Die Jungfräuliche Im Ziergarten verströmt die Madonnenlilie ein liebliches Odeur und signalisiert mit ihrem zauberhaften Duft besondere Heilkräfte. Blüten- und Wurzelextrakte werden in der Kräuterheilkunde bei Hauterkrankungen eingesetzt. Text und Fotos: Bruno Vonarburg Schneeweiss glänzender Blütenschimmer: Madonnenlilie D ie Lilie zählt, zusammen mit der Rose und der Lotosblume, zu den ältesten und schönsten Blüten der Welt. Ihre Pracht inspiriert seit Jahrtausenden Dichter und Künstler gleichermassen. Walfridus Strabo (809–849), der Kräutermönch von der Benediktiner-Klause auf der Insel Reichenau lobt die Blume in seinem «Hortulus»: «Holder Geruch der Blüte gemahnt an die Wälder von Saba. Nicht übertrifft an Weisse der parische Marmor der Lilien, Nicht an Düften der Narde. Und wenn die tückische Schlange Listiger Art gesammeltes Gift aus verderblichem Munde Spritzt und grausamen Tod durch kaum erkennbare Wunde Sendet ins innerste Herz, dann zerreibe Lilien in Mörser, Trinke den Saft, dies erweist sich als nützlich, mit schwerem Falerner. Oder bei Quetschungen lege man sie auf die bläuliche Stelle. Alsbald wird man auch hier zu erkennen vermögen die Kräfte, Die diesem heilenden Stoffe gegeben sind, Wunder bewirkend. Schliesslich sind Lilien auch gut bei Verrenkung der Glieder.» Lilien schmückten die Wände antiker griechischer Paläste, wobei die Madonnenlilie (Lilium candidum) als Blüte der Mondgöttin Hera oder Artemis galt. Nach griechischer Legende fielen zwei Tropfen Milch von Herkules Lippen, als er an der Brust von Juno, seiner Mutter, lag. Ein Tropfen verteilte sich am Himmel und wurde zur Milchstrasse. Der andere fiel auf die Erde und erblühte als Weisse Lilie (Lilium candidum). Aura der Reinheit und Unschuld Mit dem Aufkommen des Christentums wurden mit der Lilie die Wunder des Paradieses illustriert. Insbesondere die Madonnenlilie, mit ihren strahlend weissen Blüten, diente als Schmuck religiöser Darstellungen und gab der ganzen Gattung die legendäre Aura der Reinheit und Unschuld. Als der Erzengel Gabriel Maria verkündete, sie sei erwählt, Gottes Sohn zu gebären, hielt der himmlische Bote einen Liliensten- Chrüteregge GESUNDHEIT gel in der Hand. Nicht umsonst wird in der katholischen Kirche der Marienaltar mit der Madonnenlilie geschmückt. Ein feiner, lieblicher Duft Lilien gehören botanisch zu den einkeimblättrigen (Monokotyledonen) Pflanzen der Familie Liliaceae. Kennzeichen der Gattung Lilien ist die Zwiebel mit überlappenden Schuppen. Lilien besitzen keine feste Aussenhaut wie zum Beispiel Tulpen, Narzissen oder Knoblauch. nach aussen rückwärts gebogen. Im Zentrum befinden sich 5 orangegelbe Staubblätter, die auf langen, weissen Staubfäden (Filamenten) sitzen. Aus der Mitte ragt der lange Griffel hervor. Des Morgens und Abends verströmen die Blumen einen überaus feinen, lieblichen Duft. Die Frucht ist eine längliche Kapsel, welche sich in 3 Teile spaltet und zahlreiche, hellbraune Samen freisetzt. Die Nomenklatur der Pflanze erklärt sich wie folgt: Lilium = die Lilie; candidum = schneeweiss (Blütenfarbe). Im Lässt ihre orangen Blüten hoch über dem Gras erblühen: Feuerlilie Im Herbst treibt die Madonnenlilie aus ihrer mehrjährigen Zwiebel eine Rosette glänzender, hellgrüner, grundständiger Blätter, mit denen sie den Winter überdauert. Die Blätter weisen zahlreiche längliche, gelbliche Schuppen auf und sind bis 20 cm lang. Die basalen Teile dieser Blätter speichern Nährstoffe. Im Frühjahr schiebt sich ein bis 1 m hoher steifer, aufrechter Blütenspross empor, an dem kleine bis 8 cm lange, spiralig angeordnete Blätter sitzen. Das Stängelblattwerk wird nach oben immer kleiner, wobei es im letzten Abschnitt zu winzigen Hüllblättern umgeformt ist. Von Juni bis Juli entfaltet sich eine Traube mit 5 bis 20 duftenden, trichterförmigen Blüten. Die 5 schneeweissen Perigonblätter sind mit ihren Spitzen Volksmund kennt man Lilium candidum auch als Weisse Lilie oder Gilge. Ursprünglich stammt die Madonnenlilie aus Kleinasien und aus dem östlichen Mittelmeergebiet. Im nördlichen Europa wird sie als Zierpflanze im Garten und auf dem Balkon in Töpfen kultiviert. Anbau im Garten Wenn man die Madonnenlilie im eigenen Ziergarten anbauen möchte, sollte man die Zwiebeln (in Gärtnereien erhältlich) von August bis September an einem sonnig warmen, windgeschützten Standort zirka 5 cm tief im Abstand von 20 cm einsetzen. Die Pflanze verträgt keine Staunässe, bevorzugt aber sandiges, kalkhaltiges Erdsubstrat. Man kann den BoNatürlich | 8-2003 43 GESUNDHEIT Chrüteregge Einheimische Lilienfamilie: Graslilie (oben) Türkenbund (links) Die Lilienfamilie den nach der Einpflanzung mit zweijährigem Kompost oder etwas Rindenhumus abdecken. Gleicher Art können die Zwiebeln auch in 20 cm tiefe Töpfe mit 20 cm Durchmesser eingepflanzt werden. Als Substrat empfiehlt sich eine mit Langzeitdünger angereicherte Blumenerde. Bei intensiver Sonnenbestrahlung sollte man die Lilien regelmässig, aber nicht zu stark giessen. Ansonsten gedeihen sie im Garten wie auch in Töpfen ohne besondere Pflege. Um die Zwiebelfäule (Fusarium) zu verhindern, sollte der Boden mit etwas Sand versetzt sein. Wenn die Blätter, Blüten und Stengel von Grauschimmel (Botyritis) befallen werden, kann man sie mit Schachtelhalmabsud begiessen (1 Hand voll getrocknete oder frische Blätter in 1 Liter Wasser 5 Minuten kochen, abfiltrieren, erkalten lassen und die Flüssigkeit zum Besprühen verwenden). 44 Natürlich | 8-2003 Für Wühlmäuse sind Lilien Leckerbissen. In Gegenden, wo diese Nager häufig auftreten, ist es ratsam, die Zwiebeln von Drahtkörben umgeben zu setzen. Bisweilen kann die Madonnenlilie vom Lilienhähnchen, einem siegellackroten Käfer, der sich von den Blättern ernährt, befallen werden. Dieser Schädling hat die Eigenart, in Schüben aufzutreten und kann gut mit der Hand entfernt werden. Auch sollte man auf die Eier achtgeben, welche die Lilienhähnchen an den Blattunterseiten ablegen. Die schlüpfenden Maden können innert kurzer Zeit das gesamte Blattwerk abfressen. Zum Entfernen kann man sie entweder mit dem Finger abstreifen oder mit Gesteinsmehl einstäuben. Auch Blattläuse, die manchmal die Pflanze befallen, können mit Gesteinsmehl in Schach gehalten werden. Ausserdem sollte man die Madonnenlilie vor Schneckenfrass schützen. Die Lilienfamilie mit ihren über 100 Arten ist auch in unserer heimischen Flora vertreten: Sei es die Feuerlilie (Lilium bulbiferum L.) mit ihren aufrecht stehenden, feuerroten Blüten oder der Türkenbund (Lilium martagon), dessen Blumen einem türkischen Turban ähnlich sind. Schneeweisse Blüten tragen die Trichterlilien (Paradisea liliastrum Bertol) und die Astlosen Graslilien (Anthericum liliago L.). Im Ziergarten werden verschiedene Varietäten und Hybriden angebaut: die Prachtslilie (Lilium specuosum rubrum) mit kirschrot gesprenkelten Blüten; die Grossblütige Goldbandlilie (Lilium auratum) mit goldigen Trichterblumen; die Königslilie (Lilium regale) mit orangerotem oder weissgelbem Flor. Aus dem Himalaya stammt die Riesenlilie (Cardiocrinum giganteum), welche mit ihren weissen Blüten bis 3 m hoch werden kann. Es gibt aber auch falsche Lilien, das heisst Zierpflanzen, welche im Volksmund als Lilien bezeichnet werden, im botanischen Sinne aber nichts mit den Chrüteregge GESUNDHEIT wirklichen Lilien (Lilium) zu tun haben. Hinzu gehören zum Beispiel die Taglilie (Hemerocallis), Schwertlilie (Iris), Steppenlilie (Eremurus), Fackellilie (Kniphofla), Inkalilie (Alstroemeria), Junkerlilie (Asphodeline) und Palmlilie (Yucca). Die Heilkraft der Madonnenlilie Die Madonnenlilie ist eine Heilpflanze, die bereits in der griechischen und römischen Antike verwendet wurde. Während Plinius die Lilie als Mittel gegen Hautprobleme gebrauchte, empfahl Dioscurides den ausgepressten Saft der Blätter, mit Essig und Honig gesotten, als Salbe gegen Geschwüre. In den modernen Heilkräuterbüchern wird Lilium candidum selten aufgeführt, obwohl die schmerzlindernden, entzündungshemmenden, erweichenden, wundheilenden und narbenbildenden Wirkstoffe aus der Blüte und der Zwiebel weitgehend bekannt sind: ätherisches Öl, Schleimstoffe, Tannine, Sterine und Glykoside. In der heutigen Volksmedizin wird die Madonnenlilie vereinzelt als Blütenöl, Lilienwasser oder Salbe verarbeitet und vorzugsweise bei Hautbeschwerden eingesetzt. Das Blütenöl kann einfach hergestellt werden: 10 g frische Blüten in einem Glasgefäss mit 100 g Oliven- oder Mandelöl ansetzen; das Ganze während 10 bis 14 Tagen zugedeckt im Halbschatten stehen lassen und abfiltrieren. Es ist ein ausgezeichnetes Pflegemittel für Brandwunden, Juckreiz und Ekzem, ferner eignet es sich zur Behandlung von Gerstenkörnern und Lidrandentzündung der Augen (morgens und abends vorsichtig mit einem befeuchteten Wattestab betupfen). Die Zwiebelsalbe empfiehlt sich als Zugmittel bei Furunkeln, Abszessen, Fingergeschwüren, Nagelbettentzündungen, Hautrissen, Frostbeulen und Hautflecken. Die von August bis September gegrabene Zwiebel wird fein zerschnitten und mit warmer, flüssiger Butter zu einem Brei verrührt. Bei sanfter Wärme im Wasserbad werden die heilenden Inhalts- Vertreibt Gesichtsfalten und Couperose: Madonnenlilien als Salbe stoffe während einer halben Stunden unter periodischem Umrühren ausgezogen. Nun gibt man pro 100 g Butter 5 Gewürznägelchen hinzu, rührt nochmals gut auf und filtriert die flüssige Masse in sterile Salbentöpfe ab. Im Kühlschrank gelagert, ist die Salbe bis zu einem Jahr haltbar. Bei Bedarf wird sie morgens und abends an den betroffenen Stellen eingerieben. Die Blütensalbe ist ein hervorragendes Hautpflegemittel gegen Gesichtsfalten, Couperose und trockene Haut. Frisch gepflückte Madonnenlilienblüten werden fein zerschnitten und entsprechend der Zwiebelsalbe mit warmer flüssiger Butter zu einem Brei verrührt. Bei sanfter Wärme im Wasserbad wird die Mischung während einer halben Stunde unter periodischem Umrühren ausgezogen. Dann gibt man pro 100 g Butter 5 Gewürznelken hinzu, rührt nochmals gut auf und filtriert die flüssige Masse in sterile Salbentöpfe ab. Im Kühlschrank gelagert ist die Salbe bis zu 1 Jahr haltbar. Bei Bedarf wird sie am Abend an den betroffenen Stellen eingerieben. Das Lilienwasser ist eine probate Arznei zur Beruhigung der Nerven, bei Amenorrhoe (Ausbleiben der Periode), Metrorrhagie (ausserhalb der Periode auftretende Gebärmutterblutungen) und Menorrhagie (verstärkte und verlängerte Menstruationsblutungen). 100 g frisch gepflückte Madonnenlilienblüten mit einem halben Liter kochendem Wasser übergiessen; 8 Stunden zugedeckt stehen lassen; abfiltrieren und mit 2 dl 70%igem Trinkspiritus (Drogerie/Apotheke) vermengen. In sterile Flaschen abfüllen und kühl lagern. Bei Bedarf 3 mal täglich 15 bis 25 Tropfen in wenig Wasser verdünnt vor dem Essen einnehmen. Das Duftöl kann als natürliches, wohlriechendes Parfum verwendet werden. Die frischen Madonnenlilien werden morgens oder abends zu duftender Stunde gepflückt, fein zerschnitten und mit Mandelöl überdeckt. Dann lässt man das Ganze zugedeckt während 3 Tagen am Halbschatten stehen und filtriert anschliessend in Fläschchen ab. Als Parfum wird das Duftöl am Hals links und rechts in kleinen Dosen eingerieben. Vorsicht: In der Schwangerschaft (Wehen auslösend) und bei Allergie auf Liliengewächse sollten Lilium-candidum-Präparate nicht verwendet werden. ■ Natürlich | 8-2003 45