von G. Malantschuk Das philosophische Denken kann

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Das V erhåltn is zw ischen W a h rh eit und W irk lic h k e it
in Soren K ierkegaards existentiellem D enken1
von G. Malantschuk
Das philosophische Denken kann der Frage nach der Beziehung zwischen
Wahrheit und Wirklichkeit nicht entgehen. Låuft ja das philosophische Streben letzten Endes darauf hinaus, mit den Mitteln der denkerischen Tåtigkeit
das Wirklichsein zu erfassen und nach den Prinzipien der Wahrheit darzustellen. Man kann auch geradezu sagen, dass jedes philosophische Gebåude seine
eigentiimliche Prågung durch eine bestimmte Losung dieses Problems erhålt,
denn mit der Beantwortung dieser Frage wird auch dariiber entschieden, ob
und inwieweit das Denken das Wirklichsein zu erfassen vermag.2
Es ist deshalb kein Wunder, dass auch Kierkegaard auf diese Frage ge­
stossen ist und sich um ihre Losung bemiiht hat. Das Erstaunliche dabei ist,
dass er schon ganz friih zu einer originellen Losung dieses Fragenkomplexes
gekommen ist. Die Formulierung, die er in seiner Dissertation aus dem Jahre
1841 gibt, bildet fiir ihn die feste Grundlage fur alle seine spåteren Behandlungen dieses Problems und er benutzt dann diese Losung mit den Modifikationen,
die fiir das entsprechende Wissensgebiet notig waren.
In seiner Losung des Problems von der Beziehung zwischen Wahrheit und
Wirklichkeit geht Kierkegaard von der Voraussetzung aus, dass Wahrheit und
Wirklichkeit die zwei Momente eines jeden Wirklichseins sind. Diese zwei
Komponenten des Wirklichen stehen in einer gegensåtzlichen Beziehung
zueinander. Das Wahrheitsmoment ist das Notwendige, das Unbewegliche am
Wirklichsein; das Seinsmoment des Wirklichen ist dagegen die Bewegung,
bzw. ein ståndiger Ubergang vom Moglichsein zum Wirklichsein. Jegliches
Wirklichsein besteht also immer aus der Zusammensetzung zweier gegensåtzlicher Qualitåten. Somit werden die beiden Gegensåtze: Denken und
1. Es wird fiir die Zitate aus Soren Kierkegaards Werken die erste dånische Ausgabe seiner
gesammelten Werke (1901-06), zitiert = S.V., benutzt; fiir die Tagebuchaufzeichnungen
wird die zweite Ausgabe seiner Tagebiicher (1909-48), zitiert = Pap., benutzt.
2. Vgl. dazu: H. Maier: Wahrheit und Wirklichkeit. Tubingen 1926.
Wahrheit und Wirklichkeit in Soren Kierkegaards existentiellem Denken
Bewegung, oder anders ausgedriickt, das Eleatische und das Heraklitische 167
Prinzip, in jedem Wirklichsein zu einer Einheit verbunden. Eben aus diesem
Grunde tragt jedes Wirklichsein einen paradoxen Charakter. Gewiss, man
muss hier streng zwischen einem relativen Paradox und dem absoluten Paradox
unterscheiden. Das gewohnliche Wirklichsein gehort immer dem relativen
Paradox an; dem absoluten Paradox begegnen wir erst an einer bestimmten
Stelle in der menschlichen Geschichte.
Die Formulierung des Verhåltnisses zwischen Wahrheit und Wirklichkeit
lautet in der Doktorabhandlung: »Uber den Begriff der Ironie«: »Diese zwei
Momente sind untrennbar, denn wenn der Begriff nicht im Phånomen wåre,
oder richtiger, das Phånomen erst verståndlich wåre, erst wirklich in und mit
dem Begriff, und wenn das Phånomen nicht im Begriff wåre, oder richtiger,
der Begriff erst verståndlich, erst wirklich in und mit dem Phånomen, so wåre
alle Erkenntnis unmoglich, indem mir in dem einen Falle die Wahrheit, im
andern die Wirklichkeit fehlen wiirde.«3
In der entsprechenden Modifikation dieser Formulierung heisst es in den
»Philosophischen Brocken«: » Sobald ich aber ideel iiber das Sein spreche,
spreche ich nicht mehr iiber das Sein, sondern iiber das Wesen«* Weiterhin in
dem genannten Werke werden die beiden Momente als zwei ganz verschiedene,
aber eng miteinander verbundene Seiten eines jeden Wirklichseins behandelt.
In der »Krankheit zum Tode« lautet dann die Modifikation der ersten
Formulierung folgendermassen: »die Wirklichkeit ist die Einheit von Moglich­
keit und Notwendigkeit.«5
Fiir Kierkegaards Philosophie hatte besonders das Moment der Bewegung,
d. h. also das Seinsmoment des Wirklichen (»Væren«), die hochste Bedeutung
und er hat auch dieser Seite des Wirklichseins seine grosste Aufmerksamkeit
geschenkt. Wie er die Seinskategorie in ihrer ganzen Tragweite behandelt hat,
habe ich an anderer Stelle erortert.6 In diesem Aufsatz wende ich mich der
anderen Seite des Wirklichen zu und werde versuchen, erstens die Kierkegaardsche Auffsasung von den Erkenntnisstufen der Wahrheit inbezug auf die
Wirklichkeit aufzuzeigen, um dann zweitens diese Stufen kurz in Beziehung zu
seiner Darstellung der Theorie der Stadien zu bringen, in welcher Theorie er
vor allem das Gewicht auf die Seinskategorie legt. Es wird dagegen auf den
dritten Fragenkomplex nicht eingegangen werden, nåmlich darauf, wie die
3.
4.
5.
6.
S.V. XIII, 318; das Zitat ist aus der Ubersetzung von W. Kutemeyer genommen.
S.V. IV, 209, 236 ff.
S.V. XI, 149.
»Die Dialektik der Freiheit bei Søren Kierkegaard« in »Dansk teologisk Tidsskrift« 1950.
S. 193-207.
G. Malantschuk
168 beiden Seiten des paradoxen Verhåltnisses zwischen Wahrheit und Wirklich­
keit faktisch in dem wirklichen Sein miteinander korrespondieren.7
Die erste Frage, die hier zu beantworten ist, lautet: Wie hat sich Kierke­
gaard die Stufen der Wahrheit gedacht, die das menschliche Subjekt zu durchlaufen hat, um die gegebene Wirklichkeit wahrheitsgemass im Element des
Denkens wiederzugeben ? Von vornherein mochte ich bemerken, dass es ganz
einleuchtend sein sollte, dass der Kierkegaard, der fiir das menschliche Han­
deln die bestimmte Stufenreihe in der Stadientheorie aufzustellen versucht hat,
sich auch davon Rechenschaft geben musste, ob es nicht auch eine Reihe von
Erkenntnisstufen fiir das menschliche Subjekt gabe.
In seinen ersten Tagebuchaufzeichnungen, wo er eifrig auf der Suche nach
einer zusammenhångenden Deutung fiir alle Moglichkeiten der menschlichen
Existenz ist, laufen damit parallel die Uberlegungen iiber die Struktur der
menschlichen Erkenntnis sowie iiber den Anfang und die etwaige Grenze derselben. Eine ganz enge Verkniipfung dieser beiden Tendenzen spiiren wir klar
in seinem ersten Versuch, eine zusammenhångende Ansicht von Stadien zu
geben, wie wir sie vor allem in Pap. I C 126 (bzw. 1 125)8 aus dem Jahre 1837
vorfinden. Dort wird das Wahrheitsmoment gleichmåssig mit dem Seinsmoment zum Ausdruck gebracht. Man sieht daraus, dass Kierkegaard schon
ganz frQh auf die gegenseitige Beziehung der beider Gleider des Wirklichseins
aufmerksam geworden ist, ohne dass damit gesagt wird, dass er nicht auch
wechselweise bloss die eine Seite des Verhåltnisses hervorhebt.9
Dass Kierkegaard dann schon in seiner Doktorabhandlung im Jahre 1841
mit einer ganz bestimmten Losung inbezug auf Wahrheit und Wirklichkeit arbeitet, wurde schon erwåhnt; damit wird aber auch vorausgesetzt, dass Kierke­
gaard schon die Klarheit Uber die Wahrheitsseite der Beziehung besitzt. Wir
finden dort auch die Stufenreihe der Erkenntnis vorgezeichnet. Damit ist
selbstverståndlich nicht gesagt, dass alle diese Stufen dort genau expliziert
werden, aber die Hauptlinie ist da.
Inbezug auf diese ganze Stufenreihe der Erkenntnis gilt fUr Kierkegaard
7. Erst die Beantwortung dieser dritten Frage wiirde uns ins Zentrum der Kierkegaardschen
Auffassung von dem Verhåltnis zwischen Wahrheit und Wirklichkeit fiihren.
8 . Kierkegaard hat unzweifelhaft am Anfang seiner philosophischen Arbeit auch positive
Impulse von der Hegelschen Philosophie empfangen; es ist aber interessant, dass Kierke­
gaard schon bei dem ersten Entwurf einer Stadientheorie ihn der Hegelschen Auffassung
entgegenstellt.
9. In der inbezug auf unsere Frage wichtigen Aufzeichnung Pap. III A 1, wo aber Kierkegaard
nur eine der Wahrheitsstufen behandelt, haben wir ein gutes Beispiel fUr die Hervorhebung des Wahrheitsmomentes.
Wahrheit und Wirklichkeit in Soren Kierkegaards existentiellem Denken
folgende Grundansicht: Auf seinem Erkenntniswege ist das menschliche Indivi­
duum an ganz bestimmte erkenntnismåssige Voraussetzungen gebunden und
der Mensch muss, in seinem Versuch das Wirkliche zu ergreifen, eine Reihe
der Erkenntnisstufen durchlaufen. Ebensowenig wie die Stufen der Stadien
konnen die Stufen der Erkenntnis iibersprungen werden. Und weiterhin: die
unteren Stufen lassen sich erst vom Standort der hoheren bestimmen und
abgrenzen.
Es werden von Kierkegaard im »Begriff der Ironie« folgende Stufen fiir
das erkennende Subjekt vorgezeichnet oder mindenstens angedeutet: 1. Das
mythologische Denken, 2. das bildliche Denken, 3. das vorstellende (abstrakte)
Denken, 4. das wissenschaftliche Denken, und 5. das Denken des Absurden.
Die erste Stufe in dem menschlichen Bemiihen, das Wirkliche zu ergreifen,
ist also die mythologische.10 Sie ist nicht nur die erste Erkenntnisstufe in der
Geschichte der Menschheit, sondern jedes einzelne Individuum muss sie,
selbstverståndlich in verkiirzter Perspektive, von vorn durchlaufen. Philosophisch ausgedriickt bedeutet die mythologische Stufe »den Verbannungsstand
der Idee, ihre Åusserlichkeit, d. h. ihre Zeitlichkeit und Råumlichkeit unmittelbar als solche«11. Auf dieser Stufe steht das einzelne Subjekt noch ganz unselbståndig der es umgebenden Wirklichkeit gegeniiber; es hat sich die Phantasiegebilde von dem Wirklichen geschaffen und nimmt diese eigenen Produkte
als wirklich existierend an. Das Ewige erscheint in den sinnlichen Gebilden
der Phantasie, in die Form der Zeitlichkeit und Råumlichkeit eingebettet. Das
Individuum lebt also in einer »ertråumten« Welt. Diese Einstellung war besonders charakteristisch fur den alten Orient, und fiir Kierkegaard gilt es als
ausgemacht, dass die Zeitepoche im Orient vor dem Anfang der ersten griechischen Versuche auf dem Gebiete der Philosophie nicht iiber diese mytholo­
gische Einstellung hinausgekommen ist. Dass sich Kierkegaard dann diese
wie jede Stufe als total bestimmend fiir alle unter sie fallenden Verhåltnisse des
Lebens denkt, wåre leicht nachzuweisen; ich begniige mich aber mit dem
10. Das philosophische Denken muss zu dieser Stufe des menschlichen Weltverståndnisses
irgendwie Stellung nehmen. Man kann gewiss, wie Aristoteles es tut, die Frage mit dem
Hinweis erledigen, dass es sich nicht lohnt, »sich ernstlich mit solchen zu beschåftigen,
die noch in mythischer Form philosophiert haben« (Met. 3. Buch 1000a; vgl. auch 12.
Buch 1074b); oder man kann versuchen, diese Stufe in eine gewisse Beziehung zum erkennenden Denken zu bringen, w of iir es viele Beispiele gibt. Kierkegaard hat, wie es auch
in anderen Beziehungen bei ihm der Fall ist, eine organische Eingliederung auch dieser
Stufe in das totale Verstehen des menschlichen Lebens angestrebt; diese erste Stufe ver­
steht er dann als »eine schwache Andeutung, eine ferne Ahnung von einem reflektierenden Bewusstsein« (S.V. XIII, 191).
11. S.V. XIII, 189.
G. Malantschuk
170 Hinweis auf seine Ausdeutung der orientalischen Mystik, das sich auf Seite
159 in seiner Abhandlung »Uber den Begriff der Ironie« vorfindet und ganz
aus der totalen Struktur der ersten Stufe zu verstehen ist.
Die nåchste Stufe beginnt mit dem ersten Yersuch in der Richtung auf die
kritische Einstellung des Individuums dem Wirklichsein gegeniiber. Es ist
»ein Erwachen« des Individuums, das mit einer Spaltung des in Zeitlichkeit
und Raumlichkeit gegebenen einheitlichen Wirklichseins in eine reale und eine
ideale Seite anhebt. Das Individuum wird gewahr, dass es nicht im Besitze der
Idee ist, sondern nur eines Abbildes von dieser, das bloss »ein Abglanz der
Idee«12 ist. Wåhrend darum auf der mythologischen Stufe keine Frage iiber die
Beziehung zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, und damit Uber die zwischen
der wahren und falschen Erkenntnis entstehen konnte, entsteht diese Frage erst
auf der bildlichen Stufe. Es wird auf dieser Stufe nach der Ubereinstimmung
zwischen dem Bilde des Gegenstandes und dem Gegenstande selbst gefragt.
Damit beginnt die erste kritische Arbeit an der Wirklichkeit. Die Anfånge der
griechischen Philosophie liefern ein aufschlussreiches Kapitel fUr das Erwachen
des Bewusstseins aus der mythologischen Denkweise und fUr den Ubergang zu
einer kritischen Einstellung dem Wirklichsein gegenUber.
Die dritte Stufe, das vorstellende bzw. abstrakte Denken, bedeutet eine
weitere Entfernung des Abbilds des Wirklichen von der sinnlichen Gegebenheit. Charakteristisch fUr diese Stufe ist der Fortschritt zur Abstraktion, der
durch die Unterordnung der einzelnen Vorstellungen unter die Allgemeinvorstellungen vor sich geht. In diesem Ringen, um zur Abstraktion zu kommen,
sieht Kierkegaards Pseudonym Climacus die HauptbemUhung der griechischen
Philosophie.13 Interessant in dieser Beziehung ist Kierkegaards Behauptung,
dass Plato nicht Uber diese Stufe des Denkens hinausgekommen ist14. In
seiner Doktorarbeit werden reichliche Beispiele fUr diese »abstrakte Dialektik«
des Plato angefUhrt, ebensowie auch Hinweise auf Platos ZurUckgreifen auf
die ursprUnglicheren Stufen gegeben werden, wo es ihm nicht gelingt, mit dem
abstrakten Denken das ganze Gebiet des Wirklichen zu umspannen.
Mit dem Auftauchen der reinen Abstraktion tut sich eine neue, ideelle
Welt auf. Das philosophische Denken steht dann vor der Aufgabe, die gesetzlichen Beziehungen zwischen den so gewonnenen ideellen Gebilden herzustellen. Aber auch diese Stufe muss als blosse Durchgangsform verstanden
werden, und es muss, wenn die Klarheit Uber die ideelle Welt gewonnen ist,
12. S.V. XIII, 191.
13. S.V. VII, 285.
14. S.V. XIII, 191.
Wahrheit und Wirklichkeit in Soren Kierkegaards existentiellem Denken
wieder die Ankntipfung an die seiende Wirklichkeit gesucht werden, wenn das
abstrakte Denken nicht in einem fruchtlosen spekulativen Bemiihen endigen
soli. Hier erscheint die Aristotelische Kritik an Platos Ideenlehre ganz ver­
ståndlich.
Die Briicke zwischen dem abstrakten Begriff und der Wirklichkeit der
sinnlichen Erscheinung zu schlagen, ist die Aufgabe des wissenschaftlichen
Denkens. Erst dieses Denken, mit den Mitteln der logischen Gesetzlichkeit
ausgeriistet, ist imstande, den Versuch zu machen, das Wirklichsein der phånomenalen Welt nach seinen wahren Beziehungen zu erfassen. Eine wichtige
Aufgabe fiir diese Stufe des Denkens ist es auch, die volle Klarheit iiber die
Tragweite und die Grenze ihres Vermogens zu gewinnen.
Aus dem Versuch, ein totales Verstehen der erscheinenden Wirklichkeit
zu geben, erwåchst die Aufgabe der Metaphysik. Hier muss hinzugefiigt wer­
den, dass es nicht richtig wåre, Kierkegaard einer antimetaphysischen Tendenz
zu bezichtigen. Nicht gegen die Metaphysik als solche, sondern gegen das
Uberschreiten der Grenzen ihrer Kompetenz eifert er. Nach Kierkegaards
Auffassung hat die Metaphysik ein legitimes Recht dazu, mit den Mitteln
einer strengen logischen Konsequenz die Herausarbeitung eines objektiven
wissenschaftlichen Weltbildes zu versuchen. Sie wird sich dabei vor allem auf
das Gesetz der Identitåt stiitzen miissen, das der Metaphysik dazu verhilft, ein
widerspruchsfreies Wissen zu erlangen. Wohl besteht das Wirklichsein nach
Kierkegaards Auffassung aus der Zusammensetzung der gegensåtzlichen
Momente und ist deswegen paradox, aber da das Wirklichsein der phånomenalen Welt bloss relativ paradox ist, kann das fortschreitende wissenschaftliche
Denken diese Gegensåtze »verdauen«. Die Metaphysik liefert damit ein
Begriffssystem fiir die vergångliche Wirklichkeit. Sie muss immer von neuem
nach dem Ausgleich zwischen Begriff und Erscheinung, zwischen »Idee und
Empirie«15 suchen.
Die Metaphysik soli also ein objektives Wissen geben, deswegen muss sie
von den individuellen Eigentiimlichkeiten, Strebungen u.s.w. abstrahieren.
Ihr Ideal ist es, ein Weltbild zu geben, zu welchem man sich rein objektiv und
ohne ein existentielles »Interesse« verhalten kann. Dies gelingt ihr also dadurch,
dass sie das wirkliche Sein auf eine ideelle Form zu bringen versteht. Damit ist
die Metaphysik das letzte W ort iiber die blosse phånomenale Wirklichkeit; sie
ist eine ideelle Verklårung der sinnlichen Welt der Erscheinungen.
Die logische Konsequenz des Identitåtsprinzips hilft nicht bloss positiv
beim Aufbau der ideellen Struktur der Metaphysik, sondern dasselbe Prinzip
15. S.V. v il, 123.
G. Malantschuk
172 stosst auch konsequent alles Wirklichsein von sich ab, das sich nicht auf eine
einheitliche gedankliche Form bringen låsst. Wenn es dann ein Wirklichsein
von der Art gåbe, das hinter seinem phånomenalen Sein nicht nur die entsprechende begriffliche Seite - gemåss der Grundvoraussetzung von Wahrheit und
W irklichkeit-enthielte, sondern wenn sich hinter der phånomenalen Wirklich­
keit der Erscheinung mit ihrer begrifflichen Seite noch ein anderes Wirklichsein
verbårge, das wieder sowohl eine reelle wie eine ideelle Seite besåsse und dazu
auf ewigen Bestand Anspruch erhobe, dann stånden wir vor einer ganz neuen
Form des Wirklichseins. Das einheitliche logische Denken der Metaphysik
wiirde ein solches Wirklichsein nicht in eine blosse gedankliche Welt auflosen
konnen. Die Unmoglichkeit einer solchen Auflosung kann u. a. auch durch
folgende Erwågung eingesehen werden: Im Verhåltnis zum phånomenalen
Wirklichsein steht die begriffliche Abbreviatur dieses Wirklichseins auf hdherer Stufe als dies Wirklichsein selbst. Idee hat ja immer einen Vorrang vor
der Empirie, da die Idee einen gewissen Charakter der Ewigkeit dem empirischen Sein gegeniiber trågt. Gåbe es aber ein ewiges Wirklichsein, das mehr als
eine ewige Idee ist, dann håtte es einen Vorrang vor der Idee und wiirde auf
einer hoheren Stufe stehen als das bloss ideelle Sein des metaphysischen Weltverstehens.
Dass es ein solches Wirklichsein gibt, und vom Zugange zu ihm, wusste
schon Sokrates. Sokrates kam zu der Einsicht, dass in der vergånglichen Welt
der Phånomene der Mensch nicht bloss die einzige Stelle ist, wo die ewigen
Ideen in Wiedererinnerung gewonnen werden, sondern dass auch nur der
Mensch die Moglichkeit hat, die ewige Idee des Guten in dieser phånomenalen
Welt zur Verwirklichung zu bringen, indem er den theoretischen Boden der
»Erinnerung« verlåsst. Mit diesem Versuch lebt der Mensch in einem Wirk­
lichsein, das nicht mehr der Metaphysik erfassbar ist. Es ist also vom absoluten
Sollen, vom Ethischen her, dass dies neue Wirklichsein seinen Einbruch in den
geschichtlichen Gang der Menschheit vollzieht.16 Den Einbruch derselben
Wirklichkeit, bloss auf einer noch hoheren Stufe, sieht Kierkegaard im Versuch
des jiidischen Volkes, im Glauben an eine transzendente ewige Macht, die
Gebote dieser Macht zu erfiillen.
Eins der wichtigsten Merkmale dieser neuen Wirklichkeit ist das, dass sie
eine »Verdoppelung« ist, indem das eine Glied dieser »Verdoppelung« die
16. Diese Sokratische Einstellung findet bei Climacus ihren Ausdruck in dem bekannten
Satz: »Die Subjektivitat ist die Wahrheit«. Die Unmoglichkeit, im menschlichen Bemiihen die ethische Forderung verwirklichen zu konnen, wird dann von Climacus im
Hinblick auf das absolute Paradox durch den Satz ausgedruckt: »Die Subjektivitat ist die
Un wahrheit« (S.V. VII, 174 ff.).
Wahrheit und Wirklichkeit in Soren Kierkegaards existentiellem Denken
phånomenale Wirklichkeit des Einzelnen und das andere die Wirklichkeit des 173
existentiellen absoluten Sollens, das sich die phånomenale Wirklichkeit unterzuordnen strebt, ist. Diese »Verdoppelung« existiert fiir das wissenschaftliche
Denken nicht und muss aus logischen Grunden von ihm fiir absurd erklårt
werden. Nach Kierkegaard aber kann hier keine Vermittlung (»Mediation«)
mehr stattfinden, wie es auf der Ebene des phånomenalen Wirklichseins der
Fall war. Wegen dieser »Verdoppelung« låsst sich kein einheitliches abschliessendes Weltbild konstruieren. Fiir das neue Wirklichsein beansprucht dann
das Gesetz des Widerspruchs seine Geltung, da das neue Wirklichsein zwei
Arten von Sein enthålt, die in einem absoluten Gegensatz zueinander stehen.
Das Weltbild der Metaphysik ist fiir eine »interesselose« Betrachtung da;
die »Verdoppelung« setzt dagegen eine ethisch wåhlende Personlichkeit
voraus, die vor einem Entweder-Oder steht: Entweder die sinnliche Welt der
Phånomene oder die ewige Wirklichkeit. Und wohlgemerkt: wenn das Den­
ken noch sogar auf die Wirklichkeit der Synthese dieser beiden Gegensåtze
stiesse, dann stande es vor dem hochsten Paradox.
Kierkegaard als existentieller Denker ist vor allem an dieser neuen Wirklich­
keit interessiert, wie auch sein Pseudonym Climacus geradezu sagt, dass »die
eigene ethische Wirklichkeit des Individuums die einzige Wirklichkeit ist«.17
Deswegen erwartet Kierkegaard von einem Denker auf christlichem Boden
die genaue Scheidung zwischen dem Gebiete der Metaphysik und dem des
Absurden. Von diesem Gesichtspunkte aus ist auch seine kritische Einstellung
der »ganzen neueren Philosophie« zu verstehen. Es ist fUr Kierkegaard offenbar
geworden, dass seit Kant die Tendenz in der deutschen Philosophie in der
Richtung ging, gerade die ethische Wirklichkeit im Sinne eines verdoppelten
Wirklichseins in den Hintergrund treten zu lassen. Hegel war »gerade nur an
dem Punkt angelangt, wo man in alter Zeit zu beginnenpflegte (z. B. Leibnitz.)«.18
Anstatt die Kantische »Skepsis« inbezug auf die phånomenale Wirklich­
keit dadurch zu iiberwinden, dass man auf die ethische Wirklichkeit im Men­
schen als das einzig Sichere hinwies, ging Hegel nicht iiber das »reine Denken«,
also das Denken der Abstraktion, hinaus. Dieses sein Denken hat zwar die
phånomenale W^elt hinter sich gelassen, um zu der »Idee« zu gelangen, es
blieb aber auch bei der »Idee« stehen, um dann aus der »Idee« die ganze
phånomenale Wirklichkeit zu konstruieren. Hegel ist also nicht von der »Idee«
bis an die neue Wirklichkeit der »Verdoppelung« vorgedrungen. Die Aufgabe
der Philosophie aber wåre, eine »anthropologische Contemplation« vorzuneh17. S.V. VII, 282.
18. Pap. IV C 73.
G. Malantschuk
174 men, um damit dem Einzelnen von der ewigen Idee her zur Existenz zu verhelfen. In dieser Beziehung war, wie Kierkegaard meint, die åltere Philosophie
tiefer orientiert. Wenn Kierkegaard dabei besonders an Leibniz denkt, so
haben wir damit auch von der Seite eine Beståtigung dafiir, dass fiir Kierkegaard
das zentrale Problem, das auch die Philosophie angeht, bei dem Ethischen und
bei der Frage nach der Freiheit des menschlichen Individuums liegt.
Die Begegnung der Philosophie mit dem Ethischen zeigt die Grenze des
wissenschaftlichen Denkens19 und weist ihm eine neue Aufgabe zu, die darin
besteht, die gegensåtzlichen Komponenten des neuen Wirklichseins klar
herauszuarbeiten. Damit kommt das wissenschaftliche Denken auf das Gebiet
des Absurden. Das Denken des Absurden hat als seine Voraussetzung die volle
Klarheit iiber die ganze Struktur des wissenschaftlichen Denkens; ohne diese
Klarheit kann das Gebiet des Absurden weder entdeckt noch richtig behandelt
werden. Dariiber åussert sich Kierkegaard in einer Tagebuchaufzeichnung wie
folgt: »Das Absurde ist eine Kategorie, und es wird fiir eine genaue und
begrififsmåssig richtige Bestimmung des christlich Absurden das fortgeschrittenste Denken erforderlich sein«.20
Seine hochste Stufe erreicht das Denken des Absurden erst da, wo es sich nicht
sowohl mit der ethischen Wirklichkeit des Seinsollenden beschåftigt, als vielmehr
wo es sich an diejenige Wirklichkeit wagt, die in historischer Zeit sich als die
Wirklichkeit des Ewigen in der phånomenalen Welt selbst angekiindigt hat.
Erst hier begegnet man dem absoluten Paradox im eigentlichen Sinne, und
alle anderen Stufen des paradoxen Denkens erweisen sich da als blosse Analo­
gien zum letzten Paradox.21 Es tritt auch erst hier der Unterschied zwischen
dem wissenschaftlichen Denken und dem Denken des Absurden in aller
Schårfe hervor. Wir haben dann auf der einen Seite das Streben nach einer
einheitlichen ideellen Weltauffassung, das fiir den Menschen immer nur ein
blosses Haben von Ideen und Ideenzusammenhången bedeutet und fiir ihn nie
eine Wirklichkeit des wirklichen Seins werden kann, und auf der anderen
Seite kundigt sich das absolute Paradox mit den Worten an: Ich bin die
W ahrheit.22 Der auf die gedankliche Form gebrachten Deutung des Welt19. S.V. III, 189 und IV, 289 tf.
20. Pap. X, 6 B 79.
21. Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass es Abstufungen innerhalb einer
jeden Stufe gibt.
22. Dass es eine Versuchung geben kann die Offenbarung des Ewigen in Zeit und Raum mit
dem Erscheinen der Idee in Zeitlichkeit und Råumlickeit (auf der mythologischen Stufe)
zu verwechseln, låsst sich nicht bestreiten; dass aber ein Nachgeben der Versuchung
gegeniiber von einer mangelnden Einsicht in die Struktur der Wahrheitszusammenhange
zeugt, låsst sich auch nicht bestreiten.
Wahrheit und Wirklichkeit in Soren Kierkegaards existentiellem Denken
zusammenhanges steht also eine lebendige Wahrheit, in die Hulle der phåno- 175
menalen Welt eingekleidet, gegeniiber.
Nachdem wir auf die Kierkegaardsche Auffassung der Stufenreihe der
Erkenntnis hingewiesen haben, wenden wir uns kurz der zweiten Frage zu,
nåmlich der Frage nach dem Verhåltnis dieser Stufen zu seiner Stadientheorie.
Betrachten wir die Reihe der Erkenntnisstufen nåher, so scheint es klar
zu sein, dass die zwei untersten Stufen, die mythologische und die bildliche,
nicht ausfuhrlich in einer Theorie der Stadien, die besonders fiir den modernen
Bewusstseinszustand aktuell sein sollte, zu vertreten werden brauchten.
Andrerseits konnte Kierkegaard diese Stufen nicht ganz ausschalten, wenn er
sonst in seiner Theorie der Stadien die Totalitåt aller menschlichen Ein stellun­
gen liefern wollte. Diese Stufen miissen dann dort ihren Platz finden, wo Kierke­
gaard die untersten existentiellen Stadien schildert, also vor allem im »Entweder-Oder« und dann in dem »Begriff der Angst«. Wir finden auch die den
ersten Wahrheitsstufen entsprechenden Korrelate in den genannten Werken.
Im »Entweder-Oder« finden wir die existentiellen Korrelate zu den ersten
Stufen der Erkenntnis in dem Kapitel »Die unmittelbar erotischen Stadien
oder das Musikalisch-Erotische«.23 Da entsprechen die zwei ersten Stadien
den zwei ersten Stufen der Erkenntnis; das dritte Stadium und zwar das des
Don Juan gehort dagegen schon einer hoheren Ebene an und muss aus seiner
Gegensåtzlichkeit zum Christentum verstanden werden. Dass fiir alle drei
Stadien Mozarts Opern als Ausgangspunkte fiir die Schilderung der Stadien
benutzt werden konnten, ist hier in unserem Zusammenhange von keiner
wesentlichen Bedeutung.
Also, die mythologische und die bildliche Stufe, die beide im »Begrilf der
Ironie« dargestellt werden und ihre erste Ausformung in den zwei ersten
Stadien der Aufzeichnung I C 126, bzw. den zwei ersten Stadien der Aufzeichnung I C 125 erhalten, werden als die untersten Stufen in den Zusammenhang der Stadien aufgenommen. Gewiss, es sind jedesmal entsprechende
Modifikationen vorgenommen worden, die entweder die Wahrheitsseite oder
die Existenzseite hervorheben. Die zwei ersten Stadien in dem Kapitel »Die
unmittelbar erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische« sind danach
als die existentiellen Vertreter der Stufen des Denkens des alten Orients und
des friihen Griechenlands zu betrachten.24
23. S.V. I, 57 ff.
24. Wenn hier jemand einwenden wollte, dass Kierkegaard sich vor allem fur die Kate­
gorie des Einzelnen interessierte und dass er den weltgeschichtlichen Spekulationen abgeneigt war, so ist das ganz richtig. Kierkegaard hatte nichtsdestoweniger eine klare
Anschauung iiber die weltgeschichtlichen Zusammenhange: dass er sie nur in geringerem
G. Malantschuk
176
Die erste dieser untersten Stufen wird durch die tråumende Einstellung
der mythologischen Periode gekennzeichnet; der Mensch ist noch ganz eins
mit dem Gegenstande seines Erlebnisses; die Idee zeigt sich noch in ihrer
Einheit mit der sinnlichen Erscheinung. Der »mythische Page« gilt als Vertreter
fiir dieses Stadium. In der zweiten der untersten Stadien wird das Erwachen
des Bewusstseins geschildert; die einheitliche Welt spaltet sich in «Zwillinge«,
die vom Gesichtspunkt der Wahrheit als Bild und Gegenstand, vom existentiellen Standpunkt als »Begierde und Gegenstand« auftreten.
Auch im »Begriff der Angst« wird die Einstellung der ersten Stufe existentiell zur Schilderung der untersten Stufe in der menschlichen Freiheit benutzt.
Es sind die Stellen, wo vom »tråumenden Geist«25 gesprochen wird. Der
zweiten Stufe entspricht im »Begriff Angst« die Beschreibung des Uberganges
des Unmittelbaren zum Mittelbaren, was dann in Relation zu dem existentiellen Ubergang von Unschuld zu Schuld gestellt wird.
Es muss auch erwåhnt werden, dass Kierkegaard in seinen erbaulichen
Schriften, wenn er auf die Einstellung des Kindes- und Jugendalters zu sprechen kommt, die untersten Stufen des Wahrheits- und Wirklichkeitschemas
benutzt. Ein gutes Beispiel ist im Band X, Seite 113 zu finden, wo Kierkegaard
vom »Traumleben« des Kindes- und Jugendalters spricht.
Die drei nåchsten Stufen des Denkens und zwar, das abstrakte Denken, das
wissenschaftliche Denken und das Denken des Absurden, sind in ganz anderer
und bedeutungsvollerer Weise in der Theorie der Stadien vertreten. Es wiirde
deswegen zu weit fiihren, hier ausfiihrlich darauf einzugehen. Es muss genugen,
wenn bloss iiber den Zusammenhang zwischen den Stufen der W ahrheit und
den Stadien eine Hauptlinie gezeichnet wird.
Es zeigt sich, dass die eben genannten Wahrheitsstufen in der Theorie
der Stadien eine durchgångige Beziehung zu den Kategorien des Seins haben.
Man sieht z. B. bei der Stufe der Abstraktion, dass Kierkegaard sie sofort in
den Dienst der existentiellen Einstellung nimmt. Da nur die Dinge existieren,
muss der Begriff immer von neuem sich an dem konkreten Beispiel bewåhren;
ohne diese ståndige Beziehung des Begriffs auf die seiende Wirklichkeit entartet
das abstrakte Denken zu einem blossen Spiel mit den leeren Abstraktionen.
Daraus ist Climacus’ åusserst scharfe und åusserst ausfUhrliche Kritik an dem
abstrakten Denken zu verstehen. Diese Kritik darf aber nicht dahin missverstanden werden, als ob Climacus nicht das Recht des abstrakten Denkens anMasse anwendet, hångt wohl auch damit zusammen, dass seine Zeit zuviel in geschichtlichen Deutungen schwelgte; man braucht bloss z. B. an Grundtvig zu denken.
25. S.V. IV, 313 ff.
Wahrheit und Wirklichkeit in Soren Kierkegaards existentiellem Denken
erkennt. Das abstrakte Denken wird nach Climacus seine Berechtigung als
eine Durchgangsform immer behaupten konnen. Erst wenn dies Denken die
Beziehung zur seienden Wirklichkeit verliert und sich fiir die hochste Stufe
des Denkens bzw. des Seins ausgibt, geråt es auf Abwege.26
Behålt aber das Denken seine Beziehung zum Sein der phånomenalen
Wirklichkeit, dann wird eine Deutung dieses Seins mit den Mitteln der lo­
gischen Konsequenz moglich sein. Die Metaphysik bleibt aber dann bei der
Wirklichkeit des phånomenalen Seins (»Væren«) stehen; das Sein des Werdens (»Vorden«), wo es erst eine wesentliche Verånderung gibt und wo erst die
Kategorie des »Sprunges« zur Geltung kommt, gehort der neuen Wirklichkeit
an. Nur wenn die klare Einsicht in die Struktur des Denkens des Absurden
vorhanden ist, kann die Abgrenzung dieser zwei »Totalitåten« vorgenommen
werden.
Kierkegaard versucht zu zeigen, dass etwa Kant sich den Weg zu dieser
neuen Wirklichkeit mit seinem »Ding an sich« versperrt hat. Hegel aber, der
»unleugbar weiter ging«,27 blieb bei der Abstraktion stehen und entging damit
der Beriihrung mit dem Gebiete des Absurden.
Erst Kierkegaard hat, gestiitzt auf das Gesetz des Widerspruchs, die klare
Scheidung der beiden »Totalitåten« durchfiihren konnen. Indem er aber auch
das Gebiet des Absurden scharf umgrenzt und nach seiner Eigentiimlichkeit
gedanklich bestimmt, gewinnt er einen soliden Unterbau bei der Aufstellung
seiner Theorie der Stadien. Es zeigt sich dann bei der Analyse der Stadien, wie
es zu erwarten war, dass in der Theorie der Stadien beide Seiten des Wirklichkeitsverhåltnisses, das Wahrheits- und das Wirklichkeitsmoment, eng miteinander verbunden sind, obwohl dort auf das Wirklichkeitsmoment das Hauptgewicht gelegt wird. Mit der letzten Behauptung scheint es zwar so, als ob Kierke­
gaard der seienden Wirklichkeit ein Primat vor der Wahrheit zuerkennt, aber
dem ist nicht so, und man kann bei Kierkegaard von keiner Uberordnung der
Wirklichkeit iiber die Wahrheit sprechen, da nach seiner Voraussetzung in
jeder Art des Wirklichseins beide Momente mitenthalten sind.28
26. Vgl. dazu: »W ollte man nun annehmen, dass das abstrakte Denken das Hochste sei,
dann folgt daraus, dass die Wissenschaft und die Denker stolz die Existenz verlassen
und es uns anderen Menschen iiberlassen, das Schlimmste zu erdulden.« (S.V.VII, 258);
das Zitat ist der Ubersetzung von Hans-Martin Junghans, die unter Vorbereitung ist, entnommen.
27. S.V.VII, 282.
28. Vgl. dazu S.V. VII, 296 f.; aber auch die wichtige Stelle ebenda Seite 267 f., wo das
Wahrheitsmoment (»das Unbewegliche«) im Gegensatz zu dem Seinsmoment (»die Be­
wegung«) betont wird.
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