Ullmann, Viktor Komponist, Dirigent, Pianist

Werbung
Ullmann, Viktor
Komponist, Dirigent, Pianist,
Musikschriftsteller, Musikpädagoge.
* 1.1.1898 Teschen (Österreich-Ungarn),
† 18.10.1944 Auschwitz (Polen).
Obwohl seine Kompositionen in der Zeit zwischen
den Weltkriegen weit über die Grenzen seiner
Wahlheimat Prag hinaus bekannt geworden waren,
geriet das Gesamtwerk des Holocaust-Opfers Viktor
Ullmann nach 1945 in Vergessenheit. Erst die
Uraufführung seiner im „Ghetto“ Theresienstadt
komponierten Oper „Der Kaiser von Atlantis oder
die Tod-Verweigerung“ (Amsterdam 1975) und die in
den 80er-Jahren einsetzenden Gedenk-Anlässe (an
die Reichspogromnacht 1938 bis Kriegsende 1945)
gaben die entscheidenden Impulse für die
künstlerische Wiederentdeckung seiner erhaltenen
Werke und für die Erforschung seines Lebensweges.
Ullmann verbrachte seine Kindheit in der
österreichischen Garnisonsstadt Teschen. Dort war
der Vater als k. u. k. Offizier stationiert. Die Mutter
entstammte einer Wiener Anwaltsfamilie. Nach dem
ersten Gymnasialjahr wechselte Ullmann nach Wien,
um Schüler des „Rasumowsky“-Gymnasiums, später
Jura-Student an der Universität zu werden. Im Ersten
Weltkrieg diente er von 1916 bis 1918 bei der
schweren Artillerie; kurz vor Kriegsende wurde er
zum Leutnant befördert. Seine bereits weit
fortgeschrittene Ausbildung zum Komponisten und
Pianisten setzte er vom Oktober 1918 bis zum Mai
1919 – neben dem Jura-Studium – in Arnold
Schönbergs „Seminar für Komposition“ fort. Beide
Studiengänge brach er ab und verließ Wien, um sich
in der Folgezeit in Prag ganz der Musik zu widmen.
Unter Alexander von Zemlinsky war er bis 1927
Kapellmeister am Prager Neuen deutschen Theater;
seit 1923 trat er auch als Komponist an die
Öffentlichkeit. Weitere Stationen seiner beruflichen
Laufbahn waren Aussig (1927–28), Zürich (1929–31)
und Stuttgart (1931–33). Dazwischen bzw. danach
kehrte er jeweils nach Prag zurück, wo er als
freischaffender Musiker tätig war. Eine neue Serie
von
erfolgreichen
Aufführungen
seiner
Kompositionen begann 1935; sie ging erst mit dem
Einmarsch deutscher Truppen in Prag zu Ende.
Seit der Errichtung des „Protektorats Böhmen und
Mähren“ war Ullmann der nationalsozialistischen
Judenverfolgung ausgesetzt, die durch die
Ausdehnung des Geltungsbereichs der „Nürnberger
Gesetze“ auf die ehemalige Tschechoslowakei (5. Juli
1941) weiter verschärft wurde. Am 8. September
1942 wurde er aus Prag ins „Ghetto“ Theresienstadt
„transportiert“; am 16. Oktober 1944 erfolgte der
Weitertransport ins Vernichtungslager AuschwitzBirkenau.
Über Ullmanns Weg zur Anthroposophie ist wenig
bekannt. Äußerte er sich 1917 in einem Brief noch
spöttisch und abfällig über die „Theosophie“, so
bedankte er sich 1931 – wiederum brieflich – bei
seinem Komponistenkollegen Alois Hába für den
„Anstoß“ durch „Wort und Tat“, der bewirkt habe,
„dass aus einem Saulus ein Paulus wurde“ (Brief vom
27. Juni 1931 an Alois Hába. Muzeum ceské hudby
[Museum für tschechische Musik], Prag). Schließlich
schrieb er 1935 in einem Brief an Albert Steffen: „In
der gleichen Zeit [1929] betrat ich zum ersten Male
das Goetheanum, nachdem ich zehn Jahre lang die
mir
von
Freunden
entgegengetragene
Anthroposophie Rudolf Steiners abgelehnt hatte.
Innere und äußere Erschütterungen öffneten mir
allmählich die Augen.“ (Brief vom 16. September
1935 an Albert Steffen. Albert Steffen-Stiftung,
Dornach) Wäre Ullmann – wie gelegentlich vermutet
wurde – Hörer eines der Prager Vorträge Rudolf
Steiners gewesen, so hätte er es in diesem Brief
gewiss erwähnt. Zwischen dem GoetheanumErlebnis und dem Eintritt in die Anthroposophische
Gesellschaft (1931) reifte in ihm der Entschluss, „der
anthroposophischen Bewegung unmittelbar [zu]
dienen“ (Brief von 1931 an Alban Berg,
Österreichische Nationalbibliothek, Wien). Dafür
stellte er den Musikerberuf für zwei Jahre zurück und
übernahm in Stuttgart die „GoetheanumBücherstube“, die er im Februar 1932 in „NovalisBücherstube“ umbenannte. Großen Einfluss auf
diese Entscheidung hatte Ullmanns Vorgänger als
Eigentümer der Bücherstube, Hans Mändl. Der
später nach Österreich und Schweden emigrierte
Mändl hinterließ Ullmann allerdings – ohne ihn über
die Einzelheiten zu informieren – wirtschaftliche
Probleme, die 1933 zum Konkurs des Unternehmens
und zu seiner Flucht aus Stuttgart nach Prag führten.
Während seiner Stuttgarter Zeit fand er Kontakt zu
Felix Petyrek (Professor an der dortigen
Musikhochschule),
Erich
Schwebsch
(Musikwissenschaftler und Waldorflehrer) und Hans
Büchenbacher,
der
damals
die
deutsche
© by Forschungsstelle Kulturimpuls, Dornach und Verlag am Goetheanum, Dornach
Landesgesellschaft leitete. Als einer der wenigen
überlebenden Zeitzeugen konnte Gerhard Grawert
sich an Ullmanns Tätigkeit in der NovalisBücherstube erinnern.
Zurück in Prag, nahm Ullmann die Verbindung zu
Alois Hába wieder auf, dessen Kompositionskurse er
von 1935 bis 1937 besuchte. Während einer schweren
psychischen Krise (1937/38) fand er seelsorgerlichen
Beistand bei Josef Adamec und ärztliche Hilfe in
Friedrich Husemanns Wiesnecker Klinik.
Eine ausgedehnte Korrespondenz mit Albert Steffen
begann 1935, als Ullmann um die Erlaubnis bat, die
dramatische Skizze „Der Sturz des Antichrist“ als
Oper vertonen zu dürfen. Im selben Jahr lernte er
Steffen während eines Gastspiels der GoetheanumBühne in Prag persönlich kennen und wurde von ihm
in die Erste Klasse der Freien Hochschule für
Geisteswissenschaft aufgenommen. Die letzte
Begegnung mit Steffen ist für den Sommer 1938
dokumentiert, als Ullmann sich drei Wochen in
Dornach aufhielt. Sein Versuch, in der Schweiz Fuß
zu fassen, scheiterte allerdings nicht – wie des
Öfteren polemisch behauptet wurde – an der
mangelnden Hilfsbereitschaft Steffens, sondern an
der restriktiven staatlichen Einwanderungspolitik, die
ihm Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verwehrte.
Zu Ullmanns von anthroposophischen Gedanken
geprägten Kompositionen zählt in erster Linie die
Oper „Der Sturz des Antichrist“, in der er sich –
Steffen folgend – mit der Verantwortung des
Künstlers unter totalitärer Herrschaft auseinander
setzt. Dieses große Bekenntniswerk, das Ullmann
1941 in einer letztwilligen Verfügung der Sektion für
Redende und Musizierende Künste am Goetheanum
vermacht hatte, wurde erstmals 1995 in Bielefeld
aufgeführt. Eine zum 100. Geburtstag des
Komponisten geplante Aufführung am Goetheanum
konnte nicht realisiert werden. – Vier von den sechs
Liedern Op. 17 auf Steffen-Texte, die nach der
Veröffentlichung 1937 in mehreren Prager Konzerten
erklangen, waren Anfang August 1938 in einem
Sektionskonzert im Goetheanum zu hören. – Die nie
aufgeführte „Missa symphonica zu Ehren des
Erzengels Michael“ von 1936 zählt zu den mehr als
30 verschollenen Werken Ullmanns.
Während seiner Lagerhaft in Theresienstadt
komponierte Ullmann u. a. „Lieder der Tröstung“
nach Texten von Albert Steffen und schrieb das
Libretto zu einer Jeanne d’Arc-Oper, deren
Komposition er allerdings nicht mehr ausführen
konnte. Ebenfalls in Theresienstadt entstand die
Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis oder die TodVerweigerung“, die bisher noch nicht auf
anthroposophische Inhalte untersucht worden ist.
Ingo Schultz
Literatur: Hába, A.: Albert Steffens „Der Sturz des Antichrist“ als
Oper Viktor Ullmanns, in: G 1937, Nr. 26; Anonym [Steffen, A.]:
In memoriam Viktor Ullmann, in: N 1956, Nr. 28; Ginat, C.: Zum
Geleit, in: Streichquartett III, Dornach 1994; ders.: Verzeichnis
musikalischer Werke, Dornach ²1987; Schultz, I. v. [Hrsg.]: 26
Kritiken über musikalische Veranstaltungen in Theresienstadt,
Hamburg 1993; Biemond, R. [Hrsg.]: Viktor Ullmann
Programmheft, Dornach 1994; Klein, H. G. [Hrsg.]: Die Referate
des Viktor Ullmann Symposion anlässlich des 50. Todestages,
Goetheanum, Dornach 1994, Hamburg 1994; Gerhardts, M.:
Viktor Ullmann – ein Komponist zum Kennenlernen, in: MNS
1994, Nr. X; Matile, H.: „Der Sturz des Antichrist“, Dostal, J.:
Viktor Ullmann, in: G 1994/95, Nr. 50; Mandl, T.: Erinnerungen
an Daniel Mandl und Viktor Ullmann, in: No 1997/98, Nr. 12/1;
Eisert, C. [Hrg.]: Viktor Ullmann. Beiträge. Programme.
Dokumente. Materialien, Kassel 1998; Klein, H.-G. [Hrsg.]: „Lebe
im Augenblick, lebe in der Ewigkeit“. Die Referate des
Symposiums aus Anlass des 100. Geburtstags von Viktor Ullmann
in Berlin am 31. Oktober/1. November 1998, Saarbrücken 2000.
Werke: Kompositionen. Opern: Der Sturz des Antichrist, 1935; Der
zerbrochene Krug, 1942; Der Kaiser von Atlantis, 1944. –
Klavierkonzert, 1939. – 3 Streichquartette (Nr. 1 und 2 verschollen,
Nr. 3: 1943). – 7 Klaviersonaten, 1936–1944. – Liederzyklen auf
Texte von A. Steffen, R. Huch, C. F. Meyer, F. Hölderlin, L. Labé
u. a. Schriften: Aufsätze, Essays und Rezensionen in verschiedenen
Zeitschriften, u. a. in G; Der fremde Passagier. Ein Tagebuch in
Versen, in: Materialien, Hamburg 1992, ²1995; Libretto zu einer
Jeanne d’Arc-Oper („Der 30. Mai 1431“), ebd.
© by Forschungsstelle Kulturimpuls, Dornach und Verlag am Goetheanum, Dornach
Herunterladen