In der heutigen Debatte iiber Kierkegaard und in den

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Das existenzphilosophische Motiv im Denken
Søren Kierkegaards
von Johs. Sløk
In der heutigen Debatte iiber Kierkegaard und in den Auseinandersetzungen
mit seinem Denken, die von aktuellen philosophischen Problemstellungen
her orientiert sind, ist zweifellos die am weitesten reichende Frage die, in
welchem Umfang Kierkegaard der neueren Existenzphilosophie vorausgreife und ihr Paradigma bilde. In einer Reihe von vorziiglichen Einzeluntersuchungen hat man bereits versucht, diese Frage zu beantworten; ich
erinnere hier nur an Fabro und Løgstrup, an Bollnow und Gabriel - um
einige Namen zu nennen. Das bedeutet nun aber nicht, dass die Sache
damit klargestellt sei. Keineswegs, es herrscht nåmlich zwischen den einzelnen Forschern eine recht erhebliche Uneinigkeit, die nicht wunder nehmen darf, da ihr zugrunde eine ebenso erhebliche Uneinigkeit iiber das
fundamentale Verståndnis von Kierkegaards Werk liegt.
Wenn ich mir hier die Aufgabe gestellt habe, in einem kurzen Aufsatz auf
diesen ausserordentlich umfassenden Problemkomplex einzugehen, werde
ich mich dabei natiirlich nur um ein einzelnes Thema konzentrieren konnen
und habe versucht, ein so zentrales Problem wie moglich herauszuheben.
Was ich darzulegen beabsichtige, ist das, was meines Erachtens das eigentlich existenzphilosophische Motiv bei Kierkegaard selbst ist. Erst wenn das
festgestellt ist, kann man zu einer Untersuchung der Frage iibergehen, wie
dieses Motiv sich nun zu den neueren Formen der Existenzphilosophie verhålt. Einer solchen weiteren Untersuchung jedoch kann ich hier nicht nachgehen. Es wird sich in der vorliegenden Erorterung ausschliesslich um
Kierkegaards eigene Anschauung handeln, um die ihm besondere Art, wie er
es versucht, das Verhåltnis zwischen Mensch und Wahrheit zu bestimmen
- und wo gerade das bei ihm auftaucht, was meines Erachtens, wie aus dem
folgenden hervorgehen wird, das eigentlich Existenzphilosophische ist.
Der Aufsatz von Johs. Sløk ist ein Vortrag, gehalten auf dem Kierkegaard-Kongress in
Kopenhagen 1955. Er wurde zuerst gedruckt in »Studia Theologica« IX, 2 1955 (Gleerup,
Lund).
Johs. Sløk
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Eine solche Untersuchung lasst sich natiirlich sehr verschieden angreifen.
Ich mochte mich mit ihr von der Frage her befassen, wie sich Kierkegaard
zu Kants Philosophie stellt. Zwar ist es eine allgemein bekannte Tatsache,
dass Kierkegaard sich nirgends in seinem gesamten Werk thematisch mit
Kant auseinandersetzt. Wohl wird Kant hier und da en passant genannt, aber
die Behauptung, Kierkegaards Denken beruhe auf einer Stellungnahme zu
kantischen Positionen, lasst sich weder historisch noch sachlich vertreten.
Wenngleich derartige Vorbehalte gemacht werden mussen, so steht doch
unbestreitbar fest, dass Kierkegaard Kant gelesen hat und ab und zu seine
Bemerkungen iiber das Gelesene anbringt. Verfolgt man sie, so wird man
finden, dass viele von ihnen gedankenanregend und enthiillend sind.
Als Ausgangspunkt dieser Untersuchung sei eine Tagebuch-Aufzeichnung von Kierkegaard aus dem Jahre 1847 genommen. Dort heisst es:
»Kants Theorie vom radikalen Bosen hat nur einen Fehler. Dass er es nicht
recht ausdrticklich festlegt, dass das Unerklarbare eine Kategorie ist, dass
das Paradox eine Kategorie ist . ..« (P. VIII 1 A 11). Man wird sicher einraumen, dass es sich hier um eine eigentiimliche Aussage handelt. Zunachst
wird man zu der Auffassung neigen, dass Kierkegaard hier verrat, wie wenig
er Kant verstanden hat. Zwar wird man Kierkegaard zugestehen, dass, wenn
»Kategorie« hier kantisch verstanden werden soli, es allerdings richtig ist,
dass Kant niemals das Unerklarbare als Kategorie aufgestellt hat; doch kann
es nicht dies sein, was Kierkegaard ihm vorwirft. Kierkegaard muss in dieser
Verbindung unter Kategorie etwas anderes verstehen; es ist hier nicht eine
im erkenntnistheoretischen Sinne apriorisch gegebene Vemunftsform, son­
dern eine Aussage und Grundbestimmung im aristotelischen Sinne bezeichnet.
Kategorie muss also in diesem Zusammenhang als ontologischer Begriff von
Kierkegaard gedacht sein, und der Sinn seines Einwandes muss darauf hinweisen, dass es etwas Seiendes gibt, das seinem Wesen nach unerklarbar ist.
Dass sein Gedankengang tatsachlich in dieser Richtung liegt, geht aus der
Fortsetzung der Aufzeichnung hervor: »Wenn menschliche Wissenschaft
nicht erkennen will, dass es etwas gibt, was sie nicht verstehen kann, oder
genauer noch, etwas, von dem sie mit Klarheit verstehen kann, dass sie es
nicht verstehen kann, so ist alles verwirrt«.
Es lasst sich also wohl kaum bezweifeln, dass Kierkegaards Bemerkung
in der von mir angedeuteten Weise verstanden werden muss. Wenn das aber
der Fall ist, erscheint dann sein Einwand gegen Kant nicht vollig unberechtigt? Hat Kant nicht eben selbst das radikale Bose als das bestimmt, was sich
in diesem Sinne von Kategorie nicht erklaren lasst? Untersuchen wir kurz,
Das existenzphilosophische M otiv im Denken Søren Kierkegaards
wie Kant den Begriff in »Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft«, dem Werk, von dem Kierkegaard hier ausgeht, bestimmt. Er sagt
dort, dass das radikale Bose weder »in der Sinnlichkeit des Menschen und
den daraus entspringenden natiirlichen Neigungen« gesehen werden kann,
noch in der »Verderbtniss der moralisch-gesetzgebenden Vernunft«. In beiden Fallen wiirde das radikale Bose mit zur Natur des Menschen gehoren
und konnte daher dem Menschen nicht zugerechnet werden. Gerade auf
seine Zurechenbarkeit hin, muss es einer intelligiblen Freiheitshandlung zugeschrieben werden, in der der Mensch »die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maxime, umkehrt«. Nun verhålt es sich aber nach Kants Meinung so, dass eine Naturwirkung erst erklårt ist, wenn sie auf ihren Ursprung zuriickgefiihrt worden ist, wahrend es
ein Widerspruch ist, bei einer Freiheitshandlung »den Zeitursprung zu suchen«. Die Freiheitshandlung geht sozusagen der empirischen Handlung voraus oder besser: sie ist in ihr vorausgezetzt. Das ist die eine Eigentiimlichkeit
der Freiheitshandlung; ihre andre Eigentiimlichkeit ist, dass sie dem Handelndem selbst zugeschrieben werden muss. Sie ist seine eigene Tat, und
Kants Konklusion ist, dieser Hang zum Bosen »bleibt uns unerforschlich,
weil es selbst uns zugerechnet werden muss, folglich jener oberste Grund
aller Maximen wiederum die Annehmung einer bosen Maxime erfordern
wiirde . . . Fiir uns ist also kein begreifflicher Grund da, woher das moralische
Bose in uns zuerst gekommen sein konne« (»Religion ...« Reclam-Ausg.
p. 35 und 44 f.).
Nur diese kurze Andeutung dariiber, wie Kant seinen Begriff vom ra­
dikalen Bosen definiert, sollte uns eigentlich davon iiberzeugen, dass Kierke­
gaard zu seinem Einwand nicht berechtigt ist. Halt man sich an den Wortlaut, so muss man einråumen, dass Kant gerade sehr genau das Unerklårliche als eine Kategorie in dem Sinne, wie Kierkegaard sie verstanden haben
will, festhålt, d. h. er hat mit aller Klarheit, deren es bedarf, dargelegt, dass es
»etwas gibt, was (die menschliche Wissenschaft) nicht verstehen kann, oder
genauer noch: etwas von dem sie mit Klarheit verstehen kann, dass sie es
nicht verstehen kann«. Es wåre jedoch unbillig zu behaupten, Kierkegaard
hatte sich nicht all das, was ich hier vorgefiihrt habe, selber sagen konnen.
Dazu ist es allzu selbstverståndlich. Wenn er aber trotzdem Kant den genannten Vorwurf macht, muss sich sein Gedankengang offenbar in einer
ganz anderen Richtung bewegen, und es muss sich an diesem Punkt ein
fundamentaler Unterschied in der philosophischen Grundanschauung von
Kant und Kierkegaard geltend machen. Und gerade in diesem Unterschied
Johs. Slék
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kann man meiner Meinung nach das existenzphilosophische Motiv bei Kierke­
gaard aufzeigen. Gehen wir dem etwas weiter nach.
Unser Vorhaben, Kierkegaards lapidare Bemerkung iiber die kantsche
Lehre vom radikalen Bosen nåher zu beleuchten, wird von der Tatsache begunstigt, dass er sich bereits friiher schon einmal iiber das gleiche Thema
geaussert hat. In seiner Dissertation von 1841 behandelt er in einem breiteren
Zusammenhang Platons Auffassung des Mythischen und erwahnt hierbei
auch Kant (S. V.2 XIII, 211). Auch Kant hat namlich, so wie Piato, nach
Kierkegaards Meinung, mit einem Mythos-Begriff operiert. Allerdings - sagt
Kierkegaard - hielt Kant bei diesem »Ansich der Dinge« ein, aber trotzdem
konnte er nicht davon ablassen, sich dauernd damit zu beschiiftigen, und
wenn er es »bisweilen festhalten will, so entwickelt er das Mythische«. »So ist
z. B. seine ganze Anschauung vom radikalen Bosen eigentlich ein Mythos.
Das Bose namlich, das der Gedanke nicht bewaltigen kann, wird ausserhalb
des Gedankens gelegt und der Phantasie iiberlassen«. Hier haben wir es mit
einer wichtigen Aussage zu tun; sie erzahlt uns einen ganzen Teil dariiber,
worauf Kierkegaard eigentlich hinaus will. Er bestreitet offenbar gar nicht,
dass Kant sehr wohl festgehalten hat, dass das Denken das radikale Bose
in seinem Ursprung und Wesen nicht erforschen kann. Der Mangel, den die
Bestimmung Kants hat, ist der, dass die Tatsache selbst, dass das Denken das
Bose nicht genauer erforschen kann, veranlasst, dass das Bose ausserhalb
des Denkens gelegt und der Phantasie iiberlassen wird, was nach Kierke­
gaards Behauptung in der Dissertation gleichbedeutend damit ist, es zu
einem Mythos zu machen. Kierkegaards Meinung dagegen ist es, dass das
Denken eben nicht das Unerklarliche von sich legen, sondern es gerade bei
sich behalten soli als das, was es nicht erklaren kann. Das Unerklarliche von
sich zu legen, heisst in Kierkegaards Terminologie, es nicht zu einer Kategorie
machen zu wollen. Zur Kategorie wird es erst, wenn das Denken das Un­
erklarliche bei sich behalt als das, was es nicht erklaren kann.
Um den Gegensatz hervortreten zu lassen, der sich hier enthiillt, werde
ich versuchen, dasselbe in einer etwas anderen Terminologie auszudriicken.
Der Dualismus, der Kants Denken beherrscht, namlich der zwischen dem
Ding an sich und den Erscheinungen, oder zwischen der intelligiblen Welt
in ihrer Zeitlosigkeit und Unanschaulichkeit und der sinnlich gegebenen, zeitund kausalbestimmten Welt - dieser Dualismus ist Kierkegaards Meinung
nach falsch konzipiert. Wohl pflichtet er Kant in dessen Intention die Grenze
des Denkens zu bestimmen bei, behauptet aber, Kant hatte diese Grenze
falsch placiert. Er hat sie auf eine fiir Kierkegaard unklare Weise, teils aus-
Das existenzphilosophische M otiv im Denken Søren Kierkegaards
serhalb des Ich in das Ding an sich placiert, teils im gewissen Sinne in den
Menschen selbst, allerdings nur insofern als das Ich bei Kant droht, selbst
zum Ding an sich zu werden (XIII, 373). Spater in der Dissertation sagt er
gerade heraus: »Dieses Åussere, dieses Ding an sich war die Schwåche in
Kants System«. Warum ist es Schwåche? Weil dieses Aussere als ein abgegrenztes Gebiet innerhalb einer topologischen Ganzheit verstanden wird,
als ein Bereich, den das Denken der Phantasie uberlassen muss, weil er sich
jenseits des Bereiches erstreckt, den das Denken sich selbst als eignes Forschungsgebiet »zugedacht« hat.
Habe ich recht in der hier vorgeschlagenen Auffassung hinsichtlich Kierke­
gaards Einwand gegeniiber Kant, so erhebt sich die Frage, was Kierkegaard
denn eigentlich stattdessen setzen will. Was ist denn nun nach Kierkegaards
Meinung das, was nicht gedacht werden kann, das An-sich, das die Grenze
ausmacht? Die Antwort ist einfach und trotzdem von weitreichender Bedeutung: Es ist die Existenz! Kierkegaard sagt es ohne Umschweife in der
»Unwissenschaftlichen Nachschrift«, wo er in einer kurzen Erorterung Hegels Versuch, Kant zu iiberwinden, abweist. »Eine Skepsis, die das Denken
selbst in beschlag nimmt, kann nicht zum Einhalt gebracht werden, indem
sie durchdacht wird, denn das miisste ja durch das Denken, das sich auf
der Seite des Aufriihrers befindet, geschehen. Sie muss abgebrochen werden
. . . Das einzige An-sich, das sich nicht denken låsst, ist das Existieren!«
Oder wenden wir uns zuriick zu der Tagebuch-Aufzeichnung, von der wir
ausgingen. Sie schliesst folgendermassen: »Das Paradox ist nicht eine Konzession, sondern eine Kategorie, eine ontologische Bestimmung, die das Verhåltnis zwischen einem existierenden, erkennenden Geist und der ewigen
Wahrheit ausdriickt«.
Wir fassen kurz das Resultat, zu dem wir vorlåufig gelangt sind, zusammen:
Wir machten die Frage iiber das Unerklårliche zu unserem Ausgangspunkt.
Kant ist sehr wohl imstande zu bestimmen, was per definitionem unerklårbar
ist, d. h. was nicht zum Gegenstand des Erkennens oder der Aussage gemacht
werden kann. Erkenntnistheoretisch gesehen ist es das Ding an sich, ethisch
gesehen ist es der Mensch in seiner noumenalen Bestimmtheit als freies Wesen. Da aber die Unerklårbarkeit des Unerklårlichen darin besteht, dass es
nicht zum Gegenstand des Erkennens und der Aussage gemacht werden kann,
wird es nach ausserhalb des Denkens verlagert als die Grenze, an die das
Denken stosst und von der es sich zuriickstossen låsst, um sich ausschliesslich
in einem Bereich zu sammeln, in dem es berechtigt und gtiltig ist, anstatt dass
es sich mit der Grenze und dem, was jenseits der Grenze liegt, beschåftige.
Johs. Sløk
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Das bedeutet Kierkegaards Auffassung nach, dass das Unerklarliche der
Phantasie iiberlassen wird, was sich z. B. im Begriff des radikalen Bosen
zeigt, der fiir Kierkegaard mythischer Art ist. - Ich darf bemerken, dass es
sich hier ja nicht darum handelt, ob Kierkegaard mit seiner Behauptung recht
hat, was ich namlich nicht glaube, sondern meine Bemiihungen gehen darauf
aus, festzustellen, wie der Sachverhalt sich in Kierkegaards Denken darstellt.
Im Gegensatz zu Kant will Kierkegaard nun das wirklich Unerklarbare,
das Unerklarliche als Kategorie, aufsuchen. Es ist dies die Existenz. Es ist klar,
dass sie sich nicht denken lasst, da das Denken gerade darin besteht von der
Existenz zu abstrahieren; trotzdem aber ist sie eine Kategorie des Denkens.
Wohl stosst namlich das Denken mit ihr zusammen, aber nicht um damit in
seinen eigenen Bereich verwiesen zu werden. Im Gegenteil muss das Den­
ken bei der Existenz verharren, insofern als sie wesentlich mit zum Denken
gehort. Die Existenz kann nicht ausserhalb des Denkens gestellt werden als
ein Bereich, der nun einmal das Denken nichts angeht, denn beide, Denken
und Existenz, sind unlosbar miteinander verbunden. Denken ist namlich
nicht als Denken an und flir sich, als Denken in aller Abstraktion, sondern
immer nur als Denken des existierenden Menschen. Es ist ein und derselbe
Mensch, der existiert und gleichzeitig denkt. Das Denken selbst »hat« daher
das Unerklarliche, was sich darin zeigt, dass es sehr wohl erklaren kann,
warum es das Unerklarbare nicht erklaren kann.
Jeder, der die »Unwissenschaftliche Nachschrift« kennt, wird wissen, dass
das Verhåltnis zwischen Existenz und Denken der fundamentale Ausgangspunkt dafur ist, wie Kierkegaards Philosophie den Menschen versteht. Man
konnte nun fragen, wieso es sich so verhålt. Die Antwort ist, weil es eine
ewige Wahrheit vom Menschen und verpflichtend fiir den Menschen gibt.
Es wåre am Platze nun in einer besonderen und eingehenden Untersuchung
festzustellen, was Kierkegaard eigentlich mit einer »ewigen Wahrheit« meint.
Wir mussen uns indessen mit einer allgemeinen Bestimmung begniigen: eine
ewige Wahrheit ist eine unumgångliche, einleuchtende, iiberall und fiir alle
giiltige Norm dafiir was Menschsein ist, eine Norm, die also teils eingesehen
werden kann, teils, wenn sie eingesehen worden ist, sich selbst vom Menschen
fordert. Sie wird ewig genannt, nicht nur, weil sie zu jeder Zeit gilt, sondern
weil der Mensch, indem er sich in Ubereinstimmung mit ihr bringt, »ewig«
wird oder ewige Giiltigkeit erhålt.
Es gibt also eine ewige Wahrheit vom Menschen. Es ist dies eine Grundvoraussetzung, die zu beachten von grosster Wichtigkeit ist, wenn man die
Art von Kierkegaards Existenzphilosophie festzustellen wiinscht. Zu be-
Das existenzphilosophische M otiv im Denken Søren Kierkegaards
zweifeln, dass es eine ewige Wahrheit gibt, fållt Kierkegaard Uberhaupt garnicht ein. Mit welchen Mitteln aber begreift und verhålt sich der Mensch zu
einer Wahrheit? Mit dem Denken natiirlich! Eine Wahrheit ist fiir das Den­
ken. Deshalb ist ja der Mensch auch imstande die ewige Wahrheit zu denken
- und durch dieses Denken Verbindung mit ihr zu erlangen.
In dieser Voraussetzung befindet Kierkegaard sich im tiefsten Gegensatz
zu Kant. Fiir Kant stiess das Denken an eine Grenze, die prinzipiell nicht
uberschritten werden konnte. Jenseits ihrer lag das Ding an sich und - wie
wir Kierkegaard erklåren horten - fiir Kant wird das Ich selbst zum Ding an
sich. Das bedeutet, dass die ewige Wahrheit dem Menschen verborgen bleibt.
Das Denken kann sie nicht erreichen. Der Mensch muss sich, wenn ich mich
so ausdriicken darf, begniigen mit den Erscheinungen und dem Mythischen.
Dies aber ist, wie Kierkegaard sich ausdruckt, eine Skepsis, die auf verkehrter Grundlage erhoben ist, innerhalb des Denkens selbst, und die daher
nicht zum Einhalten vom Denken selbst, das ja auf Seiten des Aufriihrers
ist, gebracht werden kann. Sie muss abgebrochen werden. Darum behauptet
Kierkegaard dagegen, dass es im Verstehen der ewigen Wahrheit, im Denken
iiber sie, keine Grenze gibt. Denken und Wahrheit verhalten sich ja gerade
zueinander und eine Wahrheit, die sich nicht denken låsst, ist ein Monstrum.
Die wirkliche Grenze, das wirkliche An-sich, das Unerklårliche als Kategorie
liegt nach der anderen Seite zu, liegt nicht im Verhåltnis des Denkens zur
Wahrheit, sondern in seinem Verhåltnis zur Existenz. Die Schwierigkeit besteht genau genommen darin, dass der, der die ewige Wahrheit denkt, gleichzeitig der Existierende ist und nun existentiell die ewige Wahrheit, die er
denkt, ausdriicken soli.
Ich mochte hier an einen Gedanken erinnem, den Kierkegaard in einem
anderen aber ebenso zentralen Zusammenhang åussert. In der »Krankheit
zum Tode« setzt er sich an einer Stelle mit dem Sokratischen auseinander
(XI, 230 f.). Die Bedenklichkeit des sokratischen Menschenverståndnisses
liegt darin, sagt er, »dass eine dialektische Bestimmung fehlt den Ubergang
betreffend von dem ,etwas verstanden zu haben’ zu dem ,es zu tun’. In diesem
Ubergang beginnt das Christliche«. Darum, sagt Kierkegaard weiter, liegt
die SUnde im Willen. Wenn nicht vom einzelnen wirklichen Menschen die
Rede ist, »so ist keine Schwierigkeit verbunden, mit dem Ubergang vom
Verstehen zum Tun . . . In der Welt der Wirklichkeit dagegen, wo von ein­
zelnen Menschen die Rede ist, da ist vom Verstandenhaben zum Tun die
Bagatelle des Ubergangs, er ist nicht immer cito citissime . . . im Gegenteil,
hier fångt eine sehr weitlåufige Geschichte an«.
Johs. Sløk,
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Fiir Kierkegaard verhålt sich die Sache so, dass der Mensch als denkendes
Wesen sehr wohl die ewige Wahrheit fassen kann, das Denken kann aber
keinen Obergang zur Existenz vermitteln. Andrerseits kann das Denken auch
nicht die Existenz beiseitelegen als etwas, das es nichts angeht, denn die
Wahrheit ist eine Norm, die den Anspruch stellt, realisiert zu werden, und
zwar an den Menschen, der als Denkender sich in der Skepsis die Wahrheit
nicht vom Leibe halten kann. Die Ohnmacht des Denkens zeigt sich nicht
der Wahrheit gegeniiber, sondem der Existenz gegeniiber, von der es gerade
absehen muss, um fungieren zu konnen. Eben diese Wendung im Gegensatz
zu Kant, diese radikale Verlagerung des fundamentalen Problems, ist das
Existentielle bei Kierkegaard. Die ethische Existenz, d. h. in seiner konkreten
Existenz von Augenblick zu Augenblick die Wahrheit, die in sich selbst ein
Anspruch ist, zu realisieren ist dann das Einzige, was Bedeutung hat, ist der
Angelpunkt, um den sich alles dreht.
Aber noch haben wir nicht das existenzphilosophische Motiv in Kierke­
gaards Denken erschopfend bestimmt. Es erhebt sich eine neue Frage. Wenn
die tragende Problematik darin liegt, die Wahrheit, zu der der Mensch sich
denkend in Beziehung gesetzt hat, in Existenz zu verwirklichen, so muss erst
festgestellt werden, wie der Mensch uberhaupt zur Kenntnis dieser Wahrheit
gelangt. Wo soli sie der Mensch finden? Um diese Frage zu beantworten,
ist es von Bedeutung, sich zunåchst folgenden wichtigen Sachverhalt klarzumachen: Die Spannung besteht nicht nur in dem polaren Verhåltnis zwi­
schen einer åusseren, objektiv gegebenen, ewigen Wahrheit und dem subjektiven Individuum, dem Existierenden, der diese Wahrheit realisieren soli,
sich in Ubereinstimmung mit ihr bringen soli. Gleichzeitig damit, dass die
Wahrheit wirklich Wahrheit ist, ewig, allgemeingultig und real, ist sie nach
Kierkegaards in diesem Punkt hochst eigenen Auffassung auch subjektiv.
Demzufolge taucht nun hier eine eigentiimliche Dialektik auf. Man konnte
ja nun ungeduldig behaupten, entweder liegt die Wahrheit objektiv gegeben
vor und das Problem ist dann nur ihre Realisation, oder aber es gibt uber­
haupt keine Wahrheit und der Mensch muss sich zynisch, sophistisch oder
heroisch mit den zufålligen und willkiirlichen Wahrheiten begniigen, die er
selbsttåtig hervorbringt. Kierkegaard will jedoch dieses Dilemma nicht anerkennen. Einesteils akkzeptiert er den totalen Relativismus. Was Wahrheit ist,
bekommt man nicht als etwas Ausseres zu wissen, und behauptet man, dass
nur, was sich auf åussere, objektive Art festlegen lasst, allgemeingultig sein
kann, so gibt es eben keine allgemeingultige Wahrheit. Kierkegaard sagt
(II, 287): »Wenn das Individuum nicht letzten Endes selbst das Absolute ist,
Das existenzphilosophische M otiv im Denken Søren Kierkegaards
so ist die Empirie der einzige Weg, der ihm angewiesen ist, und dieser Weg
hat hinsichtlich seiner Mundung die gleiche Eigensehaft wie der Fluss Niger
hinsichtlich seiner Quelle, keiner weiss, wo sie liegt. Bin ich der Endlichkeit
angewiesen, so ist es Willkiir an irgendeinem einzelnen Punkt stehen zu
bleiben«. Andrerseits bekommt man es wirklich im eigenen Selbst zu wissen,
was Wahrheit ist, ohne dass es deswegen etwas Willkiirliches und nur In­
dividuelles ist, denn man ist selber als Individuum zugleich das Allgemeine,
d. h. die ewige Wahrheit lebt nur im individuellen Verhåltnis des Menschen
zu sich selbst. Kierkegaard spricht in dem Abschnitt (II, 284), aus dem
letzteres Zitat stammt, iiber die Skepsis, die das Ethische anbelangt und nur
trifft in seiner Bedeutung als das Verhåltnis des Menschen zur ewigen Wahr­
heit. Zunåchst kann es da die Skepsis geben, die meint, dass es garkeine
Wahrheit gåbe, und man hat, um diese Skepsis zu stiitzen, darauf aufmerksam
gemacht, »dass die Pflicht selbst wackelt, dass die Gesetze veråndert werden
konnten«, welches zeigt, dass man wohl hauptsåchlich »an die Fluktuationen
gedacht hat, denen die biirgerlichen Tugenden immer ausgesetzt sind.« Tatsåchlich aber gibt es eine andere Skepsis, die tiefer zielt und trifft, die nåmlich, »dass ich iiberhaupt garnicht die Pflicht tun kann. Die Pflicht ist das
Allgemeine, das was von mir gefordert wird, ist. das Allgemeine; das was ich
tun kann, ist das Einzelne«. Die letztgenannte Skepsis aber, fugt Kierkegaard
hinzu, ist bedeutungsvoll, weil sie zeigt, dass das Individuum sowohl es selbst
und zugleich das Allgemeine ist, und dass es das Allgemeine nirgends anderswo als im Individuum als solchem gibt. Sucht man das Allgemeine, die
Normen, die ewige Wahrheit anderswo als in sich selber als Individuum,
so ist man entweder Mystiker, spekulativ oder Spiessbiirger, je nachdem ob
man es in sich selbst sucht, vergessend, dass man Individuum ist, oder ob
man es im abstrakten System als solchem, bezw. im Konventionellen sucht.
Die Konklusion unserer Erorterungen ist also, dass sich das existenz­
philosophische Motiv an zwei Stellen in Kierkegaards Denken zeigt: zunåchst
darin, dass die ewige Wahrheit sich zum existierenden Menschen verhålt,
sodann in dem bedeutend strammer gebundenen dialektischen Knoten, dass
die ewige Wahrheit selbst nicht etwas ausserhalb des Individuums ist, son­
dern im Gegenteil, dass der Mensch sie nur in sich selber als Individuum
finden kann. Es leuchtet unmittelbar ein, dass diese beiden Stellen aufs Engste
miteinander verbunden sind. Sie haben die gleiche Struktur, die zweite ist nur
eine Potenzierung der ersten. Ihre gemeinsame Paradoxalitåt besteht darin,
dass die ewige Wahrheit und die Existenz nicht anders als im Verhåltnis
zueinander bestimmt werden konnen. Das was seinem Begriff nach ewig,
Johs. Sløk
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immer sich gleich und unverånderlich, objektiv und allgemeingiiltig sein muss,
ist nicht nur zufållig oder akkzidentiell, sondern wesentlich gebunden an den
fliichtigen, verånderlichen, subjektiv-individuellen Menschen.
Meines Erachtens ist eben die Doppelheit, die ich hier zu beschreiben
versucht habe, das fundamentale existenzphilosophische Motiv in Kierke­
gaards ganzem Denken. In folgender Feststellung sei mir gestattet den Nachweis dafiir zu erbringen: Das Schema, nach dem Kierkegaard hier denkt, ist
so kompliziert - oder wenn man will - so dialektisch, dass es, soweit ich
sehe, nicht moglich sein dUrfte, ihn irgendeiner Tradition anzureihen. Der
definitive Agnostizismus, in den Kants Kritizismus konkludierte, wird ausdriicklich, wie ich es zu zeigen versucht habe, von Kierkegaard selbst abgewiesen. Sieht man also Kierkegaard im Verhåltnis zu Kant, so liegt es am
nåchsten, ihn fiir Platoniker zu erklåren, denn allerdings statuiert er eine
Unwissenheit; dies ist aber keine m etaphysische Unwissenheit von einem Sein,
das wohl die dem Erkennen ausgelieferte Welt trågt, gleichzeitig aber sich
selbst jenseits der Grenze des Daseins befindet. Es ist vielmehr eine - sagen
wir - existentielle Unwissenheit, die in der Behauptung wurzelt: voraus vor
allen Aufgaben, die dem Menschen gestellt sind, gehe die eine: uberhaupt
erst einmal Mensch zu werden. Was das m etaphysische Anliegen betrifft, so
ist der Mensch keineswegs unwissend; er ist sogar im doppelten Sinne »wissend«: nicht nur ist er imstande den Prozess des Erkennens bis zuende durchzufiihren, sondern er besitzt zudem in sich selber den Gegenstand dieses Er­
kennens. Die letzte Wirklichkeit, die Wahrheit oder das Absolute kann der
Mensch eben deshalb erkennen, weil er selbst als Individuum der Ort dafiir
ist. Die Schwierigkeit des Menschseins ist daher nicht erkenntnistheoretischer,
sondern ethischer Art, nåmlich sich nach dem Allgemeinen, das der Mensch
sehr wohl erkennen kann, individuell zu bilden.
Andrerseits låsst sich auch wieder nicht behaupten, Kierkegaard fiihre
die platonische Tradition weiter. Man hat das zwar håufig getan, doch hat
das meiner Meinung nach stets zu verhångsnisvollen Missdeutungen gefiihrt.
Zugestanden muss allerdings werden, dass die Art, in der Kierkegaard sein
Werk aufgebaut hat: seine dauernde Bezugnahme auf Plato, sein Hervorheben von Sokrates auf Kosten Hegels; uberhaupt seine platonisch ausgeformte Terminologie legen eine solche Auslegung nahe. Trotzdem aber neige
ich mehr und mehr zu der Uberzeugung, dass man dem Verståndnis von
Kierkegaard vielleicht am allernåchsten kommt, wenn man sein Denken ge­
rade im Gegensatz zu dem Muster bestimmt, nach dem Platos Philosophie
aufgebaut ist. Das Problem ist ausserordentlich umfassend und eine be-
Das existenzphilosophische M otiv im Denken Søren Kierkegaards
friedigende Argumentation kann nicht in wenigen Såtzen erfolgen. Ich meine
aber doch den Scheidepunkt zwischen Kierkegaard und Plato ziemlich deutlich angeben zu konnen, wenn dies hier auch nur in einer stichwortartigen
Form erfolgen kann. Fiir Plato ergibt sich die ethische Aufgabe aus dem
Spannungsverhåltnis zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit, in dem die metaphysische Bestimmung der Struktur des Menschen resultiert. Der Mensch
ist in dem Sinne aus dem Zeitlichen und aus dem Ewigen zusammengesetzt,
dass er teils und im gewissen Grade zeitlich und teils und im gewissen
Grade ewig ist. Das Zeitliche und das Ewige sind die Ingredienzen, aus denen
der Mensch besteht und von welchen aus die ethische Aufgabe bestimmt
werden muss. Dass die metaphysische Scheidung zu einer Festlegung der
ethischen Aufgabe benutzt werden kann, riihrt daher, dass sie nicht nur
ontologischen, sondern zugleich axiologischen Charakters ist. Mit der Beschreibung des Wesens der Zeit und des Wesens der Ewigkeit ist bereits ein
Werturteil gefållt. Die Zeit ist im gewissen Sinne nichtseiend, sie ist mit dem
Schein der Illusion behaftet; die Ewigkeit ist das im letzten Sinne Reale; die
ethische Aufgabe des Menschen ist daher, sich ståndig im hoheren Masse
vom Zeitlichen ab dem Ewigen zuzuwenden, auf das Ewige zu bauen, das er
in sich selber besitzt, oder in mythischer Wendung gesagt: in immer hoheren
Masse in die ewige Welt einzugehen, in der er eigentlich zuhause ist.
Es erscheint mir unmittelbar einleuchtend, dass Kierkegaard weitgehend
in denselben Bahnen denkt, wie das soeben angedeutete. Schon die Termino­
logie, in der diese kurze Beschreibung stattgefunden hat, ist vollig die seinige.
Nichtsdestoweniger ist Kierkegaards Bestimmung von der ethischen Aufgabe
des Menschen eine radikal andere. Fiir ihn sind Zeitlichkeit und Ewigkeit
nicht Ingredienzen, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist. Alles was gleichgiiltig von welchem Gesichtspunkt aus - als eine Beschreibung vom
Menschen gesagt werden kann, gehort als Ingredienz unter den Begriff der
Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit, konnte man sagen, ist die Totalitåt der In­
gredienzen. Die Ewigkeit dagegen ist der Ausdruck dafiir, dass der Mensch
zu sich selbst, zu seiner Zeitlichkeit, verschiedene Haltungen einnehmen kann,
und dass er nur in einer dieser Haltungen giiltig, real, »ewig« sein kann. Er
kann sich in Konventionalitåt verhalten, in Zerstreuung, als »Publikum«, in
Dåmonie und Verschlossenheit, in Trotz. tiber alle diese und åhnliche Hal­
tungen, die alle in gleicher Weise moglich sind, wird nun das Urteil gefållt:
der Mensch sei darin »verzweifelt«; er ist unter solchen Umstånden nicht er
»selbst« geworden. Erst wenn der Mensch in vollem Selbstbewusstsein und
damit in voller Selbstverantwortung sich selbst ubernommen hat als eben
Johs. Sløk
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das ganz Bestimmte, was er nun einmal ist, erst dann ist er er selbst, aber dann
ist er auch in Ewigkeit - oder wie man es auch ausdriicken kann: erst dann
hat er sich selbst vom Exemplar zum Individuum verwandelt.
So ist es klar, dass mit der von Plato so radikal verschiedenen Bestimmung der Bedeutung des Wortes Ewigkeit, Kierkegaard auch eine durch und
durch unplatonische Definition der ethischen Aufgabe geben muss. Die Auf­
gabe ist dann nicht, sich vom Zeitlichen zum Ewigen zu bewegen, sondern
sie geht dem entgegengesetzt darauf aus, in der Entschlossenheit beim Zeit­
lichen in seiner ganz konkreten Gestalt zu bleiben. So ist es denn auch charakteristisch, dass jede Form von Verzweiflung in Kierkegaards Sprachgebrauch
in irgendeinem Sinne eine Abstraktion ist.
Was uns nun von all diesem im vorliegenden Zusammenhang angeht, ist
folgendes: Die Wahrheit kann fiir Kierkegaard ausserhalb der Position der
Existenz uberhaupt nicht postuliert oder ausgedriickt werden. Die Schwierig­
keit ist nicht, dass ein Existierender, d. h. ein in der Zeit, ihrer Verånderlichkeit und Illusion gefangener Mensch sich zu der letzten Wahrheit, die per
definitionem ewig sein muss, verhalten soli. Das ist die platonische Anschau­
ung, die zu dem von Plato in Phaedon so bezeichneten »philosophischen Absterben« fiihrt. Die Schwierigkeit ist, dass der Ort der Wahrheit eben die
Existenz ist. Der Mensch soli nicht ausserhalb seiner Situation in der Existenz
die Wahrheit finden, soli sie nicht in Bezirken suchen, die ihr ontologisch
adåquat sind. Nein, sie ausserhalb seiner selbst zu suchen - oder sich mit
einem Teil seiner selbst mit einer Wahrheit verbunden fuhlen, die ihrem
Wesen nach sonst keine Affinitåt zu Zeit und Existenz hat, ist Kierkegaards
Meinung nach ein Sich-selbst-Verlieren. Die Wahrheit verhålt sich wesentlich
zur Existenz in dem Sinne, dass es sich hierbei nicht um etwas Akkzidentielles handelt, sondern um etwas in der Definition der Wahrheit Enthaltenes.
Damit ist, wie Kierkegaard es ausdriickt, das Individuum unendlich akkzentuiert. Das Allgemeine oder das Absolute ist mit dem Individuum gegeben.
Dieser Satz enthalt ein doppeltes Paradox. Das erste Paradox besteht darin,
dass das Allgemeine und das Individuelle, das Absolute und das Relative
sich im wesentlichen Sinne und unlosbar verbunden zueinander verhalten.
Weil aber das Allgemeine auf diese paradoxale Weise mit dem Individuellen
gegeben ist, ist es die Aufgabe des Einzelnen bei sich selbst das Allgemeine
zu entdecken und individuell zu realisieren. Das ist das zweite Paradox. Also
nicht auf irgendeine Weise des Allgemeinwerden, sei es in Konventionalitåt,
Mystik oder Spekulation, bringt sich der Mensch in ein Verhåltnis zum Allgemeinen, sondern eben dadurch, dass er in Individualitåt er selbst wird. Nur
D as existenzphilosophische M otiv im Denken Søren Kierkegaards
durch den Umweg des vollig Individuellen gelangt man zum Allgemeinen.
Dieser grundlegende Satz kann durch eine Reihe von paradoxalen Behauptungen umschrieben werden: nur indem man im tiefsten Sinne ein Selbst ist,
kann man fiir andre sein, nur in der Selbstentfaltung steht man in der Bezogenheit zu den Menschen, an deren Welt man teilhat, nur in der Selbstverantwortung ist es moglich im Ubrigen, in den einzelnen konkreten Fallen,
eine Verantwortung zu haben, nur in der Entschlossenheit zu sich selbst hat
es Sinn sich in den einzelnen Dilemmen zu entschliessen, nur im Wåhlen
der Wahl ist es moglich dann auch im einzelnen zwischen gut und bose zu
wåhlen.
Um ein eventuelles Missverståndnis zu vermeiden, mochte ich hinzufiigen,
dass durchaus kein Widerspruch besteht zwischen einerseits der Behauptung,
dass die Wahrheit im existierenden Menschen gegeben ist, bezw. dass das
Allgemeine im Individuellen zugegen ist, und anderseits der Forderung, dass
der Mensch sich in ein Verhåltnis zur Wahrheit bringen soli, bzw. dass das
Individuum sich individuell in das Allgemeine, das es angeblich schon ist,
hineinwåhlen soli. Zwischen diesen beiden Såtzen bestiinde nur dann ein
Widerspruch, wenn die Begriffe »Wahrheit«, das »Allgemeine«, »das Ewige«
substanzielle, definierbare Grossen angåben, von denen man behaupten
konne, der Mensch besåsse sie. In diesem Falle wåre die Aufgabe nicht, sich
selbst zu wåhlen - das wåre sinnlos, denn man wåre ja ein Selbst, sondern
man miisste in dauernd fortschreitender Entfremdung vom Zeitlichen und
Individuellen in sich selber den Akkzent seines Wesens auf den ewigen und
allgemeinen Faktor verlagern.
Die vorliegende Untersuchung resultiert also in folgendem: Das speziell
Existenzphilosophische in Kierkegaards Denken liegt meines Erachtens in
der Auffassung Kierkegaards, die das Zentrum seines Denkens ausmacht,
dass im M enschen selbst das Verhåltnis zwischen dem Individuellen, Einzelbestimmten, Zeitlichen und Relativen und dem Allgemeinen, Ewigen, Absoluten liegt, dass also der Mensch doppelt an sich selbst gebunden ist. Wir
sind einfach deshalb gezwungen den Terminus: existenzphilosophisch zu gebrauchen, weil Kierkegaard hier tatsåchlich einem kritischen - oder eventuell
zynischen - Agnostizismus, iiberhaupt einer negativistischen Ablehung des
Wahrheitsbegriffes ebenso fernsteht, wie einer klassich konzipierten ontologischen Metaphysik. Kierkegaards philosophische Anthropologie von einer
dieser traditionellen Grundpositionen her zu bestimmen ist iiberhaupt nur
moglich, wenn man die eine Hålfte seiner Argumentation unterschlågt; ein
solcher Versuch endet allem Ermessen nach in Absurditåten.
Johs. Sløk
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Damit wåre ich am Ende meiner Ausfiihrungen. Ich habe indessen noch
zwei Bemerkungen hinzuzufiigen. Ich habe ausschliesslich das existenzphilo­
sophische Motiv zu umkreisen versucht. Wie dieses Motiv nun in Kierke­
gaards Werk durchspielt wird, ist eine ganz andere Frage, die ich nicht beriihrt habe und die zu behandeln auch nicht meine Aufgabe war. Und doch
mochte ich hier zum Schluss nicht versåumen darauf aufmerksam zu machen,
wie eben dieses Motiv das leitende Schema in Kierkegaards Christentumverståndnis wird. Dass Wahrheit und Existenz nicht nur akkzidentiell, son­
dern wesentlich miteinander verbunden sind, ist die Formel, die die Inkarna­
tion zum zentralen christlichen Dogma macht. Dem existierenden Menschen
als dem Orte der Wahrheit entspricht auf einem hoheren Plan der Begriff
vom »Gott in der Zeit«. Da aber die Inkarnation in ihrer allgemeinen theologischen Bedeutung mit deren gesamten Inhalt und deren ganzer Reichweite
beibehalten und nicht auf Hegelsche Weise umgedeutet wird, eben darum
erhålt die Geschichte neue Bedeutung. Geschichte ist dann nicht der immer
wieder revidierte, immer nur sich annahernde Versuch der verschiedenen und
wechselnden Kulturen, die Wahrheit zu verwirklichen, sondem jede einzelne
Kultur, wie jeder einzelne Mensch wird dem geschichtlichen und doch ewigen
Faktum der Wahrheit, dem Gott in der Zeit, gegeniibergestellt und in seiner
Antwort auf die Herausforderung, die darin enthalten ist, entscheidet er unendlich und unwiderruflich sich selbst.
Man sieht, dass Kierkegaard z. B. Jaspers Rede von der Transzendenz
als dem »Umgreifenden« hatte ablehnen mussen - fiir Kierkegaard bedeutet
das Wort Transzendenz etwas ganz anderes, nåmlich den Ubergang zur Exi­
stenz - und dass er darum auch Jaspers Geschichtsphilosophie abgelehnt
hatte. Fiir Kierkegaard ist es die Inkarnation, der Gott in der Zeit, der »Ursprung und Ziel der Geschichte« ist.
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