Selbstbesinnung und Öffnung fiir die Modeme

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JÖRG ERNESTI, LEONHARD HELL,
GÜNTER I<RUCK (HG.)
Selbstbesinnung und Öffnung
fiir die Modeme
50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil
2 0/13
Ferdinand Schöningh
Paderbom · München · Wien · Zürich
MARIA NEUBRAND
DIE KIRCHE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHENVOLK
Nosfra aetate
4: Artstoß zu einerneuen Israeltheologie der Kirche
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem kürzesten Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, mit Nostra aetate (NA), und hier nochmals speziell mit
dem vierten Artikel dieser Erldärung, der die Haltung der Kirche zum jüdischen Volk thematisiert. Es soll versucht werden, die Bedeutung dieser Erklärung hinsichtlich der Entstehungsgeschichte, der inhaltlichen Akzentsetzung
sowie ihrer Rezeptionsgeschichte herauszustellen. Die hier vorgetragene These lautet, dass mit NA 4 wesentliche Grundlagen für eine "neue Israeltheologie" in der Kirche gelegt wurden, die Auswirkungen auf alle theologischen
Disziplinen haben, aber- leider- noch längst nicht eingelöst sind.
1
Als Einführung vier Stimmen:
zwei jüdische, zwei katholische
1.1
David Rosen
Ende Juli 2012 hat der Rabbiner David Rosen, Beauftragter des American
Jewish Commitee und des Israelischen Oberrabbinats für interreligiöse Beziehungen, in der Zeitung "Die Tagespost" in einem Interview im Hinblick auf
NA 4 von einer "Revolution" gesprochen. Zur gegenwärtigen Beziehung der
katholischen Kirche zum Judentum erklärt er:
"Die Beziehungen zwischen Jfuden und Katholiken waren nie besser. Wir profitieren heute von der Revolution, die Nostra aetate darstellt.... Im Falle der Beziehungen znm Judentum kann man nicht anders als von einer Revolution sprechen. Vom Vorwurf, Gottesmörder und Brunnenvergifter zn sein, sind wir heute
bei diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und dem Heiligen Stuhl angekommen, hat Papst Johannes Paul II. seligen Angedenkens von einem ungekündigten und unkündbaren Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk gesprochen. Das ist mehr als ein Fortschritt, das ist eine Revolution." 1
1
Die Tagespost vom 28. Juli 2012, 5.
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MARIA NEUBRAND
1.2
Kurt Koch
Im August 2012 beklagte Kardinal Kurt Koch, Präsident des Päpstlichen Rates
zur Förderung der Einheit der Christen, der auch fiir den Dialog mit dem Judentum zuständig ist, in einem Interview mit dem jüdischen Wochenmagazin
"Tacheles" ,2 dass es in den christlichen Kirchen, auch in der katholischen Kirche, namentlich etwa bei den Traditionalisten der Piusbruderschaft, aber ebenso in manchen "liberalen Theologien", nach wie vor antijudaistische Tendenzen gibt, und dass damit auch die Verbindlichkeit von Nostra aetate bestritten
wird. So, wenn weiterhin behauptet werde, dass das Alte Testament durch das
Neue Testament "abgelöst" werde oder das Judentum eine Gesetzesreligion,
das Christentum aber eine Liebesreligion sei. Gegen solche Meinungen betont
Kardinal Kurt Koch: "Von päpstlicher Seite her ist eindeutig, dass ,Nostra aetate' in Kraft ist und seine Gültigkeit behält". Diese Aussage richtet sich auch
gegen eine Äußerung von Kardinal Walter Brandmüller, nach der Nostra aetate insgesamt lehrmäßig nicht bindend sei. 3
1.3
Dabru emet
Im September 2000 veröffentlichten in den USA vier jüdische Theologen Tikva Frymer-Kensky, David Novak, Peter Ochs und Michael Signer (gestorben 2009) - ein gemeinsames Dokument, dem sie den Namen Dabru emet
4
("redet Wahrheit") gaben. Mit dieser Erklärung fordern sie die Juden Amerikas auf, "Wahrheit" zu reden in Bezug auf das gewandelte Verhältnis zwischen Christen und Juden und in Bezug auf die "christlichen Bemühungen um
eine Würdigung des Judentums". Dieses Dokument5 fand weltweit Beachtung,
seine Programmatik wurde insbesondere auch in Deutschland gewürdigt. 6 In
V gl.
http://de.radiovaticana. va/news/20 12/08/17/kardinal_koch_beklagt_antijudaismus_in_
der_kirche/ted-613721 (Zugriff: 19.09.2012).
Vgl. hierzu die Internet-Meldung von Radio Vatikan:
http://de.radiovaticana. va/articolo.asp?c=589918 (Zugriff: 19.09.20 12).
Deutsche Übersetzung des Dokuments in: Rainer Kampling/Michael Weinrieb (Hgg.): Dabru
emet- redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003, 9-12; Zitat ebd., 9.
Bis zum November 2002 hatten sich fast 300 Juden und Jüdinnen aus allen Hauptrichtungen
des Judentums dieser Erklärung angeschlossen.
Vgl. Hanspeter Heinz: Das geht uns an- um Himmels willen! Eine christliche Antwort auf
"Dabru emet", in: Bibel und Liturgie 76 (2003), 64-68; Reinhold Bohlen: ,,Dabru emet": Ein
Meilenstein auf dem Weg des christlich-jüdischen Dialogs, in: Trierer Theologische Zeitschrift 112 (2004), 34-46; Erwin Dirscheri/Wemer Trntwin (Hgg.): Redet Wahrheit- Dabru
emet. Jüdisch-christliches Gespräch über Gott, Messias und Dekalog, Münster 2004; Hubert
Frankemölle (Hg.): Juden und Christen im Gespräch über "Dabru emet- Redet Wahrheit",
Paderborn 2005; Franz Kohlschein: Wo steht der christlich-jüdische Dialog? Die Stellungnahme "Dabru emet" und die Position von Kardinal Jean-Marie Lustiger, in: Stimmen der
Zeit 130 (2005), 401-410.
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DIE KIRCHE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHEN VOLK
acht Thesen wird hier dargelegt, worin sich aus jüdischer Sicht seit 1945 ein
grundlegender Wandel vor allem in der theologischen Verhältnisbestimmung
von "Israel" und "Kirche" vollzogen hat. Damit ist dieses Dokument als eine
jüdische Reaktion auf die zahlreichen theologischen und kirchenoffiziellen
Dokumente und Verlautbarungen der letzten sechs Jahrzehnte zu sehen/ die
aus theologischen Grilnden fordern, "den unverändert gültigen Bund Gottes
mit dem jüdischen Volk anzuerkennen und den Beitrag des Judentums zur
Weltkultur und zum christlichen Glauben selbst zu würdigen" 8. Die jüdische
Erklärung Dabru emet ist damit auch als eine Reaktion auf die "Revolution"
zu sehen, die katholischerseits mit NA 4 einsetzte.
1.4
Johannes Paul II.
Johannes Paul II. nimmt in seiner Ansprache beim Besuch der Großen Synagoge Romsam 13. Aprill986 9 direkt Bezug aufNA 4, wenn er sagt: "Der erste Punkt [der entscheidenden Wende im Verhältnis der katholischen Kirche
zum Judentum] ist der, daß die Kirche ihre Bindung zum Judentum entdeckt,
indem sie sich auf ihr eigenes Geheimnis besinnt. ... Die jüdische Religion ist
fiir uns nicht etwas ,Äußerliches', sondern gehört in gewisser Weise zum ,Inneren' unserer Religion." Bereits 1980 hatte Papst Johannes Paul II. in seiner
Ansprache in Mainz an den Zentralrat der Juden in Deutschland und an die
Rabbinerkonferenz 10 vom jüdischen Volk als "dem Gottesvolk des von Gott
nie gekündigten Alten Bundes" gesprochen.
Alle vier hier angeflihrten Stimmen, katholische und jüdische, sind ohne NA 4
nicht denkbar. Alle vier Äußerungen sind Ausdruck flir die radikale Wende
der katholischen Kirche in Bezug auf das Judentum, die in NA 4 erstmals kirchenamtlich und dogmatisch fiir jeden Katholiken "bindend" formuliert wird.
Damit ist katholischerseits klar, dass Nosfra aetate "die Grundlage einer ganz
neuen Beziehung zum Judentum gelegt hat, indem es auf der einen Seite Antisemitismus abwehrt und auf der anderen Seite die jüdischen Wurzeln des
Christentums in Erinnerung ruft.'o~ 1
10
11
Die Dokumente sind gesammelt in: Rolf Rendtorff/Hans Hermann Henrix (Hgg.): Die Kirchen und das Judentum. Bd. I: Dokumente von 1945-1985, Paderborn 2 1989; Hans Hermann
Henrix/Wolfgang Kraus (Hgg.): Die Kirchen und das Judentum. Bd. II: Dokumente von
1986-2000, Paderborn 2001. Die Dokumente von 2000 bis heute sind zu fmden in der digitalen Version von Hans Hermann Henrix/Reinhold Boschki (Hgg.): Die Kirchen und das Judentum. Bd. III: Dokumente von 2000 bis heute (http://www.nostra-aetate.unibonn.de/kirchliche-dokumente/online-publikation-die-kirchen-und-das-judentum)
(Zugriff:
24.09.2012).
Kampling/Weinrich (wie Anm. 4), 9.
Text der Ansprache bei: Rendtorff/Henrix (wie Anm. 7), 106-111; folgendes Zitat ebd., 109.
Text der Ansprache ebd., 74-77; folgendes Zitat ebd., 75.
So Kardinal Kurt Koch in einem Gespräch mit Radio Vatikan:
77
MARIA NEUBRAND
2
Der Text NA 4 und seine Entstehungsgeschichte
12
NA 4 ist Zentrum und Ursprung dieser Konzilserklärung, die am Ende des
Zweiten Vatikanischen Konzilsam 28. Olctober 1965 verabschiedet wurde unter dem Titel: Schema declarationis de Ecclesiae habitudine ad religiones
non-christianas - "Deklaration über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen" 13 • Nosfra aetate ist zwar das kürzeste Dokument des
Zweiten Vatikanischen Konzils, aber: "Wirkunfsgeschichtlich gehört es zu
den bedeutendsten Dokumenten" 14 des Konzils. 1 In Nostra aetate äußert sich
16
ein Konzil erstmals in einem positiven Sinne zu seiner "Haltung"/habitudo
17
zu nichtchristliehen Religionen. "Herzstück" der ganzen Erklärung ist NA 4,
in der die Konzilsväter die gewandelte "Haltung" der Katholischen Kirche gegenüber dem (gegenwärtigen) jüdischen Volk und der jüdischen Religion zum
Ausdruck bringen. NA 4 ist der Text, der einen Wendepunkt der katholischen
Kirche zur jüdischen Religion und damit auch zum jüdischen und bleibend
ersterwählten Volk nicht nur darstellt, sondern auch bewirken will. Der Text
will als Ausdruck der "Haltung" der Kirche normative Grundlage fiir die weitere Zukunft sein. Dabei gilt es zu beachten, dass das Judentum nicht als vergangene, sondern als eine gegenwärtige Größe, als bleibende "Erwählung" im
Blick ist.
Der kurze Text von NA 4 kann geradezu als Beispieltext gelten fiir die
"Selbstbesinnung und Öffnung fiir die Moderne". Wie kein anderer Text thematisiert die Einleitung von NA 4 genau diesen Sachverhalt: "Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes,
12
13
14
15
16
17
http://de.radiovaticana.va/articolo.asp?c=587943 (Zugriff: 24.09.2012).
Vgl. Roman A. Siebenrock: Theologischer Kommentar zur Erklärung über die Haltung der
Kirche zu den nichtchristliehen Religionen Nosfra Aetate, in: HThK 2.Vat 3, 591-693,661.
Textausgaben: LThK.E 2, 488-495; HThK 2.Vat I, 355-362.
Siebenrock (wie Anm. 12), 598. Nach Hans Hermann Henrix: Nostra Aetate- ein zukunftsweisendes Dekret. Eine Einfiihrung, in: Ders . (Hg.): Nostra Aetate. Ein zukunftsweisender
Konzilstext Die Haltung der Kirche zum Judentum 40 Jahre danach, Aachen 2006, 3f., ist
dies vor allem der Rezeption des Dokumentes durch Papst Johannes Paul II. geschuldet. AusfUhrlieh er zur Rezeptionsgeschichte von NA 4 vgl. Josef Wohlmuth: Vierzig Jahre Nostra
Aetate- Versuch einer theologischen Bilanz, in: Ebd., 33-57.
Zur Rezeptionsgeschichte von Nostra aetate vgl. Thomas Roddey: Das Verhältnis der Kirche
zu den nichtchristliehen Religionen. Die Erklärung "Nostra aetate" des Zweiten Vatikanischen Konzils und ihre Rezeption durch das kirchliche Lehramt, Paderbom 2005.
In der deutschen Übersetzung des Titels hat sich leider seit L ThK.E von 1967 eingebürgert,
habitudo mit "Verhältnis" wiederzugeben; dies triffi aber weder den normativen Sinn von
habitudo -"Haltung"- noch das Selbstverständnis der ganzen Konzilserklärung! Vgl. Siebenreck (wie Antn. 12), 646f. Dementsprechend ist Nosfra aetate auch "kein Dokument des
Dialogs, sondern ein Text, der den Dialog eröffuen möchte, indem er fiir die anderen jene
Haltung verdeutlicht, mit der die Kirche den anderen in diesem angebotenen Dialog begegnen
will" ( ebd., 64 7).
Otto Hermann Pesch: Das Zweite Vatikanische Konzil (!962-1965). Vorgeschichte- Verlauf
-Ergebnisse- Nachgeschichte, Würzburg 4 1996, 305.
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DIE KIRCHE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHEN VOLK
wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich
verbunden ist." Wenn sich die Kirche auf sich selbst besinnt, kann sie gar
nicht anders, als auch auf die unlösbare Verbindung des Christentums mit dem
Judentum zu blicken. Papst Johannes Paul II. hat das noch pointierter formuliert, indem er sich bei seiner Mainzer Rede im Jahr 1980 ein Wort der deutschen Bischöfe aus deren "Erklärung über das Verhältnis der Kirche zum Judentum" (vom 28. April 1980) 18 zu eigen gemacht hat "Wer Jesus Christus
begegnet, begegnet dem Judentum." 19
Von Bedeutung ist, dass sich die Kirche in ihrer Selbstbesinnung auf ihr eigenes Geheimnis öffnet auf die Beziehung nicht nur zu einem "Israel" der
Vergangenheit, sondern auch zum gegenwärtigen Judentum. Für die enge Beziehung von "Juden" und "Christen", fiir das "Band" zwischen ihnen, verwendet NA 4 im Lateinischen das Wort vinculum, das auch für den sakramentalen
Ehebund und dessen Unauflöslichkeit verwendet wird. Und die geistliche
"Verbindung" zwischen dem Volk des Neuen Bundes und dem Stamme Abrahams wird im Lateinischen mit coniunctus ausgedrückt, womit anderswo auch
die enge eheliche Verbindung von Mann und Frau charakterisiert wird.
In ihrer Selbstbesinnung kommt das Zweite Vatikanische Konzil in NA 4
zu Aussagen, die tatsächlich eine "Revolution" darstellen. Fast 2000 Jahre
lang dominierte in der (nichtjüdischen) Kirche das so genannte Substitutionsmodell (in seinen unterschiedlichen Nuancierungen20): Dieses besagt, dass
nach Jesus Christus allein in der Kirche die Heilsgeschichte Gottes mit seinem
("neuen") Volk weitergeftihrt wird; dass allein die Kirche das "neue Israel"
ist; dass nach Jesus Clbristus allein die Kirche als "wahres Volk Gottes" anzusehen ist; dass die Kirche also "Israel" beerbt und "ersetzt" hat und die besondere Erwählung des ersterwählten Volkes Israel- sofern es nicht christusgläubig ist- auf "die Kirche" übergegangen ist. So gibt es seit dem 2. Jh. n. Chr.
1
die Rede, dass "die Kirche" das "wahre Israel" ist/ von dem die nichtchristusgläubigen Juden ausgeschlossen sind. In der römisch-katholischen
Kirche war diese Sicht vorherrschend bis ins 20. Jh. Erst die Schoa, die Kata18
19
20
21
Text bei Rendtorff7Henrix (wie Anm. 7), 260-280.
Ebd., 74.
Vgl. Günter Biemer: Frdburger Leitlinien zum Lernprozeß Christen Juden. Theologische und
didaktische Grundlegung, Düsseldorf 1981, 6lf., der folgende (abzulehnende) Modelle zur
Verhältnisbestimmung von "Israel" und "Kirche" unterscheidet: "Das Substitutionsmodell
(Ersatzmodell), nach dem die Kirche Israel zu ersetzen hat, während fiir Israel selbst nur noch
eine Geschichte der Verwerfung und Verfluchung bleibt. Das Integrationsmodell, nach dem
die heiden-christliche Kirche das erwählte Rest-Israel (die Judenchristen) in sich integriert.
Das Illustrationsmodell, nach dem Israel ,zur exemplarischen Negativfolie menschlicher
Existenz und menschlicher Geschichte' herabgewürdigt wird. ,Man reserviert für Israel das
Gericht, fiir die Kirche die Gnade. Das Subsumtionsmodell, nach dem ,das Proprium Israels
unter das allen Menschen geltende Allgemeine eingeordnet und subsumiert wird', so dass der
Sonderstatus tmd die Sonderrolle Israels in der Geschichte nicht mehr erkannt wird."
Vgl. Justinus: Dialog mit dem Juden Tryphon. Übersetzt von Philipp Haeuser, Wiesbaden
2005, 56: "Das wahre, geistige Israel nämlich ... sind wir, die wir durch diesen gekreuzigten
Christus zu Gott gefiihrt wurden ... " (Dialögus XI, 5).
79
MARIA NEUBRAND
strophe des von Deutschen organisierten Holocaust, hat nach 1945 zu einer
Abkehr von dieser herkömmlichen Israeltheologie gefiihrt sowie zu einer Be22
sinnung der Kirche auf die bleibende Erwählung "Israels". In diesem Prozess
hin zu einem erneuerten Verhältnis von "Israel" und "Kirche" nahm Papst Johannes XXIII. eine wichtige Rolle ein; er setzte Akzente, die bis heute nachwirken: So hat er 1959 in der bis dahin üblichen Formulierung der Großen
Karfreitagsbitte "fiir die treulosen Juden" (pro perfidis Iudaeis) das peifzdis
gestrichen. Darüber hinaus war er es, der aufeigenen Wunsch 1960 veranlasste, dass das neu gegründete "Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen" unter Leitung von Kardinal Augustin Bea eine Erklärung über das Verhältnis der Katholischen Kirche zum jüdischen Volk erstellt. Darin wurde er
offensichtlich bestärkt durch die Anliegen, die ihm der jüdische französische
Historiker Jules Isaac am 13.6.1960 in einer Audienz übergab. 23 Und Kardinal
Bea, Leiter des päpstlichen Einheitssekretariats24 und "eigentliche[r] Pate ...
der Judenerklärung" 25 berichtet, dass Papst Johannes XXIII. selbst darauf gedrängt hat, dass auf dem von ihm 1962 einberufenen Zweiten Vatikanischen
Konzil die Beziehungen der katholischen Kirche zu den Juden behandelt werden.26 Ein erster Textentwurf des Einheitssekretariats fiir ein Decretum de ludaeis lag 1961 vor. 27 Ein zweiter überarbeiteter Textentwurf wurde den Konzilsvätern als Kapitel IV des Dekrets über den Ökumenismus 1963 vorgelegt.28 Vor allem Vertreter der orientalischen Kirchen des Nahen Ostens wehrten sich aber dagegen, dass eine Erklärung zur "J udenfrage" im Dekret zum
christlichen Ökumenismus Platz finden sollte; sie wurde also in den Anhang
verwiesen. Für den dritten Entwurf wurde 1964 nach politischen Widerständen und nach heftigen Einmischungen von pro-arabischer und prozionistischer Öffentlichkeit vorgesehen, die Erklärung aus dem Ökumenismusdekret herauszunehmen und als Anhang der Konstitution über die Kirche
22
23
24
25
26
27
28
Natürlich gab es auch vor dem Konzil schon Bemühungen, zu einem neuen Verhältnis zum
Judentum zu kommen, aber die entscheidende Grundlage fiir einen anhaltenden Wandellegte
erst das Zweite Vatikanische Konzil selbst.
Vgl. Johannes Oesterreicher: Kommentierende Einleitung (zur Erklärung über das Verhältnis
der Kirche zu den nichtchristliehen Religionen), in: LThK.E 2, 406-478, hier 406-407.
Seit 1988 "Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen"; hier ist auch der Dialog
mit dem Judentum angesiedelt.
Oesterreicher (wie Anm. 23), 427.
Vgl. ebd., 406; Siebenrock (wie Anm. 12), 597 mit Anm. 8. Zur weiteren Vorgeschichte von
und inhaltlichen Vorarbeiten zu NA 4, wozu insbesondere ein Votum des römischen Bibelinstituts, eine Bittschrift des Instituts fiir Jüdisch-Christliche Studien, USA, und eine Denkschrill einer im holländischen Apeldoorn tagenden Arbeitsgemeinschaft von Priestern und
Laien- alle Schriften stammen von 1960- gehören, vgl. Oesterreicher (wie Anm. 23), 409414.
Vgl. Oesterreicher (wie Anm. 23), 426; dieser wurde nach der sogenannten Wardi- bzw.
Goldmann-Affäre zunächst aus den Vorlagen zum Konzil herausgenommen. Kardinal Bea erreichte aber, dass der Text dann in das Schema zum Ökumenismus eingefugt und somit weiterhin behandelt wurde; vgl. dazu ebd., 426-429.
Vgl. ebd., 429.
80
DIE KIRCHE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHEN VOLK
(Lumen gentium) anzufiigen.Z9 Im Verlauf der Konzilsdebatten, die begleitet
waren von Angriffen aus der arabischen Welt wie auch von antisemitischen
Ausfällen, kam es schließlich dazu, dass die Erklärung zu den Juden zum
"Herzstück" einer eigenen "Erklärung über die Haltung der Kirche zu den
nichtchristliehen Religionen" wurde. 30 Der inzwischen neu gewählte Papst
Paul VI. trug zur Ausweitung der Erklärung auf andere nichtchristliche Religionen Wesentliches bei, aber auch fiir das Verhältnis der Kirche zum Judentum war er ein wichtiger Wegbereiter. Paul VI. reiste noch während des Konzils 1964 nach Israel und bezeichnete am 5. Januar 1964 die Juden als "Söhne
des Bundesvolkes". Damit ist impliziert, "dass die heutigen Juden immer noch
zu diesem Volk gehören und dass der Bund Gottes mit ihnen keinesfalls aufgekündigt wurde, sondern unverändert weiter fortbesteht." 31 In seiner ersten
Enzyklika Ecclesiam suam vom August 1964 äußert sich Paul VI. ebenfalls
zum gegenwärtigen jüdischen Volk. Er schreibt: "Wir denken an die Söhne
des jüdischen Volkes, die unserer Liebe und unseres Respektes würdig sind.
Sie sind der Religion 1reu, die wir die des Alten Testaments nennen." 32 Nachdem bereits Papst Johannes XXIII. in der seit dem Missale Romanum von
1570 vorgesehenen Formulierung der Karfreitagsbitte für die Juden das perfidis weggelassen hatte, 33 legte im März 1965 die Ritenkongregation unter dem
Pontifikat von Paul VI. eine neue Fassung der Karfreitagsbitte fest, in der
gleichfalls nicht mehr gebetet wurde, wohl aber darum, dass sie Christus erkennen. Ebenfalls unter dem Pontifikat von Paul VI. trat 1970 das aktuelle
Missale der römisch-katholischen Kirche in Kraft,34 nach dem die Karfreitagsbitte nun lautet: "Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser
Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und
in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will." 35
29
30
31
32
33
34
35
Zur Diskussion und zur weiteren Textgeschichte von NA 4 vgl. ebd., 429-450.
Zu den zum Teil dramatischen Geschehnissen während der Debatten vgl. ebd., 450-470.
Jörg Ernesti: Die Revision der katholischen Haltung zum Judentum und zur Palästinafrage
unter Papst Pani VI., in: Freiburger Rundbrief. NF 18 (2011), 265-275, hier 268. Zur Bedeutung Paul VI. fiir eine neue Haltung des Vatikans in der Palästina- und Israelfrage vgl. ebd.,
267-275.
Ecclesiam suam 111; Übersetzung nach Ernesti (wie Anm. 31 ), 269. Zugleich spricht Paul
VI. in dieser Enzyklika auch das Thema der Gottsuche in allen Religionen an, das dann in der
Endfassung von Nostra aetate aufgenommen ist.
Einen Vorstoß zur Veränderung der Karfreitagsbitte von 1570 gab es bereits im Jahr 1928
durch eine Eingabe der 1926 in Rom gegründeten Priestervereinigung Amici Israel; allerdings
wurde diese Eingabe vom Vatikan abgelehnt und die Auflösung der Vereinigung verfiigt. Antisemitische Einwürfe auf Seiten des Vatikans waren dabei maßgebend. Vgl. dazu Hubert
Wolf: Liturgischer Antis,emitismus? Die Karfreitagsbitte fiir die Juden und die Römische Kurie (1928-1975), in: Florian Schuller/Giuseppe Veltri/Hubert Wolf(Hgg.): Katholizismus und
Judentum. Gemeinsamkeiten und Verwerfungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Regensburg 2005, 253-269.
Für die Bistütner des deutschen Sprachraumes im Jahr 1975.
Papst Benedikt XVI. hat 2008 fiir die Feier des außerordentlichen Ritus in lateinischer Sprache, der das Missale von 1962 zugrunde liegt, die Karfreitagsbitte mit einem neuen lateini-
81
MARIA NEUBRAND
Zurück zu Nosfra aetate: Der vierte Entwurf der Erklärung über die Haltung der katholischen Kirche zu den nichtchristliehen Religionen artikuliert in
NA 4 "als Resultat eines dramatischen Ringens" 36, dass die Besinnung der
Kirche auf sich selbst notwendig auch eine positive Aussage zu ihrer Haltung
zur jüdischen Religion und zumjüdischen Volk impliziert.- Dies bedeutet einen radikalen Neuanfang im christlich-jüdischen Verhältnis, besser: NA 4 will
diesen Neuanfang bewirken. Die feierliche Promulgation des Textes von
Nosfra aetate erfolgte am 28. Oktober 1965 mit fol~endem Ergebnis: 2221 JaStimmen, 88 Nein-Stimmen, 3 ungültige Stimmen. 3 Damit war auch der vierte Artikel "über die jüdische Religion" feierlich angenommen.
Bei allen Diskussionen, Problemen, Debatten und Streitereien unter den
Konzilsvätern: Mit NA 4 ist in der katholischen Kirche ein Neubeginn hinsichtlich der Haltung zum Judentum gesetzt worden. Ohne NA 4, so sollte der
kleine Überblick über die Textgeschichte deutlich gemacht haben, wäre das
Zweite Vatikanische Konzil auch nicht zur Initialzündung und zur Grundlage
tnr den interreligiösen Dialog (neben dem Judentum mit Hinduismus, Buddhismus sowie dem Islam) gekommen; ohne die Erklärung zur jüdischen Religion und zumjüdischen Volk hätte es keine Erklärung zu den anderen nichtjüdischen Religionen gegeben, wäre es nicht dazu gekommen, dass, wie Otto
Hermann Pesch formuliert, "die schönsten ,universalistischen' Perspektiven
des Alten Testamentes der Christenheit zu einem Schritt nach vorn verholfen
haben: Die Schuldgeschichte der Kirche gegenüber den Juden, der Wunsch
nach Umkehr und Abbitte, verbunden mit der theologischen Einsicht, dass das
Verhältnis zwischen Kirchen und Judenheit einer radikalen Kehre des Denkens bedarf, öffneten aufgrund äußerer und meist außertheologischer Umstände der Kirche auch den Blick für die Welt der Religionen. So ist denn natürlich der 4. Artikel, der das Verhältnis der Kirche zu den Juden beschreibt, das
Herzstück der ganzen Erklärung." 38
Die Besinnung der Kirche auf sich selbst hat nicht nur dazu gefiihrt, ihre
Haltung gegenüber dem Judentum neu zu definieren, sondern auch dazu, dass
die Konzilsväter sich am Ende der Erklärung klar zu einem grundsätzlichen
und noch nie dagewesenen Votum entschließen konnten: Aufgmnd des christlichen Glaubens und der Gottesbildlichkeit aller Menschen "verwirft die Kirche jede Diskriminierm1g eines Menschen und jeden Gewaltakt gegen ihn um
36
37
38
sehen Text ersetzt. Dies fiihrte zu heftigen kontroversen Diskussionen vor allem deshalb, weil
man der neuformulierten Bitte entnahm, dass nun wieder- gegenüber dem Missale von 1970
-um eine "Bekehrung der Juden" gebetet würde. Zur Diskussion vgl. Walter Homolka/Erich
Zenger (Hgg.): " ... damit sie Jesus Christus erkennen". Die neue Karfreitagsbitte fiir die Juden, Freiburg i.Br. u.a. 2008; Michael Theobald: Zur Paulus-Rezeption in der Karfreitagsbitte
fiir die Juden von 2008, in: Hubert Frankemölle/JosefWohlmuth (Hgg.): Das Heil der Anderen. Problemfeld "Judenmission", Freiburg i.Br. u.a. 2010, 507-541.
Julie Kirchberg: Theologie in der Anrede als Weg zur Verständigung zwischen Juden und
Christen, lnnsbruck 1991,29.
Vgl. Pesch (wie Anm. 17), 303.
Pesch (wie Anm. 17), 305.
82
DIE KIRCHE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHEN VOLK
seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen, weil dies
dem Geist Christi widerspricht." (NA 5)
3
NA 4 als Ergebnis der Selbstbesinnung der Kirche
Ohne auf die verschiedenen Textfassungen und die Entstehungsgeschichte des
Textes weiter einzugehen, soll hier gefragt werden, in welcher Weise NA 4
Ausdruck der Selbstb~~sinnung der Kirche ist. Dazu ist in Erinnerung zu rufen,
welche "Israeltheologie" fast 2000 Jahre lang in der Kirche vorherrschend
war. NA 4 setzt hier ganz neu ein.
Hinsichtlich der Haltung der Kirche zu "den Juden" in der Vergangenheit
ist festzustellen, dass die Geschichte der Beziehungen zwischen "Juden" und
"Christen" sehr komplex war und ist. Dennoch lässt sich plakativ sagen: "Vor
dem Zweiten Vatikanum liegen knapp zwei Jahrtausende des gegenseitigen
Misstrauens, der gegenseitigen Beschuldigungen sowie des offenen Hasses
und der Diffamierungen sowohl in theologischer als auch in gesellschaftlicher
und politischer Hinsicht." 39 Dem Zweiten Vatikanischen Konzil unmittelbar
vorausgegangen war die Schoa, der Versuch der Nationalsozialisten, das europäische Judentum (und intendiert auch das Christentum) zu vernichten. Angesichts dessen sahen sich die Konzilsväter in der Verantwortung, alle Formen
von Antisemitismus zu verurteilen und antijüdische Äußerungen und Formulierungen in theologischer Lehre und Praxis, also die lange Tradition eines religiös motivierten Antijudaismus zu überwinden. 40 Zum religiös motivierten
Antijudaismus gehören verschiedene Aspekte. Einerseits die Vereinnahmung
und Ablösung Israels und seiner Glaubenstraditionen ("Substitution" und
"Enterbung") durch "die Kirche", andererseits die Abwertung und Verwerfung
des nicht-christusgläubigen Israel. 41 Zum religiös motivierten Antijudaismus
gehört des weiteren seit Ende des 2. Jh. n. Chr. (Meliton von Sardes) der Vorwurf des Gottesmordes an das jüdische Volk, der im Sinne einer Kollektiv39
40
41
Andreas Vonach: Kirche und Synagoge. Rückbesinnung und neue Annäherungsimpulse seit
dem Zweiten Vatikanum, in: Willibald Sandler/Andreas Vonach (Hgg.): Kirche: Zeichen des
Heils- Stein des Anstoßes, Frankfurt a.M. 2004,31-59, hier 31.
Das spätere Dokument der Päpstlichen Kommission fur die religiösen Beziehungen zu den
Juden vom 16. März 1998 "Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa"; Text bei Henrix/Kraus (wie Anm. 7), 110-119, macht mit Recht deutlich, dass der von den Nationalsozialisten vertretene Antisemitismus ,,11euheidnisch" war und seine Wurzeln außerhalb des Christentums liegen. Dennoch wird mit Recht auch gefragt, "ob die Verfolgung der Juden durch
die Nazis aufgrundder antijüdischen Vorurteile, die in den Köpfen und Herzen einiger Christen bestanden, nicht leichter gemacht wurde" (ebd., 115).
Vgl. Maria Neubrand: Brauchen Christinnen und Christen das Alte Testament?, in: Theologie
der Gegenwart 45 (2002), 97-106.
83
MARIA NEUBRAND
schuld auf alle nicht-christusgläubigen Juden übertragen wurde. Zum religiös
begründeten Antijudaismus ist auch diejenige Sicht der Kirche zur Erwählung
Israels zu zählen, wonach das nicht-christusgläubige jüdische Volk - nach
dem Tode Christi - "aus dem Dienst der Offenbarung entlassen [wurde]";
denn es sei zu unterscheiden "zwischen dem Volke Israel vor dem Tode Christi und nach dem Tode Christi" 42 • Entgegen paulinischer Aussagen ging die
Kirche zweitausend Jahre davon aus, dass das nicht-christusgläubige "Israel"
verworfen ist, dass der Neue Bund den Alten "aufgehoben" und vollendet hat,
dass die Verheißungsgeschichte ("Heilsgeschichte") Gottes, die mit der Erwählung Israels begann, nach Christus allein in der Kirche weitergeht und diese das "wahre Israel" bzw. "das wahre Volk Gottes" sei. Dem nicht-christusgläubigen jüdischen Volk hingegen wurde keinerlei theologische Qualität
mehr beigemessen. Dementsprechend wurde ihm auch kein Ort mehr in der
"Heilsgeschichte" zuerkannt. Solche religiös motivierten Antijudaismen und
Ablösetendenzen reichen bis in die Frühe Kirche, ins zweite Jahrhundert n.
Chr. zurück. 43 Antijudaistische Stereotype zum Beispiel im Gottesbild, wonach der Gott des Alten Testaments ein Gott der Rache, der Gott Jesu und des
Neuen Testaments ein Gott der Liebe sei; wonach das Judentum eine Gesetzesreligion, das Christentum aber eine Gnadenreligion sei, 44 ziehen sich durch
die zweitausendjährige Geschichte der Kirche und ihrer Gläubigen. 45 Und man
kann hinzufiigen, dass solche antijudaistischen Stereotype - trotz NA 4 - bis
heute in den Köpfen mancher Theologen und vieler Gläubigen "herumgeistern".
Angesichts dieser zweitausendjährigen Geschichte zeigt sich die theologische Bedeutung der Aussagen von NA 4. Sie ist erwachsen aus der Besinnung
der Kirche auf sich selbst und auf ihr Wesen, auf ihre jüdischen Wurzeln und
ihre Herkunft aus dem Judentum. Dass es sich um eine wahre Selbstbesinnung
der Kirche in einer neuen kirchengeschichtlichen Phase handelt, wird auch
daraus ersichtlich, dass erstmals von einem Konzil mit Nosfra aetate ein Do-
42
43
44
45
Michael Faulhaber; Das Alte Testament und seine Erfiillung im Christentum. Erste Adventpredigt von Kardinal Faulhaber in St. Michael zu München am 3. Dezember 1933, München
1933, 10. Hier ist erwähnenswert, dass Kardinal Faulhaber der Vereinigung "Amici Israel"
angehörte und gegenüber den Nationalsozialisten die Offenbarung des Alten Testamentes
verteidigte; seine Äußerung zeigt aber, dass philosemitische Positionen damals noch zu keiner ,,neuen Israeltheologie" fiihrten.
Manche Exegeten, vor allem aber systematische Theologen, sehen Anfänge davon schon im
Neuen Testament grundgelegt. Regelmäßig augefuhrt werden dabei l Thess 2,14-16; Mt
27,20-26; Joh 8,37-47 sowie Offb 2,9; 3,9; vgl. Siebenrock (wie Anm. 12), 620 Anm. l\2.
Doch an allen diesen Stellen handelt es sich um innerjüdische Stellungnahmen und Kontroversen, die keineswegs im Sinne einer späteren Trennung von "Israel" und "Kirche" zu verstehen sind. Nicht die angefiihrten Texte sind "antijüdisch", sondern ihre jahrhundertelange
Auslegung!
So die Grundthese des "Markionismus".
Vgl. den kurzen Überblick bei Hans Hermann Henrix: Judentum und Christentum. Gemeinschaft wider Willen, Regensburg 2004,21-68.
84
DIE KIRCHE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHEN VOLK
46
kument verabschiedet wurde, das- mit einer Ausnahme - nicht aufvorhergehende kirchliche Aussagen, sondern ausschließlich auf jüdisch-christliche
47
Traditionen, also auf Schriftstellen aus dem AT und NT verweist.
4
NA 4 als Ausdruck einer theologischen Wende
in der Haltung der Kirche zum jüdischen Volk
Ziel der verschiedemm Textentwürfe war es von Anfang an, wie es Kardinal
Bea in seiner relatio auf der dritten Tagungsperiode des Konzils zum Ausdruck brachte, "feierlich das wieder zu Bewußtsein zu bringen, was die Kirche
Christi durch geheinmisvollen Ratschluß der göttlichen Vorsehung aus den
Händen des erwählten Volkes Israel empfangen hat." 48 In Anknüpfung an die
paulinischen Aussagen in Röm 9-11 sollten die dort ausgesprochenen "Wahrheiten über die Juden, die vom Apostel aus dargelegt werden und im Glaubensgut enthalten sind, den an Christus Glaubenden so klar wieder zu Bewußtsein zu bringen, daß sie sich, wenn sie mit den Söhnen dieses Volkes zu
tun haben, nicht anders verhalten, als sich Christus der Herr selber und seine
Apostel Petrus und Paulus verhalten haben." 49 Dass NA 4 am 28. Oktober
1965 trotz heftiger Diskussionen, die auch durch immer noch vorherrschende
antijüdische und antiisemitische Ressentiments bei den Konzilsvätern selbst
hervorgerufen wurden, 5° verabschiedet wurde, bedeutet eine radikale theologische Wende der Kirche in ihrer Haltung zum jüdischen Volle. Jedem Antisemitismus, aber auchjedem religiös motivierten Antijudaismus wird durch diese Erklärung die theologische Grundlage entzogen. Die Erklärung bildet das
Fundament für eine neue Israeltheologie, die alle theologischen Disziplinen
ebenso wie die kirchlich-pastorale Praxis betrifft - oder zumindest betreffen
sollte.
Festzustellen aber ist, dass sich die neue Israeltheologie, die an der bleibenden Erwählung ganz Israels festhält, im Einzelnen bis heute keineswegs überall durchgesetzt hat. Dazu nur drei jüngere Beispiele aus dem Fachgebiet der
neutestamentlichen Exegese. Im neuesten theologischen Kommentar zur
Apostelgeschichte51 heißt es zu Apg 28: "Israel ist in Gläubige und Ungläubi46
47
48
49
50
51
So in Anm. 5 zu NA 3, der Erklärung zum Islam.
In NA 4 Anm. 11 verwt~ist das Konzil auf LG 16 mit der Aussage zur bleibenden Erwählung
ganz Israels.
Augustin Bea: Die Kirchen und dasjüdische Volk, Freiburg i.Br. u.a. 1966, 142.
Ebd., 144.
Vgl. dazu die ausführliche Dokumentation zur Textgeschichte bei Oesterreicher (wie Anm.
23), 414-478.
Jacob Jervell: Die Apostelgeschichte, Göttingen 1998; das folgende Zitat ebd., 631.
85
MARIA NEUBRAND
ge gespalten und das ungläubige Judentum durch die Schrift verurteilt und
verworfen, weil sie in der Tat das Judentum verleugnet haben." In seinen Ausführungen zum Galater- und Römerbrie:f52 stellt der Bonner evangelische Exeget fest, dass nach Meinung des Paulus "Israel aus dem Heilsraum der Liebe
Gottes herausgestoßen ist" und dass es Hoffnm1g ilir Israel nur deshalb gebe,
weil es so genannte "Judenchristen" gibt. Und im Hinblick auf das so genannte Ölbaumgleichnis des Paulus in Röm 11,17-24 führt Eduard Lohsein seinem
Kommentar zum Römerbrief aus: Der Ölbaum sei auf Israel zu deuten, aus
ihm würden (jüdische) Zweige ausgebrochen, damit (nichtjüdische) Zweige in
den Ölbaum eingepflanzt werden können. Und Lohse schreibt weiter: "Dieses
Bild will sagen, daß die Israeliten durch ihren Unglauben sich selbst aus der
Zugehörigkeit zum Gottesvolk gelöst haben. Dadurch ist Platz geworden, um
dem Ölbaum neue Zweige einzupflanzen."53 Hier ist nichts von einer neuen
Israeltheologie zu spüren. 54
Im Folgenden sollen anband von NA 4 die entscheidenden Passagen im
Hinblick auf eine neue Israeltheologie erläutert werden. NA 4 hebt dankbar
hervor, dass die Kirche durch Israel, das Volk des Alten Bundes, die "Offenbarung des Alten Testaments empfing", dass Christus aus dem jüdischen Volk
stammt und "dass aus dem jüdischen Volk die Apostel stammen, die Grundfesten und Säulen der Kirche, sowie die meisten jener ersten Jünger, die das
Evangelium Christi der Welt verkündet haben." Mit diesen beiden Sätzen
macht das Konzil klar, dass die Kirche ihre Identität im jüdischen Volk verankert sieht. Zwar hat die Kirche von Anfang an - gegen Markion daran festgehalten, dass das Alte Testament gültige Offenbarung Gottes ist, doch wurde
in der Vergangenheit häufig vergessen, dass es nach wie vor "Heilige Schrift"
des ersterwählten Volkes ist. Was das Konzilsdokument selbst nicht weiter
ausarbeitet, dass nämlich das Alte Testament als Heilige Schrift des jüdischen
Volkes einen Eigenwert hat und die jüdische Auslegung ebenfalls eine legitime ist, wird das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 2001 "Das
jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel", das eindeutig zur Rezeptionsgeschichte von NA 4 zu rechnen ist, unmissverständlich
festhalten. Hier wird erklärt, dass "die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt" 55 • Dieses Dokument hält außerdem fest: "Ohne das
Alte Testament wäre das Neue Testament ein Buch, das nicht entschlüsselt
52
53
54
55
Vgl. Michael Wolter: Das Israelproblem nach Gal4,21-31 und Röm 9-11, in: Zeitschrift fiir
Theologie und Kirche 107 (2010), 1-30,22.
Ednard Lohse: Der Brief an die Römer, Göttingen 2003, 314.
Die Beispiele von Substitutionsaussagen und antijüdischen Ressentiments könnten leider mit
zahlreichen Belegen weitergefiihrt werden. Vgl. z. B. nur die Ausführungen zu "Nächster/Nächstenliebe", "Rest Israels" und "Sabbat" in: Pranz Kogler (Hg.): Herdcrs Neu es Bibellexikon, Freiburg i.Br. u.a. 2008, 539.63lf.643f.
Päpstliche Bibelkommission: Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen
Bibel. 24. Mai 2001, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152, Bonn o.J. [2002], 44.
86
DIE KIRCHE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHEN VOLK
werden kann, wie eine Pflanze ohne Wurzeln, die zum Austrocknen verurteilt
ist. "56
Weiter besinnt sich das Konzil auf die Fundamente der Kirche, auf die
Apostel und auf Jesus Christus selbst, und hält fest, dass sie aus demjüdischen
Volk stammen - ebenfalls eine Tatsache, die in der Geschichte vielfach vergessen war, aber in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils dazu fiihren
57
sollte, dass "Jesus, der Jude" neu entdeckt wurde. So legt die vatikanische
"Kommission fiir die religiösen Beziehungen zum Judentum", die 197 4 von
Papst Paul VI. eingerichtet wurde und noch im selben Jahr "Richtlinien zur
Durchfiihrung der Konzilserklärung Nostra aetate" 58 erarbeitete, in ihrer Erldärung von 1985 "Hinweise fiir eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der katholischen Kirche" 59 dar:
,,Jesus war Jude und ist es immer geblieben ... Jesus war voll und ganz Mensch
seiner Zeit und seines jüdisch-palästinischen Milieus des 1. Jahrhunderts, dessen
Ängste und Hoffinungen er teilte. Damit wird die Wirklichkeit der Menschwerdung wie auch de:r eigentliche Sinn der Heilsgeschichte nur noch unterstrichen,
wie er uns in der Bibel offenbart worden ist (vgl. Röm l,3f.; Gal4,4f.)."
In der Rückbesinnung der Kirche auf Jesus Christus wird klar, was Johannes
Paul H. 1980 so auf den Punkt brachte: "Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum." Durch Jesus Christus und die Apostel ist die Kirche bleibend mit dem Judentum verbunden; ein Christentum "ohne Judentum" gibt es
nicht, kann es nicht geben.
NA 4 stellt mit Paulus (Röm 11,16-24) fest, dass die Kirche "genährt wird
von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Nich1juden als wilde Schösslinge eingepfropft sind". Das Konzilsdokument sagt an dieser Stelle nicht, wer
mit Wurzel und Ölbaum gemeint ist. Die Rezeptionsgeschichte hat das dann
meist so gelesen, dass mit Wurzel und Ölbaum das Volk Israel oder seine
Glaubensgeschichte gemeint ist. 60 Doch dies würde implizieren, dass nach
Paulus christusgläubige Nichtjuden in das ersterwählte Volk Israel integriert,
"eingepfropft" würden, dass nicht-christusgläubige Juden aber aus "Israel"
ausgerissen würden. Das aber steht im Widerspruch zu allen anderen Äuße56
57
58
59
60
Ebd., 161.
Hier sei nur auf die Jesusbücher jüdischer Autoren hingewiesen, die diese Tatsache "den
Christen" wieder neu in Erinnerung gerufen und damit wesentliche Grundlagen fiir Fortschritte im jüdisch-christlichen Dialog geie~ haben: Schalom Ben-Chorin: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht, München 1978; David Flusser: Jesus. In Selbstzeugnissen und
Dokumenten, Reinbek 1968; Geza Vermes: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993.
Text bei Rendtorff7Henrix (wie Anm. 7), 48-53.
Text bei Rendtorff7Henrix (wie Anm. 7), 93-103; das folgende Zitat ebd., 98.
Vgl. z. B. Andreas Renz: Das Zweite Vatikanische Konzil und die nichtchristliehen Religionen, in: Münchener Theologische Zeitschrift 54 (2003), 156-170, 162, der :fiir NA 4 selbst
annimmt, dass die Konzilserklärung das "Volk Israel als Wurzel der Kirche sieht"; Siebenrock (wie Anm. 12), 662: "Die Glaubensgeschichte Israels ist der gute Ölbaum, dem sich
auch die Kirche der Heiden, die wie wilde Seilösslinge eingepflanzt sind, verdankt."
87
MARIA NEUBRAND
mngen des Apostels Paulus. Ihm zufolge - und mit ihm nach NA 4 - ist die
Erwählung Israels, auch des nicht-christusgläubigen Israel, durch Gott unwiderruflich. Und nach Paulus und nach der Entscheidung der Jerusalemer Versammlung (Apg 15; Gal 2) sollen christusgläubige Nichtjuden gerade nicht in
das ersterwählte Volk Israel eingegliedert werden. 61 Vielmehr sollen nichtjüdische Christusgläubige eine neue und eigenständige Erwählung in Christus an
der Seite (aber nicht: an der Stelle!) Israels bilden! Mit der Bildrede vom Ölbaum, seiner Wurzel und den unterschiedlichen Zweigen versucht Paulus den
nichtjüdischen Adressaten seines Briefes in Rom zu verdeutlichen, wo ihr
Platz als neue Erwählung aus den Völkern ist und wie sie - bleibend - mit
dem Judentum verbunden sind, nämlich: durch ihre Eingliederung in den edlen Ölbaum, in den Messias Israels. 62
Die Erinnerung des Paulus daran, dass die nichtjüdischen Christusgläubigen
"in Christus" und damit durch Jesus Christus mit demjüdischen Volk verbunden sind, olmejedoch Teil Israels zu sein, dient zugleich der Ermalmung, sich
nicht über diejenigen Glieder des jüdischen Volkes zu erheben, die Jesus nicht
als ihren Messias erkennen und anerkennen (Röm 11, 18). Dass NA 4 in diesem Sinne "christologisch" denkt, legt die folgende Bezugnahme auf Eph
2,14-16 nahe, nach der "Christus unser Friede, Juden und Nichtjuden durch
das Kreuz versöhnt undbeidein sich vereinigt hat".
Wetm sich die Kirche auf ihre Identität besinnt, so macht dieser Abschnitt
in NA 4 deutlich, muss sie sich darüber verständigen, wie sie durch Jesus
Christus in bleibender Beziehung zumjüdischen Volk steht.
Als "revolutionäres Dokument" 63 erweist sich NA 4 vor allem darin, dass
die Haltung der Kirche zum gegenwärtigen Judentum zum Ausdruck gebracht
wird. Es wird festgestellt, dass nicht alle Juden das Evangelium von Jesus
Christus angenommen haben, dass aber dennoch im Anschluss an Röm 11 ,28f.
gilt: "Nichtsdestoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis der Apostel immer
noch von Gott geliebt um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und
seine Berufung unwiderruflich. " 64
Damit bekennt sich die Kirche definitiv zur bleibenden Erwählung des Volkes Israel- unabhängig davon, ob es Jesus als Messias (an)erkennt oder nicht.
Dies darf als Wendepunkt in der christlich-katholischen Israeltheologie gelten.
Herrschte bis dahin die Ansicht vor, dass "Israel" (also das nicht-christusgläubige Israel) verworfen sei, wird nun die bleibende Erwählung ganz Israels
61
62
63
64
Vgl. dazu Maria Neubrand: Israel, die Völker und die Kirche. Eine exegetische Studie zu Apg
15, Stuttgart 2006; dies.: Abraham- Vater von Juden und Nichtjuden. Eine exegetische Studie zu Röm 4, Würzburg 1997.
Zu dieser Deutung der Bildrede vom Ölbaum, seiner Wurzel und den Zweigen vgl. Maria
Neubrand/Johannes Seidel: Eingepfropft in den edlen Ölbaum. Der Ölbaum ist nicht Israel,
in: Biblische Notizen 105 (2000), 61-76.
Oesterreicher (wie Anm. 23), 478.
Nach Siebenrock (wie Antn. 12), 661, gewinnen in NA 4 die "Aussagen von Röm 9-11 und
Eph 2 ... normative Bedeutung."
88
DIE KIRCHE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHEN VOLK
betont, auch des gegenwärtigen jüdischen Volkes. Papst Johannes Paul Il.
sprach dann in der Linie von NA 4 folgerichtig vom jüdischen Volk als dem
"Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes." Auch das schon
erwähnte Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 2001, "Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel", vertritt konsequent im Anschluss an NA 4 die neue Israeltheologie und betont die bleibende
Erwählung Israels, wie sie in den neutestamentlichen Schriften bezeugt ist:
"Das Neue Testament übernimmt als unwiderrufliche Wirklichkeit die Erwählung Israels als Bundesvolle Es bewahrt uneingeschränkt seine Vorzüge (Röm
9,4) und seine Vorrangstellung in der Geschichte bezüglich des Angebotes
von Gottes Heil (Apg 13,23) und Wort (13,46)."65 Auch die seit NA 4 erschienenen kirchenoffiziellen Dokumente - sowohl auf katholischer wie auch auf
evangelischer Seite -, die sich der Frage nach dem Verhältnis von "Juden"
und "Christen" widmen, sind durchwegs getragen von dem Bemühen, das eigene Kirchenverständnis nicht auf Kosten des Judentums und des bleibend
ersterwählten Volkes Israels zu betreiben. Für alle diese Dokumente gilt, was
die Studie des Rates d1~r Evangelischen Kirchen in Deutschland "Christen und
Juden IU" 66 folgendennaßen ausdrückt: "Eine Auffassung, nach der der Bund
Gottes mit Israel gekündigt und die Juden verworfen seien, wird nirgends
mehr vertreten. " 67
In der Selbstbesinnung der Kirche auf sich selbst und auf ihre jüdische
WUJrzel revidiert NA 4 auch eine lange antijüdische Auslegungsgeschichte,
z. B. des so genannten "Blutspruches" von Mt 27,25 ("sein Blut komme über
uns und unsere Kinder")- ohne diesen allerdings zu nennen. NA 4 weist nicht
nur jede Kollektivschuld des jüdischen Volkes am Tod Jesu zurück, sondern
erldärt auch, dass die Meinung, "die Juden" seien von Gott verworfen oder
verflucht, nicht aus den Schriften des Neuen Testaments abzuleiten ist. Die
Erldärung stellt fest, dass zwar "jüdische Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf
den Tod Christi gedrungen haben", dass "man detmoch die Ereignisse seines
Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen [kann]." Weil aus dem Neuen Testament nicht gefolgert werden kann, dass die Juden "von Gott verworfen oder verflucht" seien,
ruft das Konzil dazu auf, "dass niemand in der Katechese oder bei der Predigt
des Gotteswortes etwas lehre, das mit der evangelischen Wahrheit und dem
Geiste Christi nicht im Einklang steht." Mit diesen Aussagen formuliert das
Konzil, was von Anfang an Anliegen einer Erklärung zu den Juden war:
65
66
67
Päpstliche Bibelkommission (wie Anm. 55), 120.
Studie der EKD zur Erneuerung des Verhältnisses von Judentum und Christentum: "Christen
und Juden III", Gütersloh 2000; Text auch in: Henrix!Kraus (wie Anm. 7), 862-932; folgendes Zitat ebd., 869.
Diese Aussage ist allerdings als Wunschaussage zu verstehen. Denn nach wie vor gibt es in
der katholischen Kirche und in den theologischen Disziplinen zahlreiche Aussagen, die das
Gegenteil vertreten. Zu solchen Aussagen z. B. zum Inkanischen Doppelwerk vgl. Neubrand
(wie Anm. 61), 39-79.
89
MARIA NEUBRAND
"[A]ngesichts der theologischen Verwerfungs- und nationalsozialistischen
Vernichtungsgeschichte des jüdischen Volkes eine [zu ergänzen wäre: "neue"
- M.N.] Theologie Israels zu entwickeln und den christlichen Antijudaismus
zu überwinden." 68 Doch ist auch dieses Ziel noch keineswegs überall in der
Kirche und in der theologischen Wissenschaft erreicht. Deshalb bleibt auch
nach fast 50 Jahren seines Entstehens "der kürzeste Text des Konzils der
Kompass des kirchlich-glaubenden Handeins im 21. Jahrhundert."69 Nach den
Aussagen von NA 4 jedenfalls ist jedem religiös motivierten Antijudaismus
der Boden entzogen- und flir alle Katholiken sind diese Aussagen bindend.
Schließlich beklagt nach NA 4 "die Kirche alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und
70
von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben." Die Erklärung
nimmt damit vorweg, was sich später im "Schuldbekenntnis" von Johannes
Paul II. und im Päpstlichen Dokument "Wir erinnern" wiederfindet. Johannes
71
Paul II. hat im Heiligen Jahr 2000 in seinem Schuldbekenntnis um Verzeihung gebeten flir die Sünden, "die nicht wenige von ihnen [= Katholiken,
M.N.] gegen das Volk des Bundes und der Lobpreisungen begangen haben".
Ziel der Kirche sei es, "dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des
Bundes." Bedeutsam in diesen Aussagen ist neben der Bitte um Verzeihung,
dass der Papst vom gegenwärtigen Judentum - sei es christusgläubig oder
nicht - als dem "Volk des Bundes" spricht, ganz entsprechend seiner Rede
vom "Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Bundes". In diese Tradition
reiht sich auch Papst Benedikt XVI. ~:in. 72 Bei seinem Besuch in der römischen Synagoge am 17. Januar 2010 betont er ebenfalls mit Bezug auf NA 4
die Verbindung von Kirche undjüdischem Volk: "Die Kirche, Gottesvolk des
Neuen Bundes, entdeckt, wenn sie ihr eigenes Mysterium betrachtet, ihren tiefen Zusammenhang mit den Juden, die vor allen anderen vom Herrn auserwählt sind, sein Wort anzunehmen." 73 Das jüdische Volk wird hier als Größe
mit theologischer Dignität anerkannt.
Die "Kommission flir die religiösen Beziehungen zu den Juden" appelliert
in ihrem Dokument "Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa" vom 16.
68
69
70
71
72
73
Siebenrock (wie Antn. 12), 673.
Ebd., 677.
Zum ersten Mal hat der Apostolische Stuhl den "modernen" Antisemitistnus im Dekret zur
Aufhebung "Amici Israel" am 25. März 1928 verworfen. Hier heißt es: So wie der Apostolische Stuhl "allen Neid und alle Feindschaft unter den Völkern verwirft, so verdammt er umso
mehr den Hass gegen das von Gott einst auserwählte Volk, jenen Hass nämlich, den man heute mit dem Namen ,Antisemitismus' zu bezeiclmen pflegt."- Zitiert nach Wolf (wie Anm.
33), 264.
Text bei Henrix/Kraus (wie Anm. 7), 151-156; folgende zwei Zitate ebd., 154.
Vgl. dazu Ernst Fürlinger (Hg.): Der Dialog muss weitergehen. Ausgewählte Dokutnente zutn
interreligiösen Dialog, Freiburg i.Br. u.a. 2009,327-411.
http://www. vatican. va!holy_ fatherihenedict_ xvi/speeches/20 I 0/january/documentsihf_benxvi_spe20100117 _sinagoga_ge.html (Zugriff: 28.09.2012).
90
DIE KIRCHE UND IHR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHEN VOLK
März 199874 an die katholischen Brüder und Schwestern, "sich der hebräischen Wurzeln ihres Glaubens wieder bewußt zu werden. Wir bitten sie, im
Gedächtnis zu behalten, daß Jesus ein Nachkomme Davids war, daß die Jungfrau Maria und die Apostel zum jüdischen Volk gehörten, daß die Kirche Lebenskraft aus der Wmzel jenes edlen Ölbaums schöpft, in den die wilden Ölbaurnzweige eingepfropft wurden (vgl. Röm 11,17-24), und daß die Juden unsere geliebten Brüder sind". Sodam1 ermahnt das Dokument: "Wir dürfen
nicht zulassen, daß der schlechte Same des Antijudaismus und Antisemitismus
jemals wieder in eines Menschen Herzen Wmzeln schlägt." Ein Appell, der
auch in der aktuellen Bundesrepublik Deutschland nach den tätlichen Angriffen z. B. auf den jüdischen Rabbiner David Alter im September 2012 in Berlin
nichts von seiner Dringlichkeit verloren hat.
Schließlich erinnert NA 4 daran, dass Juden und Christen ein reiches, gemeinsames geistliches Erbe besitzen und es deshalb zur Aufgabe der Kirche
gehört, "die gegenseitige Kenntnis und Achtung [zu] f"ördern, die vor allem die
Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist." Die Förderung der gegenseitigen Achtung hat nach dem Konzil große Früchte getragen, sile geschah in den zahlreich entstandenen Gesellschaften
fiir jüdisch-christliche Zusammenarbeit ebenso wie in einzelnen theologischen
Disziplinen. Auch die vielen kirchenoffiziellen Dokumente zum Verhältnis
von Judentum und Christentum sprechen hier eine deutliche Sprache. Doch
damit ist keineswegs schon alles erreicht. Insbesondere gilt es, theologisch zu
klären, wie das Verhältnis von "Israel" und "Kirche" zu bestimmen ist.
5
Zur Verhältnisbestimmung von "Israel" und "Kirche":
Eine neue Israeltheologie
Wie kann das Miteinander oder auch Nebeneinander von "Israel", dem bleibend ersterwählten Gottesvolk, und der Kirche Jesu Christi so bestimmt werden, dass an der bleibenden Erwählung Israels als Volk Gottes bei gleichzeitig
geglaubter Erwählung der Kirche als "Volk Gottes" festgehalten werden
kann?
Bereits die Text- und Entstehungsgeschichte von NA machte deutlich, wie
schwer sich die Kirche: tat, die besondere Beziehung der Kirche zumjüdischen
Volk als theologische!· Größe zu verorten. Dass NA 4 jetzt Teil einer Erklärung der Kirche zu den nichtchristliehen Religionen ist und gegen den ausdrücldichen Willen von Joham1es XXIII. keine eigenständige Erklärung dar74
Text bei Henrix/Kraus (wie Anm. 7), 110-119; die folgenden zwei Zitate ebd., I 18f.
91
MARIA NEUBRAND
stellt, ist zum Teil von außen bedingt durch Einsprüche von arabischer wie
pro-israelischer Seite, ist zum Teil aber auch dem Widerstand einiger Konzilsväter und deren offenen antijudaistischen und antisemitischen Vorurteilen ge-
schuldet. Die geplante Erklärung, die zunächst in das Ökumenismusdekret
eingefügt werden sollte und dann kurzzeitig als Anhang zm Kirchenkonstitution diskutiert wurde, wurde schließlich erweitert durch Aussagen zum Islam
und anderen Weltreligionen und als eigene Erklärung verabschiedet. Man mag
bedauern, dass es nicht zu einer eigenständigen Erklärung des Konzils zum
jüdischen Volk gekommen ist - von der Sache her wäre das angezeigt gewesen. Heute kann man sich freuen, dass die Selbstbesinnung der Kirche auf ihre
jüdischen Wurzeln dazu geführt hat, dass auch andere nicht-christliche Religionen positiv in den Blick genommen wurden und die getroffenen Aussagen
Grundlage fiir den interreligiösen Dialog sind.
Die Herausforderung an alle theologischen Disziplinen besteht bis heute
darin, die neue Israeltheologie, die mit NA 4 an der bleibenden Erwählung Israels als ersterwähltes Volk Gottes festhält, auch umzusetzen. 75 Das heißt,
dass das Verhältnis von "Israel" und "Kirche" so bestimmt werden muss, dass
das eigene Kirchenverständnis nicht aufKosten des ersterwählten Volkes Israel formuliert oder auf eine wie auch immer geartete Substitutionstheorie gegründet wird. 76 Zu dieser Herausforderung gehört u.a., dass Begriffe geklärt
werden. Dem1 in der Forschungsliteratur werden häufig Inhalt, Extension sowie die Zuordnung der Begriffe "Volle", "Gottesvolk", "Israel" und "Kirche",
"Juden" und "Judentum" etc. nicht klar bestinm1t und je nach Bedarfund VorUrteil unterschiedlich gebraucht oder mit neuen Begriffsinhalten gefiillt. 77
75
76
77
Zur Umsetzung der neuen Israeltheologie im Bereich der Neutestatnentlichen Exegese vgl. z.
B. Hubert Frankemölle: Das jüdische Neue Testament und der christliche Glaube. Grundlagenwissen fiir den jüdisch-christlichen Dialog, Stnttgart 2009; Ders.: Zur Anslegung des
Neuen Testaments im Kontext des Judentums und die kirchliche Rezeption der Bibel heute,
in: Theologie und Glaube 101 (2011), 378-301; Maria Neubrand: Paulus als jüdischer Theologe. Neuere Perspektiven aufPaulus, in: Theologie und Glaube 101 (2011), 360-377; Klaus
Wengst: "Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!" Israel und die Völker als Thema des Paulus - ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008.
Vgl. dazu meine Überlegungen, die sich aus Aussagen des 1ukanischen Doppelwerkes ergeben: Maria Neubrand: "Ein Volle aus Nichtjuden" (Apg 15,14). Die bleibende Erwählung Israels und die Erwählung aus den Völkern im lukanischen Doppelwerk, in: Frankemölle/Wohlmuth (wie Anm. 35), 289-310.
Vgl. nur Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 7 2011, 290: "Nicht die
Kirche, sondern das Judentum wird durch den Bruch zwischen Synagoge und Heidenchristentum ins Unrecht gesetzt. In der paulinischen Predigt wurde den Juden immer das Heil angeboten ... , aber Israel ergriff nicht das Heil, so dass die Heiden an die Stelle Israels als erwähltes
Volk traten"; oder Wolfgang Kraus: Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die "Hellenisten",
Paulus und die Aufuahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk, Stuttgart 1999, der den
Begriff "Gottesvolk" sowohl fiir das vorjesnanische Israel als auch fiir das "endzeitliche", das
"erweiterte Gottesvolk" aus christusgläubigen Juden und Nichtjuden verwendet. Christusgläubige Nichtjuden seien deshalb zwar nicht "Israel", werden aber "als Vollmitglieder des
Gottesvolkes anerkannt" (ebd., 139) bzw. "durch den Glauben und die Taufe als Volhnitglieder in das Gottesvolk aufgenommen" (ebd., 156 u.ö.).
92
DIE KIRCHE UND lliR VERHÄLTNIS ZUM JÜDISCHEN VOLK
Die neutestamentlichen Schriften halten entschieden daran fest, dass das
ersterwählte Volk Israel bleibend unterschieden ist von "den Völkern", also
den "Nichtjuden" - dass also auch die nichtjüdische Christusanhängerschaft
erwählungstheologisch und religionssoziologisch bleibend unterschieden ist
vom ersterwählten Volk Israel und auch als Teil der Kirche Jesu Christi weder
"Israel" noch Teil des ersterwählten Volkes Israel wird. Christusgläubige Juden hingegen gehören auch als Teil der Kirche Jesu Christi weiterhin auch im
theologischen Sinn zu diesem ersterwählten Gottesvolk Israel; ebenso hören
nicht-Jesus Christus-gläubige Juden nicht auf, auch im theologischen Sinn erwähltes Gottesvolk zu sein. Festzuhalten ist darüber hinaus, dass die neutestamentlichen Schriften nicht davon ausgehen, dass nach dem Christusereignis
die besondere (Erwählungs-)Geschichte Gottes mit seinem ·ersterwählten
Volk, sei es christusgläubig oder nicht, beendet oder durch eine "christliche
Heilsgeschichte" nivelliert ist.
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