Potentialitätsargument

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Vorlesung Forschungsethik der biomedizinischen
Wissenschaften
Master MLS/MIW, 2. Semester, SS 2011
Embryonenschutz und Stammzellforschung
22. Juni 2011
Christoph Rehmann-Sutter
Prof. für Theorie und Ethik der Biowissenschaften
[email protected]
www.imgwf.uni-luebeck.de
Ist Präimplantationsdiagnostik durch das
Embryonenschutzgesetz verboten?
§ 1 Mißbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1.auf eine Frau eine fremde unbefruchtete Eizelle überträgt,
2.es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als
eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt,
3.es unternimmt, innerhalb eines Zyklus mehr als drei Embryonen auf eine Frau zu
übertragen,
4.es unternimmt, durch intratubaren Gametentransfer innerhalb eines Zyklus mehr
als drei Eizellen zu befruchten,
5.es unternimmt, mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines
Zyklus übertragen werden sollen,
6.einer Frau einen Embryo vor Abschluß seiner Einnistung in der Gebärmutter
entnimmt, um diesen auf eine andere Frau zu übertragen oder ihn für einen
nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck zu verwenden, oder
7.es unternimmt, bei einer Frau, welche bereit ist, ihr Kind nach der Geburt Dritten
auf Dauer zu überlassen (Ersatzmutter), eine künstliche Befruchtung
durchzuführen oder auf sie einen menschlichen Embryo zu übertragen.
Worauf gründet das ESchG den Embryonenschutz?
§ 8 Begriffsbestimmung
(1) Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete,
entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung
an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei
Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu
einem Individuum zu entwickeln vermag.
(2) In den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Kernverschmelzung gilt die
befruchtete menschliche Eizelle als entwicklungsfähig, es sei denn, daß schon
vor Ablauf dieses Zeitraums festgestellt wird, daß sich diese nicht über das
Einzellstadium hinaus zu entwickeln vermag.
(1) (3) Keimbahnzellen im Sinne dieses Gesetzes sind alle Zellen, die in einer ZellLinie von der befruchteten Eizelle bis zu den Ei- und Samenzellen des aus ihr
hervorgegangenen Menschen führen, ferner die Eizelle vom Einbringen oder
Eindringen der Samenzelle an bis zu der mit der Kernverschmelzung
abgeschlossenen Befruchtung.
What Are Stem
Cells?(Relea
sed
December
2004)
by Preeti Gokal
Kochar
© 2008 Pro Quest
www.csa.com/dis
coveryguides/
stemcell/overv
iew.php
4
Ethische Modelle des Embryonenschutzes
•
•
•
Personmodell: Ab Befruchtung (oder später?) wie eine Person
mit umfassendem Schutz zu behandeln.
Sachmodell: Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (wann?) nicht
‚intrinsisch‘ schutzwürdig.
Gradualistisches Modell: Schutzwürdigkeit wird intensiver, wie
der Embryo wächst. Sie beginnt nicht bei Null und ist bei der
Geburt bei der umfassenden Schutzwürdigkeit als Person.
Die „SKIP“-Argumente für das Personmodell im
Embryonenschutz
•
Speziesargument: Alle Angehörigen der Spezies Mensch haben
Würde und ein Recht auf Leben.
• Kontinuitätsargument: In der Entwicklung des Embryos gibt es
keine moralisch relevanten Einschnitte. Deshalb hat eine
Embryo schon zu Beginn der Entwicklung Würde.
• Identitätsargument: In moralischer Hinsicht besteht eine
Identitätsbeziehung zwischen Embryo und Person, die sich aus
ihm entwickeln kann.
• Potentialitätsargument: Embryonen haben deshalb Würde, weil
sie das Potential besitzen, sich zu einem Wesen zu entwickeln,
das würdeverleihende Eigenschaften trägt.
Analyse: Das Kernargument, das alle anderen 3 Argumente trägt,
ist das Potentialitätsargument.
6
Das Potentialitätsargument für den
Embryonenschutz
Da Embryonen bzw. totipotente Zellen das Potenzial besitzen, sich zu
umfassend schutzwürdigen Personen zu entwickeln, sind auch sie
umfassend schützenswert.
Das Argument in Schritten:
1. Eine Entität A (der menschliche Embryo) hat das Potenzial, sich unter
geeigneten Umständen zu einer Entität A‘ (einer menschlichen Person)
zu entwickeln.
2. A‘ werden umfassende Schutzrechte zugesprochen.
3. Umfassende Schutzrechte beinhalten einen Schutz vor Schädigung,
welche z.B. im Rahmen von Forschung, die anderen als den Zwecken
der Entität selbst dient, erfolgen könnte.
4. Um sich von A zu A‘ entwickeln zu können, bedarf auch A des
Schutzes vor dergleichen Schädigung.
= A ist vor Schädigung oder Vernichtung im Rahmen von Forschung o.ä.
zu schützen.
Friele (2008, 31 und 39)
Kritik am Potenzialitätsargument (1)
Kronprinzenargument
•
•
•
Die Tatsache, dass ein menschliches Wesen potentiell die
Eigenschaften hat, die ihm die Königswürde verleihen, kann
deshalb aktuell (bevor er aktuell König ist) noch nicht als ein mit
diesen Rechten ausgestattetes Wesen angesehen werden.
Das liegt aber daran, dass es eine Regel gibt, die vorsieht, dass
zu einer Zeit nur eine einzige Person im Lande Königin oder
König sein kann. Weiter ist die Königswürde ein sozial, von
aussen zugeschriebener Sonderstatus, dem keine innere
Potentialität ‚für dieses Wesen hier’ zukommt. Unvorhersehbare
Dinge könnten bewirken, dass jemand anders oder gar niemand
König wird (z.B. könnte die Monarchie abgeschafft werden).
Das Kronzprinzenargument verfängt nicht.
Kritik am Potenzialitätsargument (2)
Gametenargument
•
•
•
Jemand, der dem Potentialitätsargument zur Begründung des
moralischen Status von Embryonen Vertrauen schenkt, müsste
auch der Ei- und Samenzelle, die zu einem Embryo
verschmelzen, die Schutzrechte zuerkennen müsste, weil diese
genauso wie der Embryo potentiell Mensch sind. Das ist aber
absurd.
Dieses Argument greift nicht, weil Kontinuität zwischen
Gameten und Embryo erst retrospektiv etabliert werden kann.
Im Voraus, ‚für dieses Wesen hier’, besteht sie nicht und es liegt
deshalb im Bereich des Zufalls, ob aus einem Spermium oder
einem Ei ein Embryo wird und wenn ja welcher.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dies für eine bestimmte
Gametenzelle eintritt, ist klein. Es ist deshalb plausibler, davon
auszugehen, dass Ei- und Samenzellen zu den Bedingungen
gehören, die zu der Entwicklung eines Embryos gehören, nicht
aber als Wesen, denen eine innere Potenz innewohnt, Mensch
zu werden.
Kritik am Potentialitätsargument (3)
Die versteckte Prämisse
Person
E
Die Entität E ist daran, zu einer Person zu werden.
Potentialitätsargument:
Weil E die die Fähigkeit hat, zu einer Person zu werden
(Zukunft), hat sie jetzt Anrecht auf einen Schutzstatus
(Gegenwart).
Problem: Link zwischen “Fähigkeit, P zu werden” und
gegenwärtigem Schutzstatus von E (als P oder ähnlich wie P).
Alfonso Gómez-Lobo: “Does Respect for Embryos Entail Respect
for Gametes?” Theor Med 25(2004): 199-208
“The potentiality to become a male or female human adult is due to
the biological program contained in the genome.”
Otfried Höffe: “Menschenwürde als ethisches Prinzip” (in: O. Höffe
et al.: Gentechnik und Menschenwürde. Köln: DuMont 2002)
“Was Kritiker als ‘bloßen Zellhaufen’ abtun wollen, trägt von Anfang
an, als befruchtete Eizelle mit doppeltem Chromosomensatz,
das volle genetische Programm für die Entwicklung eines
Menschen in sich. Das Programm liegt tatsächlich rundum vor,
in seiner notwendigen und zureichenden Gestalt.” (137)
John Maynard Smith / Eörs Szathmàry: The Origins of Life.
From the Birth of Life to the Origin of Language. (Oxford Univ.
Pr. 1999, p. 2)
„The basic picture then, is that the development of complex
organisms depends on the existence of genetic information,
which can be copied by template reproduction... What is
transmitted from generation to generation is not the adult
structure, but a list of instructions for making that structure.“
François Jacob / Jacques Monod: “Genetic Regulatory
Mechanisms in the Synthesis of Proteins” J Mol Biol 3(1961):
318-356
“The discovery of regulator and operator genes, and of
repressive regulation of the activity of structural genes,
reveals that the genome contains not only a series of blueprints, but a co-ordinated program of protein synthesis
and the means of controlling its execution.” (354)
Person
E
Die Entität E ist daran, zu einer Person zu werden: Realfolge
Genetisches Programm: Weil E gegenwärtig die Instruktionen
(genetische Information) hat, zu einer Person zu werden, hat sie
jetzt Anrecht auf einen Schutzstatus.
Probleme:(1) Genetisches Programm ist seit der Molekularbiologie der
1980er Jahre unplausibel geworden. (2) Verwechslung von
Möglichkeit mit Wirklichkeit (Kategorienfehler: Real-Annahme der
logischen Notwendigkeit).
Potenzialitäten
1. Aeussere Potenzialität: die Möglichkeit eines Embryos, zu
einem Kind geformt zu werden. Antrieb zur Formung kommt von
aussen.
2. Tendenz für einen Entwicklungspfad. Eine innere
Potenzialität ist die Tendenz eines Systems, einem
Entwicklungspfad zu folgen und sich nach Ablenkungen wieder
auf ihm einzufinden. Der Pfad muss nicht vorgegeben sein,
sondern er kann sich aus der Regelmässigkeit ergeben, mit der
aus einem Schritt jeweils ein bestimmter nächster Schritt folgt.
3. Transitive Bestimmung durch ein Programm.
Vorgegebenheit des Entwicklungspfades. Teleologische
Determination durch vorliegende Information.
4. Präformation. Stärkste Form innerer Potenzialität: Zielzustand
ist schon in kleiner Form vorgeformt und braucht sich nur zu
entfalten.
14
Alternative Gewinnungsmethoden für hESC
15
Gretchen Vogel, Science 310(2005): 417 (21 October 2005)
Altered Nuclear Transfer.
16
Hübner, K. et1)al.Eizellen
Derivation
oocytes from
mouseaus
embryonic
stem
Komplikationen:
und of
Samenzellen
können
embryonalen
cells. Science,
published online May 2, 2003.
Stammzellen
entstehen:
Hübner, K. et al. Derivation of oocytes from mouse embryonic stem cells. Science, published online May 2, 2003.
17
Komplikationen 2) hESC können durch tetraploide Komplementierung totipotent
gemacht werden . Vgl. Nuclear reprogramming of cloned embryos and its implications for
therapeutic cloning Xiangzhong Yang, Sadie L Smith, X Cindy Tian, Harris A Lewin, Jean-Paul
Renard & Teruhiko Wakayama. Nature Genetics 39, 295 - 302 (2007)
(a) IVF in the mouse (control). (b) Tetraploid complementation: electrofusion of two-cell embryo (4N)
followed by culture to blastocyst stage and injection of ESCs (2N) derived from fertilized embryos
(fESCs). The resulting pup is 2N; the placenta is 4N. (c) Tetraploid complementation with injection of
ntESCs, showing similar efficiency to fESCs. (d) Nuclear transfer results in only 1%–2% term
18
development; most have large placentas (98%–99% die in utero).
Komplikationen 3) Akteure und Beziehungen, welche in Kontext
der Forschung mit embryonalen Stammzellen involviert sind
Minimale Ethik der hESC Forschung: Für die unbekannten PatientInnen:
Fairness und Transparenz der Verfahren zur Gewinnung!
Therapie: Transplantation v.
Zellen
Fortpflanzungsmedizin IVF
A1
A
Pat3
Pat1
Embryo
klinische Versuche
A2
Forschung mit hESC
Grundlagenforschung/Verfahrensentwicklung
19
VP(Pat2)
Komplikationen 4): Die Sicht der direkt betroffenen IVFPatientinnen
„‘If I’m really honest, I think, I wasn’t so emotionally bound up with
[the cryopreserved embryos]. It was different of course as soon
as they were really transferred....The ones that were implanted,
yes, they have the potential to develop into a person. The frozen
ones for me had a similar status as all those, maybe fertilized,
maybe not, that I flushed down the toilet [in each menstrual
cycle]. ….It was really like that. Overall, for me it made a huge
difference. I know it sounds a bit stupid now, but yes, that’s
right .’
(Tine, Swiss Interview, Scully et al. 2010
„I think you’ve just got to get past the fact and not think of the egg
and the embryo in terms of a child. You’ve got to still think of it
as an egg and an embryo, which is what in fact it is. It’s never
been given a chance to be a child. Unless it’s planted inside of
the womb it’s never going to develop into a child and I think
you’ve got to basically remember that it’s still an embryo and an
egg. Yes, if it was given that chance, but you made the decision,
it’s impossible for it to be given that chance, so why should it
just be discarded when it can help?“
(UK interview; IVF7: 573–580; Scully et al. 2010
A puzzling evidence
•
Examination of patients‘ deliberations suggests that these
questions of what the embryo “is” are answered in different
ways across different stages of the IVF process.
• How can the potential to develop and the moral status of the
embryo depend on the place of the embryo?
• How can the ‚goodness‘ of the embryo (likelihood of making the
patient pregnant) be a criterion for what the embryo „is“
ethically?
• How can situational relativism be defended philosophically if
cultural relativism is difficult enough to defend?
Summing up: hESC: possibilites
Lines
established
Compatible
with patient
Destruction of Other ethical
viable embryo problems
Embryo biopsy
x
-
- (?)
Risk to
pregnancy
Therapeutical
cloning
?
x
x
Reprod.
cloning
Altered nuclear
transfer
-
x
-
Risk for
patient
iPSC
(reprogramming)
x
x
-
Risk for
patient
Donated IVFembryo
x
-
x
(consent)
PGD-embryos
x
-
?
(consent)
Cybrids
?
x
-
Risks, humananimal mix
23
Ethische Schlussfolgerungen (Thesen)
•
•
•
•
Aus dem Satz: „Wir sind alle aus Blastocysten hervorgegangen“
folgt weder: „Blastocysten sind Wesen wie wir alle“,
noch:„Blastocysten haben ein Recht auf Leben“.
Um die Menschenrechte universell und nicht willkürlich zu
sichern, ist es nicht notwendig, bereits Embryonen in die
Universalität der Geltung der Grundrechte einzubeziehen.
Aus der Perspektive der Entwicklung und der Fürsorge für
beginnendes menschliches Leben gibt es gute ethische Gründe,
Embryonen so weit als möglich zu schützen, sie respektvoll zu
behandeln und eine ‚Würde des Embryos‘ anzuerkennen.
Aus der Perspektive der Elternschaft entsteht eine besondere
Verantwortungsrelation zu bestimmten Embryonen, die zu
Kindern heranwachsen sollen.
Weiterführende Literatur
Minou B. Friele: Rechtsethik der Embryonenforschung. Paderborn: Mentis 2008
Christian Geyer (Hrsg.): Biopolitik. Die Positionen. Frankfurt aM: Suhrkamp 2001
Matthias Kettner (Hrsg.): Biomedizin und Menschenwürde. Frankfurt aM:
Suhrkamp 2004
Damschen, G., Schönecker, D. (Hrsg.): Der moralische Status menschlicher
Embryonen, Berlin 2003.
Müller-Terpitz, R.: Der Schutz des pränatalen Lebens. Tübingen: Mohr Siebeck
2007.
Rehmann-Sutter, C.: Würde am Lebensbeginn. Der Embryo als Grenzwesen.
Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz
51(2008): 835-841
Rehmann-Sutter C.: Altered Nuclear Transfer, Genom-Metaphysik und das
Argument der Potentialität. Die ethische Schutzwürdigkeit menschlicher
Embryonen in vitro. Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 11/2006: 351–374
Scully, J. L., Rehmann-Sutter, C., Porz, R.: Human embryos: donors‘ and nondonors‘ perspectives on embryo moral status. In: Nisker J., et al. (eds.): The
‚Healthy‘ Embryo. Cambridge: Cambridge UP 2010, 16-31.
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