Symbole der Unschuld Rote oder Turban-Lilie (Lilium pomponium) Garten NATUR Wahre Meister der alpinen Besiedlung sind die Liliengewächse, treten sie doch bis in Höhen von über 3000 Metern auf. Obwohl seit Jahrtausenden verehrt und geschützt, sind viele Arten vom Aussterben bedroht. Text und Fotos: Wolfgang Langer und Herbert Sauerbier B etrachtet man eine Lilie, so geht von der Anmut ihrer Blüten eine besondere Faszination aus. Nicht umsonst wurden diese Kleinode kultiviert und schmücken heute viele unserer Gärten. Schon die alten Kulturvölker im Mittelmeerraum bewunderten die Schönheit und Harmonie der Lilien. Zum Beispiel wuchs sie auf Kreta bereits vor 4500 Jahren in königlichen Gärten und erfreute sich grosser Beliebtheit. Auf Wandmalereien und Vasen abgebildet fand man sie unter anderem im Palast von Knossos. Sie gehörte eng verbunden zur minoischen Kultur und zu den Kulthandlungen dieser Zeit. Wie die antiken Griechen, verehrten auch die Römer die Lilie. Sie galt ihnen als Sinnbild der Hoffnung und war der Göttermutter Juno geweiht. Das zeigt, wie intensiv das Verhältnis der Menschen zur Welt der Pflanzen in der vorchristlichen Zeit war. Daran änderte sich auch im Christentum wenig, gilt die Lilie doch als Symbol der Unschuld und der Reinheit. So wird sie immer wieder auf Altären und religiösen Wandmalereien zusammen mit der heiligen Maria dargestellt. Die Legende erzählt, dass Adam und Eva bei ihrer Vertreibung aus dem Paradies die Lilie mitnehmen durften, damit sie auf Erden nicht ganz ohne Himmel wären. Aber auch der weltliche Bereich schmückte sich gerne mit dem Symbol der Lilie. In Florenz nahmen die Medicis die Lilienblüte in ihr Staatswappen auf. Die französischen Bourbonenkönige schmückten ihre Banner und Wappen mit der Lilie. Einige Historiker behaupten allerdings, es sei keine Lilie, sondern die stilisierte Blüte einer Iris – also einer Schwertlilie, die trotz ihrem Namen kein Liliengewächs ist. 300 Arten weltweit Wenn eine Pflanze über so viele Jahrtausende in verschiedenen Kulturen eine so grosse Wertschätzung genossen hat, ist ziemlich sicher davon auszugehen, dass sie für die Heil- und Arzneikunde eine Bedeutung gehabt haben muss. Tatsächlich führt das Kräuterbuch von Leonhardt Fuchs aus dem Jahre 1543 drei Liliengewächse auf: die Goldwurz oder auch heydnische Gilge genannt (Türkenbund), die weisse Gilge (Madonnenlilie) und die rote Gilge (Feuerlilie). Alle Teile der Pflanzen fanden in der Volksheilkunde Verwendung. Bei der äusserlichen Anwendung schätzte man vor allem die desinfizierende und wundheilende Wirkung. Eine interessante Rezeptur verspricht zum Beispiel neuen Haarwuchs. Es heisst: «Die Zwiebel der heydnischen Gilge zu aschen, aber gebrandt und ein Salb mit Honig daraus gemacht und angestrichen, macht das ausfallend har wider wachsen.» Weltweit gibt es etwa 300 Arten aus der Familie der Liliaceae. Die mehrjährigen Gewächse kommen hauptsächlich in den Balkanstaaten, Vorderasien und den Hochsteppen Asiens vor. Charakteristisch sind die Zwiebel als Speicherorgan und der beblätterte Stängel. Die Blüte hat einen charakteristischen Aufbau. Sie besteht aus 2 Perigonblattkreisen mit je 3 Perigonblättern, 2 Staubblattkreisen mit ebenfalls je 3 Staubblättern und einem oberständigen verwachsenen Fruchtknoten, bestehend aus 3 Fruchtblättern. Die Frucht ist eine Kapsel, die sich entlang der Mittellinie der Fruchtblätter öffnet und die Samen freigibt. Sechs Gattungen in den Alpen heimisch Liliengewächse werden wegen ihrer Schönheit, wegen ihrer zarten, frischen und farbenprächtigen Blüten heute überall in den Gärten angepflanzt. Vor allem die Lilienhybriden, die problemlos zu kultivieren sind, eroberten die Gärten. So besteht heute kein Anreiz mehr, die geschützte Lilie in der freien Natur zu sammeln. Von den zahlreichen Lilien-Gewächsen im engeren Sinne kommen sechs Gattungen in den Alpen vor: es sind dies die Gattungen Lilium (Lilie), Fritillaria (Schachblume), Tulipa (Tulpe), Erythronium (Zahnlilie), Gagea (Gelbstern) und Lloydia (Faltenlilie). Die prächtige Feuerlilie (Lilium bulbiferum) ist über weite Teile der Alpen verbreitet. Ihr Areal reicht von den Seealpen bis Bosnien und in die Karpaten. Weithin Dauphiné-Schachblume (Fritillaria tubiformis) Natürlich | 6-2004 27 NATUR Garten Hunds-Zahnlilie (Erythronium deus-canis) sichtbar blüht diese wärmeliebende Lilie auf Bergwiesen, Felsheiden und rasigen Felsbändern bis über 2000 Meter Höhe. Aufrechte Stängel, dicht mit schmal-lanzettlichen Blättern besetzt, tragen die grossen, weit geöffneten, leuchtend gelbroten Blüten. In den Achseln der oberen Stängelblätter bilden sich kleine Brutzwiebeln aus. Insbesondere nach der Blütenfarbe unterscheiden wir zwei Unterarten der Feuerlilie. Die Subspezies bulbiferum besitzt hellorangefarbene Blüten, deren Perigonblätter nur an der Basis und an der Spitze dunkler gefärbt sind. Die Subspezies croceum besitzt dunkelorangefarbene Blüten, bei denen die Perigonblätter nur in der Mitte hellorange gefärbt sind. Beide Unterarten bilden Brutzwiebeln aus, letztgenannte allerdings viel seltener und erst nach der Blütezeit. Weitaus häufiger treffen wie die Türkenbund-Lilie (Lilium martagon) in den Alpen an. Ihr Verbreitungsgebiet reicht von Mitteleuropa über Russland bis nach Japan. Die Art bevorzugt Kalkböden, wächst in lichten, artenreichen Laubwäldern der niederen Bergstufe und hat auf Bergwiesen mit über 2400 Meter Höhe ihre höchsten Wuchsorte. Die Blütezeit der Türkenbund-Lilie liegt, je nach Höhe des Fundorts, zwischen Ende Juni und Ende Juli. Meist bestehen die lockeren Blütentrauben aus drei bis sechs Blüten. Besonders kräftige Pflanzen können aber auch bis zu 20 Blüten tragen. 28 Natürlich | 6-2004 Feuerlilie (Lilium bulbiferum croceum) Acker-Gelbstern (Gagea villosa) Die nickenden Blüten hängen an gekrümmten Stielen. Die fast kreisförmig zurückgeschlagenen Perigonblätter sind trübrosa und zeigen auf der Innenseite unregelmässige purpurbraune Flecken. Die ungewöhnliche Blütenform, die an einen wohlgeformten Turban erinnert, hat dieser Art die deutsche Bezeichnung Türkenbund eingebracht. In den Südwestalpen kommen weitere Schachblumen vor. Die Hüllblattschachblume (Fritillaria involucrata) besiedelt steinige Rasen von den Cottischen Alpen bis zu den Ligurischen Alpen. Typisches Merkmal dieser Art sind die drei obersten im Wirtel stehenden Stängelblätter. Das Verbreitungsgebiet der DauphinéSchachblume (Fritillaria tubiformis) erstreckt sich von den Hautes-Alpes bis zu den Seealpen. 2 Unterarten sind zu unterscheiden. Die Subspezies tubiformis besitzt bis zu fünf Zentimeter grosse, purpurrote Blütenglocken, die nur schwach schachbrettartig gemustert sind. Nur in den Seealpen und in den Ligurischen Alpen wächst die andere Unterart, ssp. moggridgei. Ihre Blütenglocken sind leuchtend gelb oder grünlich gefärbt. Schachblumen: Ein besonderes Erlebnis Dasselbe gilt auch für die Turban-Lilie (Lilium pomponium), die ausschliesslich in den Seealpen und in den Ligurischen Alpen wächst. Ihre scharlachroten, dunkel gepunkteten Blütenblätter sind ebenfalls nach oben geschlagen. An den grünen Staubfäden hängen orangerote Staubbeutel. Die grossen, bis zu 8-blütigen und weithin sichtbaren Blütenstände heben sich deutlich ab vom Grün der Bergwiesen und den grauen Geröllhalden, auf denen diese herrliche Art wächst. Ihre nicht minder schöne Verwandte, die Krainer Lilie (Lilium carniolicum), ist in den südöstlichen Alpen heimisch. Ihre Vorkommen reichen bis nach Kroatien. Die Blütenfarbe ist sehr ähnlich der Turban-Lilie. Doch sind die zahlreichen Stängelblätter lanzettlich ausgebildet, während die Turban-Lilie linealisch geformte Blätter besitzt. Die Krainer Lilie blüht schon im Juni. Ihre Wuchsorte sind Bergwiesen und steinige, buschreiche Hänge. Zu den ganz besonderen Erlebnissen gehört das Auffinden der seltenen Schachblumen. Am Alpensüdrand wächst die Burnat-Schachblume (Fritillaria meleagris ssp. burnatii). Der überwiegend im oberen Teil beblätterte, bis zu 30 cm hohe Stängel trägt eine purpurbraune Blütenglocke, die mehr oder weniger schachbrettartig gemustert ist. Die Burnat-Schachblume wächst über Kalk auf mageren Rasen. Grengjer Tulpe: Bedroht vom Aussterben Zu den Liliengewächsen, die aus dem Süden Einzug in die Alpen gehalten haben, gehören die Tulpen. Auf Felsen oder gebüschreichen Hängen wächst die Südliche Tulpe (Tulipa australis). Der aufrechte StängeI trägt zwei bis drei schmal-lanzettliche Blätter. Die glockigen Blüten sind gelb gefärbt, die Blütenhüllblätter besonders aussen gelegentlich rötlich oder rotbraun überlaufen. Im Alpenraum kommt die Südliche Tulpe vor allem in Südtirol vor, in der Schweiz ist sie nur im Wallis anzutreffen. Auf einem kleinen Acker in der Nähe des Dorfes Grengiols im Kanton Wallis wächst die Grengjer Tulpe (Tulipa grengiolensis). Wie und wann die Grengjer Tulpe nach Grengiols kam, ist noch nicht geklärt. Vielleicht handelt es sich um ein Kulturrelikt aus Safrankulturen. Die Blüten sind bei der Mehrzahl der Pflanzen reingelb, einige sind mit einem mehr oder weniger breiten roten Rand versehen. Einen oft nicht sehr deutlich ausgeprägten Basalfleck Garten NATUR Burnat-Schachblume (Fritillaria meleagris burnatii) Didier-Tulpe (Tulipa didieri) findet man bei den rotgerandeten Exemplaren. Früher war die Grengjer Tulpe recht häufig in den Winterroggenäckern. Durch Umstellung der Bewirtschaftung von Winterroggen auf Kartoffeln und durch den Anbau anderer Getreidearten wie Gerste sind die Bestände stark rückläufig. Um die Tulpe vor dem Aussterben zu retten, wurde 1996 eine Zunft ins Leben gerufen. Der Walliser Naturschutzbund kaufte in der Nähe des Dorfes eine Parzelle auf, wo die Tulpe ein spezielles Reservat erhielt. trägt zwei braunrot gefleckte, breit lanzettliche Blätter. Aus den nickenden Blüten ragen 6 bläulich gefärbte Antheren heraus. Die Zipfel der Blütenhüllblätter sind scharf nach oben gebogen, so dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Alpenveilchen-Blüten aufweisen. Die Hunds-Zahnlilie wächst bevorzugt in lichten Busch- und Laubwäldern. Nicht selten schmücken Tausende der violetten Blüten den braunen Waldboden. Zu den Frühlingsblühern gehören auch die Gelbsterne. Man erkennt sie leicht an ihren im Sonnenschein sich sternförmig ausbreitenden, innen goldgelben und aussen grünen Perigonblättern. Sind die Blüten bei schlechtem Wetter geschlossen, erscheinen sie fast grün. In diesem Zustand sind Gelbsterne fast nicht auffindbar. In den Alpen weit verbreitet ist der Röhrige Gelbstern (Gagea fistulosa). Er wächst auf fetten, überdüngten Mattenplätzen in der Nähe von Viehställen in 1000 bis 2500 Metern Höhe. Typisch sind seine hohlen, röhrigen, grundständigen Laubblätter und die zottige Behaarung der Blütenstiele. Das Verbreitungsgebiet des Röhrigen Gelbsterns umfasst ausser den Alpen noch die Pyrenäen, den Apennin und sogar den Himalaya. Der Acker-Gelbstern (Gagea villosa) wächst eher in niederen Lagen der kollinen Stufe. Seine Stängelblätter sind am Rand zottig behaart. Die Blüten stehen zu fünf bis zehn in doldenförmig gedrängtem Blütenstand. Der Frühlingsbote: Hunds-Zahnlilie Rotblühende Tulpenarten kommen im Alpenraum nur sehr selten vor. Ihr ausschliessliches Auftreten auf Äckern lässt darauf schliessen, dass es sich bei ihnen um Kulturfolger oder Kulturflüchtlinge handelt. Leuchtend scharlachrot sind die Blüten der Didier-Tulpe (Tulipa didieri). Die Perigonblätter sind scharf zugespitzt. Am Grund der Innenseite befindet sich ein schwarzer, goldgelb umrandeter Fleck. Heute finden wir die Didier-Tulpe nur noch in Savoyen. Früher kam sie auch bei Sion im Wallis auf Getreideäckern vor, ist hier aber durch Veränderung der Wirtschaftsweise verschwunden. Von den Pyrenäen, dem Alpensüdfuss, über die illyrischen Gebiete bis zum Schwarzen Mee, erstreckt sich das europäische Verbreitungsgebiet der HundsZahnlilie (Erythronium dens-canis). Ausserhalb von Europa reichen die Vorkommen über den Kaukasus und Sibirien bis nach Japan. Die Hunds-Zahnlilie gehört zu den ersten Frühlingsboten, denn sie entfaltet ihre unverwechselbaren violetten Blüten oft schon im März, so dass sie oft zusammen mit Schneeglöckchen (Galanthus nivalis), Leberblümchen (Hepatica nobilis) und Blausternen (Scilla bifolia) anzutreffen ist. Der lange, biegsame Stängel Blüht bis auf 3000 Meter Nahe verwandt mit den Gelbsternen ist die Gattung der Faltenlilien. In den Alpen kommt nur eine Art dieser Gattung vor, die Alpen-Faltenlilie (Lloydia serotina). Wegen der Artbezeichnung serotina (lat. sero = verspätet) könnte man annehmen, dass diese Art relativ spät blüht. Dies ist aber nicht der Fall. Je nach Höhenlage Südliche Tulpe (Tulipa australis) blüht sie von Juni bis August. Die AlpenFaltenlilie erweist sich als echter Höhenspezialist. Im Wallis und im Oberengadin wurde sie in über 3000 Meter Höhe angetroffen. Selbst ihre tieferen Fundorte liegen fast durchweg oberhalb der Waldgrenze, also in der alpinen Stufe. Bevorzugte Wuchsorte sind heidige, torfige Matten, sie siedelt sich aber auch an extremen Orten, wie beispielsweise windgefegten, im Winter schneefreien Graten an. Aus einer kleinen Zwiebel treten zwei grasartige, schmale Laubblätter hervor. Der bis zehn Zentimeter hohe, zarte Stängel trägt meist nur eine trichterförmige Blüte. Die Perigonblätter sind weiss mit feinen, rötlichen Streifen. Am Grund befindet sich eine Leiste, aus der Nektar austritt. Früher wurde die Familie der Liliaceae weiter gefasst. In den letzten Jahren hat eine vollständige Neugliederung stattgefunden. So zählen der Weisse Germer (Veratrum album) und die Kelch-Simsenlilie (Tofieldia calyculata) nicht mehr zu den Liliengewächsen. Sie besitzen einen Wurzelstock und gehören zur Familie der Schwarzblütengewächse (Melanthiaceae). Die Trichterlilie (Paradisia liliastrum) aus der Familie der Grasliliengewächse (Anthericaceae) besitzt ebenfalls keine Zwiebeln, denn sie ist büschelig bewurzelt. Auch die verschiedenen Lauch-Arten werden nicht mehr zu den Liliengewächsen gerechnet. Sie bilden vielmehr eine eigene Familie, die Alliaceae. ■ Natürlich | 6-2004 29