht nur durch die umfassende und souveräne Kenntnis
der an musikalischen Analysen und musikphilosophischen Reflexionen so reichen Schriften
Adornos, sondern auch durch eine alles andere als selbstverständliche Vertrautheit mit ‚klassischer‘ Musik von Bach bis zur gegenwärtigen Neuen Musik. Profunde musikalische Erfahrung und breite musikhistorische Bildung kommen hier zur Geltung. Nicht minder beeindruckt das Buch durch die Kompetenz im Umgang mit musikwissenschaftlicher Literatur
zur Interpretation von Musik, zumal deren Ergebnisse immer wieder bündig zurückgeführt
werden zu den musikphilosophischen Ausgangsfragen. Und schließlich ist die Lektüre auch
spannend, das Buch entwickelt einen Gedankengang, dessen Faden von Kapitel zu Kapitel
gespannt bleibt, und dies nicht zuletzt durch den im Thema angelegten ständigen Blickwechsel zwischen musikphilosophischer Begriffserörterung und konkretisierender Interpretation
musikalischer Werke.
Mit ‚fesselnder‘ Dramaturgie beginnt Wellmer gleich in der Einleitung mit einer Konfrontation von zwei Auffassungen zur Frage der „Sprachlichkeit oder Sprachähnlichkeit
von Musik“. Adorno vertrat die These, ohne ein Moment von Sprachähnlichkeit und damit
auch ohne Bezug auf Außermusikalisches müsse Musik zu einem „sinnlosen Kaleidoskop
von Klängen verkommen“ (11). Dieter Schnebel widerspricht Adorno in seinem Aufsatz von
1990 Der Ton macht die Musik oder: Wider die Versprachlichung und macht sich für die
in der seriellen und postseriellen Musik des 20. Jahrhunderts tatsächlich verfolgte Tendenz
zur „Entsprachlichung“ der Musik stark. Die zunehmende „Versprachlichung“ der Musik im
19. Jahrhundert bis hin zur ‚musikalischen Prosa‘, die für den vornehmlich auf Beethoven,
Mahler, Schönberg und Berg blickenden Adorno maßgeblich war, birgt laut Schnebel die
Gefahr einer Schwächung des genuin musikalischen Zusammenhangs. „Musikalische Form
ist für ihn die Konfiguration eines akustischen, eines klingenden Materials, für welche Kategorien wie Wiederholung und Variation, Periodizität und Abweichungen von der Periodizität,
also ein formbildendes Spiel von Identität und Differenz und nicht sprachähnliche Züge konstitutiv sind.“ (12)
Die Exposition der Fragestellung führt unversehens in die Fülle aneinander geknüpfter
und weit verzweigter Fragen der Musikphilosophie. Bei der Frage der Sprachlichkeit oder
Sprachähnlichkeit der Musik ist laut Wellmer zwischen vier Fragen zu unterscheiden, auf die
diese Frage abzielen kann (9 f.): 1) Kann Musik etwas sagen, was sich nicht anders sagen
lässt? 2) Hat Musik einen Inhalt und Sinn durch Bezug auf Außermusikalisches? Wie ist dieser zu erklären? 3) Ist Musik ein Zeichensystem, hat sie eine Syntax und Grammatik? 4) Wie
erklärt sich, dass Musik existenzielle Bedeutsamkeit für uns hat? Mit diesen Fragen sind aber
auch direkt weitere, wiederum grundlegende Fragen verknüpft: Die Frage des außermusikalischen Bezugs von Musik führt auf die Frage der Repräsentationalität oder, wie Wellmer
vorzieht zu sagen, des „Präsentationscharakters“ von Musik: Ist Musik der Darstellung von
„etwas, was nicht sie selbst ist“ (so Wellmers häufig wiederkehrende Formulierung), fähig?
Die Sprachlichkeit impliziert daher für Wellmer den „Weltbezug“ oder die „Welthaltigkeit“
von Musik. Die Frage der Expressivität der Musik wird angesprochen, wobei Wellmer das
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subjektivistische Sich-Ausdrücken des Komponisten/Interpreten in/durch Musik (Sturm und
Drang, Frühromantik) in den Hintergrund rückt zu Gunsten eines eher mit der Figurenlehre
‚objektiver‘ musikalischer Charaktere (Barock) verwandten Verständnisses.
In der analytischen Musikphilosophie wird seit dreißig Jahren versucht, die verschiedenen
musikphilosophischen Teilfragen so gut wie möglich auseinander zu halten und separat abzuhandeln. Zu jeder dieser Fragen hat sich ein begrifflich differenzierter und in Subdisziplinen
spezialisierter Forschungsbereich der Musikphilosophie etabliert. Es ist aber auch innerhalb
dieser disziplinär ausdifferenzierten musikphilosophischen Debatten nicht zu übersehen, dass
die Trennung der Fragen nach der Sprachlichkeit, der Bedeutung, der Darstellungsfunktion,
der Expressivität etc. äußerst schwierig ist, da die jeweils betroffenen Sachverhalte und Explikationsdesiderate objektiv keine absolut von einander zu trennenden sind. Die Dinge hängen
zusammen, und schon in der Exposition des Fragekontextes von Wellmers Buch wird dies
deutlich.
Von Dewey übernimmt Wellmer die These, dass der Sprachcharakter der Musik in ihrem
Weltbezug gründe. Musik sei das Hörbarmachen der „Welt als Geschichts- und Naturraum“.
Musikalisches Verstehen setzte ein Sprachvermögen seitens des hörenden Subjekts voraus,
das „immer schon interpretierend, […] ‚semantisch‘, synästhetisch hört“ (20). Alle Wahrnehmungen haben einen „latent synästhetischen Charakter“. Er ist eine wichtige, aber noch
nicht hinreichende Erklärung für das „Einschießen außermusikalischer Gehalte in die Musik“
(18).
Wellmer ergänzt diese Theorie der generellen latenten Synästhesie durch seine Theorie
der „Intermedialität aller Kunstmedien“ als „unterschiedlicher Darstellungs- und Artikulationsmedien“ (23). Ihr kommt eine heuristische Schlüsselfunktion in Wellmers Musikphilosophie zu. Der Weltbezug der Musik gründe in den „intermedialen Potentialen der Musik“
(passim). Wellmer versteht diese Theorie nicht als spezifisch musikphilosophische, sondern
als eine fundamentale sprachphilosophische Theorie. Man könnte sie ‚integrativ‘ oder ‚holis­
tisch‘ nennen. Wellmer wendet sich gegen die Reduzierung von Sprache auf verbale beziehungsweise diskursive Sprache und will in das Verständnis von Sprache „auch die Wurzeln
der musikalischen, bildnerischen oder tänzerischen Ausdrucks- und Darstellungsformen“
mit einschließen (24). In jedem Kunstmedium sind alle anderen latent präsent. „Die latente
Intermedialität der Musik ist – als die andere Seite ihres Weltbezugs – der Grund dafür, daß
auch die ‚absolute‘ Musik immer schon in einem potentiellen Verhältnis wechselseitiger
Korrespondenzen, Brechungen, Erhellungen und Ergänzungen zu den anderen Medien der
Kunst steht, insbesondere aber zur Wortsprache.“ (24) Auf Grund der Intermedialität aller
Kunstmedien können die Kunstmedien zu „‚intermedialen‘ ästhetischen Konfigurationen“
zusammentreten und in einem Verhältnis „wechselseitiger Interpretation, Ergänzung, Inspiration oder auch Subversion“ stehen. Musik ist durch die Intermedialität aller Kunstmedien
gewissermaßen ab ovo auch mit der Wortsprache verbunden. Dadurch erklärt sich Wellmer
ein Sinnproduktionspotenzial, das andernfalls unverständlich bleiben müsste: „Es ist, als ob
jede an ein bestimmtes Medium gebundene ästhetische Konfiguration einen Hohlraum in sich
enthielte, gleichsam eine innerhalb dieses Mediums nicht mehr artikulierbare Sinnschicht,
die sich nur durch das Hinzutreten eines anderen Mediums ans Licht bringen und artikulieren
ließe.“ (24)
Der Weltbezug der Musik besteht allerdings nicht als atomare Relation des einzelnen Tons
als Zeichen zum einzelnen außermusikalischen Ding oder Sachverhalt als Bezeichnetes. Die
Sprachlichkeit der Musik bezieht sich nach Wellmer auf musikalische Zusammenhänge. Diese These nun verstärkt er zu der viel weiter gehenden These, dass die Sprachlichkeit der
Musik den Verweisungscharakter des Kunstwerks als Ganzes betreffe. „Begriffe wie Aus-
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druck, Darstellung, (Re-) Präsentation oder Evokation beziehen sich dann nicht mehr auf
einzelne expressive Gehalte oder tonmalerische Effekte, sondern auf die Klangkonstellation,
als die ein Werk sich darstellt.“ (21) Diese starke These ist problematisch. Erhellend scheint
mir zwar die These, dass, wenn wir von musikalischen Werken sprechen, der intermedial
bedingte Verweisungscharakter des Musikwerks, auch reiner Instrumentalmusik, dem Werk
als musikalischem Zusammenhang in einer Klangkonstellation zugesprochen wird. Für falsch
hingegen halte ich die These, dass Musik nur im Dispositiv des Werks als Musik verstanden
wird und nur durch das Werkdispositiv ein Verweisungs- oder Präsentationspotenzial erhält.
Um Musik als ‚Präsentation eines artikulierbaren Inhalts‘ verstehen zu können, benötigt man
sicher nicht ein Musikwerk. Jedes Musikwerk ‚verweist‘, aber nicht nur Musikwerke ‚verweisen‘.
Es wäre auch ganz unplausibel, anzunehmen, dass Musik erst seit und nur insoweit wie der
Werkbegriff in der europäischen Musikkultur Leitbegriff ist, als ‚bedeutungstragend‘ erfahren würde. Es gibt Musik, die sich nicht adäquat unter den Werkbegriff fassen lässt, ohne
dass sie dadurch als Musik disqualifiziert wäre. Die Betonung sollte auf dem musikalischen
Zusammenhang liegen, nicht darauf, dass dieser einem Werkbegriff folgend hergestellt wird.
Es sollte im Interesse einer dem Phänomen Musik adäquaten Allgemeingültigkeit der Theorie
überhaupt offen bleiben, wie die Herstellung des musikalischen Zusammenhangs kulturell
normiert ist. Aber innerhalb einer Ästhetik des Musikwerks ist Wellmers Differenzierung in
einen deskriptiven, performativen und normativen Werkbegriff hilfreich. Über die Frage der
kleinsten mit musikalischem Sinn wahrnehmbaren musikalischen Einheit wird seit einigen
Jahren in der angloamerikanischen Musikphilosophie aufschlussreich debattiert.
Wellmer jedoch geht es explizit um den „im musikalischen Sprachtopos immer schon
angelegten Bezug auf ein Werk-Ganzes“, eine „im Kunstwerk ‚prozessierende‘ Polarität von
‚Ding‘ (klanglicher Konfiguration) und ‚Zeichen‘“ (23), den „in sprachlichen Interpretatio­
nen artikulierbaren Weltbezug der Instrumentalmusik“ (323). Mit einer solchen von Wellmer
intendierten Theorie kommt die seit Carl Dahlhaus’ Standardwerk zur ‚absoluten Musik‘
nicht abreißende Diskussion einen substanziellen Schritt voran. Wellmers Theorie verweist
mit der ‚latenten Intermedialität‘ der Musik auf einen fundamental-medienphilosophischen
Grund dafür, dass auch ‚absolute‘ Musik nicht rein selbstreferentiell, sondern ‚weltbezogen‘
ist, ohne dass man für die Explikation dieser These auf überholte Modelle einer Gefühls- oder
Ausdrucksästhetik zurückgreifen oder in die Turbulenzen der Programmmusik-Debatte geraten müsste.
Mit der Festlegung auf das instrumentalmusikalische Kunstwerk wird aber spätestens hier
auch schon deutlich, dass Wellmer seine Musikphilosophie primär am Paradigma der Kunstmusik des europäischen 19. Jahrhundert entwickeln möchte – auch hier in den Bahnen Adornos.
Damit stellt sich die Frage nach der musikphilosophischen Bestimmung des Begriffs vom musikalischen Kunstwerk. Wellmer widmet dieser Frage das dritte und vierte Kapitel, die zusammen das zweite Drittel des Buches ausmachen. Damit bildet diese Frage neben dem Sprachthema ganz offensichtlich das zweite zentrale Anliegen seiner Musikphilosophie. Zu Recht, denn
wenn man wie Wellmer Musik so exklusiv an den Werkbegriff bindet, stehen und fallen die
Vgl. L. Goehr, The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music,
Oxford 1992.
Vgl. J. Levinson, Music in the Moment, Ithaca 1997; P. Kivy, New Essays in Musical Understanding, Oxford 2001, 183–217; J. Levinson, Concatenationism, Architectonicism, and the Appreciation
of Music, in: Revue Internationale de Philosophie, 60 (2006), 505–514.
Vgl. insbesondere C. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik [1978], 3. Aufl., Kassel 1994.
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weiteren musikphilosophischen Überlegungen mit der zu Grunde gelegten Konzeption vom
musikalischen Kunstwerk. Hier folgt Wellmer Adornos These, das Sein des musikalischen
Kunstwerks sei sein Werden, nämlich der Prozess seiner Interpretation durch Aufführungen und
durch verbale Kommentare und Auslegungen. Das „in die Musik sich einmischende Sprechen“
(102) ist konstitutiver Teil der Musik selbst. Dabei geht Wellmer, wie man schon erwartet, von
aufgeschriebener Musik, Partituren-Musik aus. „Die Musik-Texte – Partituren – müssen aus
immer wieder neuen geschichtlichen Horizonten heraus neu gelesen, interpretiert und klanglich
realisiert werden, und in diesem Prozeß verändern sich die Texte selbst.“ (105)
Die These, dass die Texte sich verändern, klingt kontraintuitiv, ist doch alles Bemühen guter
musizierender und verbal kommentierender Interpreten darauf gerichtet, auf der Grundlage
eines gründlichen Partitur-Studiums zu arbeiten und gerade unter Bezugnahme auf denselben
Text unsere Interpretation des Textes zu verbessern (und insofern vielleicht auch das Werk).
Wir wollen eine solide Textgrundlage für unsere Auseinandersetzung mit dem Werk. Man
könnte fragen: Meint Wellmer mit ‚Text‘ vielleicht nicht ‚Partitur‘, sondern den gelesenen,
also interpretierten Text, also das Werk? Dann müsste die These lauten: Das Werk verändert
sich, dadurch nämlich, dass der Text (= die Partitur) immer wieder neu gelesen etc. wird. Wellmers Text legt nahe, dass er ‚Musik-Text‘ und ‚Partitur‘ synonym verwendet. Und aus der
Fortsetzung der zitierten Textstelle geht denn auch hervor, dass Wellmer offenbar nicht meint,
dass ‚sich die Texte selbst verändern‘: „Das Sein der Musikwerke – und der Kunstwerke überhaupt – ist daher, wie Adorno sagt, ein Werden; und in diesem Prozeß des ‚Werdens‘ der Kunstwerke spielt die Sprache in den Formen der Interpretation, des Kommentars, der Analyse und
der Kritik eine konstitutive Rolle.“ (105) Es ist also das musikalische Kunstwerk, das sich verändert. Die Pointe dieser These ist, dass in das Werk seine Analyse, Realisierung, Interpretation,
Kommentierung und damit auch verbalsprachliche Rede über das Werk als dessen Momente
in das Werk selbst eingehen, sich – wie es in der Überschrift auf Seite 102 heißt – „einmischen
in“ das Musikwerk. Die Musik wird „erst durch die sich einmischende Rede, was sie ist“, sie
ist „niemals in den Werken schon fertig da“, sondern wird „in der Interpretation im dreifachen
Sinne der klanglichen Realisierung, des Hörens und der sprachlichen Artikulation immer erst
hervorgebracht“ (120). Die Geschichte der Interpretation des Werks (eigentlich: des Textes) ist
Teil des Prozesses des Werdens des Werks. Das musikalische Kunstwerk hat eine spezifische
Ontologie: Es ist Interpretiertwerden und zeitlich-diskursive Entfaltung mit offenem Ende.
In der analytischen Musikphilosophie wird seit einigen Jahren, nicht zuletzt veranlasst
durch Nelson Goodman, eine inzwischen schon sehr ins Detail und in die Tiefe gehende
Debatte über den Begriff des musikalischen Kunstwerks geführt, an der man kaum vorbeigehen kann, wenn es darum geht, sich über die Implikationen und Konsequenzen möglicher
Konzeptionen des musikalischen Kunstwerks klar zu werden. Auch Wellmers Position wird
in mehreren Varianten (die sich aus entsprechenden weitergehenden Nuancierungen ergeben) vertreten. Man vermisst auch an dieser Stelle wieder ein gewisses Maß an diskursiver
Öffnung von Wellmers Argumentation; von besonderem Interesse wäre es zu erfahren, wie
Wellmer auf die dort bereits erörterten Schwierigkeiten einer Position wie der von ihm selbst
vertretenen reagiert.10
10
Auch hier wären insbesondere wieder Arbeiten von J. Levinson und P. Kivy sowie von S. Davies,
L. Goehr, J. Margolis, S. Predelli, A. Thomasson sowie G. Rohrbaugh zu nennen, der Kunstwerke
als „historische Individuen“ versteht. Vgl. die kurzen Überblicke in: M. E. Reicher, Einführung
in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 2005, Kap. IV: Die Ontologie des Kunstwerks; und in:
A. Kania, Philosophy of Music, in: E. N. Zalta (Hg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, Abs.
Ontology of Music, http://plato.stanford.edu/entries/music.
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Im dritten Drittel seines Buches wendet sich Wellmer zwei Komponisten zu, die in und
mit ihrem Werk sowohl die Frage der Sprachlichkeit als auch den Werkcharakter von Musik
reflektieren: John Cage und Helmut Lachenmann. Beide betreiben laut Wellmer eine „Befreiung des Klangs“, aber während Cage den Werkbegriff destruiere, bleibe Lachenmann der
„konstruktivistischen Tradition der europäischen Moderne“ treu. Diese beiden Kapitel sind
eindrucksvolle Beispiele dafür, dass und wie Philosophie das Verständnis musikalischer
Kunstwerke – zumal solcher Musikwerke, die (gewollt) unsere Hörerwartungen irritieren
und unzugänglich scheinen – überhaupt erst ermöglichen und wie weit die philosophische
Erschließung von Musik reichen kann. Dass dies bei Wellmer durch häufigen Rückgriff auf
die theoretischen Selbstkommentierungen der Komponisten geschieht, schmälert das Resultat
nicht, sondern verleiht ihm zusätzliches Gewicht.
Ich gehe auf die Musikinterpretationen nicht ein. Wellmer selbst hält sich insofern weise
zurück, als er, wie er zu Beginn des Buches ausdrücklich ankündigt, nicht selbst interpretiert,
sondern sich auf ihm überzeugend scheinende musikwissenschaftlich fundierte Interpretatio­
nen bezieht, die er als Gegenstand seiner philosophischen Überlegungen verwendet. Sicher
wäre es auch lohnend, die musikalischen Analysen und Interpretationen selbst im Einzelnen zu
diskutieren. Auch wäre die Repräsentativität der beiden von Wellmer für sein philosophisches
Programm ausgesuchten Komponisten sowie deren Bedeutung und Repräsentativität für die
Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eigens zu diskutieren. Chris­tian Grüny hat ein
Jahr vor dem Erscheinen von Wellmers Versuch ebenfalls Cage und Lachenmann zusammen
zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht.11 Vielleicht war bei Wellmers Auswahl aber
auch der Umstand nicht ganz unwichtig, dass sowohl Cage als auch Lachenmann ihr musikalisches Schaffen in theoretischen Schriften kommentiert und auch in musikphilosophische
Kontexte gestellt haben. Inhaltlich ist die Auswahl gut nachvollziehbar, da Wellmer bei diesen
Komponisten musikphilosophische Anknüpfungspunkte findet, die seinem eigenen Anliegen
entgegenkommen. Die Sprachlichkeit und Intermedialität der Musik im Sinne Wellmers wird
bei beiden thematisch, theoretisch-musikphilosophisch und praktisch-musikalisch.
Durch den stark sprachphilosophischen Zugang zur Musik in Verbindung mit der Fixierung auf die am Werkbegriff orientierte Musikpraxis der europäischen Moderne (deren
Blick – wie emanzipatorisch auch immer – stets auf die eigene Vorgeschichte gerichtet ist und
den Werkbegriff letztlich doch wieder in Werken kritisiert) ergibt sich ein philosophisches
Musikverständnis, das nur für einen kleinen Ausschnitt aus der großen und vielfältigen Realität der Musikpraktiken explikativ adäquat ist. Das zeigt sich auch an Wellmers Ontologie des
musikalischen Kunstwerks. Zwar ist die Öffnung des Werkbegriffs für einen offenen Interpretationsprozess ein wichtiger Schritt, aber die Fixierung von Musik an die durch Theoriesprache einzuholende Relation zwischen Notentext (Partitur als Norm) und Realisierung (Aufführung) blendet gerade solche musikalischen Entwicklungen der Moderne aus, die eigentlich
als Erstes zu nennen wären, wenn von „Befreiung“ die Rede sein soll: die Entwicklungen, die
unter dem Label „Jazz“ laufen. (Auch Johannes Picht wundert sich, dass in Wellmers doch
sehr grundsätzlich angelegtem Versuch „der Jazz, gewiß eine der wichtigsten Zuströmungen
der Moderne, praktisch nicht vor[kommt]“).12 In dieser Hinsicht sind auch die Bemühungen
11
Ch. Grüny, Arbeit im Feld des Musikalischen. Cage und Lachenmann als zwei Typen musikalischer
Kulturreflexion, in: D. Baecker u. a. (Hg.), Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion,
Bielefeld 2008, 221–248.
12
J. Picht, Werk-Sein durch Diskurs? Zu Albrecht Wellmers Versuch über Musik und Sprache, in:
Musik & Ästhetik, 14 (2010), 71; vgl. auch Ph. Alperson, Englischsprachige Philosophie der Musik:
Ein Blick von Irgendwo, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 57 (2009), 879–884.
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Rainer Cadenbachs um einen historisch und kulturell offenen Musikbegriff in Das musikalische Kunstwerk von 197813 moderner als die an der Moderne orientierten Ausführungen
Wellmers. Leider geht Wellmer auch auf Cadenbach überhaupt nicht ein.
Ich glaube allerdings nicht, dass Wellmers Grundbestimmungen zur Sprachlichkeit und
zum Weltbezug von Musik, zu dem in der Intermedialität der Kunstmedien begründeten
Präsentations- und Verweisungscharakter von Musik den Ausschluss anderer Musikkulturen
neben den von Wellmer selbst explizit herangezogenen erzwingen. Er thematisiert diese nur
als importierte kulturelle Gehalte, die das europäische Musikparadigma erweitern, indem sie
ihr „neue ‚Sprach‘-Potentiale zugeführt“ haben; Wellmer nennt dies den „‚Polykulturalismus‘ der Neuen Musik“ (320 f.). Es wäre aber von größtem Interesse zu sehen, ob sich die
Grundbestimmungen des ersten langen Kapitels von Wellmers Versuch nicht aufschlussreich
auf Jazz beziehen ließen. Ich vermute, dass sich Jazz mit Wellmers Intermedialitätstheorie in
einigen Fällen vielleicht sogar noch ergiebiger philosophisch kommentieren und deuten lässt
als so manches ‚klassische‘ oder ‚moderne‘ Musikwerk. Weniger offensichtlich ist, ob beziehungsweise inwieweit Wellmers Begriff des musikalischen Kunstwerks auf Jazz anzuwenden
wäre. Revidiert werden müsste die starre Theorie der Relation: Partitur = Norm / Aufführung
= Ausführung. Im Jazz ist die Beziehung zwischen dem ‚Plan‘ (meist nur eine Melodie mit
Akkorden, die zudem modifizierbar sind, oder, wie im Free Jazz, nur Impulse für Kollektiv­
improvisationen) und dem Musizieren zwar nicht notwendigerweise eine andere, und sie ist
manchmal auch keine vollständig andere als in ‚klassischer‘ Musik. Aber sie ist eben nicht auf
die von Wellmer unterstellte Konvention festzulegen.
Wellmers Überlegungen entwickeln sich, zumindest in den philosophischen Kapiteln
(I.–IV.), weitgehend im Zuge einer Adorno-Lektüre. Vieles wird von Adorno übernommen,
aber in vielen auch grundlegenden Punkten weicht Wellmer von Adorno ab, widerspricht ihm,
löst Thesen Adornos immer wieder aus Blickbegrenzungen, die durch dessen Fixierung auf
die ‚common practice period‘ bedingt sind. Trotz aller Nähe und wahrlich direkten Fortführerschaft bewahrt sich Wellmer philosophische und insbesondere auch musikkritische Eigenständigkeit. Er ‚denkt‘ tatsächlich an entscheidenden Stellen ‚Adorno weiter‘ – und da auch
weiter als Adorno. Wellmer hat sein eigenes Urteil über Musik, wenn er sich auch meistens
auf musikwissenschaftliche Expertise stützt. Deren Auswahl ist offensichtlich weitestgehend
von Wellmers eigenem musikalischen Erfahrungsschatz geleitet. Wellmer schöpft aus einem
immensen Repertoire an gehörter und reflektierter Musik. ‚Adorno weiterdenken‘ heißt hier
eben auch, auf musikalische Entwicklungen blicken zu können, die Adorno noch nicht kennen konnte oder deren Anfänge er in ihrer Relevanz vielleicht nicht mehr erkannt hat – oder
aber die er mit seinen Prämissen nicht vereinbaren konnte (oder wollte). Die musikhistorische
Posterität Wellmers gegenüber Adorno wirkt sich philosophisch folgenreich aus.
Eine sicher nicht unbeabsichtigte Parallelität zu Adornos Philosophie der Neuen Musik
ist, dass zwei bedeutende Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, John Cage
und Helmut Lachenmann, als Repräsentanten gegensätzlicher Haltungen zum europäischen
musikalischen Konstruktivismus in ähnlicher Weise von Wellmer einander gegenübergestellt
werden wie Arnold Schönberg und Igor Stravinsky als zwei gegensätzliche Repräsentanten
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Adorno. Aber während Adorno sein Buch durch
fragwürdige Werturteile pro Schönberg und contra Stravinsky verdirbt, gelingt es Wellmer
13
Cadenbach hat seine Überlegungen zum Musikbegriff in Auseinandersetzung mit neun Beiträgen
aus den Jahren 1939 bis 2006 fortgesetzt, in: ders., ‚Was ist Musik?‘ oder: Die Mühen des Begriffs.
Disparate Antworten auf eine eigentlich philosophische Frage, in: U. Tadday (Hg.), Musik-Konzepte, Sonderband Musikphilosophie, München 2007, 183–203.
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auf jeder Seite, zu Cage genauso gut wie zu Lachenmann, wirklich Erhellendes zu entwickeln. Hier hat Wellmer seinen Lehrer weit hinter sich gelassen.
Wellmers Versuch über Musik und Sprache liest man in jedem Fall mit größtem Gewinn,
ob von einem sprachphilosophischen Interesse oder einem musikphilosophischen Interesse
geleitet. Und über eine hochkompetente und wahrlich profunde Erörterung der grundlagenphilosophischen Frage „Gibt es eine Sprache der Musik? Ist die Musik ‚sprachähnlich‘?“ (9)
hinaus findet man in Wellmers Versuch ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie man philosophisch über Musik sprechen kann, sodass die Philosophie musikalisch zu werden und die
Musik selbst zu philosophieren scheint.
Man kann mit Bezug auf die von Wellmer entwickelten Überlegungen vieles kritisieren,
vielem widersprechen, hier ist fast alles umstritten. Aber unbestreitbar ist, dass dieses Buch
für das in ihm verteidigte Verständnis von Musik, von Neuer Musik im Besonderen, profunde
und an reichem – musikalischem und musikwissenschaftlichem – Material konkretisierte
Argumente bringt. Es setzt für die sich gegenwärtig im deutschsprachigen Raum offenbar
wiederbelebende Musikphilosophie hohe Maßstäbe, zumindest für das philosophische Verständnis derjenigen Musikpraxis, an der es sich aus fundierter Kenntnis heraus abarbeitet.
Aber es bleibt das Desiderat der Erweiterung des Horizonts auf andere Musiken und die
Einbeziehung anderer, von Adorno unabhängiger musikphilosophischer Zugangsweisen und
Interpretationskategorien.
Anerkennung im Konflikt
Von SUSANNE SCHMETKAMP (Basel)
Thomas Bedorf: Verkennende Anerkennung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010,
262 S.
Menschen, so sagt man, bedürfen der Anerkennung ihrer Identität. Das ist keine neue und auch
nur scheinbar einfache Wahrheit. Tatsächlich ist es eine komplexe und begründungsbedürftige
These, die in den vergangenen Jahren in der Philosophie enorm an Aufmerksamkeit gewonnen
hat: „Anerkennung“ ist zu einem Schlüsselbegriff in der zeitgenössischen Moral-, Sozial- und
Politischen Philosophie geworden, die Veröffentlichungen sind zahlreich, die Positionen entsprechend verschieden. Sie reichen von metaethischen Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Anerkennungstheorien von Hegel über Levinas und Honneth bis hin zu normativen
und politikethischen Modellen, welche zu klären versuchen, was das Prinzip der Anerkennung
moralisch und rechtlich fordert.
Gemeinsam dürfte allen Untersuchungen sein, dass sie direkt oder indirekt auf soziokulturelle und politische Herausforderungen reagieren, die unsere verstärkt ethisch und kulturell
pluralen Gesellschaften an die Philosophie stellen. Betrachtet man zum Beispiel die jüngsten
Entwicklungen im Streit um kulturelle Rechte wie etwa im Fall von Minaretten oder der
Burka, ist die Dringlichkeit offenkundig, zu klären, was Anerkennung und vor allem Anerkennung von Identität praktisch und theoretisch bedeutet.
Thomas Bedorf ist demnach weder der Einzige noch der Erste, noch wird er der Letzte
sein, der sich dieser philosophisch herausfordernden Aufgabe annimmt. Mit seiner anerken-
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