Professur für Allgemeine Psychologie Vorlesung im WS 2011/12 Lernen und Gedächtnis Neurobiologische Grundlagen einfacher Formen des Lernens Prof. Dr. Thomas Goschke Neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung 3 "any activity-dependent process that modifies, in a sufficiently stable and long-lasting way, the excitatory or inhibitory interactions between pairs of neurons could serve as a mechanism of learning, and any long-lasting alteration of inter-cellular communication can be considered an engram“ (Singer, 1990, S.211) Zentrale Annahme: Lernen und Gedächtnis beruhen auf erfahrungsabhängigen Veränderungen der neuronalen Signalübertragung Informationen können in neuronalen Verbindungen gespeichert werden, weil Kontaktstellen zwischen Neuronen (Synapsen) durch Erfahrung verändert werden Neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung Idealer Ansatz: Untersuchen, wie Erfahrungen die Synapsen in dem Netzwerk von Nervenzellen modifizieren, in dem die Erfahrung repräsentiert wird Setzt voraus, dass man die Gedächtnisspur neuronal lokalisieren kann und den Effekt eines sensorischen Inputs messen kann Ist derzeit nicht möglich! Praktikable Ansätze: Einfache Systeme (z.B. Aplysia) Langzeitpotenzierung im Hippokampus Funktionelle Bildgebung Klinische Neuropsychologie Neuronale Grundlagen einfacher Formen des Lernens: Aplysia als Modell Eric Kandel Seit 1950 Erforschung von neuronalen Mechanismen einfacher Formen des Lernens; 2000 Nobelpreis für Physiologie / Medizin Aplysia als Modell: - einfaches Verhalten (Kiemen-Rückzieh-Reflex) - einfaches Gehirn (ca. 20.000 Nervenzellen) - sehr große Nervenzellen (Durchmesser bis zu 1 mm!) Mantelgerüst Kiemen Saugrohr (Siphon) Taktiler Reiz Einfaches Lernen in Aplysia Schaltkreis des Kiemen-Rückzieh-Reflexs 24 • 24 sensorische Neurone innervieren den Siphon und sind direkt mit 6 Motorneuronen verbunden, die die Kiemen innervieren • Eine Reizung des Siphons aktiviert 6 bis 8 der sensorischen Neurone (jedes feuert 1-2 Aktionspotentiale) • Die sensorischen Neurone sind zusätzlich mit exzitatorischen und inhibitorischen Interneuronen verbunden, die mit dem Motorneuron verbunden sind 6 nach Kandel et al. 2000, Kandel 2001 Nicht-assoziatives Lernen in Aplysia: Habituation und Sensibilisierung Habituation: Wiederholte Reizung des Siphons zunehmend kürzere Kontraktion Sensibilisierung: Aversiver Reiz (Schock) auf den Schwanz bewirkt, dass ein darauf folgender neutraler Reiz (z.B. leichte Berührung des Mantelgerüsts) verstärkte Abwehrreaktion auslöst (hält Minuten bis Wochen an) Dishabituation sensitization Dudel, Menzel, Schmidt 2000 Nicht-assoziatives Lernen in Aplysia Habituation Aktivierungsabhängige präsynaptische Hemmung • Wiederholte Reizung des Siphons Abnahme der Transmitterausschüttung durch das sensorische Neuron an den Synapsen des Motorneurons • Analoger Mechanismen bei anderen Arten nachgewiesen Gluck, Mercado and Myers: Learning and Memory, First Edition Copyright © 2008 by Worth Publishers Nicht-assoziatives Lernen in Aplysia Habituation control habituated Aktivierungsabhängige präsynaptische Hemmung • Wiederholte Reizung des Siphons Abnahme des Ca2+-Einstroms in die sensorische Synapse • Dies führt zur Abnahme der Ausschüttung von Transmittern durch das sensorische Neuron an den Synapsen des Motorneurons • Analoger Mechanismen wurde bei anderen Arten nachgewiesen (Langusten, Katzen) nach Kandel et al. 2000 Nicht-assoziatives Lernen in Aplysia Habituation Nicht-assoziatives Lernen in Aplysia Sensibilisierung Schwanz-Schock aktiviert sensorisches Neuron T aktiviert Motorneuron M motorische Reaktion Neurone T aktiviert auch Interneuron I I schüttet Neuromodulator Serotonin an die Axone der Neurone S und U aus nachfolgende Aktivierung von Neuron S löst größere Freisetzung des Neurotransmitters Glutamat aus stärkere Aktivierung von Neuron M Gluck, Mercado and Myers: Learning and Memory, First Edition Copyright © 2008 by Worth Publishers Nicht-assoziatives Lernen in Aplysia Sensibilisierung Neuronale Grundlagen der klassischen Konditionierung Langzeit-Sensibilisierung Bei häufiger Wiederholung der Reizung wird kurzzeitige Sensibilisierung in eine Form des Langzeitgedächtnisses transformiert Beruht auf strukturellen Veränderungen der synaptischen Verknüpfungen (z.B. Bildung neuer Synapsen) (diese sind die Folge einer komplexen Kaskade neurochemischer Vorgänge, die u.a. zur Aktivierung bestimmter Gene und zur Proteinsynthese führen) Kandel 2001 Neuronale Grundlagen der klassischen Konditionierung Anzahl synaptischer Kontaktstellen Langzeit-Sensibilisierung und Habituation Langzeitgedächtnis beruht auf neuronalen Verknüpfungsmustern Habituation Abnahme der Konnektivität (weniger Synapsen) Sensibilisierung Zunahme der Konnektivität (mehr Synapsen; höhere Verzweigungsdichte der Dendritenbäume) Carew 2000 Klassische Konditionierung in Aplysia • optimales CS - US Intervall: 0.5 s • Rückwärtskonditionierung (US-CS) hat keinen Lerneffekt Klassische Konditionierung in Aplysia (a) Schwanz-Schock aktiviert sensorisches Neuron T aktiviert Interneuron I Ausschüttung von Serotonin verstärkte Sensibilität der Neurone S und U bei Reizung größere Freisetzung von Glutamat stärkere Aktivierung von Neuron M (b) Langandauernde Konditionierung beruht auf Bildung neuer Synapsen zwischen Neuronen S und M als Folge der molekularer Mechanismen, die durch die Serotoninausschüttung des Interneuron I ausgelöst werden Gluck, Mercado and Myers: Learning and Memory, First Edition Copyright © 2008 by Worth Publishers Klassische Konditionierung in Aplysia A) US (Schock) aktiviert Interneurone, die Synapsen mit den Axonen der sensorischen Neurone des Mantelrands und Siphons haben Aktivität der Interneurone bewirkt präsynaptische Aktivitätsförderung niedrigere Schwelle für die Auslösung der Reaktion (= Sensibilisierung) B) Wird unmittelbar vor dem US durch den CS ein Feuern der sensorischen Neurone ausgelöst, ist die präsynaptische Verstärkung noch größer stärkeres postsynaptisches Potential im Motorneuron „Klassisches Konditionieren“ mit drei Neuronen von Aplysia Kandel und Tauc (1964): Stimulierende Elektrode anfänglich unwirksame Synapse 1 2 3 Stimulierende Elektrode anfänglich wirksame Synapse Aufzeichnungselektrode Vor der Konditionierung: Stimulation von Neuron 2 bewirkt starke Reaktion in Neuron 3 Stimulation von Neuron 1 tat dies nicht In mehreren „Konditionierungsdurchgängen“ wurden Neuron 1 und Neuron 2 in rascher Folge stimuliert Als Ergebnis entwickelte Neuron 1 die Fähigkeit, eine Reaktion im Neuron 3 auszulösen Hielt ca. 20 Minuten an Hängt von zeitlicher Kontiguität ab Zusammenfassung: Einfache Formen des Lernen in Aplysia Gluck, Mercado and Myers: Learning and Memory, First Edition Copyright © 2008 by Worth Publishers Einige allgemeine Schlussfolgerungen 1. Auf zellulärer Ebene beruht Lernen auf Veränderungen der Effizienz synaptischer Verknüpfungen (zuerst 1894 von Cajal postuliert) 2. Neuronale Verknüpfungsmuster können durch Erfahrungen modifiziert werden 3. An Lernvorgängen sind keine besonderen „Gedächtnismoleküle“ beteiligt, sondern sie beruhen auf Veränderungen der „normalen“ neurochemischen Prozessen, die die synaptische Signalübertragung regulieren 4. Lernen beruht nicht auf speziellen „Gedächtniszellen“, sondern auf Veränderungen an den gleichen Zellen, die sensorischen und motorischen Funktionen in einem bestimmten Veraltenskontext zugrunde liegen 5. Unterschiedliche Formen des Lernens beruhen z.T. auf unterschiedlichen neuronalen Mechanismen Einschränkende Anmerkungen Arbeiten von Kandel et al. an Aplysia waren bahnbrechende Leistung auf dem Weg zur Entschlüsselung der zellulären Mechanismen des Lernens Aber: Untersuchungen betreffen basale Formen des Lernen bei relativ einfachen Lebewesen mit sehr einfachen Nervensystemen! Unterschiedliche Formen des klass. Kond. werden über unterschiedliche Hirnregionen vermittelt Lidschlussreflex beim Kaninchen: Cerebellum Furchtkonditionierung: Amygdala Kontextuelles Konditionieren: Hippokampus An komplexeren Formen des Gedächtnisses sind weitere neuronale Systeme beteiligt Hippokampus Neokortikale Regionen / präfrontaler Kortex Davon später mehr…