Amelogenesis imperfecta im Wechselgebiss

Werbung
FALLBERICHT / CASE REPORT
1
C. Meller
Amelogenesis imperfecta im Wechselgebiss –
ein Fallbericht
Amelogenesis imperfecta in the second dentition – a case report
Im Mittelpunkt dieser Fallvorstellung steht die Behandlung einer Amelogenesis imperfecta des Hypomaturationstyps bei einem achtjährigen Jungen. Aus ästhetischem Leidensdruck und psycho-sozialen Gründen fällt
die Entscheidung zur Behandlung bereits im Wechselgebiss.
This case reports about an eight year old boy in need of
dental treatment due to him suffering from the unaesthetic appearance of amelogenesis imperfecta, hypomaturation type. For psychosocial reasons the boy was
provided with composite veneers on the upper front
teeth in the early phase of second dentition.
Schlüsselwörter: Amelogenesis imperfecta; psychosozialer
Leidensdruck; konservierende Behandlung im Wechselgebiss
Keywords: Amelogenesis imperfecta; psychological strain;
conservative treatment in the second dentition
Einleitung
Der Terminus Amelogenesis imperfecta (AI) steht für genetisch bedingte
Dysplasien des Schmelzes. Durch variante, genetische Defekte kommt es
zu einer Ameloblastendysfunktion
mit Bildung von qualitativ oder
quantitativ abnormem Schmelz. Die
Dentinstruktur ist normal [12]. Sowohl erste als auch zweite Dentition
sind gleichermaßen betroffen [13].
Für die Prävalenz der AI werden in
Abhängigkeit von Region und diagnostischen Kriterien sehr unterschiedliche
Werte
angegeben
(1:718-800 in Schweden und 1:16000
in USA) [2, 4].
Als die drei wichtigsten Formen der
AI gelten:
• der hypoplastische Typ,
• der Hypomaturationstyp und
• der Hypokalzifikationstyp [12].
Je nach Autor werden multiple
Subtypen mit verschiedenen Erbgängen und klinischen Erscheinungsbildern differenziert [1]. Die infolge der
AI auftretenden Hypomineralisationen bedingen – unabhängig von den
ästhetischen Gesichtspunkten – per
se eine höhere Kariesanfälligkeit.
Substanzielle Schmelzverluste, die
häufig schnell nach Exfoliation auftreten, stellen ihrerseits wiederum
ein Reservoir für Plaque und Speisereste dar. So werden bei AI in der Regel schon im Kindesalter invasive,
zahnärztliche Therapien erforderlich
[4].
Kinder mit AI stellen hinsichtlich
der Restauration eine Herausforderung an den Behandler (okklusale
Zahnhartsubstanzverluste mit Verlust der vertikalen Dimension, Ausdehnung der Pulpenkammer, verminderter adhäsiver Verbund, Ästhetik) dar [11].
Die vorliegende Kasuistik beschreibt die Behandlung eines achtjährigen Jungen mit hohen, durch die massiv beeinträchtigte Ästhetik bedingtem,
psycho-sozialen Leidensdruck samt
nachfolgenden konservierenden Maßnahmen.
Fallbericht
Anamnese
Ein achtjähriger Junge türkischer Abstammung stellt sich im März 2007
erstmalig in Begleitung seiner Eltern
mit einer Überweisung des Hauszahnarztes zur Beurteilung und Mitbehandlung der Schmelzhypoplasien
an allen bleibenden Inzisiven und
ersten Molaren in der Poliklinik für
Zahnerhaltung am Zentrum für
Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
in Tübingen vor. Er wird von seiner
sechsjährigen Schwester begleitet,
deren erste Dentition ebenfalls von
AI betroffen ist (Abb. 1). Laut Angaben des Jungen und seiner Eltern ist
der Leidensdruck aufgrund der ästhetischen Beeinträchtigung enorm. Er
werde in Schule und Freizeit von allen gehänselt, finde schwer Anschluss. Sein und das Hauptanliegen
der Mutter sind „weiße Zähne“. Die
Eltern planen in den Sommerferien
einen Umzug mit Schulwechsel und
bis dahin soll eine Lösung gefunden
werden.
Medizinische Anamnese
Die allgemeinmedizinische Anamnese des Patienten stellt sich unauffällig
dar, es liegen keine Erkrankungen
oder Allergien vor. Medikamente
werden keine eingenommen. Die
Schwangerschaft und Geburt verlief
nach Angaben der Mutter unauffällig.
Soziale Anamnese
Die Mutter lebte bereits als Kind in
Deutschland und spricht die Sprache
flüssig. Der Vater spricht gebrochen
1
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Poliklinik für Zahnerhaltung (Ärztl. Dir.: Prof. Dr. C. Löst)
DOI 10.3238/OPKZH.2010.0034
34
© Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 32 (2010) 1
C. Meller:
Amelogenesis imperfecta im Wechselgebiss – ein Fallbericht
Amelogenesis imperfecta in the second dentition – a case report
luzenz, die mit dem klinischen Befund
korrespondiert (Abb. 6). Die Füllungen
an den Zähnen 55, 65, 75 und 85 erscheinen randdicht und kariesfrei, wohingegen die Füllungen an 16, 26, 36
und 46 röntgenologisch insuffizient erscheinen. Alle übrigen Zähne sind angelegt. Die Zahnanlagen 18, 28, 38 und
48 sind noch nicht erkennbar.
Diagnose und Differentialdiagnose
Abbildung1 Die Abbildung zeigt eine Amelogenesis imperfecta der ersten Dentition bei der sechsjährigen Schwester.
Figure 1 Amelogenesis imperfecta of the primary dentition in his six year old sister.
Abbildung 2 Die Frontalansicht zeigt die ästhetische Beeinträchtigung durch die Amelogenesis imperfecta bei scheinbar normaler Schmelzdicke. An Zahn 11 ist ein kleiner Schmelzdefekt sichtbar. An
den Zähnen 31 und 41 wurden vermutlich aufgrund von Schmelzdefekten adhäsive Füllungen durch
den Hauszahnarzt gelegt. Diese weisen Randimperfektionen auf.
Figure 2 The enterior teeth display shows the implication caused by the amelogenesis imperfecta
with no reduction in enamel thickness. The upper right first incisor shows a minimal loss of enamel.
The lower right and left first incisors were inadequately filled with adhesive resin by the child`s dentist.
deutsch. Der Junge ist in Deutschland
geboren und sozial integriert.
Zahnmedizinischer Befund
Der extraorale Befund zeigt keine Auffälligkeiten. Intraoral zeigt sich ein
Wechselgebiss (Phase I) mit multiplen,
kariösen Läsionen und insuffizienten
Füllungen (Abb. 2–4). Im Ober- und
Unterkiefer sind hypoplastische Veränderungen des Schmelzes sichtbar.
Die Schmelzdicke scheint normal zu
sein, der Schmelz ist jedoch deutlich
weicher und hellbraun verfärbt. Zum
© Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
Teil
sind
kleinere,
quantitative
Schmelzdefekte sichtbar. An den Zähnen 16, 26, 36 und 46 imponieren sekundär entstandene, kariöse Defekte.
Diese haben vermutlich gemeinsam
mit den hypoplastischen Veränderungen zu einem erheblichen Verlust der
vertikalen Dimension beigetragen
(Abb. 5). Im Bereich der ersten Dentition besteht eine Karies an 54, die restlichen mit Füllungen versehenen Milchzähne sind suffizient versorgt.
Röntgenologisch zeigt die Panoramaschichtaufnahme vom 15.03.2007
an Zahn 54 eine approximale Trans-
Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 32 (2010) 1
Aufgrund der generalisiert an allen bisher vorhandenen bleibenden Zähnen
vorkommenden
Schmelzopazitäten
gilt als Diagnose eine AI vom Hypomaturationstyp als wahrscheinlich. Differentialdiagnostisch müssen jedoch die
AI vom hypomineralisierten Typ als
auch die AI vom hypoplastischen Typ
in Betracht gezogen werden. Das klinische Erscheinungsbild kann zum Teil
derart variieren, dass manchmal sogar
eine Unterscheidung zwischen dem hypomineralisierten und dem hypoplastischen Typ schwerfällt [15]. Aufgrund
der Erkrankung der Schwester wird als
Ätiologie eine autosomal-rezessive Vererbung angenommen und macht die
theoretisch denkbaren Differentialdiagnosen, wie Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) [5, 16] und Tetrazyklingabe, aus Autorensicht eher
unwahrscheinlich.
Das individuelle Kariesrisiko des Jungen wird aufgrund klinischer Parameter
(retrospektive Karieserfahrung, aktuelle
kariöse Läsionen, dmft/DMFT = 13 und
Initialläsionen) als hoch eingestuft.
Auch die anamnestischen Befunde, wie
mangelnde Mundhygiene, kariogene
Ernährungsgewohnheiten mit mehreren kariogenen Zwischenmahlzeiten
(Gummibärchen, Milchschnitte, Kinderpingui), sowie der ausschließliche
Konsum kariogener Getränke (Apfelsaftschorle und Kakao) und unzureichende Fluoridsupplementation können als sekundäre Prädiktoren für ein
hohes Kariesrisiko herangezogen werden. Auf mikrobiologische Testverfahren und die Erhebung aufwendiger, klinischer Parameter (z. B. PFRI) wurde
verzichtet [3]. Die Strukturanomalie
kann in diesem Falle die Kariesprogression als sekundärer Faktor unterstützen.
Die Compliance wird nach der Erstuntersuchung als gut eingestuft. Der
Junge scheint die Notwendigkeit der
35
C. Meller:
Amelogenesis imperfecta im Wechselgebiss – ein Fallbericht
Amelogenesis imperfecta in the second dentition – a case report
Abbildung 4 Die Unterkieferaufsicht zeigt an 36 und 46 aufgrund der
Abbildung 3 Die Oberkieferaufsicht wurde bereits nach Rekonstruktion
Hypoplasie sekundär entstandene, kariöse Defekte, die mit schadhaften
der Zähne 16 und 26 mit konfektionierten Stahlkronen erstellt. Klinisch
Füllungen versorgt sind. Desweiteren imponieren klinisch akzeptable
zeigt Zahn 54 eine distoapproximale Karies. Die weiteren Milchzahnfül-
Milchzahnfüllungen.
lungen werden als klinisch akzeptabel beurteilt.
Figure 4 The clinical photography of the mandible shows carious lesions
Figure 3 The clinical photograph of the maxilla was taken after restora-
on the right and left lower first molar as secondary development from hy-
tion of the right and left upper first molar with stainless steel crowns. A
poplasia. The other fillings of the primary dentition are clinically accept-
defect can be seen on the filling of the upper right deciduous first molar.
able.
The other fillings of the primary dentition are clinically acceptable.
Behandlung einzusehen und ist für
„weiße Zähne“ bereit, sehr viel in Kauf
zu nehmen.
Allgemeine Therapieziele:
• Restauration der kariösen Läsionen an
den Zähnen 16, 26, 36 und 46, sowie 54
• Ästhetische Korrektur der Zähne 12
bis 22 und 32 bis 42
• Reduktion des hohen Kariesrisikos
durch Veränderung der häuslichen
Mundhygienegewohnheiten, Ernährungslenkung und Fluoridsupplementation sowie durch professionelle Prophylaxemaßnahmen.
Weiterer Behandlungsverlauf
Zunächst wird eine professionelle
Zahnreinigung zur Reduktion der gingivalen Blutung durchgeführt. Dann werden die kariösen ersten Molaren im
Ober- und Unterkiefer versorgt. Mittels
lokaler Betäubung kann eine ausreichende Anästhesietiefe erreicht werden. An den Zähnen 16 und 26 folgt
nach der Kariesexkavation jeweils die
Präparation und Anpassung einer konfektionierten Stahlkrone für die 6-JahrMolaren (3M Espe, Seefeld). Durch diese Restaurationsform wird eine gewünschte Bisserhöhung von etwa einem Millimeter erzielt, die sich am um
36
diesen Betrag vergrößerten interokklusalen Molarenabstand in Schlussstellung orientiert. Diese Bisserhöhung
wird durch den Jungen ohne Probleme
toleriert. Die konfektionierten Stahlkronen werden jeweils mit Glasionomerzement (Ketac Cem Aplicap, 3M
Espe) definitiv eingesetzt. Des Weiteren
wird der kariöse Defekt an 54 mesio-okklusal exkaviert und mit dem selbstkonditionierenden Adhäsivsystem Adper
Prompt-L-Pop (3M Espe) und Dyract AP
(Dentsply DeTrey, Konstanz) versorgt
(Abb. 7).
An den Unterkiefermolaren ist nach
Kariesentfernung unter Leitungsanästhesie die Kofferdamapplikation möglich und so fällt die Entscheidung, auch
aus ästhetischen Gründen, für die Kompositrestauration in „Total-etch“-Technik mit Optibond FL (KerrHawe, Bioggio, Schweiz) und Tetric Evo Ceram
(Ivoclar Vivadent, Schaan, Liechtenstein) (Abb. 8). Die Ätzzeiten betragen
für den präparierten Schmelz 30 Sekunden und für das freiliegende Dentin maximal zehn Sekunden. Die Eltern werden hinsichtlich möglicher Füllungsteilverluste und gegebenenfalls notwendiger sekundärer Überkronung aufgeklärt.
Unter den Behandlungsalternativen für die hypoplastisch, verfärbten
Frontzähne im Ober- und Unterkiefer
© Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
(1. Nihil, 2. noninvasive Versorgung
mittels direkter Kompositrestaurationen, 3. minimalinvasive Veneerversorgung, 4. Überkronung) fällt die Entscheidung in Abwandlung für die Variante 2. Variante 1 ist für Patient und Eltern aus psychologischen Gründen keine Alternative.
Auf einem nach Abdrucknahme
(Palgat Plus Quick, 3M Espe) erstellten
Modell wird im Labor ein Wax-up
durchgeführt. Darauf wird ein Silikonschlüssel angefertigt mit Hilfe dessen
unter Verwendung von Pro Temp 3 Garant (3M Espe) provisorische Veneers
angefertigt werden. So kann dem Patient und seinen Eltern das Behandlungsergebnis und die zukünftige Lippenkontur veranschaulicht werden.
Das Profil toleriert den additiven Effekt
der Kompositschichtstärke, wie durch
diese Probebehandlung deutlich wird.
Auf eine labiale Präparation der
Zähne im Sinne einer konventionellen
Veneerpräparation wird verzichtet.
Um beim Einsetzen eine eindeutige Reposition der Veneers zu gewährleisten,
wird mit einem kleinen, kugelförmigen Diamanten eine minimale Vertiefung präpariert. Die definitive Abdrucknahme des Oberkiefers erfolgt
mit Panasil binetics putty und Panasil
binetics contact (Kettenbach, Eschenburg). Im Labor werden auf dem Mo-
Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 32 (2010) 1
C. Meller:
Amelogenesis imperfecta im Wechselgebiss – ein Fallbericht
Amelogenesis imperfecta in the second dentition – a case report
Abbildung 5 Das Modell zeigt den erheblichen Verlust der vertikalen Dimension durch kariöse
und attritive Hartsubstanzverluste an den bleibenden Molaren 26 und 46.
Figure 5 The model shows the loss of vertical dimension due to the carious and attritive loss of enamel and dentin on the left upper first molar as well as the right lower first molar.
Abbildung 6 Orthopantomogramm eines Jungen mit AI im Alter von acht Jahren.
Figure 6 Orthopantomogramm from an eight year old boy.
dell von 12–22 Kompositveeners (Signum Matrix, Farbe A2, Heraeus Kulzer,
Hanau) angefertigt. Auf Keramikveneers wird aus Kostengründen verzichtet. Die Kompositverblendschalen
werden mit dem CoJet-Gerät (3M
Espe) und Silan (Espe Sil, 3M Espe)
konditioniert und unter relativer Trockenlegung mit sulkulären Fäden (Ul© Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
trapak Cord #0, Ultradent, South Jordan, USA) und Teilmatrizentechnik
(Universalstreifen gerade, US-120 KN,
Frasaco, Tettnang) nach verlängerter
Schmelzätzung des nicht präparierten,
aprismatischen Schmelzes von 60 Sekunden (Dentin lag nicht frei) mit Optibond FL und Tetric Evo flow (Ivoclar
Vivadent) eingesetzt.
Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 32 (2010) 1
Die Unterkieferfrontzähne werden
zunächst von den Füllungsresten des
Vorbehandlers befreit und mit einer bis
paragingival ausgedehnten Anschrägung versehen, um dann ebenfalls unter relativer Trockenlegung mit sulkulären Fäden und Teilmatrizentechnik im
direkten
Verfahren
in
„TotalEtch“-Technik (60 Sekunden nicht präparierter Schmelz, 30 Sekunden präparierter Schmelz, zehn Sekunden Dentin) mit Optibond FL und Enamel HFO
(Farben UD2 und GE2, Micerium, Avegno, Italien) restauriert zu werden (Abb.
9). Die Schichtstärke beträgt maximal
ungefähr 0,7 mm. Auf die Verwendung
von Opaker kann verzichtet werden.
Es folgen mehrere Mundhygienesitzungen mit Ernährungs- und Fluoridberatung sowie Mundhygieneremotivation und Plaquentfernung. In einem
Ernährungsberatungsgespräch soll der
Patient von mehreren auf maximal eine
kariogene Zwischenmahlzeit am Tag
umgestellt werden. Auch sollen die kariogenen Getränke (Apfelsaftschorle
und Kakao) maximal auf die Mahlzeiten beschränkt werden. Zwischen den
Mahlzeiten soll nur noch Wasser verabreicht werden.
Die
Fluoridsupplementierung
wird wie folgt umgestellt: Erhöhung
vom einmaligen Gebrauch einer
1500 ppm konzentrierten Zahnpasta
auf die zweimalige Anwendung pro
Tag, Zubereitung der Mahlzeiten mit
fluoridiertem Speisesalz. Der einmal
wöchentliche Gebrauch von elmex
gelée (Gaba GmbH, Lörrach) wird
beibehalten.
Da der Patient noch keine systematische Putztechnik erkennen lässt,
wird er primär in der Systematik nach
KAI (Kauflächen, Außenflächen, Innenflächen) unter Anwendung der
Rotationsmethode nach Fones instruiert und zur Umstellung von einmaligem zu zweimaligem Putzen (morgens nach dem Frühstück und unmittelbar vor dem Schlafengehen) am Tag
angehalten. Der Zahnseidengebrauch
wird demonstriert und geübt, um zuhause etabliert zu werden. Der Junge
bedarf vier- bis sechsmal jährlicher
Remotivation, da die Eltern im häuslichen Umfeld keinen oder wenig Einfluss auf das Putzverhalten des Kindes
auszuüben scheinen und diese Haltung auch im Verlauf der Behandlung
nicht änderten. So muss die Motivati-
37
C. Meller:
Amelogenesis imperfecta im Wechselgebiss – ein Fallbericht
Amelogenesis imperfecta in the second dentition – a case report
on auf die Eigenverantwortlichkeit
des Kindes abzielen.
Kontrollen
Nach Behandlungsende offenbart die
Familie einen kompletten Neuanfang
in der Türkei, weshalb die Kontrolle erst
zwölf Monate später, während eines Urlaubsaufenthaltes, erfolgt (Abb. 10). Die
Kompositveneers sowie die weiteren
Restaurationen sind in situ. Die parodontale Situation stellt sich reizlos dar,
die Veneerränder liegen aufgrund des
fortschreitenden Wachstums an den
Zähnen 12 bis 11 und 22 inzwischen
leicht supragingival.
Prognose
Abbildung 7 Die Oberkieferaufsicht nach Rekonstruktion zeigt die Versorgung von 16 und 26 mit
konfektionierten Stahlkronen, sowie die Frontzahnversorgung wie in Abbildung 9 näher erläutert.
Der Zahn 54 wurde mittels selbstkonditionierendem Adhäsivsystem (Prompt-L-Pop, 3M Espe, Seefeld) und Dyract AP (Dentsply DeTrey, Konstanz) mit einer od-Füllung versorgt. Die klinisch akzeptablen Milchzahnfüllungen wurden belassen.
Figure 7 The maxilla shows the right and left upper first molar with steel crowns, as well as the restoration of the anteriors described in figure 9 after reconstruction. A distoocclusal filling was applied
in the right upper deciduous first molar by a self-conditioning adhesive system (Prompt-L-Pop, 3M
Espe, Seefeld) and Dyract AP (Dentsply DeTrey, Konstanz). The other fillings in the primary denti-
Die Prognose ist aufgrund der AI in Verbindung mit einem hohen Kariesrisiko,
der Selbstüberlassung des Kindes bezüglich seines Mundhygieneverhaltens
und den vermutlich nicht stattfindenden regelmäßigen Prophylaxe- und
Früherkennungssitzungen in einem
ländlichen Gebiet der Türkei als mäßig
zu beurteilen.
tion were acceptable and were not in need of further treatment.
Diskussion
Abbildung 8 Die Unterkieferaufsicht nach Rekonstruktion zeigt die mit adhäsiven Kompositfüllungen versorgten Zähne 36 und 46, sowie die Frontzahnversorgung wie in Abbildung 7 beschrieben. Die klinisch akzeptablen Milchzahnfüllungen wurden belassen.
Figure 8 The mandible shows composite fillings on the right and left lower molars, as well as the
restoration on the anterior described in figure 7 after reconstruction. The other fillings in the deciduous teeth were clinically acceptable and not in need of further treatment.
38
© Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
Der Junge stellt sich mit dem Hauptanliegen der ästhetischen Frontzahnkorrektur vor, es sind jedoch schon
deutliche Abnutzungserscheinungen
der Zähne, Karies und insuffiziente Restaurationen präsent. Eine frühzeitigere
Diagnose und adäquate Therapie hätte
geholfen, restaurative Probleme zu vermeiden [4]. In beschriebenem Falle sind
bereits okklusale Zahnhartsubstanzverluste mit Verlust der vertikalen Dimension zu beobachten (Abb. 5). Eine bestehende Gingivitis erschwert die zahnärztliche Behandlung zusätzlich.
Das Erscheinungsbild der AI kann
wie auch in vorliegendem Falle zu Bekümmerung, vermindertem Selbstbewusstsein und Auswirkungen auf die
psychologische Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen führen, was
die Forderung nach einer frühen Behandlung unterstreicht (Abb. 2). Es sollte die bestmöglichste Versorgung, im
Milch- und vor allem auch im Wechselgebiss, angestrebt werden, um Attrition
zu verringern und um die Kaufunktion
und Ästhetik wiederherzustellen [8].
Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 32 (2010) 1
C. Meller:
Amelogenesis imperfecta im Wechselgebiss – ein Fallbericht
Amelogenesis imperfecta in the second dentition – a case report
Abbildung 9 Die Frontalansicht nach Rekonstruktion zeigt die indirekt im Labor gefertigten adhäsiv eingegliederten Kompositverblendschalen (Signum Matrix, Heraeus Kulzer, Hanau) von 12–22.
Die Unterkieferfront wurde im direkten Verfahren mit Komposit (Enamel HFO, Micerium, Avegno,
Italien) restauriert.
Figure 9 Frontal appearance after reconstruction of the upper right and left first and second incisors shows the adhesively integrated composite veneers manufactured indirectly in the laboratory
(Signum Matrix, Heraeus Kulzer, Hanau). The lower anteriors were directly restorated with compo-
Abb. 1–10: Meller
site (Enamel HFO, Micerium, Avegno, Italien).
Abbildung10 Die Frontalansicht nach zwölf Monaten: Die Kompositverblendschalen der oberen
Inzisiven, sowie die adhäsiven Aufbauten in der Unterkieferfront sind in situ. Die Gingiva erscheint
reizlos.
Figure 10 Frontal appearance after one year: the composite veneers of the upper right and left first
and second incisors as well as the directly restorated lower anteriors are in situ. The gingival situation is unremarkable.
© Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 32 (2010) 1
In der Vergangenheit wurden bei
Patienten mit AI nicht selten multiple
Extraktionen und spätere Versorgung
mit herausnehmbarem Zahnersatz
durchgeführt. Heute stehen Kompositrestaurationen, Stahlkronen und im Erwachsenenalter definitive Kronenund/oder Keramikrestaurationen zur
Verfügung.
In der Adhäsivtechnik muss bei AI
aufgrund eventuell erhöhter Fluoridoder Proteinkonzentration und/oder
atypischer Schmelz- und Dentinstruktur (aprismatischer Schmelz, sklerosierte Dentintubuli) mit der Erzielung eines
minderwertigen Ätzmusters gerechnet
werden. Nach Phosphorsäureätzung
zeigen rasterelektonenmikroskopische
Aufnahmen große interprismatische
Räume und geringe Porositäten innerhalb der Schmelzprismen, die zu einer
eingeschränkten mikromechanischen
Verankerung führen [17]. Als direkte
Folgen sind schlechte Adhäsivpenetration und reduzierte Haftkraft zu nennen [14]. Am durch MIH verursachten
strukturverändertem Schmelz zeigten
Haftungsuntersuchungen sowohl bei
der Anwendung von Bondingsystemen
nach Schmelzätzung als auch bei selbstkonditionierenden Systemen deutlich
reduzierte Scherhaftwerte im Vergleich
zu normalem Schmelz [17]. Schmidlin
geht jedoch davon aus, dass im klinischen Alltag bei sichtbarer, opak-weißer Ätzstruktur eine ausreichende Ätzbarkeit des Schmelzes gegeben ist [14].
Dennoch sollte eine sorgfältige Abwägung und Patientenaufklärung bezüglich Aufwand, Kosten, Nutzen und Risiken erfolgen.
Im vorliegenden Falle werden die
bleibenden Oberkiefermolaren mit
Stahlkronen, die bleibenden Unterkiefermolaren aus ästhetischen Gründen
und bei gewährleisteter absoluter Trockenlegung mit Komposit restauriert.
Im Falle von Füllungsteilverlusten können in zweiter Instanz ebenfalls noch
Stahlkronen eingegliedert werden. Bei
durch MIH kompromittierten, jugendlichen Zähnen erscheint eine mittlere
Retentionsrate von direkten Kompositrestaurationen von etwa fünf Jahren
realistisch [10]. Die Stahlkronenversorgung dient als kostengünstiges Langzeitprovisorium bis im frühen Erwachsenenalter definitive Kronenversorgungen angefertigt werden können. Die
Vorteile gegenüber im Labor indirekt
39
C. Meller:
Amelogenesis imperfecta im Wechselgebiss – ein Fallbericht
Amelogenesis imperfecta in the second dentition – a case report
angefertigten Gold-, Verblend-, Vollkeramik- oder Kompositkronen, obwohl diese eine gute klinische Überlebensdauer nachweisen [9], sind die
minimale Präparation mit maximalem
Strukturerhalt und geringerem pulpalem Trauma, sowie geringere Kosten [5].
Die Oberkieferfront wird mittels laborgefertigter Kompositveneers noninvasiv ästhetisch korrigiert. Es kann diskutiert werden, ob eine minimale Reduktion des mindermineralisierten
Schmelzes um 0,3–0,5 mm die Haftkraft
von Komposit auf Schmelz eventuell
hätte verbessern können [18]. Trotz fehlender Präparation kann ein stufenloser
marginaler Rand erreicht werden. Ob eine definierte marginale Präparationsgrenze die Plaqueakkumulation weiter
minimiert und somit die parodontale Situation begünstigt hätte, kann ebenfalls
diskutiert werden. Entsprechende Literaturangaben fehlen.
Die Unterkieferfront wird aus Kostengründen im direkten Verfahren mittels Komposit versorgt. Vergleichende
Literaturangaben von direkten versus
indirekt gefertigten Veneers fehlen. Eine
Studie bezüglich Biegefestigkeit und
Randadaption im Vergleich direkter
Kompositrestaurationen versus Inlayrestaurationen im Seitenzahngebiet lässt
den Schluss einer gleichwertigen Versorgung zu [6]. So erzielen die direkten Füllungen mit ausgehärtetem Bondingmaterial die gleiche Biegefestigkeit wie indirekt eingesetzte Inlayrestaurationen ohne ausgehärtetes Bondingmaterial.
Die Eltern sind über die langzeitprovisorische Versorgung der Frontzähne
und Molaren, die gegebenenfalls notwendige Korrektur und die Notwendigkeit der definitiven Versorgung im frühen Erwachsenenalter aufgeklärt.
Zusammenfassend kann jedoch bis
zu dieser definitiven Versorgung eine
40
für den Patienten zufrieden stellende
ästhetische, funktionelle und kostengünstige Lösung erzielt werden.
11. Michigan Dental Association: Treating patients with amelogenesis imperfecta. J Mich
Dent Assoc. 2, 20 (2004)
12. Pieper K: Zahnanomalien und ihre Versor-
Interessenskonflikte: keine angegeben
gung. PDZ Kinderzahnheilkunde 3. Auflage
16, 297–312. Urban und Fischer Verlag, München (2008)
13. Rateitschak KH, Wolf HF, Van Waes HJM, Stöck-
Literaturverzeichnis
li PW: Farbatlanten der Zahnmedizin, 17,
73–76. Thieme Verlag, Stuttgart (2000)
1. Aldred MJ, Savarirayan R, Crawford PJM: Amelo-
14. Schmidlin PR: Struktur und Zusammenset-
genesis imperfecta: a classification and catalogue
zung des Schmelzes bei Amelogenesis imper-
for the 21st century. Oral Dis 9, 19–23 (2003)
fecta. Schweiz Monatsschr Zahnmed 115,
2. Aren G, Ozdemir D, Firatli S, Uygur C, Sepet E,
1037–1046 (2005)
Firatli E: Evaluation of oral and systemic mani-
15. Sundell S, Valentin J: Hereditary aspects and
festations in an amelogenesis imperfecta po-
classification of hereditary amelogenesis im-
pulation. J Dent 31, 585–591 (2003)
perfecta. Community Dent Oral Epidemiol 14,
3. Axelsson P: Diagnosis and risk prediction of
dental caries. V.2. Illinois: Quintessence books
211–216 (1986)
16. Weerheijm, KL: Molar Incisor Hypomineralization (MIH): Clinical presentation, aetiology
(2000)
4. Ayers KMS, Drummond BK, Harding WJ, Salis
GS, Liston PN: Amelogenesis imperfecta mul-
and management. Dent Update 31, 9–12
(2004)
tidisciplinary management from eruption to
17. William V, Burrow MF, Palamare JE, Messer LB:
adulthood. Review and case report. New Zeal
Microshear bond strength of resin composite
Dent J 35, 338–339 (2004)
to teeth affected by Molar Incisor Hypomi-
5. Fayle SA: Molar incisor hypomineralization:
Restorative management. Eur J Paediatr Dent
neralization using 2 adhesive systems. Pediatr
Dent 28(3), 233–241 (2006)
18. Wray A, Welbury R: Treatment of intrinsic dis-
4, 121–126 (2003)
6. Frankenberger R, Sindel J, Krämer N, Petschelt
coloration in permanent anterior teeth in chil-
A: Dentin bond strength and marginal adap-
dren and adolescents. Int J Pediatr Dent 11,
tion: direct composite resins vs. ceramic in-
309–315 (2001)
lays. Oper Dent, 24 (3), 147–155 (1999)
7. Kellerhoff N, Lussi A: Die Molaren-InzisivenHypomineralisation.
Schweiz
Monatsschr
Zahnmed 14, 243–253 (2004)
8. Kirchmann C, Zipprich J: Amelogenesis imper-
■ Korrespondenzadresse:
fecta beim zweijährigen Patienten. Zahnärztl
Mitt 97, 7, 46–50 (2007)
Dr. Christina Meller
9. Koch, MJ, Garcia-Godoy F: The clinical perfor-
Eberhard Karls Universität Tübingen
mance of laboratory-fabricated crowns placed
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kiefer-
on first permanent molars with developmental
heilkunde, Poliklinik für Zahnerhaltung
defects. J Am Dent Assoc 131, 1285–1290 (2000)
(Ärztl. Dir.: Prof. Dr. C. Löst)
10. Mejare I, Bergmann E, Grindefjord M: Hypo-
Osianderstrasse 2-8
mineralized molars and incisors of unknown
72076 Tübingen
origin: treatment outcome at age 18 years. Int
E-Mail: christina.meller@
J Paediatr Dent 15, 20–28 (2005)
med.uni-tuebingen.de
© Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 32 (2010) 1
Herunterladen