Was kann Kierkegaard - danmark

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Was kann Kierkegaard?
Warum zitieren Bill Clinton, Woody Allen und Milan Kundera Kierkegaard? Warum finden
Kierkegaards Auffassungen nicht nur in Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaft
Zulauf, sondern auch in den modernen Sozialwissenschaften, der Psychologie,
Kommunikation, Pädagogik, Personalführung und im Coaching?
Worin besteht Kierkegaards besonderes Können?
Kennen Sie es, unruhigen Geistes umher zu wandern? Einerseits bereitet es Ihnen
Unbehagen, andererseits fühlen Sie sich seltsam aufgekratzt? Es ist die Angst, die sich
bemerkbar macht, würde Kierkegaard sagen. Die Angst ist eine Art Lebenskraft, ein
Indikator, der weder negativ noch positiv ist, sondern beides. Die Angst lässt uns erahnen,
dass das Leben weitaus größer als die Aufgaben des täglichen Lebens ist, die uns natürlich
beschäftigen. Die Angst lässt uns spüren, dass wir die Gabe haben, zu dem, was wir tun,
Stellung zu beziehen. Die Angst lässt uns die „Möglichkeit der Freiheit“ ahnen. Die
Möglichkeit, die wir als Menschen besitzen, um unserem Leben selbst eine Richtung zu
verleihen, selbst Verantwortung für unser Verhalten zu übernehmen.
Vielleicht haben Sie die Angst nicht auf diese Weise wahrgenommen? Aber Sie erinnern sich
doch an die Gelegenheiten, an denen Sie unbändig glücklich waren? So froh, dass Sie es im
wahrsten Sinne kaum aushalten konnten. Sie mussten es verkünden. Mit jemandem reden.
Konnten es nicht lassen. Die Freude drängte sich auf. So ist es mit Freude: „Zur Freude
gehört es, dass sie sich offenbaren will.“ Die Freude besitzt eine lautlose Durchsichtigkeit.“
Man kann es deshalb nicht verbergen, wenn man richtig glücklich ist.
Ganz umgekehrt ist es mit der Trauer. „Die Trauer ist verschlossen, stumm, schweigsam und
in sich gekehrt.“ Trauer kann man verbergen. Mit der Freude geht das nicht. Versuchen Sie,
dem nachzuspüren.
Wie war es noch, als Sie jemanden verloren haben, der Ihnen nahestand? Ein Freund oder
eine Freundin. Ein Kind. Ein geliebter Mensch, der nicht mehr ist. Nur die Trauer bleibt
Ihnen. Andere können sie nicht sehen. Aber Sie können sie spüren. Ja, Sie sollen sie
spüren. Denn die Trauer ist die Liebe zum Verlorenen: „Mir steht es nicht zu, mich gegen
den Schmerz des Lebens zu verhärten, denn ich soll trauern; aber ich habe nicht das Recht,
zu verzweifeln.“ Die Trauer ist der Schatten der Freude. Die Trauer zeigt, dass der, den Sie
verloren haben, eine Bedeutung für Sie hatte und hat. Deshalb sollen Sie trauern, aber Sie
dürfen nicht verzweifeln.
Was ist Verzweiflung? Kennen Sie es, wenn sich das Leben gleichsam abschottet? Wenn
sich der Sinn verschleiert. Wenn es nicht mehr ausreicht, aufzustehen und das zu tun, was
man zu tun pflegt. Wenn die Zukunft verschwindet. Sie sehen keine Hoffnung. Verzweiflung
ist es, den Glauben an die Möglichkeit des Guten aufzugeben.
Erinnern Sie sich daran, als Sie verliebt waren? Wie fühlt es sich an? Es ist schwer zu
beschreiben. Niemand wird es verstehen können, der es nicht selbst erlebt hat: „Falls Du
niemals selbst verliebt gewesen bist, weißt du auch nicht, ob jemals überhaupt in der Welt
geliebt wurde, obgleich Du weißt, wie viele versichert haben, geliebt zu haben. Aber ob sie
wirklich geliebt haben, das kannst Du nicht wissen; und wenn Du selbst geliebt hast, dann
weißt Du, dass Du geliebt hast. Der Blinde jedoch weiß nichts über die Vielfalt der Farben; er
muss sich darein fügen, dass andere ihm versichern, es gebe sie.“ Wenn Sie verliebt sind,
zweifeln Sie selbst nicht. Aber vielleicht bezweifeln Sie, dass Ihr geliebter Mensch Sie
genauso stark liebt, wie Sie ihn oder sie lieben? Vielleicht sind Sie „Eifer-süchtig“: Krank vor
Eifer danach, heraus zu finden, ob Ihre Liebe erwidert wird: „Der Eifersüchtige hasst nicht
den Gegenstand der Liebe, bei Weitem nicht, aber er martert sich selbst im Feuer der
Gegenliebe, das läuternd seine Liebe reinigen soll. Der Eifersüchtige empfängt, nahezu
flehend, jeden einzelnen Strahl der Liebe vom Geliebten, aber all diese Strahlen bündelt er
im Brennglas der Eifersucht auf seiner Liebe, und er verbrennt langsam.“ Vielleicht können
Sie die Eifersucht wieder erkennen, wenn Sie sich in Erinnerung rufen, wie sie zuletzt an der
Liebe Ihres Geliebten oder Ihrer Geliebten zweifelten?
Für Kierkegaard besteht der Mensch aus einer Einheit von Seele und Körper. Wir haben
körperliche Bedürfnisse: das Bedürfnis nach Nahrung, Obdach, Zärtlichkeit und anderen
physischen Notwendigkeiten. Und wir haben „seelische“ Bedürfnisse: das Bedürfnis nach
Sinnhaftigkeit und Ordnung in unserem Dasein, Bedürfnis danach, uns in der Welt heimisch
zu fühlen, Bedürfnis nach Vorhandensein von Freiheit. Die Aufgabe lautet, „sich selbst zu
erwählen.“ Hierdurch wird man „nicht ein anderer als der man vorher war, aber man wird
man selbst.“ Vielleicht sind Sie einer der vielen, die versuchen, sich selbst zu finden? Sie
besuchen Kurse und beschäftigen sich ernsthaft mit sich selbst. Aber was ist ein Selbst?
Befindet es sich innerhalb des Körpers wie ein kleiner Kern? Wird es durch unseren Umgang
mit anderen Menschen gebildet? „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst
verhält.“ Daher bildet das Selbst eine Aufgabe für jeden Menschen, wo auch immer auf der
Welt er sich befinden mag. Die Aufgabe besteht darin, bewusst und verantwortungsvoll mit
den entgegenstehenden Bedürfnissen umzugehen, die jederzeit unser Handeln lenken und
bestimmen, wer wir sind und was wir tun. Aber vielleicht gelingt dies Ihnen nicht immer? An
manchen Tagen ist es, als ob die Leere überhandnimmt, als ob das Leben „ein galliger
Trank“ ist, „und doch muss es tropfenweise eingenommen werden, langsam, zählend.“
Das ist es, was Kierkegaard kann. Er kann den Nerv der Existenz beschreiben, wie er
beharrlich und insistierend zittert. Er kann das Hell und das Dunkel und alle Zwischentöne
einfangen, die ein Leben farbig machen, sei es, dass es das Kopenhagen um 1800 oder das
heutige China ist. Er kann uns auf uns selbst zurückwerfen und uns mit Worten die
Erfahrungen benennen, die nicht alltäglich sind, sich aber trotzdem als Abglanz in der Hektik
einfinden, egal, ob ein Leben in Tondern, Tokio oder Toronto gelebt wird.
Das ist der Grund, weshalb Dänemark 2013 auf den 200sten Jahrestag von Søren
Kierkegaards Geburt hinweisen muss. Weil Kierkegaard ein Denker der Leidenschaften ist,
der es vermag, die Grundfragen des Lebens zu benennen und zu beschreiben, Fragen, die
sich jedem unabhängig von Ausbildung, Nationalität und religiösem Gebot stellen.
Kierkegaards Oeuvre ist vielfältig. Es umfasst ca. einunddreißig Werke unter Pseudonym
und im eigenen Namen sowie eine entsprechende Menge Journale und Notizbücher. Es ist
komplett zugänglich und abrufbar, schnell und kostenlos unter www.sks.dk. Ein Großteil der
nun geplanten ausländischen und dänischen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem 200sten
Jahrestag von Kierkegaards Geburt ist unter www.SK2013.ku.dk veröffentlicht. Noch viel
mehr Initiativen wären denkbar und wünschenswert.
Von Pia Søltoft
Leiterin des Søren Kierkegaard Forschungszentrums an der Universität Kopenhagen.
Übersetzung: Christina Nawrocki, www.danmark-berlin.de
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