Wissen und Erinnern – Über die Anfänge des menschlichen Gedächtnisses Vortrag am 09.04.2013 im Rahmen der Vortragsreihe „Von Sinnen“ des „turmdersinne“ im Nürnberger Planetarium Prof. Dr Prof Dr. Monika Knopf Goethe-Universität Frankfurt am Main Institut für Psychologie 12.04.2013 Ziele – besseres Verständnis des ¾ Gedächtnisses und seinen verschiedenen Inhalten ¾ Unterschieds: Wissen und Erinnerungen ¾ Aufbaus des Gedächtnisses zu Beginn des Lebens 12.04.2013 1 1 Was versteht man unter Wissen, 1. Wissen was unter Erinnerungen? 12.04.2013 2 Skizze des Wissens eines Menschen Objektbezeichg nungen Geographische Kenntnisse Geschichtskenntnisse Die Muttersprache Rechtschreibung Eetc. Fremdsprachen Rechenregeln 12.04.2013 3 Was sind Erinnerungen im Unterschied zu Wissen? Beispielsweise: • Der Abschlussball der Tanzstunde • Die Führerscheinprüfung • Wo habe ich den 11 11. September 2001 erlebt? Wer hat mir davon berichtet? Was habe ich da gerade gemacht? Quelle Fotos: Internet 12.04.2013 4 Erinnerungen: ¾ Kenntnis zu Orten („wo geschah etwas“), zu Zeiten („wann geschah etwas“), “) zum S Selbst ((„was habe ich da gemacht“), “) zum eigenen Erleben („wie habe ich mich gefühlt“). ¾ Erinnerungen ermöglichen eine „Zeitreise“ in die eigene Vergangenheit; Wissen erlaubt dieses nicht! ¾ Obwohl Wissen und Erinnerungen beide im Verlauf des Lebens erworben wurden,, haben beide eine vollkommen unterschiedliche Qualität. ¾ Wi Wissen und d Erinnerungen Ei verwahren h wir i iim L Langzeitgedächtnis. it dä ht i Mit dem Langzeitgedächtnis wollen wir uns im nächsten Punkt befassen. 12.04.2013 5 2 Das Gedächtnis ist keine Einheit 2. Einheit, sondern ein System 12.04.2013 6 Gedächtnis Explizites Gedächtnis Semantisches Wissen Gedächtnis 12.04.2013 ErinnerunEpisodisches Gedächtnis gen Implizites Gedächtnis Motorische Fertigkeiten, Gewohnheiten Bahnung (Priming) Klassische Konditionierung Nichtassoziatives Lernen 7 Zentrale Unterschiede zwischen implizitem und explizitem Gedächtnis Auf einer ersten Ebene ist das Langzeitgedächtnis in zwei Äste eingeteilt; man unterscheidet zwischen explizitem Gedächtnis und implizitem Gedächtnis. Explizites Gedächtnis besagt, dass die Gedächtnisinhalte bewusst abgerufen werden können (Wissen und Erinnerungen). Nun treffen wir eine weitere Unterscheidung, die sich in der Forschung als wichtig erwiesen hat: Neben dem Wissen und den Erinnerungen enthält thält unser G Gedächtnis dä ht i eine i R Reihe ih von S Sachverhalten, h h lt di die wir i gar nicht bewusst abrufen, die sich aber im Verhalten der Menschen zeigen. Hier zeigt sich, dass die Menschen etwas „können“ oder „kennen“, was ihnen im Gedächtnis zur Verfügung steht, ohne dass 12.04.2013 8 sie bewusst danach suchen könnten. Viele verschiedene Dinge g werden hier zugerechnet. Beispielsweise Fertigkeiten, wie ein Musikinstrument spielen können, oder Fahrrad fahren können, oder das Skifahren beherrschen beherrschen. Dieses wird beherrscht beherrscht, ohne dass man lange im Gedächtnis danach sucht, wie dieses Können funktioniert. Diese Kenntnisse stehen einem also „implizit“ zur Verfügung; sie zeigen sich in den Verhaltensweisen Verhaltensweisen. 12.04.2013 Quelle: Internet 9 Weitere implizite Gedächtnisbereiche: ¾ Nicht-assoziatives Lernen oder auch one-trail-learning; g; häufig g die Grundlage von traumatischen Gedächtniseinträgen; es wird sehr schnell gelernt! Häufiger auch ohne dass gelernt werden „will“; häufiger sind diese Gedächtniseinträge auch sehr dauerhaft und zeigen sich „unwillkürlich“. 12.04.2013 10 Wissenschaftliche Belege für Gedächtnis als komplexeres System. Drei Belege (als Beispiele): 1. Selektiver Ausfall von Teilen des Gedächtnisses bei Erhalt von anderen d T Teilen il (P (Psychiatrie, hi t i N Neuropsychologie/Neurochirurgie) h l i /N hi i ) 2 Unterschiedliche Funktionstüchtigkeit von Gedächtnisteilen im 2. Verlauf des Lebens 3. Unterschiedliche Teilsysteme basieren auf unterschiedlichen Gehirnteilen (Kortex versus Zwischenhirn) 12.04.2013 11 Zu 1. Selektiver Ausfall von Gedächtnisbereichen Im Laufrad des Augenblicks: Die Geschichte einer rätselhaften Amnesie Bsp. p Clive Wearing g Ein Tag im März 1985 verändert das Leben von zwei Menschen urplötzlich und auf katastrophale Weise: Ein rätselhaftes Virus bemächtigt sich des Gehirns d L des Londoner d M Musikers ik und d Di Dirigenten i t Cli Clive Wearing und zerstört sein gesamtes Erinnerungsvermögen. Seitdem lebt Clive nur noch g Selbstverständlich in der unmittelbaren Gegenwart. ist auch das Leben seiner Frau davon deutlich betroffen (…) Quelle: www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/lesezeit/89406/index.html 3 td / /? /k lt it/l it/89406/i d ht l Ausfall explizites Gedächtnis; Erhalt: Implizites Gedächtnis 12.04.2013 Wenn Clive Cli e Wearing musiziert, m si iert ist er identisch mit sich. Dynamik, Klang und Rhythmus seiner Improvisationen ziehen ihn hinein in die Abfolge der g musikalischer Zeit findet einzelnen Takte. Im Gefüge er Halt. Obwohl er nicht weiß, wer er ist, und wo er sich gerade befindet. Denn Clive Wearing, 67, ist ein Mann ohne Gedächtnis, ohne Erinnerung, ohne Vergangenheit Vergangenheit. (…) 06.03.2006 / Beate Pinkerneil (3sat Kulturzeit) 12 Zu 2. Unterschiedliche Entwicklung unterschiedlicher Gedächtnisbereiche im Verlauf des Lebens Implizites Gedächtnis Kindheit Quelle: Mitchell (1993) Erwachsen enalter Alter Wissen Veränderung in t-Werten V Gedächtnisle eistung Explizites Gedächtnis Erinnerungen Lebensalter in Jahren 12.04.2013 13 zu 3: Gedächtnisfunktionen im Gehirn 12.04.2013 14 3 Die frühe Entwicklung des Gedächtnisses beim Menschen 3. 12.04.2013 15 Explizites Gedächtnis lässt sich auf jeden Fall bei Kindern nachweisen, dies gilt sowohl Wissen wie auch Erinnerungen. a. z.B. Wortschatztests (Wissen); ( ) b. Gedächtnisspiele/Gedächtnisaufgaben (Erinnerungen). 12.04.2013 16 Wortschatztest (HAWIVA, Altersbereich 3 bis 4,5 Jahre) 20 Wörter definieren: 1. 5. 11. 16 16. 20. Was ist ein Messer? Was ist ein Fahrrad? Was ist ein Pelz? Was ist höflich? Was ist ein Held? Fünf Beispielaufgaben aus dem Wortschatztest Hannover-WechslerIntelligenztest für das Vorschulalter (Eggert, 1978). 12.04.2013 17 Die Memory-Aufgabe Quelle: Internet 12.04.2013 18 Einfache Lernaufgaben wie beispielsweise sich eine Serie von Bildern oder Gegenstände ansehen, dann zudecken, dann aus dem Gedächtnis erinnern (direkt oder nach längerem Behaltenszeitraum); 12.04.2013 19 Zwischenfazit zur Gedächtnisentwicklung: ¾ ¾ ¾ ¾ ¾ Vorschulkinder verfügen g über wortbezogenes g Wissen;; Ferner können sie Erinnerungsaufgaben bewältigen; Ferner haben sie implizites Gedächtnis (z.B. frei schwimmen); Hier gibt es Unterschiede zwischen altersgleichen Kindern; Mit dem Älterwerden (Schulkinder) verbessern sich die expliziten Gedächtnisleistungen deutlich deutlich. Implizites Gedächtnis Explizites Gedächtnis Kindheit 12.04.2013 Erwachsen Erwachsenenalter Alter 20 3.2 Haben Babys kein Gedächtnis? Die kindliche Amnesie Verlauf des eigenen Lebens 12.04.2013 21 Das Gedächtnis von Babys wird traditionell bei Erwachsenen untersucht, die nach ihrer Kindheit befragt werden. Dabei findet man kaum Berichte über Ereignisse Ereignisse, die vor dem 3 3. Lebensjahr liegen liegen. Phänomen: Kindliche Amnesie Bedeutet dieses, dass Babys kein Gedächtnis haben? Nein! 12.04.2013 22 3.3 Direkte Messung des Gedächtnisses bei Babys Drei Gedächtnisaufgaben werde ich vorstellen, die u.a. bei Babys eingesetzt werden und die Gedächtnis anzeigen: a. „Vertrautheit“ als Hinweis auf Gedächtnis in einer Gewöhnungsaufgabe (ab ca. dem 2. Lebensmonat) b. Gedächtnis als Strampelverhalten in der Mobile-Aufgabe (ab dem 2. Lebensmonat) c. Gedächtnis als neue Aktionen, in der zeitverzögerten g Imitationsaufgabe (etwa ab 6 Monaten) 12.04.2013 23 a. Die Gewöhnungs- (Fachausdruck: Habituierungs-) Aufgabe Diese Aufgabe wird ab ca. dem 2. Lebensmonat eingesetzt. Hier das Material aus unserer LEGES-Studie (Lernen und Gedächtnis bei Säuglingen). In der Gewöhnungsphase wird den Babys das gleiche Gesicht immer wieder gezeigt. Allerdings aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Babys gewöhnen sich an dieses, prägen es sich ein, werden vertraut mit diesem. 12.04.2013 24 Blickzeiten von 3 Monate alten Babys Gewöhnung oder eher Ermüdung? 12.04.2013 ¾ Blickabfall ist keine Ermüdung sondern Ermüdung, Gewöhnung ¾ hohes Interesse für neues Gesicht! ¾ Gedächtnis ist hier= Vertrautheit eines Gesichts nach wiederholter Präsentation 25 b. Das Strampeln als Gedächtnismaß in der MobileAufgabe Dreistufiges Meßverfahren: a. Basisphase (a) 12.04.2013 b b. Lernphase (b) c. Gedächtnisphase 26 12.04.2013 27 Insofern Verbindung zwischen Beinchen und Mobile in der L Lernphase h h hergestellt t llt war; L Lernen und Gedächtnis Insofern keine Verbindung zwischen Beinchen und Mobile hergestellt war; Kein Lernen und Gedächtnis Gedächtnis ist hier die erhöhte Strampelrate, die die Babys bei Anblick des Mobiles auch einige Zeit nach dem Lernen noch zeigen. 12.04.2013 28 c. Neue Aktionen/Handlungen als Gedächtnismaß in der Imitationsaufgabe ¾ Ein menschliches Modell zeigt dem Baby an einem neuen Spielzeug, Dinge, die man mit diesem Objekt spielen kann; ¾ Spontan, S t d.h. dh b bevor sie i d das M Modell d ll sahen, h zeigen i di die Ki Kinder d di diese Akti Aktionen nicht. i ht 12.04.2013 29 Gedächtnistest nach ½ Std., nach 24 Std. oder nach 1 Woche Es wird beobachtet, dass die Kinder b bevorzugt td das spielen, i l was ih ihnen d das Modell gezeigt hatte Gedächtnis= Erlernen und Behalten neuer Handlungen/Aktionen H dl /Akti 12.04.2013 30 Zwischenfazit zum Gedächtnis von Babys: Alle drei Gedächtnismaße zeigen Gedächtnis bei Babys an! Tagelang T l erhöhte höht Strampelrate St l t in i der d Mobileaufgabe, M bil f b iinsofern f man d das Baby unter das Mobile legt; dieses im Vergleich zur Ausgangssituation. Erhöhtes Interesse für das unbekannte Gesicht im Unterschied zum Gesicht aus der Gewöhnungsphase; d d.h. h die Babys sind mit dem Gesicht aus der Gewöhnungsphase vertraut. Die neuen Handlungen, die die Babys erstmals vom Modell gezeigt bekamen, werden auch nach längerer Zeit von den Kindern mit dem Spielzeug ausgeführt, obwohl sie diese Handlungen spontan nicht konnten. 12.04.2013 31 4. Haben Babys implizites oder explizites Gedächtnis? Haben Sie Wissen oder auch Erinnerungen? Die Mobile-Aufgabe verweist auf frühes implizites Gedächtnis. Die (verzögerte) Imitationsaufgabe belegt explizites Gedächtnis. Frage: Belegen die verzögerten Imitationen von Babys, die explizites Gedächtnis anzeigen, „Wissen“ oder „Erinnerungen“? eher Wissen ! 12.04.2013 32 An dieser Stelle steht die aktuelle Forschung und sucht nach genaueren Antworten. Antworten Quelle Graphik: Internet 12.04.2013 33 5. Entwicklungsvoraussetzungen für Erinnerungen Ich hatte bereits ausgeführt: g Erinnerung g bedeutet,, eine Reise in die Vergangenheit machen zu können. Man weiss, dass man etwas selbst erlebt hat und man kann ganz selbstverständlich Gegenwart und Vergangenheit in der Gegenwart geistig präsent haben (zwei Zeiten gleichzeitig im Geiste präsent haben), kann zwischen diesen hin- und herspringen. Kinder um den 6. Lebensmonat können dieses jedoch noch nicht! Sie g g g sind im wesentlichen gegenwartsbezogen. Auf diese Schwierigkeiten jüngerer Kinder, die dann ca. um den 18. L b Lebensmonat t üb überwunden d werden, d möchte ö ht iich h abschliessend b hli d zu sprechen kommen. 12.04.2013 34 5.1 Reales Selbst sowie Selbst im Medium Um den 18. Lebensmonat wird ein Meilenstein der Selbstentwicklung erreicht. i ht Ab di diesem L Lebensalterszeitpunkt b lt it kt sind i d Ki Kinder d nämlich ä li h iin d der Lage, den sogenannten Rouge-Test zu bewältigen. Dieser überprüft, ob Kinder bereits in der Lage sind, das Selbst in zwei Formen zu sehen, als reales Selbst und als Selbst im Medium (im Spiegel). 12.04.2013 35 Die Bewältigung des Rouge-Tests Rouge Tests 12.04.2013 36 Jüngere g Kinder wissen noch nicht,, wer ihnen da im Spiegel p g entgegenschaut. Sie versuchen den roten Fleck beispielsweise dadurch zu entfernen, dass sie am Spiegel wischen oder sie versuchen auch hinter den Spiegel zu schauen schauen, so so, als dächten sie sie, dass jemand Anderer hinter einer Glasscheibe verborgen sei bzw. ihnen entgegenschaut. Es fehlt ein Selbst, das so weit entwickelt wäre dass zwischen der eigenen Existenz (vor dem Spiegel) und wäre, einer anderen dargestellten Welt des Selbst (im Spiegel) unterschieden werden kann. Die hinreichende Entwicklung des Selbst (= Möglichkeit der Darstellung des Selbst in einem Medium) wird jedoch als eine Bedingung für diese Zeitreise angesehen, für die Erinnerung an das eigene Erleben. 12.04.2013 37 5.2 Die mentale Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit V Vergangenheit h it Gegenwart Gegenwart Vergangenheit I Quelle Fotos: Internet 12.04.2013 18. LM Verlauf des eigenen Lebens 38 Kinder bis zum 18. Lebensmonat leben im wesentlichen in der Gegenwart, in der aktuellen Situation; keinen Vergangenheitsbezug in der Sprache oder in der Beschäftigung; kein Interesse an Fotos (teilweise Irritationen) bei Medien, die auf Früheres verweisen. Um den 18. Lebensmonat beobachtet man Interesse und Fähigkeiten, die auf die mentale Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit hinweisen, beispielsweise ¾ Interesse an Fotos; eine Person in zwei Darstellungen (früher vs. Jetzt); ¾ Bewältigung von Aufgaben zur unsichtbaren Verlagerung; ¾ „Als-Ob-Spiele Als Ob Spiele“ – hypothetische und reale Situation wird verknüpft; zeigt ebenfalls Loslösung von starrer Gegenwartsorientierung; innere Welt. Mit diesen neuen Fähigkeiten sind Voraussetzungen für die „Zeitreise“ gegeben. Der 18. Lebensmonat ist damit der Zeitraum, zu dem vermutlich erstmals Erinnerungen möglich sind. 12.04.2013 39 6. Fazit ¾ Auch Babys y haben ein Gedächtnis ¾ Es gibt Hinweise, dass das implizite Gedächtnis vor dem expliziten Gedächtnis seine Arbeit aufnimmt ¾ Explizite Gedächtnisleistungen sind jedoch sicher ab dem 6. Lebensmonat nachweisbar ¾ Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich beim frühen expliziten Gedächtnis um Wissen; das Kind würde uns also mitteilen, dass man mit diesem Spielzeug das folgende spielen kann … ¾ Erste E t Erinnerungen Ei sind i d vermutlich tli h ab bd dem 18 18. L Lebensmonat b t möglich, ö li h wenn auch die Selbstentwicklung und die geistige Entwicklung dementsprechend verbessert sind, so dass sie die Grundlage für Erinnerungen bilden können. 12.04.2013 40 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit. 12.04.2013 41